Hundsleben / Kommissar Weinzierl Bd.7
Ein Oberbayern-Krimi
Etliche Hunde werden auf einem Allgäuer Tierschutzhof getötet. Stecken etwa Hundehasser dahinter? Kommissar Weinzirl soll den Fall lösen. Die Besitzerin des Hofes wird kurz darauf in Berlin erschlagen aufgefunden. Weinzirl und sein Berliner...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Hundsleben / Kommissar Weinzierl Bd.7 “
Etliche Hunde werden auf einem Allgäuer Tierschutzhof getötet. Stecken etwa Hundehasser dahinter? Kommissar Weinzirl soll den Fall lösen. Die Besitzerin des Hofes wird kurz darauf in Berlin erschlagen aufgefunden. Weinzirl und sein Berliner Kollege Reber tauchen in die Abgründe von "Gutmenschen" ein.
Klappentext zu „Hundsleben / Kommissar Weinzierl Bd.7 “
Manchmal kann Tierschutz tödlich sein ...Im Allgäu hat es jemand auf Hunde abgesehen! Nach einem perfiden Anschlag auf etliche Vierbeiner des Tierschutzhofes wird Kommissar Weinzirl zu dem Gut Sternthaler im Pfaffenwinkel beordert. Handelt es sich um die Tat hundehassender Nachbarn? Wenig später wird auf einer Vernissage in der Bayerischen Vertretung in Berlin die Inhaberin des Hofes, eine bekannte Künstlerin, erschlagen aufgefunden. Gemeinsam mit seinem Berliner Kollegen Reber ermittelt Weinzirl in alle Richtungen und entdeckt bald, dass es beim Tierschutz zugeht wie in einem Haifischbecken ...
Lese-Probe zu „Hundsleben / Kommissar Weinzierl Bd.7 “
Hundsleben von Nicola FörgEins
... mehr
Es war wieder so weit. Es war unvermeidbar, und es griff um sich wie eine Seuche. Am ersten Tag nur einmal, bald schon im Zweistundenrhythmus, um sich im furiosen Finale des vierten Advents dann so zu steigern, dass man es nahezu minütlich ertragen musste. »Last Christmas I gave you my heart, but the very next day you gave it away.« Es whamte wieder, und unweigerlich drängten sich da Bilder von George Michaels Achtziger-Jahre-Föhn-Inferno-Frisur auf und jedes einzelne Bild dieses Videoclips, der Aliens - sollten Außerirdische Jahrmillionen später auf der Erde landen und die Überreste einer Zivilisation entdecken - in schiere Bestürzung treiben würde. Es war wieder so weit: Die stufenweise Weihnachtswahnsinnseskalation hatte die Endzeit erreicht.
Es war Weihnachtsmarkt in Weilheim, der entgegen der üblichen Terminierung ausnahmsweise am letzten Adventswochenende stattfand. Gerhard musste nicht arbeiten und hatte sich zu einem Frühschoppen auf dem Markt eingefunden. Erfolgreich hatte er ein Gespräch mit den Bürgern von Weilheim abgeblockt und seiner Vermieterin Gundula glaubhaft versichert, dass er leider gar keine Zeit für ein Referat bei der Hausaufgabenbetreuung von sozial schwachen Kindern habe. Er hatte sich auch dem Eine-Welt-Laden verweigert, wo er eine Petition für einen Mann im fernen Sezuan hätte unterzeichnen sollen, etwas von »als Polizist keine politischen Äußerungen machen« murmelnd. Sezuan, war das nicht irgendwas mit Gulasch? Ach nein, das war Szeged, Sezuan hatte doch meist mit Schweinefleisch süßsauer zu tun. Was ihn daran gemahnte, dass er Hunger hatte. Um sicherzugehen und nicht in die kulinarische Vegetarierfalle bei den Betroffenenständen zu tappen, orderte er eine Leberkassemmel in der Metzgereifiliale, unweit von deren Eingang zwei Schafe ein lebendes adventliches Bild abgaben, was Gerhard so, Tür an Tür mit der Metzgerei, doch eher bizarr fand. Er schlenderte rüber zu den blauen Jungs, schneidigen Burschen der Marine, die alljährlich hier waren. Immerhin gab es ja das Küchenminen suchboot Weilheim. Die blauen Jungs mit dem hervorragenden Glühwein, die ihrem Namen alle Ehre machten! Er hatte seinen Glühwein zur Hälfte leer getrunken, als sein Handy, dem er die bayerische Kulthymne »Vogelwiese«, eingespielt von den Schönberger Musikanten, als Klingelton verpasst hatte, sich meldete. Es war Melanie Kienberger, eine Kollegin, mit der er in diversen Sokos zu tun gehabt hatte. Gerhard lauschte mit zunehmender Beunruhigung.
»Melanie, was habe ich damit zu tun? Das ist wohl kaum Sache der Mordkommission«, sagte er. Das Schluchzen am anderen Ende war so laut, dass er unwillkürlich das Handy vom Ohr weghielt.
»Die sind doch alle krank. In Schongau haben alle die Magen-Darm-Grippe, die Füssener können wegen Glatteis nicht fahren, da ist das in Weilheim gelandet. Bei mir und Felix. Ich schaff das nicht, ich schaff das nicht, da hab ich Sie angerufen.« Der Rest ging in einem erneuten Schluchzen unter.
»Melanie, beruhigen Sie sich! Ich komme!« Na, das war ja toll. Nun musste er in die Einöde fahren, sozusagen als Freundschaftsdienst. Er überlegte noch kurz, den Kollegen in Schongau zu informieren, beschloss dann aber, erst hinterher vorbeizufahren. Das klang nicht gut, gar nicht gut. Das klang nach Ekel und, so viel war klar, nach verdammtem Medienrummel, sofern Melanie nicht übertrieben hatte. Und es klang nach einer Scheißfahrerei an irgend so einen Weltenarsch. Dieser Landkreis Weilheim-Schongau war für Gerhard noch immer ein Buch mit gewissen Siegeln, und von dem Ort, an den er nun berufen wurde, hatte er wahrlich noch nie gehört.
»Hinter der Wieskirche«, hatte Melanie gesagt, »aber nicht über die Wieskirche zu erreichen.« Da Gerhard sich immer geweigert hatte, ein Navi zu verwenden, und auf seine alten Landkarten bestand, würde das ein echter Spaß werden, denn seine Karten stammten aus den achtziger Jahren und waren zumeist wegen Colaüberflutungen verpappt. So wie sich das allerdings anhörte, brauchte man in dem Fall eher eine Wanderkarte.
Es nieselte vor sich hin, Gerhard nannte so ein Wetter »hohe Luftfeuchtigkeit«. Er war nun mal Optimist. Er hastete durch die Fußgängerzone, sein Auto stand auf dem Parkplatz des Weilheimer Tagblatts. Weil er so ein netter Bulle war, hatte er mal von einem Redakteur ein paar der Ausfahrtsmarken erhalten, in einer retsina- und ouzoseligen Verbrüderungsaktion im Dionysos, beim kleinen Griechen Toni.
Das Wetter war wirklich eins für viel Weihnachtsmarktglühwein oder für Bettdecke über den Kopf - oder beides. Keines für eine Ausfahrt. Wie fuhr man eigentlich auf dem schnellsten Weg nach Steingaden?, fragte er sich und registrierte, dass er nach über drei Jahren im Oberland immer noch weiße Flecken auf der inneren Landkarte hatte. Zumindest wusste er seit seinem letzten Fall, wie man von Schönberg nach Echelsbach gelangte, wo Jo und Kassandra nach wie vor ihre Wohngemeinschaft hatten. Und von der unseligen Selbstmörderbrücke gleichen Namens ging es ab nach Steingaden. Jo und Kassandra - mit all ihren Viechern -, für die beiden musste, was ihn nun erwartete, der Alptraum sein. Sofern Melanie nicht übertrieben hatte.
Als er auf Höhe Wildsteig war, wurde es stürmischer. Der Wind zerrte an seinem Bus, aber auch an den Wolken, die ab und zu einer blauen Lücke Platz machten. Gerhard stellte fest, dass auf einmal Schnee lag und gar nicht wenig. Plötzlich war Winter, Schneewinter, Sturmzeit. In Steingaden bog er nach links ab, ganz durch den Ort müsse er fahren und am Schild mit den vielen Namen abbiegen. Was damit gemeint war, ging Gerhard am Ortsende auf: So schnell konnte man gar nicht lesen, zu viele Namen standen da: Fronreiten, Schlatt, Gogel - Hiebler war auch dabei gewesen. Das Sträßchen war eng und kurvig, und es wand sich unmerklich bergauf. Und als wolle Steingadens wildes Hinterland Werbung für sich machen, riss der Himmel auf. Der Blick ging über einen zugefrorenen Tümpel und hinein in die Allgäuer Alpen - alles wie im Bilderbuch.
Gerhard kam an eine Abzweigung, aha, da ging's nach Hiebler. Hier war er definitiv noch nie gewesen; er bezweifelte, dass hier überhaupt je Fremde gewesen waren. Das war ja eine ... Er stutzte: gottverlassene Gegend? Nein, das eigentlich nicht, es war wohl vielmehr so, als hätte Gott hier eine gute Lobby: Feldkreuze, Kruzifixe an den Häusern, Lüftlmalerei mit biblischen Motiven.
Die Straße führte in ein kleines Tal hinab, wo jemand augenscheinlich ein Bauernhaus mit viel Liebe renovierte, und wieder hinauf nach Hiebler. Ein paar Höfe, eine enge Ortsdurchfahrt, ein Hund bellte, eine rote Katze huschte über die Straße. »Weiter auf der Teerstraße«, hatte Melanie gesagt, »vielleicht fünfhundert Meter, dann geht's rechts in den Wald. Aber da steht dann eh ein Schild.« Da stand ein Schild, zweifelsfrei: »Gut Sternthaler«. Der blaue Himmel hatte soeben den Kampf gegen die Wolken verloren, schlagartig wurde es dunkler.
Gerhard rüttelte über einen Schotterweg und hielt, stieg langsam aus und sog die Atmosphäre mit einem langen Blick in sich auf. Es ging ein wirklich frischer Wind, so einer, der augenblicklich durch alle Klamotten kroch. Fröstel wetter, zumal einem das Haus da im Wald unwillkürlich Schauer über den Rücken jagte. Es war von einer hohen Mauer umgeben, gekrönt mit Stacheldraht. Kameras richteten ihre neugierigen Augen auf jeden Ankömmling. Das Tor stand offen. Das Haus selbst war ein altes Gutshaus oder besser ein großes Bauernhaus, das unter wild wucherndem Efeu zu ersticken drohte. Ein typisches Einhaus, westseitig der ehemalige Stalltrakt, der vor sich hin bröselte. Einige wie zufällig platzierte Schuppen und Nebengebäude wirkten, als hätte ein Riese Bauklötzchen auf den Boden geworfen. Im Sommer, bei schönem Wetter, mochte das romantisch wirken, momentan hatte es was von der »Rocky Horror Picture Show«, irgendjemand von der »Addams Family« würde gleich auftauchen oder der »Hund von Baskerville«. Nebel war nun auch aufgezogen.
Und das Hundebellen klang schauerlich. Es kam von der Ostseite des Hauses, wo sich Hundehäuser mit davorliegenden Zwingern anschlossen; in Reih und Glied standen sie, das Ganze wirkte mehr wie eine Ferienhaussiedlung als wie ein Tierasyl. Die Hundehäuschen waren in weit besserem Zustand als das Haus, und Gerhard lief es eiskalt den Rücken runter. Er sah schnell weg und richtete den Blick wieder auf das Haupthaus. Auf dem gekiesten Hof standen ein Sanka, ein Notarztwagen und ein Polizeiauto. Melanie lehnte am Wagen, weiß wie eine frisch gekalkte Wand. Felix Steigenberger stand abseits, er hantierte mit einer Tempopackung, offensichtlich hatte er sich übergeben müssen. Melanie kam einen Schritt auf ihn zu, sie wirkte wie ferngesteuert.
»Ist gut, Melanie. Warum ist der Notarzt hier?«, fragte Gerhard.
»Die Frau dahinten ist komplett zusammengebrochen. Das ist so, so ...« Melanie begann wieder zu weinen.
»Ist gut, Melanie«, sagte Gerhard nochmals und reichte ihr einen Flachmann. »Kräftiger Schluck, ich nehm das auf meine Kappe. Geben Sie Steigenberger auch einen.« Er fummelte wieder in der Jacke. »Pfefferminz, kann er vielleicht auch brauchen.«
Gerhard ging auf den Sanka zu, in dem eine Frau lag, die völlig apathisch wirkte. Eine Infusion tropfte, der Arzt sprang elastisch aus dem Wagen.
»Haben Sie die Schweinerei schon gesehen?«, fragte er.
Gerhard schüttelte den Kopf.
»Das ist widerlich, die einzige Bestie im Tierreich ist der Mensch. Kennen Sie Nietzsche? Der hat mal gesagt: >Ich fürchte, die Tiere betrachten den Menschen als ein Wesen ihresgleichen, das in höchst gefährlicher Weise den gesunden Tierverstand verloren hat.‹« Der Arzt zog angewidert die Mundwinkel hoch.
»Die Dame?«, fragte Gerhard.
»Ist, glaube ich, die Zweite Vorsitzende des Ganzen«, sagte der Arzt.
»Ansprechbar?«
»Keine Chance, wir mussten sie stark sedieren. Sie war völlig hysterisch, hat hyperventiliert, dann ist ihr Kreislauf kollabiert. Wir bringen sie nach Schongau. Ich denke, am Abend sollten Sie mit ihr reden können.«
»Danke«, sagte Gerhard und wandte sich nun doch den Hundezwingern zu. Zögerlich ging er näher. Das Gebell wurde wieder lauter, ein junger Mann war dabei, Hunde aus ihren Zwingern zu holen, um sie anzuleinen. Wobei »Zwinger« ein sehr tiefstapelnder Terminus war. Das waren Luxusherbergen. Jeder der Hunde hatte eine Art Ferienhaus mit davorliegender Betonterrasse und einem Wiesenstück. Gerhard sah den jungen Mann fragend an.
Der junge Mann streckte Gerhard die Hand hin. »Moritz Niggl. Ich will die einen ...« Seine Stimme brach. »Sie sind total verstört, sie müssen doch die anderen nicht so sehen.« Tränen traten in seine Augen.
»Haben Sie sie entdeckt?«, fragte Gerhard.
»Ja, ich trete jeden Morgen um acht meinen Dienst an, heute war ich erst um zehn da. Ich hatte verschlafen. Wenn ich früher da gewesen wäre, wer weiß ...« Er starrte zu Boden, um seine Tränen zu verbergen. »Normalerweise hören die Hunde schon mein Auto. Es ist ein Gebelle, eine Freude. Heute Morgen war es totenstill.«
»Was haben Sie dann getan?«
»Die Frau Eisele angerufen und die Polizei.« Moritz kämpfte immer noch mit den Tränen.
»Frau Eisele?«
»Die Zweite Vorsitzende, die Frau im Sanka. Sie war keine echte Hilfe. Sie ist total zusammengeklappt, ich musste mich um sie kümmern. Ich hab dann gleich noch den Notarzt verständigt.«
»Sonst haben Sie alles gelassen, wie es war?«, fragte Gerhard.
»Ja, war das nicht gut?«
Er sah Gerhard mit seinen rehbraunen Augen an. Hunde augen, lange Wimpern, ein hübscher Kerl, dieser Moritz Niggl. Trotz seiner fünf Millimeter kurzen Haare oder gerade deshalb.
»Doch, sehr gut. Sehr umsichtig von Ihnen. Ist Ihnen irgendwas aufgefallen, war irgendwas anders?«
»Nein, alles wie immer, nur diese Stille, es war so unerträglich still!« Er wischte sich kurz über die Augen.
»Wie kommen Sie denn durch das Tor? Das Haus wirkt auf mich sehr gut gesichert«, sagte Gerhard.
»Ich habe eine Steckkarte und muss einen Code eingeben.« Niggl fummelte in seiner Latzhose und reichte Gerhard die Karte.
»Aha, wer kann denn noch das Tor öffnen?«
»Frau Pfaffenbichler, Herr Eicher, Frau Eisele und ich.« Tränen rannen ihm noch immer übers Gesicht, er hatte die Hand auf den Kopf eines Schäferhundmischlings gelegt.
»Können die Hunde irgendwohin?«, fragte Gerhard.
»Ja, ich habe mit einer unserer Gönnerinnen gesprochen. Sie nimmt sie auf. Es sind ja nicht mehr so viele.« Nun begann er richtig zu weinen.
Gerhard legte ihm linkisch die Hand auf die Schulter. Weinende Frauen waren ihm schon ein Gräuel, aber heulende Männer? »Kann ich Sie irgendwo erreichen?«
Der junge Mann nickte und holte noch eine Karte aus seiner Arbeitslatzhose. »Handy steht drauf.«
Dann ging er, sieben Hunde an der Leine. Große und kleine, er wirkte wie einer dieser Walker, die in Großstädten wie München die Hunde viel beschäftigter Berufstätiger ausführten. Aber das war kein netter Spaziergang an der Isar oder im Englischen Garten, das war eine Flucht, die Vertreibung aus dem Paradies. Der größte Hund war ein schlaksiger Irish Wolfhound, der auf einmal stehen blieb und zurücksah. Über die Zwinger blickte er, und dann schaute er Gerhard an. Lange. In den Augen des Tieres lag ein so tiefer Schmerz, dass Gerhard versucht war, wegzusehen. Aber er hielt dem Blick stand. In dem Moment zerbrach etwas in ihm, aber es erwachte plötzlich ein neuer Wille in ihm. Der Wolfhound hatte die Rute ganz kurz gehoben, das war kein Wedeln, aber ein Lebenszeichen. Dann drehte er sich um und trottete neben den Seinen her.
»Ich erwische sie. Für dich, Kumpel!«, sagte Gerhard leise, und dann musste er den Blick auf das richten, was er bisher nur aus den Augenwinkeln registriert hatte. Insgesamt gab es zwanzig dieser Luxushundezwinger. Sechs schienen leer gewesen zu sein, sieben Hunde zogen mit dem jungen Mann von dannen, sieben waren noch da. Sie hatten Galgen errichtet, alle akkurat gleich hoch, zwei Meter, schätzte Gerhard, Querbalken, Stützbalken - Galgen aus hellem Holz, sie sahen brandneu aus. Eine Galgenparade wie im Holzfachmarkt. Sie hatten die Hunde aufgeknüpft, große und kleine. Das Schlimmste war ein Jack Russell. Er hing da seltsam verdreht, die Zunge aus dem Maul ... Hatte er noch verzweifelt um sein kleines Hundsleben gekämpft? Gerhard fror, ihm war übel, und dann auf einmal stieß er einen Schrei in die neblige Dämmerung hinaus. Es war wie Wolfsgeheul, und Gerhard sah nochmals die Augen des Wolfhounds. Das hier war anders. Das hier war Frevel. Ein Massaker an Schwachen.
Zwei
Ein Mann war neben ihn getreten. Er trug eine Latzhose, ein Thermohemd und Lodenstiefel, eine Mütze mit Fendt-Aufdruck.
»Des san Irre«, sagte er nur.
Als würde ihn das retten, als würde ein Mensch, ein klarer Mensch ihn heilen können, fühlte Gerhard sich gleich besser.
»Eicher, Flori, ich bin der Nachbar, ich helf ab und zu aus, ich liefer Fleisch und so«, sagte der Mann.
»Weinzirl, Gerhard, Kripo«, sagte Gerhard. Dann standen die beiden Männer nur da. Eicher stopfte sich bedächtig eine Pfeife.
»Seit wann sind Sie da, Herr Eicher?«, fragte Gerhard nach einer Weile.
»Ich bin dazugekommen, als der Notarzt durch den Ort fuhr. Blaulicht und so. Wir waren grad beim Aufräumen, hatten ein Fest am Hof, meine Frau hatte Geburtstag. Ich hatte so ein ungutes Gefühl, dass was auf dem Gut los ist. So viel kommt ja dann nicht mehr dahinten.« Er machte eine Bewegung in Richtung des Hohen Trauchbergs, der wie ein bedrohlicher schwarzer Dinosaurierrücken den Himmel verdeckte und die Sicht auf die Alpen abriegelte.
»Wann war das?«, fragte Gerhard.
»Gegen elf. Ein Mordsaufzug. Wollte sehen, ob ich was helfen kann. Sie sind ja dann auch bald danach gekommen.«
Das glaubte ihm Gerhard sogar, der Mann wirkte nicht wie ein Schaulustiger, der neugierig war und Maulaffen feilhielt. Gerhard hätte so viel fragen können, ja müssen, aber er fühlte sich wie gelähmt. Die Worte kamen ihm nur sehr zähflüssig über die Lippen. »Können Sie sie abhängen?«, fragte er schließlich.
Der Mann nickte bedächtig. »Soll ich sie begraben? Ich mein, ist das erlaubt, bei so vielen?«
»Sicher ist das erlaubt«, sagte Gerhard und wusste, dass er log. »Ich würde gerne mal in das Haus gehen. Können Sie bitte dableiben, damit ich dann noch mit Ihnen reden kann?«
»Sicher, ich warte. Ich häng sie jetzt mal ab.«
Wie das klang, nach Waschgluppen und »Keiner wäscht reiner«-Werbung. Gerhard vermied es zurückzuschauen. Melanie und Felix sahen beide etwas frischer aus, und obgleich Gerhard hier wahrlich nicht zuständig war, spürte er, dass die beiden auf eine Weisung warteten, darauf, dass jemand den Überblick hatte, Struktur in den Irrsinn brachte. »Fahrt ihr jetzt mal ins Büro, Protokoll und so, ich klär das mit Schongau. Verschwindet!«
Als das Polizeiauto gefahren war, senkte sich eine ungute Stille über den Hof. Die Haustür stand offen, eine schwere Holztür war das, die in einen dunklen Gang führte. Gerhard fand einen Lichtschalter, der augenblicklich die Welt in gleißende Helle tauchte. Halogenlichtobjekte tanzten über dem blütenweiß gekalkten Gang, italienische Terrakotta-fliesen lagen zu seinen Füßen. War das Anwesen von außen auch marode, innen hatte jemand beim Renovieren weder Geld noch Aufwand gespart. Gleich rechts gab es eine Art Empfangsraum, Wartezimmer, Stüberl - wie immer man das nennen wollte. Ein schwerer Holzschreibtisch, der allein wahrscheinlich ein Vermögen wert war, stand da, dazu waren eher moderne Sessel in Türkis arrangiert. Hier wurden wohl Interessenten empfangen. Ein dicker Ordner lag auf dem Tisch. Gerhard begann zu blättern. Die Schicksale der einzelnen Hunde waren detailliert beschrieben. Zu detailliert, wie Gerhard fand. Einer hieß Pueblo und war ein Galgo, eine spanische Rasse für Hunderennen.
Langsam begann Gerhard zu lesen:
»Win«, englisch für »gewinnen« - das sollen die Windhunde auf den Rennbahnen auf der ganzen Welt, und viel Geld sollen sie einbringen. Dem Besitzer, dem Wetter und dem Staat, denn der verdient am kräftigsten an den schnellen Hunden. Bloß sind sie nicht alle schnell, oder sie waren mal schnell und kommen dann in die Jahre - und das ist beim Windhund schon mit drei oder vier Jahren der Fall. Dann sind sie nutzlos und werden entsorgt, im besten Fall gehen sie in sogenannte Dog Pounds, in denen sie ein Tierfreund binnen einer Woche abholen könnte, was selten geschieht. »Glück« haben die, die eingeschläfert oder erschossen werden, weniger Glück jene, die ertränkt werden oder einfach irgendwo angebunden, wo sie qualvoll verhungern und verdursten. Tierversuchslabors sind erfreut, wenn ihnen abgetakelte Windhunde verkauft werden. Und Restaurants, denn die Hunde, die zum Beispiel auf Südkoreas Bahnen ausgemustert werden - pikanterweise von einem großen Autohersteller und einem Elektronikkonzern dorthin geschafft -, werden gegessen. Auch pikant: Hunderennen wurden in der eu aus dem Landwirtschaftsetat finanziert, bis nicht zuletzt Tierschützerproteste aus Deutschland mit etwa 42.000 Unterschriften dem Ganzen 1999 ein Ende machten. Die eu fand ein Schlupfloch, nun ist der Etat für »Kunst, Sport und Tourismusförderung« zuständig. Am schlimmsten ist es in Spanien: Viva España, das Urlaubsland voller Kultur und Badespaß - so präsentiert sich Spanien den Touristen. Und dann stellen Sie sich vor, Sie gehen in einem lichten mediterranen Wald spazieren und sehen einen Baum, an dem ein Hund aufgehängt ist. Genügt der Hund den Anforderungen des Besitzers nicht mehr, wird er hingerichtet. Wenn er am Ende seiner Rennkarriere ungehorsam war oder schlechte Rennen lief, wird er nicht »einfach aufgehängt«, sondern so, dass er mit den Zehenspitzen noch trippeln kann, vier Tage lang kann der Todeskampf dauern, »tanzen« nennen das die Spanier!
Pueblo war so einer gewesen, eine Touristin hatte ihn gerettet, und nun war er hier in der trügerischen Sicherheit aufgeknüpft worden war. Er hatte neben dem Jack Russell gehangen. Gerhard spürte eine nie gekannte Machtlosigkeit, dann brandete eine Welle von Wut heran. Er machte sich nicht viel aus Tieren, aber er machte sich viel aus Fairness.
In einem Aufsteller an der Tür gab es Postkarten mit Hundefotografien, jeder der Hunde sah direkt in die Kamera. Große Augen, viel zu große Augen. Auf diesen Postkarten waren Zitate schlauer Menschen abgedruckt.
...
1. Auflage
Taschenbuchausgabe April 2012
Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der Originalausgabe
by Hermann-Josef Emons Verlag, Köln
Es war wieder so weit. Es war unvermeidbar, und es griff um sich wie eine Seuche. Am ersten Tag nur einmal, bald schon im Zweistundenrhythmus, um sich im furiosen Finale des vierten Advents dann so zu steigern, dass man es nahezu minütlich ertragen musste. »Last Christmas I gave you my heart, but the very next day you gave it away.« Es whamte wieder, und unweigerlich drängten sich da Bilder von George Michaels Achtziger-Jahre-Föhn-Inferno-Frisur auf und jedes einzelne Bild dieses Videoclips, der Aliens - sollten Außerirdische Jahrmillionen später auf der Erde landen und die Überreste einer Zivilisation entdecken - in schiere Bestürzung treiben würde. Es war wieder so weit: Die stufenweise Weihnachtswahnsinnseskalation hatte die Endzeit erreicht.
Es war Weihnachtsmarkt in Weilheim, der entgegen der üblichen Terminierung ausnahmsweise am letzten Adventswochenende stattfand. Gerhard musste nicht arbeiten und hatte sich zu einem Frühschoppen auf dem Markt eingefunden. Erfolgreich hatte er ein Gespräch mit den Bürgern von Weilheim abgeblockt und seiner Vermieterin Gundula glaubhaft versichert, dass er leider gar keine Zeit für ein Referat bei der Hausaufgabenbetreuung von sozial schwachen Kindern habe. Er hatte sich auch dem Eine-Welt-Laden verweigert, wo er eine Petition für einen Mann im fernen Sezuan hätte unterzeichnen sollen, etwas von »als Polizist keine politischen Äußerungen machen« murmelnd. Sezuan, war das nicht irgendwas mit Gulasch? Ach nein, das war Szeged, Sezuan hatte doch meist mit Schweinefleisch süßsauer zu tun. Was ihn daran gemahnte, dass er Hunger hatte. Um sicherzugehen und nicht in die kulinarische Vegetarierfalle bei den Betroffenenständen zu tappen, orderte er eine Leberkassemmel in der Metzgereifiliale, unweit von deren Eingang zwei Schafe ein lebendes adventliches Bild abgaben, was Gerhard so, Tür an Tür mit der Metzgerei, doch eher bizarr fand. Er schlenderte rüber zu den blauen Jungs, schneidigen Burschen der Marine, die alljährlich hier waren. Immerhin gab es ja das Küchenminen suchboot Weilheim. Die blauen Jungs mit dem hervorragenden Glühwein, die ihrem Namen alle Ehre machten! Er hatte seinen Glühwein zur Hälfte leer getrunken, als sein Handy, dem er die bayerische Kulthymne »Vogelwiese«, eingespielt von den Schönberger Musikanten, als Klingelton verpasst hatte, sich meldete. Es war Melanie Kienberger, eine Kollegin, mit der er in diversen Sokos zu tun gehabt hatte. Gerhard lauschte mit zunehmender Beunruhigung.
»Melanie, was habe ich damit zu tun? Das ist wohl kaum Sache der Mordkommission«, sagte er. Das Schluchzen am anderen Ende war so laut, dass er unwillkürlich das Handy vom Ohr weghielt.
»Die sind doch alle krank. In Schongau haben alle die Magen-Darm-Grippe, die Füssener können wegen Glatteis nicht fahren, da ist das in Weilheim gelandet. Bei mir und Felix. Ich schaff das nicht, ich schaff das nicht, da hab ich Sie angerufen.« Der Rest ging in einem erneuten Schluchzen unter.
»Melanie, beruhigen Sie sich! Ich komme!« Na, das war ja toll. Nun musste er in die Einöde fahren, sozusagen als Freundschaftsdienst. Er überlegte noch kurz, den Kollegen in Schongau zu informieren, beschloss dann aber, erst hinterher vorbeizufahren. Das klang nicht gut, gar nicht gut. Das klang nach Ekel und, so viel war klar, nach verdammtem Medienrummel, sofern Melanie nicht übertrieben hatte. Und es klang nach einer Scheißfahrerei an irgend so einen Weltenarsch. Dieser Landkreis Weilheim-Schongau war für Gerhard noch immer ein Buch mit gewissen Siegeln, und von dem Ort, an den er nun berufen wurde, hatte er wahrlich noch nie gehört.
»Hinter der Wieskirche«, hatte Melanie gesagt, »aber nicht über die Wieskirche zu erreichen.« Da Gerhard sich immer geweigert hatte, ein Navi zu verwenden, und auf seine alten Landkarten bestand, würde das ein echter Spaß werden, denn seine Karten stammten aus den achtziger Jahren und waren zumeist wegen Colaüberflutungen verpappt. So wie sich das allerdings anhörte, brauchte man in dem Fall eher eine Wanderkarte.
Es nieselte vor sich hin, Gerhard nannte so ein Wetter »hohe Luftfeuchtigkeit«. Er war nun mal Optimist. Er hastete durch die Fußgängerzone, sein Auto stand auf dem Parkplatz des Weilheimer Tagblatts. Weil er so ein netter Bulle war, hatte er mal von einem Redakteur ein paar der Ausfahrtsmarken erhalten, in einer retsina- und ouzoseligen Verbrüderungsaktion im Dionysos, beim kleinen Griechen Toni.
Das Wetter war wirklich eins für viel Weihnachtsmarktglühwein oder für Bettdecke über den Kopf - oder beides. Keines für eine Ausfahrt. Wie fuhr man eigentlich auf dem schnellsten Weg nach Steingaden?, fragte er sich und registrierte, dass er nach über drei Jahren im Oberland immer noch weiße Flecken auf der inneren Landkarte hatte. Zumindest wusste er seit seinem letzten Fall, wie man von Schönberg nach Echelsbach gelangte, wo Jo und Kassandra nach wie vor ihre Wohngemeinschaft hatten. Und von der unseligen Selbstmörderbrücke gleichen Namens ging es ab nach Steingaden. Jo und Kassandra - mit all ihren Viechern -, für die beiden musste, was ihn nun erwartete, der Alptraum sein. Sofern Melanie nicht übertrieben hatte.
Als er auf Höhe Wildsteig war, wurde es stürmischer. Der Wind zerrte an seinem Bus, aber auch an den Wolken, die ab und zu einer blauen Lücke Platz machten. Gerhard stellte fest, dass auf einmal Schnee lag und gar nicht wenig. Plötzlich war Winter, Schneewinter, Sturmzeit. In Steingaden bog er nach links ab, ganz durch den Ort müsse er fahren und am Schild mit den vielen Namen abbiegen. Was damit gemeint war, ging Gerhard am Ortsende auf: So schnell konnte man gar nicht lesen, zu viele Namen standen da: Fronreiten, Schlatt, Gogel - Hiebler war auch dabei gewesen. Das Sträßchen war eng und kurvig, und es wand sich unmerklich bergauf. Und als wolle Steingadens wildes Hinterland Werbung für sich machen, riss der Himmel auf. Der Blick ging über einen zugefrorenen Tümpel und hinein in die Allgäuer Alpen - alles wie im Bilderbuch.
Gerhard kam an eine Abzweigung, aha, da ging's nach Hiebler. Hier war er definitiv noch nie gewesen; er bezweifelte, dass hier überhaupt je Fremde gewesen waren. Das war ja eine ... Er stutzte: gottverlassene Gegend? Nein, das eigentlich nicht, es war wohl vielmehr so, als hätte Gott hier eine gute Lobby: Feldkreuze, Kruzifixe an den Häusern, Lüftlmalerei mit biblischen Motiven.
Die Straße führte in ein kleines Tal hinab, wo jemand augenscheinlich ein Bauernhaus mit viel Liebe renovierte, und wieder hinauf nach Hiebler. Ein paar Höfe, eine enge Ortsdurchfahrt, ein Hund bellte, eine rote Katze huschte über die Straße. »Weiter auf der Teerstraße«, hatte Melanie gesagt, »vielleicht fünfhundert Meter, dann geht's rechts in den Wald. Aber da steht dann eh ein Schild.« Da stand ein Schild, zweifelsfrei: »Gut Sternthaler«. Der blaue Himmel hatte soeben den Kampf gegen die Wolken verloren, schlagartig wurde es dunkler.
Gerhard rüttelte über einen Schotterweg und hielt, stieg langsam aus und sog die Atmosphäre mit einem langen Blick in sich auf. Es ging ein wirklich frischer Wind, so einer, der augenblicklich durch alle Klamotten kroch. Fröstel wetter, zumal einem das Haus da im Wald unwillkürlich Schauer über den Rücken jagte. Es war von einer hohen Mauer umgeben, gekrönt mit Stacheldraht. Kameras richteten ihre neugierigen Augen auf jeden Ankömmling. Das Tor stand offen. Das Haus selbst war ein altes Gutshaus oder besser ein großes Bauernhaus, das unter wild wucherndem Efeu zu ersticken drohte. Ein typisches Einhaus, westseitig der ehemalige Stalltrakt, der vor sich hin bröselte. Einige wie zufällig platzierte Schuppen und Nebengebäude wirkten, als hätte ein Riese Bauklötzchen auf den Boden geworfen. Im Sommer, bei schönem Wetter, mochte das romantisch wirken, momentan hatte es was von der »Rocky Horror Picture Show«, irgendjemand von der »Addams Family« würde gleich auftauchen oder der »Hund von Baskerville«. Nebel war nun auch aufgezogen.
Und das Hundebellen klang schauerlich. Es kam von der Ostseite des Hauses, wo sich Hundehäuser mit davorliegenden Zwingern anschlossen; in Reih und Glied standen sie, das Ganze wirkte mehr wie eine Ferienhaussiedlung als wie ein Tierasyl. Die Hundehäuschen waren in weit besserem Zustand als das Haus, und Gerhard lief es eiskalt den Rücken runter. Er sah schnell weg und richtete den Blick wieder auf das Haupthaus. Auf dem gekiesten Hof standen ein Sanka, ein Notarztwagen und ein Polizeiauto. Melanie lehnte am Wagen, weiß wie eine frisch gekalkte Wand. Felix Steigenberger stand abseits, er hantierte mit einer Tempopackung, offensichtlich hatte er sich übergeben müssen. Melanie kam einen Schritt auf ihn zu, sie wirkte wie ferngesteuert.
»Ist gut, Melanie. Warum ist der Notarzt hier?«, fragte Gerhard.
»Die Frau dahinten ist komplett zusammengebrochen. Das ist so, so ...« Melanie begann wieder zu weinen.
»Ist gut, Melanie«, sagte Gerhard nochmals und reichte ihr einen Flachmann. »Kräftiger Schluck, ich nehm das auf meine Kappe. Geben Sie Steigenberger auch einen.« Er fummelte wieder in der Jacke. »Pfefferminz, kann er vielleicht auch brauchen.«
Gerhard ging auf den Sanka zu, in dem eine Frau lag, die völlig apathisch wirkte. Eine Infusion tropfte, der Arzt sprang elastisch aus dem Wagen.
»Haben Sie die Schweinerei schon gesehen?«, fragte er.
Gerhard schüttelte den Kopf.
»Das ist widerlich, die einzige Bestie im Tierreich ist der Mensch. Kennen Sie Nietzsche? Der hat mal gesagt: >Ich fürchte, die Tiere betrachten den Menschen als ein Wesen ihresgleichen, das in höchst gefährlicher Weise den gesunden Tierverstand verloren hat.‹« Der Arzt zog angewidert die Mundwinkel hoch.
»Die Dame?«, fragte Gerhard.
»Ist, glaube ich, die Zweite Vorsitzende des Ganzen«, sagte der Arzt.
»Ansprechbar?«
»Keine Chance, wir mussten sie stark sedieren. Sie war völlig hysterisch, hat hyperventiliert, dann ist ihr Kreislauf kollabiert. Wir bringen sie nach Schongau. Ich denke, am Abend sollten Sie mit ihr reden können.«
»Danke«, sagte Gerhard und wandte sich nun doch den Hundezwingern zu. Zögerlich ging er näher. Das Gebell wurde wieder lauter, ein junger Mann war dabei, Hunde aus ihren Zwingern zu holen, um sie anzuleinen. Wobei »Zwinger« ein sehr tiefstapelnder Terminus war. Das waren Luxusherbergen. Jeder der Hunde hatte eine Art Ferienhaus mit davorliegender Betonterrasse und einem Wiesenstück. Gerhard sah den jungen Mann fragend an.
Der junge Mann streckte Gerhard die Hand hin. »Moritz Niggl. Ich will die einen ...« Seine Stimme brach. »Sie sind total verstört, sie müssen doch die anderen nicht so sehen.« Tränen traten in seine Augen.
»Haben Sie sie entdeckt?«, fragte Gerhard.
»Ja, ich trete jeden Morgen um acht meinen Dienst an, heute war ich erst um zehn da. Ich hatte verschlafen. Wenn ich früher da gewesen wäre, wer weiß ...« Er starrte zu Boden, um seine Tränen zu verbergen. »Normalerweise hören die Hunde schon mein Auto. Es ist ein Gebelle, eine Freude. Heute Morgen war es totenstill.«
»Was haben Sie dann getan?«
»Die Frau Eisele angerufen und die Polizei.« Moritz kämpfte immer noch mit den Tränen.
»Frau Eisele?«
»Die Zweite Vorsitzende, die Frau im Sanka. Sie war keine echte Hilfe. Sie ist total zusammengeklappt, ich musste mich um sie kümmern. Ich hab dann gleich noch den Notarzt verständigt.«
»Sonst haben Sie alles gelassen, wie es war?«, fragte Gerhard.
»Ja, war das nicht gut?«
Er sah Gerhard mit seinen rehbraunen Augen an. Hunde augen, lange Wimpern, ein hübscher Kerl, dieser Moritz Niggl. Trotz seiner fünf Millimeter kurzen Haare oder gerade deshalb.
»Doch, sehr gut. Sehr umsichtig von Ihnen. Ist Ihnen irgendwas aufgefallen, war irgendwas anders?«
»Nein, alles wie immer, nur diese Stille, es war so unerträglich still!« Er wischte sich kurz über die Augen.
»Wie kommen Sie denn durch das Tor? Das Haus wirkt auf mich sehr gut gesichert«, sagte Gerhard.
»Ich habe eine Steckkarte und muss einen Code eingeben.« Niggl fummelte in seiner Latzhose und reichte Gerhard die Karte.
»Aha, wer kann denn noch das Tor öffnen?«
»Frau Pfaffenbichler, Herr Eicher, Frau Eisele und ich.« Tränen rannen ihm noch immer übers Gesicht, er hatte die Hand auf den Kopf eines Schäferhundmischlings gelegt.
»Können die Hunde irgendwohin?«, fragte Gerhard.
»Ja, ich habe mit einer unserer Gönnerinnen gesprochen. Sie nimmt sie auf. Es sind ja nicht mehr so viele.« Nun begann er richtig zu weinen.
Gerhard legte ihm linkisch die Hand auf die Schulter. Weinende Frauen waren ihm schon ein Gräuel, aber heulende Männer? »Kann ich Sie irgendwo erreichen?«
Der junge Mann nickte und holte noch eine Karte aus seiner Arbeitslatzhose. »Handy steht drauf.«
Dann ging er, sieben Hunde an der Leine. Große und kleine, er wirkte wie einer dieser Walker, die in Großstädten wie München die Hunde viel beschäftigter Berufstätiger ausführten. Aber das war kein netter Spaziergang an der Isar oder im Englischen Garten, das war eine Flucht, die Vertreibung aus dem Paradies. Der größte Hund war ein schlaksiger Irish Wolfhound, der auf einmal stehen blieb und zurücksah. Über die Zwinger blickte er, und dann schaute er Gerhard an. Lange. In den Augen des Tieres lag ein so tiefer Schmerz, dass Gerhard versucht war, wegzusehen. Aber er hielt dem Blick stand. In dem Moment zerbrach etwas in ihm, aber es erwachte plötzlich ein neuer Wille in ihm. Der Wolfhound hatte die Rute ganz kurz gehoben, das war kein Wedeln, aber ein Lebenszeichen. Dann drehte er sich um und trottete neben den Seinen her.
»Ich erwische sie. Für dich, Kumpel!«, sagte Gerhard leise, und dann musste er den Blick auf das richten, was er bisher nur aus den Augenwinkeln registriert hatte. Insgesamt gab es zwanzig dieser Luxushundezwinger. Sechs schienen leer gewesen zu sein, sieben Hunde zogen mit dem jungen Mann von dannen, sieben waren noch da. Sie hatten Galgen errichtet, alle akkurat gleich hoch, zwei Meter, schätzte Gerhard, Querbalken, Stützbalken - Galgen aus hellem Holz, sie sahen brandneu aus. Eine Galgenparade wie im Holzfachmarkt. Sie hatten die Hunde aufgeknüpft, große und kleine. Das Schlimmste war ein Jack Russell. Er hing da seltsam verdreht, die Zunge aus dem Maul ... Hatte er noch verzweifelt um sein kleines Hundsleben gekämpft? Gerhard fror, ihm war übel, und dann auf einmal stieß er einen Schrei in die neblige Dämmerung hinaus. Es war wie Wolfsgeheul, und Gerhard sah nochmals die Augen des Wolfhounds. Das hier war anders. Das hier war Frevel. Ein Massaker an Schwachen.
Zwei
Ein Mann war neben ihn getreten. Er trug eine Latzhose, ein Thermohemd und Lodenstiefel, eine Mütze mit Fendt-Aufdruck.
»Des san Irre«, sagte er nur.
Als würde ihn das retten, als würde ein Mensch, ein klarer Mensch ihn heilen können, fühlte Gerhard sich gleich besser.
»Eicher, Flori, ich bin der Nachbar, ich helf ab und zu aus, ich liefer Fleisch und so«, sagte der Mann.
»Weinzirl, Gerhard, Kripo«, sagte Gerhard. Dann standen die beiden Männer nur da. Eicher stopfte sich bedächtig eine Pfeife.
»Seit wann sind Sie da, Herr Eicher?«, fragte Gerhard nach einer Weile.
»Ich bin dazugekommen, als der Notarzt durch den Ort fuhr. Blaulicht und so. Wir waren grad beim Aufräumen, hatten ein Fest am Hof, meine Frau hatte Geburtstag. Ich hatte so ein ungutes Gefühl, dass was auf dem Gut los ist. So viel kommt ja dann nicht mehr dahinten.« Er machte eine Bewegung in Richtung des Hohen Trauchbergs, der wie ein bedrohlicher schwarzer Dinosaurierrücken den Himmel verdeckte und die Sicht auf die Alpen abriegelte.
»Wann war das?«, fragte Gerhard.
»Gegen elf. Ein Mordsaufzug. Wollte sehen, ob ich was helfen kann. Sie sind ja dann auch bald danach gekommen.«
Das glaubte ihm Gerhard sogar, der Mann wirkte nicht wie ein Schaulustiger, der neugierig war und Maulaffen feilhielt. Gerhard hätte so viel fragen können, ja müssen, aber er fühlte sich wie gelähmt. Die Worte kamen ihm nur sehr zähflüssig über die Lippen. »Können Sie sie abhängen?«, fragte er schließlich.
Der Mann nickte bedächtig. »Soll ich sie begraben? Ich mein, ist das erlaubt, bei so vielen?«
»Sicher ist das erlaubt«, sagte Gerhard und wusste, dass er log. »Ich würde gerne mal in das Haus gehen. Können Sie bitte dableiben, damit ich dann noch mit Ihnen reden kann?«
»Sicher, ich warte. Ich häng sie jetzt mal ab.«
Wie das klang, nach Waschgluppen und »Keiner wäscht reiner«-Werbung. Gerhard vermied es zurückzuschauen. Melanie und Felix sahen beide etwas frischer aus, und obgleich Gerhard hier wahrlich nicht zuständig war, spürte er, dass die beiden auf eine Weisung warteten, darauf, dass jemand den Überblick hatte, Struktur in den Irrsinn brachte. »Fahrt ihr jetzt mal ins Büro, Protokoll und so, ich klär das mit Schongau. Verschwindet!«
Als das Polizeiauto gefahren war, senkte sich eine ungute Stille über den Hof. Die Haustür stand offen, eine schwere Holztür war das, die in einen dunklen Gang führte. Gerhard fand einen Lichtschalter, der augenblicklich die Welt in gleißende Helle tauchte. Halogenlichtobjekte tanzten über dem blütenweiß gekalkten Gang, italienische Terrakotta-fliesen lagen zu seinen Füßen. War das Anwesen von außen auch marode, innen hatte jemand beim Renovieren weder Geld noch Aufwand gespart. Gleich rechts gab es eine Art Empfangsraum, Wartezimmer, Stüberl - wie immer man das nennen wollte. Ein schwerer Holzschreibtisch, der allein wahrscheinlich ein Vermögen wert war, stand da, dazu waren eher moderne Sessel in Türkis arrangiert. Hier wurden wohl Interessenten empfangen. Ein dicker Ordner lag auf dem Tisch. Gerhard begann zu blättern. Die Schicksale der einzelnen Hunde waren detailliert beschrieben. Zu detailliert, wie Gerhard fand. Einer hieß Pueblo und war ein Galgo, eine spanische Rasse für Hunderennen.
Langsam begann Gerhard zu lesen:
»Win«, englisch für »gewinnen« - das sollen die Windhunde auf den Rennbahnen auf der ganzen Welt, und viel Geld sollen sie einbringen. Dem Besitzer, dem Wetter und dem Staat, denn der verdient am kräftigsten an den schnellen Hunden. Bloß sind sie nicht alle schnell, oder sie waren mal schnell und kommen dann in die Jahre - und das ist beim Windhund schon mit drei oder vier Jahren der Fall. Dann sind sie nutzlos und werden entsorgt, im besten Fall gehen sie in sogenannte Dog Pounds, in denen sie ein Tierfreund binnen einer Woche abholen könnte, was selten geschieht. »Glück« haben die, die eingeschläfert oder erschossen werden, weniger Glück jene, die ertränkt werden oder einfach irgendwo angebunden, wo sie qualvoll verhungern und verdursten. Tierversuchslabors sind erfreut, wenn ihnen abgetakelte Windhunde verkauft werden. Und Restaurants, denn die Hunde, die zum Beispiel auf Südkoreas Bahnen ausgemustert werden - pikanterweise von einem großen Autohersteller und einem Elektronikkonzern dorthin geschafft -, werden gegessen. Auch pikant: Hunderennen wurden in der eu aus dem Landwirtschaftsetat finanziert, bis nicht zuletzt Tierschützerproteste aus Deutschland mit etwa 42.000 Unterschriften dem Ganzen 1999 ein Ende machten. Die eu fand ein Schlupfloch, nun ist der Etat für »Kunst, Sport und Tourismusförderung« zuständig. Am schlimmsten ist es in Spanien: Viva España, das Urlaubsland voller Kultur und Badespaß - so präsentiert sich Spanien den Touristen. Und dann stellen Sie sich vor, Sie gehen in einem lichten mediterranen Wald spazieren und sehen einen Baum, an dem ein Hund aufgehängt ist. Genügt der Hund den Anforderungen des Besitzers nicht mehr, wird er hingerichtet. Wenn er am Ende seiner Rennkarriere ungehorsam war oder schlechte Rennen lief, wird er nicht »einfach aufgehängt«, sondern so, dass er mit den Zehenspitzen noch trippeln kann, vier Tage lang kann der Todeskampf dauern, »tanzen« nennen das die Spanier!
Pueblo war so einer gewesen, eine Touristin hatte ihn gerettet, und nun war er hier in der trügerischen Sicherheit aufgeknüpft worden war. Er hatte neben dem Jack Russell gehangen. Gerhard spürte eine nie gekannte Machtlosigkeit, dann brandete eine Welle von Wut heran. Er machte sich nicht viel aus Tieren, aber er machte sich viel aus Fairness.
In einem Aufsteller an der Tür gab es Postkarten mit Hundefotografien, jeder der Hunde sah direkt in die Kamera. Große Augen, viel zu große Augen. Auf diesen Postkarten waren Zitate schlauer Menschen abgedruckt.
...
1. Auflage
Taschenbuchausgabe April 2012
Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der Originalausgabe
by Hermann-Josef Emons Verlag, Köln
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Autoren-Porträt von Nicola Förg
Förg, NicolaNicola Förg ist im Oberallgäu aufgewachsen. Neben ihren sehr erfolgreichen Krimis hat sie auch Reiseführer und Bildbände veröffentlicht. Als freie Reisejournalistin arbeitete sie für namhafte Tageszeitungen und Magazine. Mit ihrer Familie sowie Ponys, diversen Kaninchen und Katzen lebt die Autorin auf einem Anwesen im südwestlichen Eck Oberbayerns, dort, wo man schon mit dem Ostallgäu flirtet. Bei Goldmann erscheint ihre Kommissar-Weinzirl-Reihe.
Bibliographische Angaben
- Autor: Nicola Förg
- 2012, 285 Seiten, Maße: 11,7 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442475910
- ISBN-13: 9783442475919
- Erscheinungsdatum: 19.03.2012
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