Hunger der Gezeiten
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"Amitav Ghosh ist ein großer Fabulierer, ein Meister der Sprache."
DIE ZEIT
Ghosh schreibt mit einer Mischung aus realistischen Details, ungeheurer Phantasie und Humor, wie wir es von Autoren wie García Márquez und Salman Rushdie kennen."
NORDDEUTSCHER RUNDFUNK
Die Sundarbans in der Bucht von Bengalen der gigantische Archipel wird nur geboren, wenn das Wasser fällt: ein unbesiedelbares Land der Ebbe, zusammengehalten von den graugrünen Wurzeln der Mangroven, beherrscht von Bengalischen Königstigern. Schon seit Jahrzehnten setzen sich westliche Tierschutzorganisationen für den Erhalt der gefährlichen Raubkatzen ein und haben deshalb in den Sundarbans das "Projekt Tiger" ins Leben gerufen. Auf Kosten der Menschen so sehen das zumindest die Bewohner der Inselwelt, die jährlich rund hundert von Tigern gerissene Opfer zu beklagen haben. Für sie ist jeder, der eine Großkatze erlegt, ein Held.
Die amerikanische Meeresbiologin Piya ist in diesen gefährlichen Archipel gekommen, um Delfine zu erforschen. Der Fischer Fokir beeindruckt sie tief durch sein Gespür für das Wasser, denn er kann sie zu den nur schwer auffindbaren Delfingründen rudern. Während er seine Krebsnetze auswirft, beobachtet sie die stahlgrauen Tiere und dabei finden die beiden zueinander, ohne Worte, denn sie sprechen keine gemeinsame Sprache.
Vor der prachtvollen Kulisse des undurchdringlichen Mangrovendschungels in den Sundarbans, einer unwirtlichen, nur von Ebbe und Flut beherrschten Inselwelt im Osten Indiens, entfaltet der begnadete Geschichtenerzähler Amitav Ghosh ein spannungsreiches Dreiecksdrama, in dem alle Farben der Liebe aufscheinen ihre Schönheit, ihre Abgründe, ihre Macht.
Hunger der Gezeiten von Amitav Ghosh
LESEPROBE
Ebbe - Bhata, Das Gezeitenland
Sie fiel Kanai sofort auf, als er den überfüllten Bahnsteig betrat. Ihr kurzgeschorenes schwarzes Haar und ihre Jungenkleider - weite Baumwollhosen und einzu großes weißes Hemd - konnten ihn nicht täuschen. Sein Blick drang zielsicherdurch das Gewimmel der Händler und blieb auf ihrer schlanken, wohlgeformtenGestalt haften. Ihr Gesicht war lang und schmal und bildete mit seinenanmutigen Zügen einen auffallenden Gegensatz zu ihrer strengen Frisur. Sie trugkein bindi auf der Stirn und keine Armreife; ihr einziger Schmuck war einsilberner Ohrstecker, der auf ihrer dunklen, von der Sonne gebräunten Hautglitzerte.
Kanai hielt sich für einen Kenner, der Frauen ebenso zu bewundern wie zubeurteilen vermochte, und ihre Haltung, die ungewohnte Art, wie sie dastand,weckte seine Neugier. Vielleicht, dachte er plötzlich, war sie trotz desOhrsteckers und ihres dunklen Teints gar keine Inderin, sondern nur indischerAbstammung. Und als ihm dieser Gedanke kam, war er sich auch schon sicher: Siewar Ausländerin, das sah man daran, wie sie, die Füße ein Stück auseinander,gleich einem Fliegengewichtsboxer auf den Fersen balancierte. In einer Gruppevon Studentinnen in Kolkatas Park Street hätte sie vielleicht nicht ganz sodeplatziert gewirkt, aber hier, vor dem rußigen Hintergrund des Vorortbahnhofsvon Dhakuria, mutete ihre gefällige androgyne Erscheinung geradezu exotisch an.
Warum wartete eine Ausländerin, eine junge Frau, auf einem Vorortbahnhof imSüden von Kolkata auf den Zug nach Canning? Die Strecke war zwar die einzigeBahnverbindung in die Sundarbans, doch soviel Kanai wusste, wurde sie vonTouristen nie benutzt; die wenigen, die dorthin wollten, reisten gewöhnlich perSchiff, mit einem Dampfboot oder einer Barkasse, die sie im Hafenviertel vonKolkata mieteten. Der Zug diente hauptsächlich den daily-passengeri, denPendlern aus abgelegenen Dörfern, die zur Arbeit in die Stadt mussten.
Als Kanai sah, dass die Ausländerin sich mit einer Frage an einen Mann wandte,überkam ihn das Bedürfnis mitzuhören. Sprache war sowohl sein Lebensunterhaltals auch seine Leidenschaft, und oft packte ihn an öffentlichen Orten ein fastunwiderstehlicher Drang, Gespräche zu belauschen. Er schob sich durch die Mengeund gelangte gerade noch in Hörweite, als sie einen Satz mit den Worten »Zugnach Canning?« beendete. Einer der Umstehenden begann zu erklären und mithochgerecktem Arm zu gestikulieren, aber er sprach Bengali, und sie verstandihn nicht. Sie hob die Hand, um ihm Einhalt zu gebieten, und sagte, sie könnekein Bengali: »Ami Bangla jani na.« Ihre unbeholfene Aussprache verriet Kanai,dass es tatsächlich so war: Wie alle Ausländer hatte sie gerade genug von derSprache gelernt, um ihre Unkenntnis ausdrücken zu können.
Kanai war der einzige andere »Outsider« auf dem Bahnsteig, und schnell zog aucher die Aufmerksamkeit auf sich. Er war zweiundvierzig, mittelgroß, und seinnoch dichtes Haar war an den Schläfen von ersten grauen Strähnen durchzogen.Die Art, wie er mit schräg geneigtem Kopf breitbeinig dastand, verriet einenwohlbegründeten Glauben an seine Fähigkeit, sich in fast jeder Situationzurechtzufinden. Von seinen Augenwinkeln strahlten feine Linien aus, die abersein sonst glattes Gesicht nur noch lebendiger erscheinen ließen und eher seineJugendlichkeit als sein Alter betonten. Einst schlank und zierlich, hatte ermit den Jahren um die Taille herum zugenommen, aber er bewegte sich noch immergeschmeidig und mit einer Behändigkeit, die dem Instinkt des Reisenden für dasLeben im Augenblick entspringt.
Kanai hatte einen Koffer mit ausziehbarem Griff und dem Aufdruck einerFluggesellschaft bei sich, und für die Menschen, die auf dem Bahnsteig ihreWaren feilboten, war dieses Gepäckstück - neben seiner Sonnenbrille, denCordhosen und seinen Wildlederschuhen - nur eine der vielen Einzelheiten seinerErscheinung, die auf den Wohlstand eines Mannes in mittleren Jahren und aufweltstädtischen Luxus hindeuteten. Er wurde daher regelrecht belagert, vonfliegenden Händlern, Gassenjungen und Gruppen von Jugendlichen, die Spenden fürdiverse Zwecke sammelten. Erst als der grün-gelbe Zug einfuhr, konnte erendlich sein aufdringliches Gefolge abschütteln.
So wie sie in den Zug stieg, stellte er fest, schien die Ausländerin eine nichtunerfahrene Reisende zu sein: Sie schob das halbe Dutzend Gepäckträger, das sieumschwirrte, beiseite und hievte die beiden riesigen Rucksäcke eigenhändighoch, mit einer Kraft, die in krassem Gegensatz zu ihrer kleinen, schmalenGestalt stand. Mit geübter Leichtigkeit schwang sie die Gepäckstücke ins Abteilund bahnte sich ihren Weg durch das Gewühl der Reisenden. Kanai überlegte kurz,ob er ihr sagen sollte, dass es ein eigenes Abteil für Frauen gab, aber da warsie schon verschwunden, und er verlor sie aus den Augen.
Dann ertönte ein Pfiff, und Kanai kämpfte sich ebenfalls durch die Menge. BeimEinsteigen erspähte er einen freien Platz und ließ sich dort nieder. Er wolltewährend der Fahrt lesen, doch als er seine Papiere aus dem Koffer nahm, merkteer, dass der Platz, den er gefunden hatte, nicht ganz geeignet war. Es warnicht hell genug, und rechts von ihm saß eine Frau mit einem strampelnden Baby.Er würde sich kaum konzentrieren können, wenn er ständig zwei kleine Fäusteabwehren musste. Nach einigem Nachdenken kam er zu dem Schluss, dass der Platzlinks von ihm, am Fenster, besser wäre. Das Problem war nur, dass er von einemMann besetzt war, der in einer bengalischen Zeitung las. Kanai taxierte ihnkurz: ein älterer, zurückhaltend wirkender Mensch, der sich möglicherweiseüberreden ließe.
»Aré moshai, darf ich Sie etwas fragen?« Lächelnd richtete er all seineÜberzeugungskraft auf seinen Nachbarn. »Würden Sie wohl Ihren Platz mit mirtauschen, wenn es Ihnen nicht allzu viel ausmacht? Ich habe eine Menge Arbeit,und am Fenster ist das Licht besser.«
Der Zeitungsleser sah ihn mit großen, erstaunten Augen an, und einen Momentlang schien es, als wollte er protestieren oder sich gar weigern. Doch nacheinem Blick auf Kanais Kleidung und seine sonstige Erscheinung überlegte er essich anders: Neben ihm saß ganz offensichtlich ein Mann von Einfluss, derwomöglich auf vertrautem Fuße mit Polizeibeamten, Politikern und anderenwichtigen Leuten stand. Wozu Probleme heraufbeschwören? Würdevoll gab er nachund machte den Fensterplatz für Kanai frei.
Kanai freute sich, dass er sein Ziel so mühelos erreicht hatte. Er nickte demZeitungsleser dankbar zu und nahm sich vor, eine Tasse Tee für ihn zu kaufen,wenn das nächste Mal ein chaala ans Fenster kam. Dann holte er einige eng inBengali bedruckte Seiten aus der Außentasche seines Koffers, strich sie aufseinen Knien glatt und begann zu lesen.
In unseren Mythen heißt es, dass sich die Erde gespalten hätte, als die GöttinGanga vom Himmel niederstieg, hätte nicht Schiwa die gewaltigen Wassermassen inseine mit Asche bestreuten Locken geflochten und sie so gebändigt. Hört mandiese Legende, sieht man den Fluss auf besondere Art: als einen himmlischenZopf etwa, ein gewaltiges Seil aus Wasser, das sich über eine weite, durstigeEbene entrollt. Dass die Geschichte noch eine weitere Wendung nimmt, offenbartsich erst, wenn der Fluss die letzten Etappen seiner Reise erreicht - unddieser Teil der Überlieferung überrascht immer aufs Neue, weil er nie erzähltund daher nie vergegenwärtigt wird. Er lautet so: An einer bestimmten Stellelöst das Wasser Schiwas verfilztes Haar zu einem großen verknäulten Gewirr. Hatder Fluss diese Stelle passiert, wirft er seine Bande ab und verzweigt sich inHunderte, vielleicht Tausende verschlungener Strähnen.
Wer es nicht selbst gesehen hat, vermag kaum zu glauben, dass hier, zwischendem Meer und den Ebenen Bengalens, ein riesiger Archipel liegt. Und doch ist esso: ein Archipel, der sich über fast dreihundert Kilometer vom Hooghly inWestbengalen bis an die Mündung des Meghna in Bangladesch erstreckt.
Die Inseln sind die losen Fäden von Indiens Stoff, das ausgefranste Ende vonIndiens Sari, der ãchol, der Indien folgt, halb vom Meer durchnässt. Sie gehenin die Tausende, diese Inseln; manche sind riesig, andere nicht größer als eineSandbank, manche gibt es schon, seit Geschichte geschrieben wird, andere wurdenerst vor ein paar Jahren aufgespült. Die Inseln sind die Wiedergutmachung derFlüsse, sie sind die Opfer, mit denen diese Flüsse dem Land zurückgeben, wassie ihm genommen haben, auch wenn sie sich die Herrschaft über das Geschenk fürimmer vorbehalten. Ihre Seitenarme überziehen das Land wie ein engmaschigesNetz und schaffen ein Gebiet, in dem sich die Grenzen zwischen Land und Wasserfortwährend verschieben, niemals vorherzusehen sind. Einige der Flüsse sindmächtige Wasserstraßen, so breit, dass man nicht bis ans andere Ufer sehenkann, andere sind nicht mehr als zwei oder drei Kilometer lang und nur wenigehundert Meter breit. Doch jeder dieser Wasserläufe ist ein »Fluss« für sich,jeder hat seinen eigenen, seltsam sprechenden Namen. Da gibt es denJahajphoron, den Schiffezerschmetterer, den Tarobãki mit seinen dreizehnBiegungen und viele, viele andere mehr. Wenn diese Wasserläufe sich vereinen,dann oft zu vieren, fünfen oder gar zu sechsen: An ihrem Zusammenfluss dehntsich das Wasser bis an die fernen Ränder der Landschaft, und der Wald schrumpftzum bloßen Echo des Landes, das vom Horizont widerhallt. In der Sprache derGegend heißt solch ein Zusammenfluss mohona - ein seltsam betörendes, in vieleSchichten der Verlockung gehülltes Wort.
Es gibt hier keine klaren Grenzen zwischen Süß- und Salzwasser, zwischen Flussund Meer. Die Flut dringt dreihundert Kilometer landeinwärts vor, und jeden Tagverschwinden Tausende Morgen Wald im Wasser und tauchen Stunden später wiederauf. Die Strömungen sind so stark, dass sie die Inseln fast täglich umgestalten- mitunter reißt das Wasser ganze Vorgebirge und Halbinseln weg, dann wiederwirft es neue Schelfe und Sandbänke auf, wo vorher keine waren.
Wo die Gezeiten neues Land entstehen lassen, wächst über Nacht Mangrove, diesolch eine neue Insel unter günstigen Bedingungen innerhalb weniger Jahrevollständig bedecken kann. Ein Mangrovenwald ist eine Welt für sich, völliganders als andere Waldgebiete oder Dschungel. Es gibt dort keine hochaufragenden, mit Kletterpflanzen berankten Bäume, keine Farne, keineWildblumen, keine schnatternden Affen und Kakadus. Mangrovenblätter sind zähund ledrig, die Äste knorrig, das Laub oft undurchdringlich dicht. Die Sicht imMangrovenwald ist eingeschränkt, die Luft reglos und übel riechend. Ein Menschbleibt keinen Moment im Zweifel darüber, wie feindselig ihm ein solcher Waldgegenübersteht, wie raffiniert und einfallsreich er ist, wie fest entschlossen,ihn zu vernichten oder zu vertreiben. Jedes Jahr fallen in der Umarmung seinesdichten Laubes Dutzende von Menschen Tigern, Schlangen und Krokodilen zumOpfer.
Es gibt hier nichts Liebliches, was den Fremden einladen würde, und doch istder Archipel unter dem Namen Sundarbans bekannt, was wörtlich »der schöne Wald«heißt. Manche glauben, der Name leite sich von einer verbreiteten Mangrovenarther, dem Sundari-Baum, Heritiera minor. Doch der Ursprung des Wortes lässt sichebenso wenig erklären wie seine heutige Verbreitung, denn in den Registern derMoguln wird diese Region nicht nach einem Baum, sondern nach den Gezeitenbenannt. Und die Bewohner der Inseln nennen das Land bhatir desh - Gezeitenland-, allerdings bedeutet bhati nicht einfach Gezeiten, sondern eben speziell eineder Gezeiten: die Ebbe, bhata. Bei Flut steht das Gebiet halb unter Wasser;erst wenn das Wasser wieder fällt, gebiert es den Wald. Beim Anblick dieserseltsamen Niederkunft, deren Geburtshelfer der Mond ist, weiß man, warum derName Gezeitenland nicht nur treffend, sondern geradezu notwendig ist. Denn esist wie mit Rilkes Kätzchen, die an der leeren Hasel hängen, wie mit dem Regen,der im Frühjahr auf dunkles Erdreich fällt, wenn wir die sinkende Flut sehen:
Und wir, die an steigendes Glück
denken, empfänden die Rührung,
die uns beinah bestürzt,
wenn ein Glückliches fällt.
Eine Einladung
Etwa zwanzig Minuten hinter Kolkata, als der Zug gerade hielt, bescherte einunerwarteter Glücksfall Piya einen Fensterplatz. Sie saß im stickigsten Winkeldes Abteils, am Rand einer Bank, um sich herum ihre Rucksäcke. Der Zug warbrechend voll und würde es bis Canning wohl auch bleiben. Als sie jetzt ansFenster trat, sah sie, dass er in einem Bahnhof namens Champahati stand. DerBahnsteig fiel zu einem dichten Gewirr von Hütten hin ab und versank dann ineinem Tümpel aus schäumendem grauem Schlamm. Seltsam, dass dies das Tor zu denSundarbans war, dieses Dickicht aus Bretterbuden und Baracken entlang denGleisen eines Vorortzuges.
Mit einem Blick über die Schulter erspähte Piya einen Teeverkäufer, der denBahnsteig entlangpatrouillierte. Durch das vergitterte Fenster winkte sie ihnheran. Aus dem chai, den es in ihrer Heimatstadt Seattle gab, hatte sie sichnie viel gemacht, doch für den milchigen, lange gekochten Tee in den Tontassenhatte sie in den zehn Tagen, seit sie in Indien war, eine unerwartete Vorliebeentwickelt. Er war nicht gewürzt und damit mehr nach ihrem Geschmack als derchai zu Hause.
Nachdem sie bezahlt hatte und den Becher durch die Gitterstäbe manövrierte,stieß der Mann, der ihr gegenübersaß, beim Umblättern einer Seite gegen ihreHand. Geistesgegenwärtig zog sie den Becher so schnell weg, dass der Teegrößtenteils aus dem Fenster schwappte, doch ein dünnes Rinnsal lief über seinePapiere.
»Oh, das tut mir aber Leid!« Piya wäre am liebsten im Erdboden versunken. Vonallen Leuten im Abteil wollte sie am wenigsten diesen Mann mit ihrem Teeverbrühen. Sie hatte ihn schon auf dem Bahnsteig in Kolkata bemerkt. Seine selbstzufriedeneKopfhaltung war ihr aufgefallen, die Art, wie er die Menschen ringsum ungeniertmusterte, taxierte, einordnete. Sie hatte auch mitbekommen, mit welch lässigerÜberheblichkeit er seinen Nachbarn von dessen Fensterplatz vertrieben hatte.Das hatte sie an einige ihrer Verwandten in Kolkata erinnert: Auch sie schienen- aufgrund der Gesellschaftsschicht, der sie angehören, oder ihrer Bildung? -besondere Rechte für sich in Anspruch zu nehmen und als selbstverständlichvorauszusetzen, dass man ihnen die kleinen Hindernisse und Unannehmlichkeitendes Lebens stets aus dem Weg räumte.
»Hier«, sagte Piya und hielt ihm eine Hand voll Papiertücher hin. »Darf ichIhnen helfen?«
»Da ist nichts mehr zu machen«, erwiderte er gereizt. »Die Seiten sind hin.«
Sie zuckte zusammen, als er die Papiere, in denen er gelesen hatte, zerknüllteund aus dem Fenster warf. »Das war hoffentlich nichts Wichtiges«, sagte siekleinlaut.
»Nichts Unersetzliches - nur Kopien.«
Sie überlegte, ob sie ihn daran erinnern sollte, dass er ja gegen ihre Handgestoßen war, begnügte sich dann aber mit einem »Es tut mir so Leid - ichhoffe, Sie können mir verzeihen«.
»Was bleibt mir anderes übrig?« Es klang eher herausfordernd als ironisch.»Bleibt einem heutzutage überhaupt etwas anderes übrig, wenn man es mitAmerikanern zu tun hat?«
Piya wollte sich nicht streiten und überhörte diese Bemerkung. Sie sah ihn mitgroßen Augen scheinbar bewundernd an und fragte: »Wie haben Sie das erraten?«
»Was?«
»Dass ich Amerikanerin bin. Sie sind ein guter Beobachter «
Das schien ihn zu besänftigen. Seine Schultern entspannten sich, und er lehntesich zurück. »Ich habe es nicht erraten«, sagte er. »Ich wusste es.«
»Und woran haben Sie es erkannt? An meinem Akzent?«
»Ja.« Er nickte. »Was Akzente betrifft, irre ich mich selten. Ich binÜbersetzer von Beruf, müssen Sie wissen, und auch Dolmetscher. Ich bilde mirein, dass meine Ohren auf die Nuancen gesprochener Sprache geeicht sind.«
»Ach, ja?« Sie lächelte, und ihre Zähne leuchteten im dunklen Oval ihresGesichts. »Und wie viele Sprachen sprechen Sie?«
»Sechs. Dialekte nicht mitgerechnet.«
»Wow!« Diesmal war ihre Bewunderung echt. »Ich spreche nur Englisch - und dasnicht einmal besonders gut, würde ich sagen.«
Seine Stirn legte sich in Falten, er wirkte befremdet. »Und Sie wollen nachCanning?«, fragte er.
»Ja.«
»Aber erklären Sie mir eins«, fuhr er fort. »Wenn Sie weder Bengali noch Hindisprechen, wie wollen sie dann dort zurechtkommen?«
»Ich werde das tun, was ich immer tue«, antwortete sie lachend. »Ich werdeimprovisieren. Bei meiner Arbeit muss man sowieso nicht viel reden.«
»Und was für eine Arbeit ist das, wenn ich fragen darf?«
»Ich bin Cetologin. Das bedeutet « Fast entschuldigend setzte sie zu einerErklärung an, doch er fiel ihr ins Wort.
»Ich weiß, ich weiß«, sagte er barsch, »das brauchen Sie mir nicht zu erklären.Sie erforschen Meeressäuger, stimmts?«
»Ja.« Sie nickte. »Sie scheinen sich ja auszukennen. Ich arbeite tatsächlichüber Meeressäuger - Delfine, Wale, Seekühe und so weiter. Manchmal bin ichtagelang auf dem Wasser und habe niemanden, mit dem ich reden kann - jedenfallsniemanden, der Englisch spricht.«
»Dann fahren Sie also beruflich nach Canning?«
»Genau. Ich hoffe, ich kann eine Genehmigung für eine Bestandsaufnahme derMeeressäuger in den Sundarbans ergattern.«
Kanai schwieg jetzt, wenn auch nur kurz. »Das überrascht mich«, sagte er dann.»Ich wusste gar nicht, dass es dort welche gibt.«
© Blessing
Übersetzung: Barbara Heller
Autoren-Porträtvon Amitav Ghosh
Amitav Ghosh, 1956 in Kalkutta (jetzt Kolkata) geboren,wuchs in Bangladesch, Sri Lanka und Nordindien auf. Er studierte Geschichte undSozialanthropologie in Neu-Delhi, und nach seiner Promotion in Oxfordunterrichtete er an verschiedenen Universitäten Indiens und Amerikas. Heutelebt er mit seiner Frau und seinen Kindern in New York, verbringt jedoch jedesJahr mehrere Monate in Kolkata.
Mit Der Glaspalast" (Blessing, 2000) gelang dem schon vielfach ausgezeichnetenAutor weltweit der große Durchbruch, er wurde in zwanzig Sprachen übersetzt,und die Kritik war begeistert. Für seinen Erstling Bengalisches Feuer oder DieMacht der Vernunft" (Original 1986 erschienen) erhielt er den Prix MédicisÉtranger, für Schattenlinien" (Original 1988 erschienen) wurden ihm mehrereder wichtigsten indischen Literaturpreise zuerkannt.
- Autor: Amitav Ghosh
- 2004, 1, 459 Seiten, Maße: 14,5 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Barbara Heller
- Verlag: Blessing
- ISBN-10: 3896672037
- ISBN-13: 9783896672032
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