Ich bin Charlotte Simmons
Charlotte Simmons ist hoch begabt und gerade 18 Jahre alt. Voller Stolz fährt sie von ihrem 900-Seelen-Dorf in North Carolina an die...
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Charlotte Simmons ist hoch begabt und gerade 18 Jahre alt. Voller Stolz fährt sie von ihrem 900-Seelen-Dorf in North Carolina an die traditionsreiche Dupont University in Pennsylvania. Dort kann Charlotte dank eines Stipendiums studieren. Doch schnell wird der Tochter einer religiösen Mutter etwas Entscheidendes klar: Nicht das Wissen und geistiges Leben zählen an einer US-Uni. Sondern sehr materielle und vor allem fleischliche Dinge...
»Kaum ein Autor hat die progressiven Zeitströmungen während der letzten vierzig Jahre so brillant auseinander genommen wie Tom Wolfe.« (Süddeutsche Zeitung)
ICH BIN CHARLOTTE SIMMONS ist ein brillanter Campusroman voller polemischer Spannung, Witz und Verve und eine aktuelle Bestandsaufnahme des janusköpfigen Amerika, in dem die konservativen Kräfte gegen die liberalen antreten.
"Charlotte, du bist dazu bestimmt, Großes zu tun", prophezeit ihr die Lehrerin. Und das hübsche Mädchen vollbringt Großes: Sie schließt die Highschool in ihrem winzigen Nest in den Blue Ridge Mountains als Beste ab und erhält ein Stipendium für Dupont in Pennsylvania. Charlotte ist überglücklich, endlich darf sie in das Paradies der Gelehrsamkeit ziehen. An dieser bedeutendsten Universität des Landes wird sie erstmals auf Gleichgesinnte treffen, die wie sie die Welt zu durchdringen suchen. Doch kaum hat sie voller Idealismus ihr Studium begonnen, wird ihr klar, was an diesem Olymp des Wissens wirklich zählt: schicke Klamotten, sich bis zur Besinnungslosigkeit besaufen und natürlich Sex. In ihrer Naivität hätte Charlotte das nie für möglich gehalten, denn sie ganz die Tochter ihrer religiösen Mutter ist selbstverständlich noch Jungfrau. Doch schon bald umwerben sie drei Männer: ein verkopfter "Nerd", der die Welt revolutionieren möchte; ein "Anabolika-Trottel", der einzige weiße Basketballspieler im Uni-Team; und ein auf seinen Vorteil bedachter Schönling. Charlotte erwählt den Falschen und braucht lange, um wie ein Phönix aus der Asche ihres Selbstverlusts aufzusteigen.
Tom Wolfe, Amerikas Mr. Zeitgeist, legt in diesem rasanten und überaus amüsanten Campusroman den gegenwärtig in den USA tobenden Kulturkampf zwischen dem Konservatismus im Süden und
ICH BIN CHARLOTTE SIMMONS ist ein brillanter Campusroman voller polemischer Spannung, Witz und Verve - und eine aktuelle Bestandsaufnahme des janusköpfigen Amerika, in dem die konservativen Kräfte gegen die liberalen antreten.
"Charlotte, du bist dazu bestimmt, Großes zu tun", prophezeit ihr die Lehrerin. Und das hübsche Mädchen vollbringt Großes: Sie schließt die Highschool in ihrem winzigen Nest in den Blue Ridge Mountains als Beste ab und erhält ein Stipendium für Dupont in Pennsylvania. Charlotte ist überglücklich, endlich darf sie in das Paradies der Gelehrsamkeit ziehen. An dieser bedeutendsten Universität des Landes wird sie erstmals auf Gleichgesinnte treffen, die wie sie die Welt zu durchdringen suchen. Doch kaum hat sie voller Idealismus ihr Studium begonnen, wird ihr klar, was an diesem Olymp des Wissens wirklich zählt: schicke Klamotten, sich bis zur Besinnungslosigkeit besaufen und natürlich Sex. In ihrer Naivität hätte Charlotte das nie für möglich gehalten, denn sie - ganz die Tochter ihrer religiösen Mutter - ist selbstverständlich noch Jungfrau. Doch schon bald umwerben sie drei Männer: ein verkopfter "Nerd", der die Welt revolutionieren möchte; ein "Anabolika-Trottel", der einzige weiße Basketballspieler im Uni-Team; und ein auf seinen Vorteil bedachter Schönling. Charlotte erwählt den Falschen - und braucht lange, um wie ein Phönix aus der Asche ihres Selbstverlusts aufzusteigen.
Tom Wolfe, Amerikas Mr. Zeitgeist, legt in diesem rasanten und überaus amüsanten Campusroman den gegenwärtig in den USA tobenden Kulturkampf zwischen dem Konservatismus im Süden und dem Liberalismus an der Ost- und Westküste bloß, präzise , schonungslos und voller Allgemeingültigkeit. ICH BIN CHARLOTTE SIMMONS ist nichts weniger als eine "Great American Novel", verfasst in einer atemlos genialischen Sprache.
"Wolfe hat mit 'Ich bin Charlotte Simmons' die Dynamik des heutigen Amerikas so gut erfasst wie die gesellschaftlichen Spannungen an der Schwelle des politisch korrekten Jahrzehntes in 'Fegefeuer der Eitelkeiten' und die Machtkämpfe zwischen altem und neuem Geld während des Wirtschaftswunders der 90er Jahre in 'Ein ganzer Kerl'."
Süddeutsche Zeitung
"Charlotte durchlebt nichts weniger als den aktuellen amerikanischen Kulturkampf. Der Roman lebt von dem Riss, der derzeit durch das Land geht - von dem Gegensatz zwischen dem ländlich-konservativen Amerika und dem liberal-hedonistischen Klima an der Nordost- und Westküste. Reporterglück, würden Updike, Mailer und Irving jetzt wahrscheinlich sagen. Aber mit Glück hat das nicht allzu viel zu tun. Das hat Wolfe nun wirklich oft genug bewiesen."
Sonntagszeitung
"Ein Roman, der Leuten, die kein Kind an einem amerikanischen College haben, viel amüsanten Stoff bietet." Welt am Sonntag
LESEPROBE
PrologDer Dupont-Mann
Sobald die Tür aufging, brandete das Getöse von Swarm, derBand,
die obenim Saal ihr Konzert gab, in die Herrentoilette, brach sich
aufSpiegeln und keramischen Oberflächen zu doppelter Lautstärke.
Dann zogein hydraulisches Scharnier die Tür zu, und man hörte wieder
dieStudenten an den Urinalen, die, berauscht von Bier und ihrer eigenen
Jugend,Witze machten oder zumindest Lärm.
Zwei vonihnen fanden es wahnsinnig lustig, mit den Händen vor den
Fotozellenherumzuwedeln, um die Spülung der Urinale am Laufen zu
halten.Der eine rief dem anderen zu: »Wieso Nutte? Mir hat sie gesagt,
sie istrefloriert worden!« Sie prusteten beide los.
»Das hatsie gesagt? Re-floriert?«
»Ja!Re-florierte Jungfrau oder unbefleckte Wiedergeburt oder irgend
so nScheiß!«
»Vielleichtmeint sie, so was kommt von der Pille danach!« Wieder
prustetensie los. Sie hatten jenes Stadium an einem studentischen
Abenderreicht, in dem alles umso witziger erscheint, je lauter man es
herausbrüllt.
DieUrinale spülten, die Jungen kriegten sich nicht ein über ihren
geistreichenHumor, und irgendwo in der langen Reihe der WC-Kabinen
übergabsich jemand. Dann flog die Tür auf, und Swarm kam wieder
hereingedonnert.
Der Student,der in diesem Augenblick als Einziger an den Waschbecken
stand,ließ sich durch nichts stören. Er war gebannt von dem
Anblick,den der Spiegel ihm bot von seinem eigenen Gesicht, hell und
weiß. EinSturm rauschte ihm durch den Kopf. Ein gutes Gefühl. Er
fletschtedie Zähne. So deutlich hatte er es noch nie gesehen. Wie eben-
mäßig! Wieweiß! Es vibrierten vor Vollkommenheit. Und sein kantiger
Unterkiefer das Kinn mit dem perfekten Grübchen genau in der
Mitte derdichte Schopf hellbrauner Haare die leuchtenden Haselnussaugen
seine Augen! Direkt vor ihm im Spiegel - er! Ganz plötzlich
meinte er,eine zweite Person zu sein, die ihm über die Schulter
blickte.Sein erstes Ich war überwältigt von seinem fantastischen Aussehen.
Ganz undgar hingerissen. Sein zweites Ich dagegen betrachtete das
Gesicht imSpiegel objektiver, mit größerer Distanz, nur um zum selben
Ergebniszu kommen: Er sah fantastisch aus. Jetzt nahmen sie beide
seineOberarme in Augenschein, die aus den Ärmeln des Polohemds herausschauten.
Er drehtesich zur Seite und streckte einen Arm, ließ den
Trizepshervorstehen. Phänomenal, warenbeide Ichs sich einig. Er hatte
sich nochnie so gut gefühlt.
Und nichtnur das, er stand kurz vor einer großen Erkenntnis. Irgendetwas
mit einemMenschen, der die Welt durch zwei Paar Augen betrachtet.
Wenn erdiesen Moment bloß in seinem Kopf einfrieren
könnte, umsich morgen früh daran zu erinnern und ihn aufzuschreiben.
HeuteNacht war das unmöglich, bei dem Höllenlärm in seinem
Schädel.
»Yo, Hoyt!Wie schaut s aus?«
Er rissden Blick vom Spiegel los und sah Vance, das blonde Haar zerzaust
wie immer.Sie waren in derselben Studentenverbindung, das hieß,
Vance warsogar Vorsitzender. Hoyt verspürte einen überwältigenden
Drang, ihmvon seiner großen Entdeckung zu erzählen. Er öffnete den
Mund, aberer fand keine Worte, es kam gar nichts heraus. Also drehte
er nur dieHandflächen nach oben und zuckte die Achseln.
»Klassesiehst du aus, Hoyt«, sagte Vance, bereits auf dem Weg zu
denUrinalen. »Richtig klasse!«
Hoytwusste, in Wirklichkeit bedeutete das, dass er ziemlich besoffen
aussah.Aber was konnte ihm das in seiner momentanen Größe schon
ausmachen?
»He,Hoyt«, sagte Vance, der jetzt vor einem der Urinale stand. »Hab
gesehen,wie du die kleine Tusse da oben angegraben hast. Jetzt mal ehrlich:
Stehst duauf die?«
»Hauppsacheäährschteed«,nuschelte Hoyt, der eigentlich sagen
wollte:»Hauptsache er steht«, und einevage Ahnung hatte, dass es
nicht ganzhinhaute.
»Klingstauch klasse!«, sagte Vance. Er war auf seine Verrichtung am
Urinalkonzentriert, aber dann sah er noch einmal zu Hoyt hinüber und
sagte,ernsthafter jetzt: »Weißt du, was ich glaube, Alter? Ich glaube, du
bistziemlich am Arsch. Machen wir lieber, dass wir nach Hause kommen,
bevor smit dir ganz aus ist?«
Hoytbrabbelte ein paar unverständliche Gegenargumente, aber nur
schwach,und nicht viel später verließen sie das Gebäude.
Es wareine milde Mainacht mit einer angenehmen Brise und einem
Vollmond,dessen Licht gerade hell genug war, dass man das einzigartige,
wie eineWelle geformte Dach des Theaters erkennen konnte, das
hier ander Universität offiziell Phipps Opera House hieß, eine der
avantgardistischenFünfzigerjahre-Kreationen des berühmten Architekten
EeroSaarinen. Das grelle Foyerlicht des Theaters warf eine feurige
Bahn querüber den Vorplatz bis zu der Reihe von Platanen am Rand
einerweiteren berühmten Zierde des Campus - des Hains. Dem Färbemittelkönig
undKunstmäzen Charles Dupont, nicht verwandt oder verschwägert
mit den DuPonts aus Delaware, hatte bei der Gründung der
DupontUniversity vor hundertfünfzehn Jahren die Vision eines Arkadien
desGeistes vorgeschwebt, in dem junge und alte Gelehrte lustwandeln
und sinnenkonnten. Und so hatte er den legendären Landschaftsarchitekten
CharlesGillette beauftragt. Proben von Gillettes
Genie fandman zuhauf auf dem Campus. Da war der Great Yard in seiner
Mitte, dieKarrees der älteren Wohncolleges, der botanische Garten,
zweiBlumenwiesen mit Pavillons, die von Bäumen beschatteten Parkplätze
undebendieses meisterhafte Arboretum, der Hain, so kunstvoll
ersonnen,dass es kaum vorstellbar schien, dass Dupont praktisch eingeschlossen
war vonden schwarzen Slums einer so großen Stadt wie
Chester,Pennsylvania. Gillette hatte jeden Baum, jeden Bodendecker,
jedenBusch und jede Ranke, jede grasige Lichtung und jede immergrüne
Pflanzemit der größten Akribie setzen lassen, und bis zum heutigen Tag,
ein gutesJahrhundert später, war all dies genauso erhalten. Für die kontemplativen
Spaziergängehatte Gillette gewundene Pfade durch den
Hain legenlassen. Aber die Studenten von heute durchquerten diesen
Triumphamerikanischer Landschaftsarchitektur - auch wenn es nicht
gestattetwar - am liebsten auf dem direkten Weg, wie eben jetzt Hoyt
und Vance,vom Licht eines großen kugelrunden Mondes begleitet.
Diefrische Luft und die Stille unter den hohen Bäumen reinigten
HoytsKopf, ein wenig zumindest. Er fühlte sich erneut wie an jenem
Punkt derVerlaufskurve des Rausches, wo das Hochgefühl seinen Zenit
erreicht,bevor die Kräfte der Logik und der Vernunft es an der Rückseite
der Kurveherabrutschen und am Boden zerschellen lassen am
herrlichenPunkt der vollkommenen toxischen Balance. Er war überzeugt,
jetztwieder einen zusammenhängenden Satz zu Stande bringen
und sichverständlich machen zu können, und immer noch tobte ihm der
Sturm derGlückseligkeit durch den Kopf.
Zuerstsagte er nicht viel, während er mit Vance zwischen den Bäumen
hindurchauf den Ladding Walk im Herzen des Campus zusteuerte,
weil ernach wie vor jenen Moment vor dem Spiegel zu fassen versuchte.
Aberdieser Moment entglitt ihm immer wieder, und ehe er sich versah,
hatte seinHirn einen ganz anderen Gedanken an die Oberfläche gespült.
Es war derHain der berühmte Hain derihm zuflüsterte Dupont
und es ihnbis ins Mark seiner Knochen spüren ließ Dupont
wasbesagte Knochen sogleich dazu bewegte, sich den Knochen all der
anderenAmerikaner, die nicht in Dupont studierten, unendlich überlegen
zu fühlen.Ich bin ein Dupont-Mann, sagte er sich. Wo war der
Schriftsteller,der dieses Gefühl unsterblich machte - diese Begeisterung,
die seinganzes Zentralnervensystem entflammte, wenn er im Gespräch
mit einemneuen Bekannten sehr bald und scheinbar beiläufig einfließen
ließ, dasser aufs College ging, und auf die unvermeidliche Frage
»Wo denn?«so gleichmütig und unbetont wie möglich antwortete:
»Dupont«,um dann die Reaktion zu beobachten. Manche, vor allem
Frauen,zeigten sich beeindruckt. Sie lächelten, ihre Gesichter hellten
sich auf,und sie sagten: »Oh, Dupont!« Andere dagegen, besonders
Männer,versuchten krampfhaft, sich nicht anmerken zu lassen, wie
beeindrucktsie waren, und sagten nur »aha« oder »verstehe« oder gar
nichts. Erwusste nicht, was er mehr genoss. Jeder, Mann oder Frau, der
gerade wieer in Dupont studierte oder hier seinen Abschluss gemacht
hatte,kannte dieses Gefühl, liebte diesesGefühl, tat alles dafür, dieses
Gefühlnach Möglichkeit Tag für Tag neu auszukosten, jetzt und bis
zum Endeseines Lebens - aber noch hatte niemand dieses Gefühl in
Wortegekleidet, und ganz gewiss hatte niemand hier, kein Dupont-
Mann undkeine Dupont-Frau, jemals versucht, es einer lebenden Seele
zubeschreiben, nicht einmal in diesem erlauchten Kreis der Auserlesenen.
Man war jakein Idiot.
Er ließden Blick durch den Hain schweifen. Die Bäume waren verzauberte
Silhouettenunter einem goldenen Vollmond. Fröhlich, fröhlich
brausteder Wind ihm durch den Kopf, und - eine Inspiration wie ein
Blitz - er, Hoyt, würde derjenige sein, derall dies in Worte kleidete! Er
würde derBarde sein! In ihm steckte ein Schriftsteller, er wusste es genau.
Zwar warer bisher nicht dazu gekommen, etwas anderes zu schreiben
alsSeminararbeiten, aber jetzt, in diesem Augenblick, wusste er,
dass erdas Zeug dazu hatte. Er konnte es kaum erwarten, morgen früh
aufzuwachenund dieses Gefühl auf den Bildschirm seines Mac zu bannen.
Odersollte er jetzt gleich Vance davon erzählen? Der ging nur ein
paarSchritte vor ihm durch den verzauberten Hain. Mit ihm konnte
man überso etwas reden
Plötzlichdrehte sich Vance zu Hoyt um und hob die Hand, damit
er stehenblieb, er legte den Zeigefinger an die Lippen und presste sich
dicht aneinen Baumstamm. Hoyt machte es ihm nach. Dann gab Vance
ihm einZeichen, um den Baum herumzuschauen. Zwei Gestalten waren
da imMondlicht zu erkennen, keine fünf Meter entfernt. Die eine war
ein Mannmit mächtigem weißen Haarschopf, am Fuß eines Baumstamms
im Grassitzend, die Hosen und Boxershorts bis zu den Knöcheln
heruntergeschoben,die schweren weißen Oberschenkel weit gespreizt.
Die andereGestalt war ein Mädchen in Shorts und T-Shirt, das
zwischenseinen Schenkeln kniete. Ihre buschige Haarmähne wirkte
sehr blassim Mondlicht, während sie sich über dem Schoß des Mannes
auf und abbewegte.
Vance zogden Kopf zurück hinter den Baum und flüsterte: »Du heilige
Scheiße,Hoyt, weißt du, wer das ist? Das ist Gouverneur Dingsda,
der ausKalifornien, der Typ, der auf der Gründungsfeier die Rede halten
soll.« DieGründungsfeier war am Samstag. Heute war Donnerstag.
»Und wasmacht er dann jetzt schon hier?«, fragte Hoyt ein bisschen
zu laut,sodass Vance rasch wieder den Finger vor den Mund legte.
Vancegluckste ganz tief in der Kehle und flüsterte: »Das sieht ja wohl
nBlinder, oder?«
Siespähten erneut hinter dem Baum hervor. Der Mann und das Mädchen
musstensie gehört haben, denn sie schauten beide in ihre Richtung.
»Die kennich«, sagte Hoyt. »Die war in meinem «
»Scheiße,Hoyt! Psssst!«
Bamm! Von hinten schloss sich eine eiserne Pranke um Hoyts rechte
Schulter,und eine Tough-Guy-Stimme sagte: »Was glaubt ihr Wichser,
was ihrhier tut?«
Hoyt fuhrherum und sah sich einem kleinen, aber muskelbepackten
Mann indunklem Anzug gegenüber. Schlips und Kragen reichten kaum
um denHals herum, der breiter war als der Kopf. Hinter dem linken
Ohr lugteein kleines, durchsichtiges Spiralkabel hervor.
Adrenalinund Alkohol überschwemmten Hoyts Stammhirn. Er war
einDupont-Mann, und vor ihm stand ein präpotenter Halbaffe der niedersten
Sorte.»Was wir tun?«, bellte er, wobei er dem Mann unbeabsichtigt
eineSpeicheldusche verabreichte, »einem Anthropoiden in die
Affenvisageglotzen, das tun wir!«
Der Mannpackte Hoyt an beiden Schultern und stieß ihn rücklings
gegen denBaumstamm, dass ihm die Luft wegblieb. Während der kleine
Gorillanoch mit der Faust ausholte, ließ sich Vance hinter ihm auf Knie
und Händenieder. Hoyt wich der Faust aus, die gegen den Baumstamm
krachte,und rammte dem Angreifer - der gerade begonnen hatte, ein
schmerzerfülltes»Shiiiiit« herauszujaulen - mitaller Kraft den Unterarm
in denLeib. Der Mann taumelte rückwärts, stolperte über Vance
und schlugmit einem ekelhaft dumpfen Geräusch auf dem Boden auf.
Er wolltesich aufrappeln, sank aber wieder zu Boden. Da lag er, neben
einerriesigen, hervorstehenden Ahornwurzel, das Gesicht verzerrt, und
hielt sichdie Schulter mit einer Hand, deren blutige Knöchel bis auf den
nacktenKnochen aufgeplatzt waren. Der Arm, der eigentlich in das
Schultergelenkgehörte, stand in einem grotesken Winkel ab.
Hoyt undVance, immer noch auf allen vieren, starrten fassungslos
auf diesesBild der Pein. Der Mann schlug die Augen auf, sah, dass seine
Gegnerkeinen neuen Angriff starteten, und stöhnte: »Scheiße « Dann,
übermanntvon weiß der Himmel was, verzog er das Gesicht zur nächsten
Schmerzensgrimasse- lag nur da und ächzte: »Ihr Dreckschweine
ihrSchweine «
Die beidenblickten sich an und drehten sich - zwei Seelen, ein Gedanke
- nach demMann und dem Mädchen um; aber die waren verschwunden.
Vanceflüsterte: »Und was machen wir jetzt?«
»Dass wirwegkommen«, sagte Hoyt.
Und dastaten sie. Baumstämme, Büsche und Blumen und Blätter flogen
nur so anihnen vorbei, als sie durch das dunkle Arboretum hetzten,
und Vancemurmelte in einem fort Dinge wie: »Notwehr, Notwehr
reine Notwehr«,bis er zu ausgepumpt war, um beim Rennen auch
noch zureden.
Sieerreichten das Ende des Hains, der hier an den offenen Campus
grenzte,und Vance keuchte: »Nicht so schnell « Er war so außer
Atem, dasser nicht mehr als ein oder zwei Silben zwischen zwei Japsern
hervorbrachte.»Einfach ganz normal und natürlich
gehen.«
Und sokamen sie ganz normal und natürlich aus dem Hain geschlendert,
zweinächtliche Spaziergänger, nur ihr Atem klang wie zwei Baumsägen,
und siewaren klatschnass geschwitzt.
Vancesagte: »Kein« - japs - »Wortdarüber« - japs - »zu keinem.«-
japs - »Hast du« - japs -»gehört?« - japs - »Hörst du,Hoyt?« - japs -
»Hörstdu?« - japs - »Scheiße, Hoyt!«- japs - »Hörst du mich?«
Aber Hoytschaute ihn nicht einmal an, von zuhören ganz zu schweigen.
Sein Herzpumpte nicht weniger Adrenalin als das von Vance. Aber
in HoytsFall diente das Hormon dazu, den fröhlichen Wind anzufachen,
der jetztnoch heftiger blies. Er hatte den Drecksack platt gemacht!
Wie erdiesen muskelverschnürten Schwachkopf über Vances Rücken
geschleuderthatte - Wahnsinn! Er konnte es kaum erwarten, ins Saint
Ray Housezu kommen und allen davon zu erzählen. Er! Eine Legende
wargeboren! Er hob den Kopf und blickte auf das Bild, das vor ihnen
lag,überwältigt von dem Hochgefühl der - Ekstase!- eines Mannes
nach dergewonnenen Schlacht.
»Schaudoch hin, Vance«, sagte er. »Da ist es.«
»Was ist da, um Himmels willen?«,sagte Vance, der so schnell wie
möglichweiterwollte.
Hoyt wiesnur stumm mit der Hand.
Der Campusvon Dupont Das Mondlicht verwandelte die Universitätsgebäude
in eingroßflächiges Chiaroscuro aus dunklen Formen,
von einerLasur aus blässlich-weißem Gold in ihrer ganzen Opulenz
hervorgehoben.Die Türme und Türmchen, die Spitzen und die schweren
Schieferdächer- so unsagbar schön, unsagbar großartig. Wände so
dick wieSchlossmauern! Es war eine Festung. Und er, Hoyt, gehörte
zu einemerlesenen Kreis, zu den wenigen Glücklichen, die diese Festung
nachBelieben betreten ihrer Uneinnehmbarkeit teilhaftig werden
durften.Und mehr noch, er gehörte zum innersten Kern dieses Kreises,
denSaint-Rays, der Korporation derer, die auserwählt waren zu
herrschenüber ja, über all die anderen.
Er wollteVance an dieser tiefen Einsicht teilhaben lassen, aber Shit!
esüberforderte ihn. Deshalb sagte er nur: »Vance, weißt du, was
Saint Ray ist?«
Die Fragewar von so grandioser Unerheblichkeit, dass Vance ihn mit
offenemMund anstarrte. Dann, in der Hoffnung, seinen Kameraden damit
wieder aufTrab zu bringen, sagte er: »Nein, was denn?«
»EinBlankoscheck mit dem du alles machen kannst, was du nur
willst absolut alles.« Es schwang nicht eine Spur von Ironie in seiner
Stimmemit. Nur Ergriffenheit. Er hätte nicht ehrlicher sein können.
»Hör aufdamit, Hoyt! Fang gar nicht erst damit an! Wir wissen
nichts vondem, was da eben im Hain passiert ist. Gar nichts! Okay?«
»Nur keinePanik«, sagte Hoyt und schwenkte die Hand in einem
weitenBogen, der die gesamte Szenerie einschloss. »Innerster Kern
erlesenerKreis.«
Wieder beschlichihn so eine Ahnung, dass er sich nicht richtig verständlich
machenkonnte. Den ängstlichen Ausdruck auf Vances mondbeschienenem
Gesichtregistrierte er eher gelassen. Warum war Vance so
nervös? Erwar doch auch ein Dupont-Mann. Hoyt ließ einen letzten
liebevollenBlick über das mondbeglänzte Königreich schweifen, das
da vorihnen lag. Der gewaltige Turm der Bibliothek die berühmten
Wasserspeieran den Ecken des Lapham College, deren Silhouetten sich
deutlichabzeichneten und weiter hinten die Kuppel der Basketballhalle
dieGlas-und-Stahlkonstruktion des neu erbauten Zentrums für
Neurobiologieoder was auch immer das war - selbst dieses sonderbare
Bauwerkerschien nun wunderschön - Dupont! Naturwissenschaften -
reihenweiseNobelpreisträger - auch wenn die Namen ihm jetzt gerade
nichteinfielen Sportler - Giganten des Sports! Nationaler Basketballmeister!
Top Fiveim Football und Lacrosse! Obwohl er persönlich
es jahirnverbrannt fand, zu den Spielen zu gehen und irgendwelchen
Sportlernzuzujubeln Geistesgrößen - legendäre Geistesgrößen! -
auch wenndie meisten von ihnen bleiche, am Rande des Collegelebens
herumgeisterndeAußenseiter waren Traditionen - die großartigsten
Traditionen!- Marotten, Verschrobenheiten, von einer Generation
der Besten an die nächste weitergegeben.Gut, ein paar Wölkchen
warenaufgezogen - die steigende Zahl von akademischen Sonderlingen,
Bücherwürmern,Homosexuellen, Flötenwunderkindern und anderen
Randgestalten,die heutzutage aufgenommen wurden egal!
Die haben ihr Dupont, das letztlich nichtsanderes ist als ein Diplom
mit demBriefkopf von Dupont und wir haben unseres, das wahre
Dupont!
Sein Herzwar so voll, er hätte es vor Vance ausschütten mögen. Aber
dasProblem mit der Verständlichkeit meldete sich wieder, und so
brachte ernur heraus: »Es ist unseres, Vance, unseres!«
Vanceschlug die Hand vors Gesicht und stöhnte beinahe so jämmerlich
wie derkleine Muskelprotz auf dem Rasen des Hains. »Hoyt, du
bist sowas von hackevoll.«
©Verlagsgruppe Random House
Übersetzung:Walter Ahlers
- Autor: Tom Wolfe
- 2005, 1, 800 Seiten, Maße: 16,4 x 23,3 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Ahlers, Walter
- Übersetzer: Walter Ahlers
- Verlag: Blessing
- ISBN-10: 389667272X
- ISBN-13: 9783896672728
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