Ich lebe!
Wie ich die Fesseln meiner Krankheit sprengte
Sie ist Mutter von zwei kleinen Kindern und beruflich international erfolgreich. Bis zu jenem verhängnisvollen Tag, der ihr Leben für immer in ein "vorher" und ein "danach" scheiden sollte. Sie muss hilflos zusehen, wie ihr...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Ich lebe! “
Sie ist Mutter von zwei kleinen Kindern und beruflich international erfolgreich. Bis zu jenem verhängnisvollen Tag, der ihr Leben für immer in ein "vorher" und ein "danach" scheiden sollte. Sie muss hilflos zusehen, wie ihr Körper Zug um Zug seine Funktionen einstellt: Plötzlich kann sie sich nur noch taumelnd vorwärts bewegen und es gelingt ihr nicht mehr, sich deutlich zu artikulieren. Locked-in-Syndrom lautet die Diagnose, ein Wimpernschlag zum sicheren Tod. Doch Laetitia Bohn-Derrien schafft das Unmögliche: Sie überlebt. Und sie erzählt von dem Geschenk eines zweiten Lebens, eine Geschichte voller Hoffnung, die zutiefst berührt.
Klappentext zu „Ich lebe! “
Das Geschenk eines zweiten Lebens die ebenso bewegende wie Mut machende Autobiographie einer starken Frau, die den sicheren Tod besiegte.Als Laetitia Bohn-Derrien im Herbst 1999 mit nur 33 Jahren schwer erkrankt, ist die Diagnose ihrer Ärzte ein nahezu sicheres Todesurteil: Locked-in-Syndrom, jene gespenstische Krankheit, die einen Menschen innerhalb von Stunden in einen lebenden Toten verwandelt. Zu völliger Bewegungs- und Sprachlosigkeit verdammt, aber bei vollem Bewusstsein, sind die Patienten wahrhaft Eingeschlossene in ihrem Körper. Jean-Dominique Bauby war der Erste, der in seinem Bestseller Schmetterling und Taucherglocke Zeugnis ablegte von der Dramatik dieser alptraumhaften Erkrankung, bevor er starb. Laetitia Bohn hingegen gelang die Rückkehr in die Welt eine Tatsache, die an ein Wunder grenzt: Unterstützt von der Liebe ihrer Familie und getragen von ihrer ungeheuren Willenskraft ist sie weltweit eine der ganz Wenigen, die heute wieder ein selbstbestimmtes Leben führen kann.Der Fall Laetitia Bohn-Derrien sorgte aufgrund seiner Einzigartigkeit international für Aufsehen.
Sie ist Mutter von zwei kleinen Kindern und beruflich international erfolgreich. Bis zu jenem verhängnisvollen Tag, der ihr Leben für immer in ein 'vorher' und ein 'danach' scheiden sollte. Sie muss hilflos zusehen, wie ihr Körper Zug um Zug seine Funktionen einstellt: Plötzlich kann sie sich nur noch taumelnd vorwärts bewegen und es gelingt ihr nicht mehr, sich deutlich zu artikulieren. Locked-in-Syndrom lautet die Diagnose, ein Wimpernschlag zum sicheren Tod. Doch Laetitia Bohn-Derrien schafft das Unmögliche: Sie überlebt. Und sie erzählt von dem Geschenk eines zweiten Lebens, eine Geschichte voller Hoffnung, die zutiefst berührt.
"Eine ganz besondere Autobiographie: Erinnerungen, Aussagen von Ärzten, Pflegern, Angehörigen ergeben ein ungemein anrührendes Buch. Es macht Mut, den Lebenswillen nicht aufzugeben." dpa
"In ihrer beeindruckenden Biographie erzählt sie von ihrem Kampf, den sie auch angesichts von Rückschlägen und Niederlagen unerschütterlich führte." Österreichische Pflegezeitschrift
"Mit unglaublicher Intensität und Dichte schildert die Patientin den Ablauf dieser alptraumhaften Leidensgeschichte und - von den Ärzten bereits aufgegeben - ihren Kampf um die Rückkehr ins normale Leben." Mostviertel-Basar
"Eine ganz besondere Autobiographie: Erinnerungen, Aussagen von Ärzten, Pflegern, Angehörigen ergeben ein ungemein anrührendes Buch. Es macht Mut, den Lebenswillen nicht aufzugeben." dpa
"In ihrer beeindruckenden Biographie erzählt sie von ihrem Kampf, den sie auch angesichts von Rückschlägen und Niederlagen unerschütterlich führte." Österreichische Pflegezeitschrift
"Mit unglaublicher Intensität und Dichte schildert die Patientin den Ablauf dieser alptraumhaften Leidensgeschichte und - von den Ärzten bereits aufgegeben - ihren Kampf um die Rückkehr ins normale Leben." Mostviertel-Basar
Lese-Probe zu „Ich lebe! “
VORWORTAm 9. November 1999 zeigte Laetitia Bohn-Derrien im Alter von dreiunddreißig Jahren die ersten Symptome eines Schlaganfalls. Solche Insulte treten meist bei Älteren auf, doch auch junge Menschen können davon betroffen sein.
Als Laetitia ins Krankenhaus gebracht wurde, war ihre Motorik stark eingeschränkt, sie brauchte ständige und umfassende Betreuung. Im Lauf der ersten Tage verschlechterte sich ihr Zustand. Am Ende war sie am ganzen Körper gelähmt - jedoch bei Bewusstsein -, und wir mussten sie künstlich beatmen, um sie am Leben zu erhalten. Sie verständigte sich mittels der Lider - ein Zwinkern für Nein, kein Zwinkern für Ja. Sie litt am Locked-in-Syndrom, der schwersten Form eines Hirnschlags.
Der Insult hatte den Hirnstamm angegriffen, die Schädigung wurde durch eine vollständige Verstopfung der Basilarisarterie hervorgerufen, der Hauptader für die Versorgung des Hirnstamms und der angrenzenden Teile des Gehirns. Trotz eingehender Untersuchungen konnte die Ursache des Arterienverschlusses nie zweifelsfrei festgestellt werden. In etwa fünfundzwanzig Prozent der Fälle können die genauen Gründe für zerebrale Insulte bei jungen Menschen nicht nachvollzogen werden.
Die meisten Patienten, die wie Laetitia Bohn-Derrien vom Locked-in-Syndrom befallen werden, überleben den Insult nicht. Wäre die Gehirnschädigung nur ein klein wenig schlimmer gewesen, hätte Laetitia mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht überlebt. Eine Heilung verdankt sie sicherlich der qualitativ hoch stehenden Pflege, die ihr zuteil wurde, doch mehr noch als alles andere ist die Besserung von Laetitias Zustand ein Beweis für ihre eigene Entschlossenheit und Charakterstärke.
Mit fünf Jahren Abstand würde ich gern ein paar Überlegungen zu gewissen Aspekten vaskulärer zerebraler Insulte anstellen. Die Mediziner sind stets bemüht, über die Symptome aufzuklären: plötzliche Starre der Gesichtsmuskulatur, Taubheit eines Arms oder eines Beins, besonders auf nur einer
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Körperseite; plötzliche Verwirrtheit, Artikulations- oder Verständnisschwierigkeiten; plötzliche Sehprobleme auf einem Auge oder beiden Augen, plötzliche Bewegungsbehinderungen, Schwindel, Gleichgewichtsverlust oder Verlust der motorischen Koordination und gleich darauf heftige, unerklärliche Kopfschmerzen. Ganz besonders wichtig ist es, bei Auftreten der Symptome unverzüglich medizinische Hilfe zu rufen, um die Überlebens- und Heilungschancen des Patienten zu erhöhen. Wenn die Erkrankten in den ersten Stunden nach Erscheinen der Symptome in die Klinik gebracht werden, können sie verschiedenen Eingriffen unterzogen werden, um die Basilarisarterie wieder zu öffnen und den Blutfluss ins Gehirn zu reaktivieren. Solche Eingriffe sind nicht ohne Risiko, doch sie können die erneute Durchblutung der kritischen Gehirnzonen ermöglichen, die Heilung der geschädigten Stellen einleiten und jene Bereiche, die noch nicht betroffen sind, vor weiteren Läsionen schützen.
Bei der Erforschung von Eingriffen, die dazu beitragen, einen Insult zu verhindern oder die Schädigungen möglichst gering zu halten, stehen wir noch am Anfang. Patienten wie Laetitia Bohn-Derrien regen uns zu eingehenderen Studien an.
Neben der ausgezeichneten medizinischen Pflege machten es ihr "Glück", ihr Überlebenswille sowie die Liebe und Unterstützung von Freunden und Familie möglich, weiterzukämpfen und einer Heilung entgegenzusehen. Ich betrachte es als ein Privileg und eine Ehre, dem Ärzteteam angehört zu haben, das Laetitia Bohn-Derrien versorgte.
Ihre Geschichte wird allen Locked-in-Patienten Anregungen geben, für mich jedenfalls war sie eine Quelle der Inspiration.
Dr. Barney J. Stern
24. Januar 2005, Baltimore, Maryland, USA
(Barney Stern ist Chefarzt der Neurologie des Klinikums der University of Maryland in Baltimore; er ist dort Leiter der klinischen Forschung über zerebrale Insulte.)
EINLEITUNG
Ich habe nicht gezögert, als Laetitia mich bat, Aussagen von Beteiligten zu sammeln und ihre Gedanken in eine Form zu bringen. Sie ist meine Freundin, da fällt es natürlich leicht, Ja zu sagen. Doch ganz abgesehen von unserer Freundschaft, dachte ich an die vielen anderen Menschen, die in ihr Schweigen, in ihre Lähmung eingeschlossen sind und kämpfen - manchmal mit dem Tod, oft gegen die Einsamkeit, gegen unzulängliche Strukturen und die familiären, sozialen und finanziellen Folgen ihrer Krankheit; ein ständiger Kampf, um das Leben wieder lebbar zu machen. Vielleicht können Laetitias Erfahrungen dazu beitragen, diesen Menschen neuen Mut zu machen.
Bevor ich mich an die Arbeit machte, wollte ich mehr über das Locked-in-Syndrom erfahren, das so genannte LIS. Hinter diesem harmlos klingenden, kurzen Akronym verbirgt sich ein unvorstellbarer Leidensweg. Meine Kenntnisse über diese so seltene und seltsame Erkrankung verdanke ich Jean-Dominique Bauby, der mit dem linken Augenlid eine ergreifende Dokumentation seines Leidens diktiert hat. Am 9. März 1997 verstarb er kurz nach der Veröffentlichung seines Werks und der Freude über den letzten Erfolg seines kurzen Lebens: Das Buch wurde in achtundzwanzig Sprachen übersetzt.
Als ich den Begriff "Locked-in-Syndrom" in die Internet-Suchmaschinen eingab, war ich verblüfft - Hunderte, Tausende von Seiten - siebentausend Sites -, Links nach Berlin, Seoul, Harvard; Tagebücher, medizinische Abhandlungen, Chat-Rooms für verzweifelte Angehörige, Hilferufe. Ganz besonders herausstreichen möchte ich an dieser Stelle das Interesse der Deutschen an diesem Thema und das Engagement von Karl-Heinz Pantke, dem Vorsitzenden des Fördervereins LIS e.V.
Dennoch gibt es keine genaue Zahl über die Eingeschlossenen; in Frankreich dürften es zwischen vier- und fünfhundert sein, auf der ganzen Welt etwa viertausend. Der belgische Neurologe Steven Laureys erklärt die fehlende Statistik damit, dass das LIS auf Grund von Fehldiagnosen oft nicht registriert wird. Viele Ärzte halten LIS-Patienten für Komatöse, die nicht merken, was um sie herum vorgeht, dabei sind ihre geistigen Fähigkeiten intakt, und sie können es beweisen, wenn man mittels ihrer Lider mit ihnen kommuniziert. Etliche Patienten werden ihrem Schicksal überlassen, sobald sie schwere Infekte bekommen. Mit der Zustimmung der Angehörigen, die nicht wissen, dass ein LIS-Patient gegen den Tod ankämpfen kann, weigern sich die Fachärzte, eine Behandlung fortzusetzen.
Seit Baubys Bericht erschienen ist, hat sich die Situation verbessert. Er hat die Verzweiflung eines Menschen beschrieben, der mit anhören muss, wie sein Arzt behauptet, der Lidschlag sei lediglich ein unbewusster Reflex; Bauby hat dazu beigetragen, den stummen Gelähmten eine angemessenere Betreuung zukommen zu lassen.
Bauby hat auch maßgeblich die Gründung eines Verbandes angeregt, der über das Syndrom aufklären will und den Erkrankten sowie deren Angehörigen wichtige Hilfestellungen gibt. Bei der Jahresversammlung im April 2005 durfte ich erleben, wie wichtig dieser Verband ist: Nun war nicht mehr nur alles Papier - so realitätsgetreu dargestellt wie auch immer -, das war die Wirklichkeit.
Ich habe Christelle getroffen, einundreißig Jahre; wenn sie einen Hustenanfall bekommt, kann sie ohne Hilfe nicht einmal den Kopf heben, dennoch sucht sie nach einer Möglichkeit, sich zu behelfen, und nach einer Wohngelegenheit, um ihre Eltern zu entlasten. Ich habe Annick gesehen, sie wird mit einer Sonde ernährt, kann vier Finger und ein Lid bewegen und sie hat sich keine Silbe der wissenschaftlichen Vorträge entgehen lassen. Ich habe den Bericht einer Krankenschwester gehört, die seit siebenundzwanzig Jahren ihren Mann pflegt, der am Locked-in-Syndrom leidet. Ich war ergriffen von der Verzweiflung des Herrn Gomez, der aus Luxemburg gekommen war, wo sein Vater, der einzige LIS-Patient des Landes, in der Geriatrie untergebracht ist; seine Familie verfügt nicht über die nötigen Mittel für eine häusliche Pflege. Ich habe Dominique Toussaint getroffen, der, halb im Liegen, die Podiumsdiskussion moderiert und die Teilnehmer mitgerissen hat.
Im Kontakt mit diesen bemerkenswerten Menschen habe ich besser begriffen, wieso Laetitia in den USA "der Fall" genannt wurde - ein Fall, weil sie nach einer schweren beidseitigen Primärläsion des Hirnstamms ihre Autonomie wiedererlangt hat; der Insult war so massiv gewesen, dass man ihr bei der Notaufnahme im Hospital noch achtundvierzig Stunden Lebenserwartung gab. Ausgehend von dieser Prämisse musste man das Mysterium ihres Überlebens ergründen. War es medizinisch erklärbar?
Frédéric Pellas vom Universitätsklinikum Nîmes hat eine eingehende Studie dieses Phänomens durchgeführt; danach gibt es drei Formen des LIS:
"echter" kompletter Insult: Patienten mit einer schweren Primärläsion des Hirnstamms, die in den ersten Monaten lediglich die Lider bewegen können;
inkompletter Insult: So "echt" wie die erste Form, doch die Begrenzung der Hirnstammläsion ermöglicht eine partielle Heilung eines Gehirnbereichs und/oder eines Gliedes;
Pseudo-LIS: Der Insult findet beispielsweise in den Gehirnhälften oder im Kleinhirn statt und löst eine Sekundärläsion des Hirnstamms aus.
Die "Echt-Inkompletten" können ihr Motorik wieder trainieren, wenn sie eine intensive, multidisziplinäre Rehabilitationsbehandlung bekommen. Die erzielten Fortschritte führen - bestenfalls - zu einem Rückgang der Lähmung; Sprech- und Schluckschwierigkeiten bestehen jedoch weiterhin. Laetitia hingegen konnte dieses Stadium überwinden und hat damit eine außergewöhnliche Leistung vollbracht. Deshalb ist ihr Bericht so ergreifend.
Um Laetitias Leidensweg besser zu rekonstruieren, flog ich in die USA, wo sich der Schlaganfall ereignet hatte. Ich übernachtete im selben Hotel, besuchte die Kliniken und die Intensivstation, wo Laetitia eingewiesen wurde, ich stand sogar an der Tür des Raums, der fast ihr Sterbezimmer geworden wäre. Ich sprach mit den Ärzten und konnte Laetitias Akte einsehen. Durch Zufall habe ich auch die erschreckenden Begleitumstände ihrer Geschichte aufgedeckt.
Bei meiner Rückkehr war klar: Allein konnte Laetitia diese Tragödie nicht zur Gänze rekapitulieren - sei es, weil sie unter Morphium gestanden und nicht alles mitbekommen hatte; sei es, weil man ihr die Einzelheiten verschwiegen hatte, um sie zu schützen. Wir beschlossen also, ihren Bericht durch Aussagen zu stützen, deren Bedeutung Laetitia damals nicht kannte. Ich denke zum Beispiel an das Eingreifen von Valérie Biousse, der französischen Neurologin, die in den USA praktizierte; sie hat das Locked-in-Syndrom diagnostiziert und Laetitia in die Hände von Barney Stern gegeben. Dieser glückliche Zufall macht die Reihe der schrecklichen Ereignisse, denen Laetitia vor ihrer Einweisung ausgeliefert war, nur noch deutlicher. Durch diese Zeugnisse können wir verhindern, dass Gespräche und Situationen willkürlich erinnert werden.
Die Reise ins Reich der LIS-Patienten hat mich bestürzt. In Bezug auf die Folgen ihrer Erkrankung sind sie erheblich benachteiligt. Nur die Hälfte von ihnen lebt zu Hause; es kostet viel Geld, ein Haus oder eine Wohnung umzubauen, Personal anzustellen, einen Elektrorollstuhl, einen Computer mit allen erforderlichen Features, ein behindertengerechtes Auto, eine Hebebühne etc. zu kaufen. Kein Hilfsfonds kann solche Investitionen übernehmen. Und so bleibt oft nur der Ausweg, den Patienten in ein Heim einzuliefern, wo die Pflege solch schwerer Fälle möglich ist. Aber das ist ein aussichtsloses Unterfangen - jeder kann bestätigen, wie schwierig es ist, ein Bett zu bekommen. Doch vielleicht ändert sich das durch die kürzlich erlassenen Gesetze zur Gleichstellung von Behinderten in Frankreich.
Laetitias Bericht will das Pflegepersonal sensibilisieren, die öffentlichen Einrichtungen zum Handeln bewegen und die Familien der Patienten mobilisieren. Vor allem aber will Laetitia den LIS-Patienten Hoffnung auf Heilung geben und ihnen Mut machen, für eine zweite Chance, ein zweites Leben zu kämpfen.
Isabelle Horlans
1. Kapitel
Ich habe ein wenig das Gefühl für die Zeit verloren. Haben wir Dienstag? Donnerstag? Aber was spielt das schon für eine Rolle? Der Himmel ist so grau wie gestern. Im Dezember ist es entweder hopp oder top - schwere Wolken, die euren Lebensraum einengen, oder strahlendes Blau, das den Himmel hoch macht und eure Bronchien befreit. Mein Lebensraum beschränkt sich auf etwa zehn Quadratmeter mit einem Bett, großen Geräten, die monoton piepsen, Waschbecken, Toilette und Stühlen für die Besucher. Und meine Bronchien sind tot; das heißt nicht ganz, denn immerhin tun sie mir den Gefallen und treten, angeregt von einem Sauerstoffschlauch, träge in Aktion. Diese unverzichtbaren Knorpelröhren sind im Grunde genauso schlapp wie mein restlicher Körper - ohne Unterstützung läuft nichts. Ich bin das, was man landläufig "Gemüse" nennt - bis auf drei nicht zu vernachlässigende Details: Ich bin im Vollbesitz meiner geistigen Kraft, ich spüre es, wenn ich berührt werde, und ich habe entdeckt, dass meine Augenlider nicht nur zwei Häutchen sind, die die Augäpfel schützen und auf die man bunten Lidschatten auftragen kann.
Seit über einem Monat sind meine Lider richtige Freunde, Verbündete und Übersetzer auf hohem Niveau. Meine langen Wimpern ziehen sie in eine Auf-und-ab-Bewegung. Wenn ich ein Beruhigungsmittel will, lasse ich sie offen. Wenn ich Nein sagen will, genügt ein Zwinkern. Natürlich ist es schwierig, auf diese Weise jemanden zu beschimpfen. Wenn man mich schlecht behandelt oder mir mit neuen Therapien auf den Wecker fällt, grollt die Wut in mir. Im Inneren formuliere ich das Schimpfwort, das ich gerne ausstoßen würde - aber nichts zu machen; der Fluch bleibt in meinen gelähmten Stimmbändern stecken, gefangen unter der Plastikhülle der Tracheakanüle in meinem Hals.
Meine Verzweiflung hinauszuheulen ist einfacher; in einem Anfall von Güte haben meine Tränendrüsen der Versuchung durch die Dysarthrie nicht nachgegeben. Dysarthrie. Misstönende Silben, sie passen zu der Niedertracht des Wortes, das sich auf eine Schädigung der Nervenzentren im Gehirn bezieht. Im Klartext: Klappe zu, Affe tot. Ich bin Gemüse. Gemüse, das weinen kann. Ich habe so viel geweint, dass ich schon dachte, die Quelle müsse versiegen. Denn die Literatur ist voll von Liebenden und Witwen, die eines Morgens verwundert feststellen, dass sie keine Tränen mehr haben. Ich hingegen frage mich, wohin die unvergossenen Tränen am Ende strömen. Manchmal spüre ich, wie sie in mir fließen. Wohin? Könnten sie meine Lungen überschwemmen?
Dennoch muss ich in meinem Panzer mitunter auch lachen und vergesse, welche Höllenschmerzen mir die Apparaturen bei der kleinsten Zuckung bereiten. So wollte mich meine Schwägerin Patou einmal mit Heißwachs epilieren. Schnell stellten wir fest, dass ihr Talent zur Kosmetikerin eher bescheiden ist. Sie riss nach allen Richtungen Haare aus, wedelte panisch und prustend mit ihren klebrigen Fingern, um die Wachsstreifen abzuschütteln. Geschlagen, aber dennoch fest entschlossen, keine struppigen Härchen auf meinen geröteten Waden zurückzulassen, rief sie Maman an. Den Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, beendete Patou ihre Arbeit laut Anweisung. Und da entfuhr mir aus tiefstem Inneren ein unterdrücktes Lachen, das sich in meine Augen stahl. Patou sah es und brach, für uns beide, in schallendes Gelächter aus. Mein Brustkorb wölbte und senkte sich, und ich erstickte fast an diesem irren Schmerz.
Patou ist an diesem Donnerstag (Dienstag, Freitag, Montag?) bei mir. Ich weiß noch nicht, dass mein Krankenblatt in knapp einer Stunde das Datum so exakt wiedergeben wird wie eine Rechnungsbilanz. Patou, die mit meinem Bruder Loi'c verheiratet ist, ist mir eine richtige Schwester geworden. Nach meinem Rücktransport von Atlanta, wo sich der Vorfall ereignet hatte, bot sie sich sofort an, die erste Wache im Lariboisiere-Hospital zu übernehmen. Ich war ein Boot ohne Steuermann, ein driftender Körper, und man durfte nicht zulassen, dass ich mich den entfesselten Elementen allein stellen müsste. Oft vergleiche ich den Beistand meiner Familie mit der Solidarität unter Seeleuten. Jeder weiß, dass man das Überlebensnotwendige schaffen kann, wenn man zusammenhält und nicht unnötig herumdebattiert. Patou spürte, dass mein Mann und meine Eltern, die sich in Amerika an meinem Bett abgewechselt hatten, erschöpft waren, und so übernahm sie den Ausguck. Sie trennte sich von ihren fünf Monate alten Zwillingen; es sei kein Opfer gewesen, hat sie gesagt - es sei einfach selbstverständlich.
Darum läuft sie nun jeden Tag durch das Labyrinth des Krankenhauses bis an mein Bett. Sie redet für zwei, sie massiert mich, stimuliert mich. Manchmal legt sie mir die Hand auf den Arm oder auf den Schenkel, und wir schweigen. Wir lauschen den Geräuschen der Rollwagen auf dem Korridor und versuchen, das Glucksen und Zischen des Befeuchters zu überhören, der meine Tracheakanüle und meine Laken mit lauwarmem Wasser besprüht - eine Höllenmaschine, die sich alle Augenblicke ein-und ausschaltet. Damit mich das nicht zermürbt, konzentriere ich mich wie ein Yogi auf einen Punkt, zum Beispiel auf das Plakat an der Wand, ein Aquarell, in dem Rot und Gelb dominieren und das die Aufschrift "Galerie Laetitia" trägt, zusammen mit Adresse und Datum der Ausstellung. Dieser Zufall ist ein Omen. An schlechten Tagen sehe ich mich, Laetitia, als Stillleben im weißen Kittel den Blicken der Leute ausgesetzt. Und an besseren Tagen stelle ich mir vor, wie ich in einem rot-gelben Kleid mit meinen Söhnen durch einen Saal des Louvre schlendere; Quentin und Léo rennen zum Ausgang und gleich weiter zur Eisdiele.Meine Söhne. Wenn ich an sie denke, und das tue ich ohne Unterlass, zieht sich mein Herz zu einem harten, brennenden Muskel zusammen. Ich ersticke fast vor Verzweiflung. Kann es sein, dass ich sie nie wieder in meine Arme schließen, sie nie wieder küssen kann? Ich weine und erinnere mich an den 9. November 1999 in Atlanta, an diese Ärzte, die den Ernst der Lage überhaupt nicht einschätzen konnten und meinten, ich leide unter Migräne! Ich denke an die Panik, die sie schließlich ergriffen hat, an die vergeudeten Stunden, an den Zeitraum, der ausgereicht hat, um eine blühende Frau von dreiunddreißig Jahren in ein Stück Gemüse zu verwandeln. In einen Kürbiskopf.
Bei der Erforschung von Eingriffen, die dazu beitragen, einen Insult zu verhindern oder die Schädigungen möglichst gering zu halten, stehen wir noch am Anfang. Patienten wie Laetitia Bohn-Derrien regen uns zu eingehenderen Studien an.
Neben der ausgezeichneten medizinischen Pflege machten es ihr "Glück", ihr Überlebenswille sowie die Liebe und Unterstützung von Freunden und Familie möglich, weiterzukämpfen und einer Heilung entgegenzusehen. Ich betrachte es als ein Privileg und eine Ehre, dem Ärzteteam angehört zu haben, das Laetitia Bohn-Derrien versorgte.
Ihre Geschichte wird allen Locked-in-Patienten Anregungen geben, für mich jedenfalls war sie eine Quelle der Inspiration.
Dr. Barney J. Stern
24. Januar 2005, Baltimore, Maryland, USA
(Barney Stern ist Chefarzt der Neurologie des Klinikums der University of Maryland in Baltimore; er ist dort Leiter der klinischen Forschung über zerebrale Insulte.)
EINLEITUNG
Ich habe nicht gezögert, als Laetitia mich bat, Aussagen von Beteiligten zu sammeln und ihre Gedanken in eine Form zu bringen. Sie ist meine Freundin, da fällt es natürlich leicht, Ja zu sagen. Doch ganz abgesehen von unserer Freundschaft, dachte ich an die vielen anderen Menschen, die in ihr Schweigen, in ihre Lähmung eingeschlossen sind und kämpfen - manchmal mit dem Tod, oft gegen die Einsamkeit, gegen unzulängliche Strukturen und die familiären, sozialen und finanziellen Folgen ihrer Krankheit; ein ständiger Kampf, um das Leben wieder lebbar zu machen. Vielleicht können Laetitias Erfahrungen dazu beitragen, diesen Menschen neuen Mut zu machen.
Bevor ich mich an die Arbeit machte, wollte ich mehr über das Locked-in-Syndrom erfahren, das so genannte LIS. Hinter diesem harmlos klingenden, kurzen Akronym verbirgt sich ein unvorstellbarer Leidensweg. Meine Kenntnisse über diese so seltene und seltsame Erkrankung verdanke ich Jean-Dominique Bauby, der mit dem linken Augenlid eine ergreifende Dokumentation seines Leidens diktiert hat. Am 9. März 1997 verstarb er kurz nach der Veröffentlichung seines Werks und der Freude über den letzten Erfolg seines kurzen Lebens: Das Buch wurde in achtundzwanzig Sprachen übersetzt.
Als ich den Begriff "Locked-in-Syndrom" in die Internet-Suchmaschinen eingab, war ich verblüfft - Hunderte, Tausende von Seiten - siebentausend Sites -, Links nach Berlin, Seoul, Harvard; Tagebücher, medizinische Abhandlungen, Chat-Rooms für verzweifelte Angehörige, Hilferufe. Ganz besonders herausstreichen möchte ich an dieser Stelle das Interesse der Deutschen an diesem Thema und das Engagement von Karl-Heinz Pantke, dem Vorsitzenden des Fördervereins LIS e.V.
Dennoch gibt es keine genaue Zahl über die Eingeschlossenen; in Frankreich dürften es zwischen vier- und fünfhundert sein, auf der ganzen Welt etwa viertausend. Der belgische Neurologe Steven Laureys erklärt die fehlende Statistik damit, dass das LIS auf Grund von Fehldiagnosen oft nicht registriert wird. Viele Ärzte halten LIS-Patienten für Komatöse, die nicht merken, was um sie herum vorgeht, dabei sind ihre geistigen Fähigkeiten intakt, und sie können es beweisen, wenn man mittels ihrer Lider mit ihnen kommuniziert. Etliche Patienten werden ihrem Schicksal überlassen, sobald sie schwere Infekte bekommen. Mit der Zustimmung der Angehörigen, die nicht wissen, dass ein LIS-Patient gegen den Tod ankämpfen kann, weigern sich die Fachärzte, eine Behandlung fortzusetzen.
Seit Baubys Bericht erschienen ist, hat sich die Situation verbessert. Er hat die Verzweiflung eines Menschen beschrieben, der mit anhören muss, wie sein Arzt behauptet, der Lidschlag sei lediglich ein unbewusster Reflex; Bauby hat dazu beigetragen, den stummen Gelähmten eine angemessenere Betreuung zukommen zu lassen.
Bauby hat auch maßgeblich die Gründung eines Verbandes angeregt, der über das Syndrom aufklären will und den Erkrankten sowie deren Angehörigen wichtige Hilfestellungen gibt. Bei der Jahresversammlung im April 2005 durfte ich erleben, wie wichtig dieser Verband ist: Nun war nicht mehr nur alles Papier - so realitätsgetreu dargestellt wie auch immer -, das war die Wirklichkeit.
Ich habe Christelle getroffen, einundreißig Jahre; wenn sie einen Hustenanfall bekommt, kann sie ohne Hilfe nicht einmal den Kopf heben, dennoch sucht sie nach einer Möglichkeit, sich zu behelfen, und nach einer Wohngelegenheit, um ihre Eltern zu entlasten. Ich habe Annick gesehen, sie wird mit einer Sonde ernährt, kann vier Finger und ein Lid bewegen und sie hat sich keine Silbe der wissenschaftlichen Vorträge entgehen lassen. Ich habe den Bericht einer Krankenschwester gehört, die seit siebenundzwanzig Jahren ihren Mann pflegt, der am Locked-in-Syndrom leidet. Ich war ergriffen von der Verzweiflung des Herrn Gomez, der aus Luxemburg gekommen war, wo sein Vater, der einzige LIS-Patient des Landes, in der Geriatrie untergebracht ist; seine Familie verfügt nicht über die nötigen Mittel für eine häusliche Pflege. Ich habe Dominique Toussaint getroffen, der, halb im Liegen, die Podiumsdiskussion moderiert und die Teilnehmer mitgerissen hat.
Im Kontakt mit diesen bemerkenswerten Menschen habe ich besser begriffen, wieso Laetitia in den USA "der Fall" genannt wurde - ein Fall, weil sie nach einer schweren beidseitigen Primärläsion des Hirnstamms ihre Autonomie wiedererlangt hat; der Insult war so massiv gewesen, dass man ihr bei der Notaufnahme im Hospital noch achtundvierzig Stunden Lebenserwartung gab. Ausgehend von dieser Prämisse musste man das Mysterium ihres Überlebens ergründen. War es medizinisch erklärbar?
Frédéric Pellas vom Universitätsklinikum Nîmes hat eine eingehende Studie dieses Phänomens durchgeführt; danach gibt es drei Formen des LIS:
"echter" kompletter Insult: Patienten mit einer schweren Primärläsion des Hirnstamms, die in den ersten Monaten lediglich die Lider bewegen können;
inkompletter Insult: So "echt" wie die erste Form, doch die Begrenzung der Hirnstammläsion ermöglicht eine partielle Heilung eines Gehirnbereichs und/oder eines Gliedes;
Pseudo-LIS: Der Insult findet beispielsweise in den Gehirnhälften oder im Kleinhirn statt und löst eine Sekundärläsion des Hirnstamms aus.
Die "Echt-Inkompletten" können ihr Motorik wieder trainieren, wenn sie eine intensive, multidisziplinäre Rehabilitationsbehandlung bekommen. Die erzielten Fortschritte führen - bestenfalls - zu einem Rückgang der Lähmung; Sprech- und Schluckschwierigkeiten bestehen jedoch weiterhin. Laetitia hingegen konnte dieses Stadium überwinden und hat damit eine außergewöhnliche Leistung vollbracht. Deshalb ist ihr Bericht so ergreifend.
Um Laetitias Leidensweg besser zu rekonstruieren, flog ich in die USA, wo sich der Schlaganfall ereignet hatte. Ich übernachtete im selben Hotel, besuchte die Kliniken und die Intensivstation, wo Laetitia eingewiesen wurde, ich stand sogar an der Tür des Raums, der fast ihr Sterbezimmer geworden wäre. Ich sprach mit den Ärzten und konnte Laetitias Akte einsehen. Durch Zufall habe ich auch die erschreckenden Begleitumstände ihrer Geschichte aufgedeckt.
Bei meiner Rückkehr war klar: Allein konnte Laetitia diese Tragödie nicht zur Gänze rekapitulieren - sei es, weil sie unter Morphium gestanden und nicht alles mitbekommen hatte; sei es, weil man ihr die Einzelheiten verschwiegen hatte, um sie zu schützen. Wir beschlossen also, ihren Bericht durch Aussagen zu stützen, deren Bedeutung Laetitia damals nicht kannte. Ich denke zum Beispiel an das Eingreifen von Valérie Biousse, der französischen Neurologin, die in den USA praktizierte; sie hat das Locked-in-Syndrom diagnostiziert und Laetitia in die Hände von Barney Stern gegeben. Dieser glückliche Zufall macht die Reihe der schrecklichen Ereignisse, denen Laetitia vor ihrer Einweisung ausgeliefert war, nur noch deutlicher. Durch diese Zeugnisse können wir verhindern, dass Gespräche und Situationen willkürlich erinnert werden.
Die Reise ins Reich der LIS-Patienten hat mich bestürzt. In Bezug auf die Folgen ihrer Erkrankung sind sie erheblich benachteiligt. Nur die Hälfte von ihnen lebt zu Hause; es kostet viel Geld, ein Haus oder eine Wohnung umzubauen, Personal anzustellen, einen Elektrorollstuhl, einen Computer mit allen erforderlichen Features, ein behindertengerechtes Auto, eine Hebebühne etc. zu kaufen. Kein Hilfsfonds kann solche Investitionen übernehmen. Und so bleibt oft nur der Ausweg, den Patienten in ein Heim einzuliefern, wo die Pflege solch schwerer Fälle möglich ist. Aber das ist ein aussichtsloses Unterfangen - jeder kann bestätigen, wie schwierig es ist, ein Bett zu bekommen. Doch vielleicht ändert sich das durch die kürzlich erlassenen Gesetze zur Gleichstellung von Behinderten in Frankreich.
Laetitias Bericht will das Pflegepersonal sensibilisieren, die öffentlichen Einrichtungen zum Handeln bewegen und die Familien der Patienten mobilisieren. Vor allem aber will Laetitia den LIS-Patienten Hoffnung auf Heilung geben und ihnen Mut machen, für eine zweite Chance, ein zweites Leben zu kämpfen.
Isabelle Horlans
1. Kapitel
Ich habe ein wenig das Gefühl für die Zeit verloren. Haben wir Dienstag? Donnerstag? Aber was spielt das schon für eine Rolle? Der Himmel ist so grau wie gestern. Im Dezember ist es entweder hopp oder top - schwere Wolken, die euren Lebensraum einengen, oder strahlendes Blau, das den Himmel hoch macht und eure Bronchien befreit. Mein Lebensraum beschränkt sich auf etwa zehn Quadratmeter mit einem Bett, großen Geräten, die monoton piepsen, Waschbecken, Toilette und Stühlen für die Besucher. Und meine Bronchien sind tot; das heißt nicht ganz, denn immerhin tun sie mir den Gefallen und treten, angeregt von einem Sauerstoffschlauch, träge in Aktion. Diese unverzichtbaren Knorpelröhren sind im Grunde genauso schlapp wie mein restlicher Körper - ohne Unterstützung läuft nichts. Ich bin das, was man landläufig "Gemüse" nennt - bis auf drei nicht zu vernachlässigende Details: Ich bin im Vollbesitz meiner geistigen Kraft, ich spüre es, wenn ich berührt werde, und ich habe entdeckt, dass meine Augenlider nicht nur zwei Häutchen sind, die die Augäpfel schützen und auf die man bunten Lidschatten auftragen kann.
Seit über einem Monat sind meine Lider richtige Freunde, Verbündete und Übersetzer auf hohem Niveau. Meine langen Wimpern ziehen sie in eine Auf-und-ab-Bewegung. Wenn ich ein Beruhigungsmittel will, lasse ich sie offen. Wenn ich Nein sagen will, genügt ein Zwinkern. Natürlich ist es schwierig, auf diese Weise jemanden zu beschimpfen. Wenn man mich schlecht behandelt oder mir mit neuen Therapien auf den Wecker fällt, grollt die Wut in mir. Im Inneren formuliere ich das Schimpfwort, das ich gerne ausstoßen würde - aber nichts zu machen; der Fluch bleibt in meinen gelähmten Stimmbändern stecken, gefangen unter der Plastikhülle der Tracheakanüle in meinem Hals.
Meine Verzweiflung hinauszuheulen ist einfacher; in einem Anfall von Güte haben meine Tränendrüsen der Versuchung durch die Dysarthrie nicht nachgegeben. Dysarthrie. Misstönende Silben, sie passen zu der Niedertracht des Wortes, das sich auf eine Schädigung der Nervenzentren im Gehirn bezieht. Im Klartext: Klappe zu, Affe tot. Ich bin Gemüse. Gemüse, das weinen kann. Ich habe so viel geweint, dass ich schon dachte, die Quelle müsse versiegen. Denn die Literatur ist voll von Liebenden und Witwen, die eines Morgens verwundert feststellen, dass sie keine Tränen mehr haben. Ich hingegen frage mich, wohin die unvergossenen Tränen am Ende strömen. Manchmal spüre ich, wie sie in mir fließen. Wohin? Könnten sie meine Lungen überschwemmen?
Dennoch muss ich in meinem Panzer mitunter auch lachen und vergesse, welche Höllenschmerzen mir die Apparaturen bei der kleinsten Zuckung bereiten. So wollte mich meine Schwägerin Patou einmal mit Heißwachs epilieren. Schnell stellten wir fest, dass ihr Talent zur Kosmetikerin eher bescheiden ist. Sie riss nach allen Richtungen Haare aus, wedelte panisch und prustend mit ihren klebrigen Fingern, um die Wachsstreifen abzuschütteln. Geschlagen, aber dennoch fest entschlossen, keine struppigen Härchen auf meinen geröteten Waden zurückzulassen, rief sie Maman an. Den Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, beendete Patou ihre Arbeit laut Anweisung. Und da entfuhr mir aus tiefstem Inneren ein unterdrücktes Lachen, das sich in meine Augen stahl. Patou sah es und brach, für uns beide, in schallendes Gelächter aus. Mein Brustkorb wölbte und senkte sich, und ich erstickte fast an diesem irren Schmerz.
Patou ist an diesem Donnerstag (Dienstag, Freitag, Montag?) bei mir. Ich weiß noch nicht, dass mein Krankenblatt in knapp einer Stunde das Datum so exakt wiedergeben wird wie eine Rechnungsbilanz. Patou, die mit meinem Bruder Loi'c verheiratet ist, ist mir eine richtige Schwester geworden. Nach meinem Rücktransport von Atlanta, wo sich der Vorfall ereignet hatte, bot sie sich sofort an, die erste Wache im Lariboisiere-Hospital zu übernehmen. Ich war ein Boot ohne Steuermann, ein driftender Körper, und man durfte nicht zulassen, dass ich mich den entfesselten Elementen allein stellen müsste. Oft vergleiche ich den Beistand meiner Familie mit der Solidarität unter Seeleuten. Jeder weiß, dass man das Überlebensnotwendige schaffen kann, wenn man zusammenhält und nicht unnötig herumdebattiert. Patou spürte, dass mein Mann und meine Eltern, die sich in Amerika an meinem Bett abgewechselt hatten, erschöpft waren, und so übernahm sie den Ausguck. Sie trennte sich von ihren fünf Monate alten Zwillingen; es sei kein Opfer gewesen, hat sie gesagt - es sei einfach selbstverständlich.
Darum läuft sie nun jeden Tag durch das Labyrinth des Krankenhauses bis an mein Bett. Sie redet für zwei, sie massiert mich, stimuliert mich. Manchmal legt sie mir die Hand auf den Arm oder auf den Schenkel, und wir schweigen. Wir lauschen den Geräuschen der Rollwagen auf dem Korridor und versuchen, das Glucksen und Zischen des Befeuchters zu überhören, der meine Tracheakanüle und meine Laken mit lauwarmem Wasser besprüht - eine Höllenmaschine, die sich alle Augenblicke ein-und ausschaltet. Damit mich das nicht zermürbt, konzentriere ich mich wie ein Yogi auf einen Punkt, zum Beispiel auf das Plakat an der Wand, ein Aquarell, in dem Rot und Gelb dominieren und das die Aufschrift "Galerie Laetitia" trägt, zusammen mit Adresse und Datum der Ausstellung. Dieser Zufall ist ein Omen. An schlechten Tagen sehe ich mich, Laetitia, als Stillleben im weißen Kittel den Blicken der Leute ausgesetzt. Und an besseren Tagen stelle ich mir vor, wie ich in einem rot-gelben Kleid mit meinen Söhnen durch einen Saal des Louvre schlendere; Quentin und Léo rennen zum Ausgang und gleich weiter zur Eisdiele.Meine Söhne. Wenn ich an sie denke, und das tue ich ohne Unterlass, zieht sich mein Herz zu einem harten, brennenden Muskel zusammen. Ich ersticke fast vor Verzweiflung. Kann es sein, dass ich sie nie wieder in meine Arme schließen, sie nie wieder küssen kann? Ich weine und erinnere mich an den 9. November 1999 in Atlanta, an diese Ärzte, die den Ernst der Lage überhaupt nicht einschätzen konnten und meinten, ich leide unter Migräne! Ich denke an die Panik, die sie schließlich ergriffen hat, an die vergeudeten Stunden, an den Zeitraum, der ausgereicht hat, um eine blühende Frau von dreiunddreißig Jahren in ein Stück Gemüse zu verwandeln. In einen Kürbiskopf.
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Autoren-Porträt von Laetitia Bohn-Derrien
LAETITIA BOHN-DERRIEN war acht Jahre bei Yves Saint Laurent beschäftigt, bevor sie als Öffentlichkeitssprecherin eines großen Pharmakonzerns tätig wurde. Seit ihrer Genesung engagiert sie sich für die Integration Behinderter in die Arbeitswelt und gründete zu diesem Zweck die Organisation "Handy-Consulting". Sie lebt mit ihrer Familie in Reims.Gaby Wurster, geboren 1958, ist Autorin und freie Übersetzerin aus dem Englischen, Französischen, Griechischen und Italienischen. Sie lebt in Tübingen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Laetitia Bohn-Derrien
- 2008, 253 Seiten, Maße: 12,3 x 18,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Wurster, Gaby
- Übersetzer: Gaby Wurster
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442154774
- ISBN-13: 9783442154777
Rezension zu „Ich lebe! “
"Mit unglaublicher Intensität und Dichte schildert die Patientin den Ablauf dieser alptraumhaften Leidensgeschichte und - von den Ärzten bereits aufgegeben - ihren Kampf um die Rückkehr ins normale Leben."
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