Ich muss euch etwas sagen
Unser Leben mit dem Virus
18 Jahre lang verschwiegen Almut und Dieter Niemeyer ihre HIV-Infektion: ihren Bekannten und Freunden - und auch ihren beiden Kindern. Warum sie sich 1990 nach der erschütternden Nachricht zum eisernen Schweigen entschieden und wie ihr Alltag mit...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Ich muss euch etwas sagen “
18 Jahre lang verschwiegen Almut und Dieter Niemeyer ihre HIV-Infektion: ihren Bekannten und Freunden - und auch ihren beiden Kindern. Warum sie sich 1990 nach der erschütternden Nachricht zum eisernen Schweigen entschieden und wie ihr Alltag mit AIDS verlief, erzählen sie jetzt in diesem Buch.
Klappentext zu „Ich muss euch etwas sagen “
Dieter und Almut führen ein überschaubares Leben, zwei kleine Kinder, Dieter ist Hausmann, Almut Dialyseschwester in einer Ambulanz. Der Anruf ereilt sie mitten in den Vorbereitungen zum Weihnachtsfest: Almut ist Hiv-infiziert, sagt die Blutspendezentrale. Man schreibt das Jahr 1990, Aids ist die Krankheit, der Schwule und Drogenabhängige zum Opfer fallen, die Hysterie um das Virus ist auf dem Höhepunkt.Das Ehepaar ist verzweifelt, auch Dieter ist bereits infiziert. Was erwartet sie? Gesellschaftliches Stigma, baldige Erkrankung, früher Tod? Was wird aus den Kindern? Das Paar entscheidet sich für einen radikalen Weg, mit allen Konsequenzen: Sie schweigen. Eisern. 18 Jahre lang. Erst als beide Kinder volljährig sind, weihen sie sie ein und stellen sich kurz darauf der Öffentlichkeit.
Lese-Probe zu „Ich muss euch etwas sagen “
Ich muss euch was sagen von Dieter NiemeyerVORWORT
Acht Menschen infizieren sich mit dem HI-Virus – täglich, in Deutschland. Ende 2007 lebten knapp 60 000 Menschen mit einer HIV-Infektion oder einer Aids-Erkrankung unter uns.
Trotzdem gerät Aids zunehmend in Vergessenheit. Oder haben Sie kürzlich mit Freunden darüber gesprochen? Kennen Sie womöglich einen HIV-Infizierten und wenn ja: Reden Sie offen darüber? Worin besteht der Unterschied zwischen HIV und Aids überhaupt?
Während zum Beispiel eine Krebserkrankung selbstverständlich gesellschaftsfähig ist, wird Aids nach wie vor stigmatisiert.
Das Klischee ist jetzt schon 23 Jahre alt. Seit 1986 heißt es:
Mit HIV infizieren sich doch nur Homosexuelle, Prostituierte oder Drogensüchtige; aber doch kein ›normaler‹ Mensch. Die Geschichte von Almut und Heinz-Dieter Niemeyer zeigt allerdings: Es kann jeden treffen.
18 Jahre lebten die Eheleute Niemeyer mit dem HI-Virus – und schwiegen. Aus Angst um ihre Kinder. Aus Angst vor Ausgrenzung und Stigmatisierung. Selbst ihrer Tochter und ihrem Sohn erzählten sie jahrelang nichts. Ihre Kinder sollten unbeschwert aufwachsen, sich keine Sorgen um ihre Mutter und ihren Vater machen müssen.
Vor einem Jahr haben Almut und Heinz-Dieter Niemeyer ihr Schweigen gebrochen. Um sich selbst zu befreien und vor allem:
Um für ein besseres Verständnis zu werben und die immer noch existierende irrationale Panik vor Aids zu bekämpfen. Nicht nur der Kampf der Niemeyers gegen die Krankheit ist beeindruckend, auch das Engagement für mehr Aufklärung.
Ich hoffe, dieses Buch wird dazu beitragen, dass unsere Gesellschaft realisiert: Aids geht uns alle an.
Reinhold Beckmann
1. Kapitel
STILLE NACHT
1990, kurz vor Weihnachten
Es ist Sonntag, der vierte Advent. Alle Geschenke sind besorgt und verpackt, die Plätzchen
... mehr
gebacken und der Baum ist ausgesucht. Ich bummle mit meiner Familie über den Bremer Weihnachtsmarkt.
Julia, unsere dreijährige Tochter, steht aus lauter Vorfreude auf Heiligabend seit Wochen unter Hochspannung.
Wieder einmal löchert sie meine Frau Almut und mich, wann es denn nun endlich so weit sei. Dabei hüpft sie aufgeregt um uns herum. »Nur noch einmal schlafen«, antwortet Almut und Julia ist sichtlich zufrieden mit der Antwort: Sie strahlt von einem Ohr zum anderen. Unser Sohn Christoph ist mit seinen anderthalb Jahren noch zu klein, um zu begreifen, was es mit den Tannenbäumen, Lichterketten und Weihnachtskugeln auf sich hat, die uns überall in der Stadt begegnen, aber auch er scheint die festliche Atmosphäre aufzusaugen wie ein Schwamm. Mit großen Augen und offenem Mund bestaunt er die Wunderwelt um ihn herum, die vielen Buden, die Holzspielzeug, Weihnachtskugeln in allen möglichen Farben, Kerzen, Süßigkeiten und Marionetten anbieten. Der Duft von Glühwein und Lebkuchen liegt in der Luft. Zwischen dem hanseatischen Rathaus, dem Dom und der Rolandsstatue ist ein altmodisches Kinderkarussell aufgebaut. Das Fahrgeschäft hat es den Kindern angetan.
Christoph, ganz der Papa, will auf einem Motorrad sitzen, Julia lenkt lieber einen Bus. Runde um Runde muss gefahren werden und sobald wir uns zum Gehen wenden wollen, sammeln sich dicke Krokodilstränen in den Augen der beiden. Wir lassen uns nicht nur einmal erweichen, denn auch uns ist zum Heulen zu mute. Könnten wir die Zeit doch einfach anhalten! Der Zukunft entfliehen! Almut und ich wechseln uns mit dem Chipkauf ab, während die sorgsamen Augen des anderen die Kleinen bei ihrer Kreisfahrt verfolgen. Später essen wir noch die obligatorischen Kartoffelpuffer vom Stand nebenan. Köstlich, wie jedes Jahr. Alles scheint wie immer. Und doch ist alles anders.
Es war vor gut zwei Wochen. Ich war mit den Kindern draußen gewesen und wie so oft bei unseren täglichen Ausflügen hatten wir zuerst den Spielplatz im Bremer Bürgerpark besucht. Ich kenne keinen schöneren Spielplatz und der Sand ist sauber wie sonst nirgendwo. Julia liebt vor allem die Rutsche, für die Christoph noch zu klein ist. Nach etlichen Rutschpartien präsentierte Julia uns ihre Kletterkunststückchen – sich von einer Stange rücklings runterhängen lassen und dann einen Purzelbaum schlagen; danach machten wir uns auf den Rückweg, aber nicht ohne einen Schlenker vorbei am Emmasee mit den stolzen Schwänen und einem Abstecher in den nahe gelegenen Tierpark. Dort gibt’s Wildschweine, Rehkitze, Ziegenkinder, jede Menge Enten und sogar ein paar Kängurus. Die Kinder sind jedes Mal aufs Neue hin und weg, wenn sie es schaffen, eine Ziege oder ein Kitzchen zu streicheln. Und weil ihre Begeisterung ziemlich ansteckend ist, war auch ich guter Dinge, als ich mit den beiden Rackern zu Hause ankam.
Ich hatte die Wohnungstür noch nicht ganz geöffnet, als ich ein Wimmern vernahm. Es drang aus der Küche in den Flur.
Rasch bugsierte ich die Kinder in ihr Zimmer, versorgte sie mit Spielzeug und ging zu Almut, die in Tränen aufgelöst am Küchentisch saß. »Was ist los, Liebes?«, fragte ich und nahm sie in den Arm. Almut zitterte am ganzen Körper. So, als seien es mindestens minus 20 Grad in unserer mollig warmen Wohnung. Ich streichelte ihr minutenlang beruhigend über den Rücken und wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht, bis sie endlich erzählte, was passiert war: Der Oberarzt des Klinikums, bei dem sie regelmäßig Blut spendete, hatte mittags angerufen, sie müsse noch einmal zur Kontrolle in die Klinik kommen, mit ihrem Blut sei etwas nicht in Ordnung. Ich kramte in meinem Gedächtnis und erinnerte mich, dass Almut Ende November zum Blutspenden gegangen war. Das kam oft vor, denn Almut hatte eine seltene Blutgruppe, A negativ. Ihr Spenderblut war heiß begehrt und konnte schwer verletzten Menschen das Leben retten. Darum rief sogar oft jemand aus der Klinik an und fragte nach, ob Almut nicht mal wieder kommen wolle. Erneut brachen Sturzbäche von Tränen aus Almut hervor, bevor sie sich mühsam wieder fasste. »Was ist denn nicht in Ordnung?«, fragte ich besorgt.
»Die gleiche Frage habe ich auch gestellt«, gab Almut zurück, »und da hat Dr. Severin gesagt, er könne mir das nicht am Telefon sagen. Aber ich habe darauf bestanden und gewettert, dass ich nur komme, wenn er sofort mit der Sprache rausrückt. Ich bin schließlich Krankenschwester, mir kann man nichts vormachen.
Und dann habe ich ihn gefragt, ob ich Hepatitis –« Almut schluchzte gequält auf.
»Ja, und? Hast du Hepatitis?«
Mir spukte alles Mögliche im Kopf herum, denn mit einer Entzündung der Leber, so viel wusste ich, war nicht zu spaßen.
»Nein. Er hat gesagt, ich hätte HIV-Antikörper im Blut.«
Ich hatte genau gehört, was Almut gesagt hat. Aber es erreichte mich nicht. Ich starrte ungläubig in Almuts verweintes Gesicht. HIV hämmerte es in meinem Gehirn. Das bedeutete doch Aids, oder nicht? Meine Gehirnzellen wollten nicht richtig in Gang kommen. Aber das konnte einfach nicht wahr sein. HIV. Aids. Hallo? Konnte mich mal jemand wachrütteln? Wachrütteln aus diesem absurden Traum! Komm, aufwachen, Dieter, Licht anmachen, ein Glas Wasser trinken und feststellen, dass alles gut ist. Aber ich träumte nicht. Almuts Stimme holte mich zurück aus meinen Gedanken.
»Dann habe ich zu Dr. Severin gesagt: ›Aber das ist doch gut, wenn ich Antikörper habe, oder nicht? Dann kann ich doch nichts bekommen!‹, doch er hat geantwortet: ›Nein, Frau Niemeyer, das bedeutet, Sie haben das Virus im Blut.‹«
Ich hielt mir meinen flauen Magen und sagte: »Das muss eine Verwechslung sein, Almut.«
Eine Verwechslung. Das war die einzige mögliche Erklärung.
Almut erzählte weiter. Wie sie nach der verstörenden Nachricht sofort wie ferngesteuert in die Klinik gefahren war, wo man ihr erneut Blut abgenommen hatte. Wie Dr. Severin sie, ganz routinemäßig, gefragt hatte, ob sie Kontakt zu Drogen oder ungeschützten sexuellen Kontakt gehabt habe. Mein Gott, was für Fragen! Aber genau diese Fragen schossen auch mir durch den Kopf, ich konnte mich nicht dagegen wehren. Und was sollte ich auch denken? Wenn sich die furchtbare Diagnose bewahrheiten sollte, mussten schließlich einige Dinge geklärt werden.
Eine Kaskade von Fragezeichen war in meinem Kopf. Wenn es also stimmte, woher hatte Almut sich das Virus zugezogen? Und wann? Wie? Was hatte sie getan? Und hatte dann auch ich das Virus in mir? Was war mit den Kindern? Julia und Christoph hatten doch erst noch das ganze Leben vor sich … Nein, das konnte alles nicht wahr sein. Ich wusste zwar nur sehr wenig über HIV und Aids. Aber was ich ganz sicher wusste, war, dass man sich die Krankheit beim Geschlechtsverkehr mit einem HIV-Positiven zuziehen konnte. Und kam Aids nicht vornehmlich in Schwulenkreisen vor? Also, so schlussfolgerte ich erst einmal optimistisch, konnte Almut gar nicht HIV-positiv sein.
Wir waren schließlich ein verheiratetes heterosexuelles Paar mit zwei kleinen Kindern. Keiner von uns hatte Erfahrung mit Drogen. Und wir waren treu! Oder doch nicht? Was war, wenn Almut … Nein! Das war unmöglich. Mein Gehirn weigerte sich, diese düsteren Gedanken weiter zu verfolgen.
Gleich nachdem man Almut im Klinikum für einen zweiten Test Blut abgenommen hatte, war sie in ihrer Verzweiflung zu ihrer Chefin ins Dialysezentrum gefahren. Auch Frau Dr. Beyer hatte ihr noch einmal Blut abgenommen und sie beruhigt: »Das muss ein Versehen sein, so was kommt häufiger vor. Mach dir keine Sorgen, Almut.«
Die Probe war nun auf dem Weg in ein Labor nach München, wo genauere Tests innerhalb der nächsten vierzehn Tage klären sollten, ob ein falsches Ergebnis vorlag. Almut wurde krankgeschrieben, denn sie war zu nichts mehr in der Lage: All ihre Gedanken kreisten Tag und Nacht um eine mögliche HIV-Infektion. Sie schlief nicht, konnte sich auf nichts konzentrieren, starrte den Fernsehbildschirm an, ohne mitzubekommen, welche Sendung überhaupt lief. Auch ich selbst nahm plötzlich überall nur noch Nachrichten über HIV und Aids wahr.
Es gab mehrere Prominente, die Gerüchten zufolge an Aids litten oder positiv waren. Es hieß, Queen-Sänger Freddy Mercury habe Aids, auch wenn er das vehement dementierte. Aber sah er nicht tatsächlich furchtbar ausgemergelt aus? Über Tennisspieler Michael Westphal tuschelte man ebenfalls, er sei erkrankt.
Das Karussell dreht sich ein weiteres Mal, Julia taucht juchzend in ihrem Bus vor mir auf, gefolgt von Christoph auf dem Motorrad. Von irgendwoher dringen verzerrt Fetzen von O du Fröhliche in meine Ohren. Mir kommt das alles unwirklich vor. Seit gestern hatten wir Gewissheit. Gestern. Es war, als läge dieser Samstagnachmittag lange zurück. Ich hörte in Gedanken wieder Almuts Schluchzen. Ich war gerade vom Einkaufen zurückgekommen und fand Almut wie schon vor zwei Wochen tränenüberströmt in unserer Wohnung. Ich erfuhr: Almuts Chefin war vorbeigekommen. Sie hatte sich nach der Visite im Dialysezentrum sofort auf den Weg gemacht, weil sie es uns persönlich sagen wollte. Wir sollten nicht auch noch die Festtage im Ungewissen verbringen müssen. Als Almut Frau Dr. Beyer vor der Tür hatte stehen sehen, wie ein Häufchen Elend, war ihr im Bruchteil einer Sekunde klar gewesen: Die Diagnose war keine Verwechslung! Das letzte Fünkchen Hoffnung verpuffte wie eine der hässlichen Fehlzündungen, die wir manchmal auf der Straße vor dem Haus hörten. Was für eine Weihnachtsüberraschung!
Die Einkaufstüten blieben unausgepackt in der Ecke stehen und wir setzten uns an unseren großen, runden Esstisch, das Herzstück unserer Wohnung. Hier hatte jeder seinen Platz, hier stand Christophs Hochstuhl, hier fütterten wir die Kinder, hier kamen wir zusammen, um uns zu beraten.
Ich war als Betriebswirt Spezialist für Organisation und Ablaufplanung und Probleme waren für mich immer nur Motivation gewesen, eine Lösung zu finden. Aber für eine solche Situation hatte mir niemand eine Lösungsstrategie beigebracht. Doch wir hatten keine Wahl, wir mussten den Tatsachen ins Auge sehen: Almut war HIV-positiv. Und möglicherweise waren ich und die Kinder es auch. Wenn jemand meint, dass in solch einer Situation tausend Fragen und Gedanken geklärt werden wollen, der irrt. Ich fühlte mich wie leer. Wenn mich überhaupt ein Gedanke erreichte, dann wie aus weiter Ferne. Wir sprachen über alles Mögliche, wir weinten, hielten uns in den Armen, starrten die Wände an. Almut und vielleicht auch die Kinder und ich waren Todgeweihte. Ich schüttelte immer wieder den Kopf, als könne ich diese fürchterliche Nachricht vielleicht doch einfach abschütteln. Das alles zu begreifen, das würde Zeit brauchen.
Ich fühlte mich wie vor eine geschlossene Tür gestellt, die vorher nicht dort gewesen war. Die Ungewissheit, über das, was dahinter lag, war bedrohlich. Ich hatte Angst, die Klinke herunterzudrücken und die Tür zu öffnen. Aber, so viel war sicher, es führte kein Weg zurück. Und ich spürte, dass dort hinter der Tür mein Weg weiterging. Ich wusste nicht, was auf mich wartete und was diese Diagnose im Einzelnen bedeutete, aber es nutzte auch nichts, die Augen zu verschließen. Ich hatte Angst. Aber auch den festen Willen, alles dafür zu tun, um weiterzuleben. Mit den Kindern. Und mit meiner Frau.
Auf einmal spürte ich, was jetzt wichtig war. Ich sank vor Almut auf die Knie, die völlig mitgenommen und bleich auf ihrem Stuhl kauerte. Ich nahm ihre Hände in meine und sagte: »Almut, wir schaffen das! Was auch immer passiert, wir müssen für die Kinder sorgen. Wir müssen für sie da sein. Und wir werden ihnen auch dieses Jahr ein schönes Weihnachtsfest bereiten. Nach den Feiertagen sehen wir weiter.«
Almut nickte.
Dann gaben wir uns heulend und zitternd gegenseitig das wichtigste Versprechen unseres Lebens: dass wir alles tun würden, was in unserer Macht steht, um Christoph und Julia zu begleiten. Mindestens so lange, bis sie auf eigenen Füßen stehen konnten als gesunde junge Menschen.
Am Morgen des Heiligen Abends spaziere ich mit den Kindern wie so oft über den Riensberger Friedhof nahe unserer Wohnung. Er ist wie ein Park mit großen alten Bäumen bewachsen, beherbergt einen kleinen See mit Enten und wunderschöne Pflanzenbiotope. Hier können wir in ruhiger Umgebung und ungefährlich für die Kinder unsere Runden drehen und die frische Luft genießen. Dass es ein Friedhof ist, hat mich bisher nie gestört. Doch während ich heute den Kinderwagen an einer Ruhestätte nach der anderen vorbeischiebe, muss ich immer wieder an den Tod denken. Wie ein Zeichen für meine düsteren Ahnungen und die plötzlich verdunkelte Zukunft, steigt Rauch über dem Krematorium auf. Ich will das nicht! Nur schnell wieder zurück nach Hause, denke ich und mache abrupt kehrt.
Christoph, der im Kinderwagen eingeschlafen war, wird für einen Moment unruhig. Julia, die die Bescherung kaum abwarten kann, läuft immer mal wieder ein, zwei Meter vor. Sie ahnt nicht, was in den Gedanken ihres Papas vorgeht. Sie träumt wahrscheinlich von der großen Puppe, die sie sich so sehnlich gewünscht hat und die ich schon vor Wochen besorgt habe.
Als wir den Ausgang des Friedhofs erreichen, schlägt uns laut der Verkehrslärm entgegen, Fußgänger hetzen über den Bürgersteig und die Straßenbahn rattert vorbei. Ich atme auf: Leben.
Wie bisher jedes Jahr seit Julias Geburt feiern wir auch diesmal Weihnachten in Sprockhövel im Ruhrgebiet. Wie jedes Jahr gibt es am Heiligabend Wild, das Reinhold, mein Stiefvater – ein passionierter Jäger und Revierförster –, selbst geschossen hat. »Nimm doch noch, Kind«, sagt meine Mutter zu Almut und legt ihr noch eine Scheibe vom Rehbraten auf den Teller. Almut lächelt tapfer, aber ich sehe ihr an, dass ihr nach etwas ganz anderem zumute ist. Als sie nach dem Essen aufsteht und vorgibt, zur Toilette zu gehen, folge ich ihr. Im Nebenzimmer nehmen wir uns in den Arm und vergießen die Tränen, die wir vor meiner Mutter und meinem Stiefvater verbergen. Was sollen wir ihnen auch sagen? Wir wissen ja selbst noch nicht genau, ob auch ich und die Kinder HIV-positiv sind und Erklärungen haben wir auch nicht. Ich frage mich, wie meine alte Mutter und ihr konservativer Mann damit umgehen würden? Könnten sie es überhaupt verkraften? Würden sie uns vielleicht sogar Vorwürfe machen? Es fällt nicht weiter auf, dass Almut und ich verweint ins Wohnzimmer zurückkehren, denn Opa heult auch immer regelmäßig, wenn’s so richtig schön feierlich wird.
Nach dem Essen steht der traditionelle Spaziergang im Wald an, damit meine Mutter die Bescherung in Ruhe vorbereiten kann. Die Kinder freuen sich, denn sie dürfen den Tieren im Gehege ein Weihnachtsgeschenk zu den Futterstellen bringen – Äpfel, Möhren und andere Leckereien. Mit roten Wangen verteilen Julia und Christoph die Gaben. »Komm, Häschen. Komm, kleines Reh«, flüstern sie immer wieder. Leise warten wir darauf, dass die Tiere das Futter abholen. Wie sehr hatten wir uns auf das Weihnachtsfest gefreut, doch jetzt ist alles wie durch eine trübe Glasscheibe entrückt. Im Kopf immer wieder der Gedanke: Wir müssen sterben. Und dann die Fragen: Müssen wir wirklich sterben? Jetzt schon? Nicht auszuhalten. Aber wir lassen uns nichts anmerken, behalten unsere Ängste und Sorgen für uns. Während die Kinder noch oben in ihrem Zimmer spielen, belade ich am Morgen des zweiten Weihnachtstages den Wagen für unsere Rückfahrt nach Bremen. Zunächst unser Gepäck und die Weihnachtsgeschenke, dann die vielen kleinen Kartons mit kulinarischen Köstlichkeiten, die meine Mutter uns gepackt hat: selbst gemachte Wildpasteten, Gläser mit eingemachtem Obst, Honig, den der Bruder meines Stiefvaters – ein Hobbyimker – selbst geerntet und geschleudert hatte. Dazu Kühltaschen mit Gefrorenem. Die gewohnten Handgriffe kommen mir vor, als belade ich ein Totenschiff für die letzte Reise. Das nichts ahnende Lächeln meiner Mutter und die gewohnt derben Witze meines Stiefvaters geben mir diesmal Stiche ins Herz. Als Julia und Christoph schließlich sicher in den Kindersitzen festgeschnallt sind, Almut abreisebereit neben mir steht und ich Mama zum Abschied in den Arm nehme, ist er plötzlich da, dieser unerschütterliche Gedanke: Wir dürfen niemandem etwas sagen! Unter keinen Umständen! Egal, was bei den nächsten Untersuchungen herauskommt! Es kann uns sowieso niemand helfen und darüber zu reden verhindert den Tod auch nicht. Es bleibt uns nur eine Wahl: Schweigen. Weihnachten 1990 wird zum ersten Akt in einem Theaterstück, das wir von nun an viele Jahre spielen sollten: Die gesunde und glückliche Familie. Ein Theaterstück, von dem wir bis kurz zuvor geglaubt hatten, es sei die Realität.
Nach den Feiertagen fahre ich zum Gesundheitsamt, um mich ebenfalls auf HIV-Antikörper testen zu lassen. Mit der Untersuchung der Kinder warten wir noch ab, denn wir möchten ihnen den Arztbesuch und die Blutabnahme nicht ohne Grund zumuten. Wir wünschen uns, dass sie so unbeschwert wie möglich aufwachsen.
Copyright © 2009 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG,
Bergisch Gladbach
Julia, unsere dreijährige Tochter, steht aus lauter Vorfreude auf Heiligabend seit Wochen unter Hochspannung.
Wieder einmal löchert sie meine Frau Almut und mich, wann es denn nun endlich so weit sei. Dabei hüpft sie aufgeregt um uns herum. »Nur noch einmal schlafen«, antwortet Almut und Julia ist sichtlich zufrieden mit der Antwort: Sie strahlt von einem Ohr zum anderen. Unser Sohn Christoph ist mit seinen anderthalb Jahren noch zu klein, um zu begreifen, was es mit den Tannenbäumen, Lichterketten und Weihnachtskugeln auf sich hat, die uns überall in der Stadt begegnen, aber auch er scheint die festliche Atmosphäre aufzusaugen wie ein Schwamm. Mit großen Augen und offenem Mund bestaunt er die Wunderwelt um ihn herum, die vielen Buden, die Holzspielzeug, Weihnachtskugeln in allen möglichen Farben, Kerzen, Süßigkeiten und Marionetten anbieten. Der Duft von Glühwein und Lebkuchen liegt in der Luft. Zwischen dem hanseatischen Rathaus, dem Dom und der Rolandsstatue ist ein altmodisches Kinderkarussell aufgebaut. Das Fahrgeschäft hat es den Kindern angetan.
Christoph, ganz der Papa, will auf einem Motorrad sitzen, Julia lenkt lieber einen Bus. Runde um Runde muss gefahren werden und sobald wir uns zum Gehen wenden wollen, sammeln sich dicke Krokodilstränen in den Augen der beiden. Wir lassen uns nicht nur einmal erweichen, denn auch uns ist zum Heulen zu mute. Könnten wir die Zeit doch einfach anhalten! Der Zukunft entfliehen! Almut und ich wechseln uns mit dem Chipkauf ab, während die sorgsamen Augen des anderen die Kleinen bei ihrer Kreisfahrt verfolgen. Später essen wir noch die obligatorischen Kartoffelpuffer vom Stand nebenan. Köstlich, wie jedes Jahr. Alles scheint wie immer. Und doch ist alles anders.
Es war vor gut zwei Wochen. Ich war mit den Kindern draußen gewesen und wie so oft bei unseren täglichen Ausflügen hatten wir zuerst den Spielplatz im Bremer Bürgerpark besucht. Ich kenne keinen schöneren Spielplatz und der Sand ist sauber wie sonst nirgendwo. Julia liebt vor allem die Rutsche, für die Christoph noch zu klein ist. Nach etlichen Rutschpartien präsentierte Julia uns ihre Kletterkunststückchen – sich von einer Stange rücklings runterhängen lassen und dann einen Purzelbaum schlagen; danach machten wir uns auf den Rückweg, aber nicht ohne einen Schlenker vorbei am Emmasee mit den stolzen Schwänen und einem Abstecher in den nahe gelegenen Tierpark. Dort gibt’s Wildschweine, Rehkitze, Ziegenkinder, jede Menge Enten und sogar ein paar Kängurus. Die Kinder sind jedes Mal aufs Neue hin und weg, wenn sie es schaffen, eine Ziege oder ein Kitzchen zu streicheln. Und weil ihre Begeisterung ziemlich ansteckend ist, war auch ich guter Dinge, als ich mit den beiden Rackern zu Hause ankam.
Ich hatte die Wohnungstür noch nicht ganz geöffnet, als ich ein Wimmern vernahm. Es drang aus der Küche in den Flur.
Rasch bugsierte ich die Kinder in ihr Zimmer, versorgte sie mit Spielzeug und ging zu Almut, die in Tränen aufgelöst am Küchentisch saß. »Was ist los, Liebes?«, fragte ich und nahm sie in den Arm. Almut zitterte am ganzen Körper. So, als seien es mindestens minus 20 Grad in unserer mollig warmen Wohnung. Ich streichelte ihr minutenlang beruhigend über den Rücken und wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht, bis sie endlich erzählte, was passiert war: Der Oberarzt des Klinikums, bei dem sie regelmäßig Blut spendete, hatte mittags angerufen, sie müsse noch einmal zur Kontrolle in die Klinik kommen, mit ihrem Blut sei etwas nicht in Ordnung. Ich kramte in meinem Gedächtnis und erinnerte mich, dass Almut Ende November zum Blutspenden gegangen war. Das kam oft vor, denn Almut hatte eine seltene Blutgruppe, A negativ. Ihr Spenderblut war heiß begehrt und konnte schwer verletzten Menschen das Leben retten. Darum rief sogar oft jemand aus der Klinik an und fragte nach, ob Almut nicht mal wieder kommen wolle. Erneut brachen Sturzbäche von Tränen aus Almut hervor, bevor sie sich mühsam wieder fasste. »Was ist denn nicht in Ordnung?«, fragte ich besorgt.
»Die gleiche Frage habe ich auch gestellt«, gab Almut zurück, »und da hat Dr. Severin gesagt, er könne mir das nicht am Telefon sagen. Aber ich habe darauf bestanden und gewettert, dass ich nur komme, wenn er sofort mit der Sprache rausrückt. Ich bin schließlich Krankenschwester, mir kann man nichts vormachen.
Und dann habe ich ihn gefragt, ob ich Hepatitis –« Almut schluchzte gequält auf.
»Ja, und? Hast du Hepatitis?«
Mir spukte alles Mögliche im Kopf herum, denn mit einer Entzündung der Leber, so viel wusste ich, war nicht zu spaßen.
»Nein. Er hat gesagt, ich hätte HIV-Antikörper im Blut.«
Ich hatte genau gehört, was Almut gesagt hat. Aber es erreichte mich nicht. Ich starrte ungläubig in Almuts verweintes Gesicht. HIV hämmerte es in meinem Gehirn. Das bedeutete doch Aids, oder nicht? Meine Gehirnzellen wollten nicht richtig in Gang kommen. Aber das konnte einfach nicht wahr sein. HIV. Aids. Hallo? Konnte mich mal jemand wachrütteln? Wachrütteln aus diesem absurden Traum! Komm, aufwachen, Dieter, Licht anmachen, ein Glas Wasser trinken und feststellen, dass alles gut ist. Aber ich träumte nicht. Almuts Stimme holte mich zurück aus meinen Gedanken.
»Dann habe ich zu Dr. Severin gesagt: ›Aber das ist doch gut, wenn ich Antikörper habe, oder nicht? Dann kann ich doch nichts bekommen!‹, doch er hat geantwortet: ›Nein, Frau Niemeyer, das bedeutet, Sie haben das Virus im Blut.‹«
Ich hielt mir meinen flauen Magen und sagte: »Das muss eine Verwechslung sein, Almut.«
Eine Verwechslung. Das war die einzige mögliche Erklärung.
Almut erzählte weiter. Wie sie nach der verstörenden Nachricht sofort wie ferngesteuert in die Klinik gefahren war, wo man ihr erneut Blut abgenommen hatte. Wie Dr. Severin sie, ganz routinemäßig, gefragt hatte, ob sie Kontakt zu Drogen oder ungeschützten sexuellen Kontakt gehabt habe. Mein Gott, was für Fragen! Aber genau diese Fragen schossen auch mir durch den Kopf, ich konnte mich nicht dagegen wehren. Und was sollte ich auch denken? Wenn sich die furchtbare Diagnose bewahrheiten sollte, mussten schließlich einige Dinge geklärt werden.
Eine Kaskade von Fragezeichen war in meinem Kopf. Wenn es also stimmte, woher hatte Almut sich das Virus zugezogen? Und wann? Wie? Was hatte sie getan? Und hatte dann auch ich das Virus in mir? Was war mit den Kindern? Julia und Christoph hatten doch erst noch das ganze Leben vor sich … Nein, das konnte alles nicht wahr sein. Ich wusste zwar nur sehr wenig über HIV und Aids. Aber was ich ganz sicher wusste, war, dass man sich die Krankheit beim Geschlechtsverkehr mit einem HIV-Positiven zuziehen konnte. Und kam Aids nicht vornehmlich in Schwulenkreisen vor? Also, so schlussfolgerte ich erst einmal optimistisch, konnte Almut gar nicht HIV-positiv sein.
Wir waren schließlich ein verheiratetes heterosexuelles Paar mit zwei kleinen Kindern. Keiner von uns hatte Erfahrung mit Drogen. Und wir waren treu! Oder doch nicht? Was war, wenn Almut … Nein! Das war unmöglich. Mein Gehirn weigerte sich, diese düsteren Gedanken weiter zu verfolgen.
Gleich nachdem man Almut im Klinikum für einen zweiten Test Blut abgenommen hatte, war sie in ihrer Verzweiflung zu ihrer Chefin ins Dialysezentrum gefahren. Auch Frau Dr. Beyer hatte ihr noch einmal Blut abgenommen und sie beruhigt: »Das muss ein Versehen sein, so was kommt häufiger vor. Mach dir keine Sorgen, Almut.«
Die Probe war nun auf dem Weg in ein Labor nach München, wo genauere Tests innerhalb der nächsten vierzehn Tage klären sollten, ob ein falsches Ergebnis vorlag. Almut wurde krankgeschrieben, denn sie war zu nichts mehr in der Lage: All ihre Gedanken kreisten Tag und Nacht um eine mögliche HIV-Infektion. Sie schlief nicht, konnte sich auf nichts konzentrieren, starrte den Fernsehbildschirm an, ohne mitzubekommen, welche Sendung überhaupt lief. Auch ich selbst nahm plötzlich überall nur noch Nachrichten über HIV und Aids wahr.
Es gab mehrere Prominente, die Gerüchten zufolge an Aids litten oder positiv waren. Es hieß, Queen-Sänger Freddy Mercury habe Aids, auch wenn er das vehement dementierte. Aber sah er nicht tatsächlich furchtbar ausgemergelt aus? Über Tennisspieler Michael Westphal tuschelte man ebenfalls, er sei erkrankt.
Das Karussell dreht sich ein weiteres Mal, Julia taucht juchzend in ihrem Bus vor mir auf, gefolgt von Christoph auf dem Motorrad. Von irgendwoher dringen verzerrt Fetzen von O du Fröhliche in meine Ohren. Mir kommt das alles unwirklich vor. Seit gestern hatten wir Gewissheit. Gestern. Es war, als läge dieser Samstagnachmittag lange zurück. Ich hörte in Gedanken wieder Almuts Schluchzen. Ich war gerade vom Einkaufen zurückgekommen und fand Almut wie schon vor zwei Wochen tränenüberströmt in unserer Wohnung. Ich erfuhr: Almuts Chefin war vorbeigekommen. Sie hatte sich nach der Visite im Dialysezentrum sofort auf den Weg gemacht, weil sie es uns persönlich sagen wollte. Wir sollten nicht auch noch die Festtage im Ungewissen verbringen müssen. Als Almut Frau Dr. Beyer vor der Tür hatte stehen sehen, wie ein Häufchen Elend, war ihr im Bruchteil einer Sekunde klar gewesen: Die Diagnose war keine Verwechslung! Das letzte Fünkchen Hoffnung verpuffte wie eine der hässlichen Fehlzündungen, die wir manchmal auf der Straße vor dem Haus hörten. Was für eine Weihnachtsüberraschung!
Die Einkaufstüten blieben unausgepackt in der Ecke stehen und wir setzten uns an unseren großen, runden Esstisch, das Herzstück unserer Wohnung. Hier hatte jeder seinen Platz, hier stand Christophs Hochstuhl, hier fütterten wir die Kinder, hier kamen wir zusammen, um uns zu beraten.
Ich war als Betriebswirt Spezialist für Organisation und Ablaufplanung und Probleme waren für mich immer nur Motivation gewesen, eine Lösung zu finden. Aber für eine solche Situation hatte mir niemand eine Lösungsstrategie beigebracht. Doch wir hatten keine Wahl, wir mussten den Tatsachen ins Auge sehen: Almut war HIV-positiv. Und möglicherweise waren ich und die Kinder es auch. Wenn jemand meint, dass in solch einer Situation tausend Fragen und Gedanken geklärt werden wollen, der irrt. Ich fühlte mich wie leer. Wenn mich überhaupt ein Gedanke erreichte, dann wie aus weiter Ferne. Wir sprachen über alles Mögliche, wir weinten, hielten uns in den Armen, starrten die Wände an. Almut und vielleicht auch die Kinder und ich waren Todgeweihte. Ich schüttelte immer wieder den Kopf, als könne ich diese fürchterliche Nachricht vielleicht doch einfach abschütteln. Das alles zu begreifen, das würde Zeit brauchen.
Ich fühlte mich wie vor eine geschlossene Tür gestellt, die vorher nicht dort gewesen war. Die Ungewissheit, über das, was dahinter lag, war bedrohlich. Ich hatte Angst, die Klinke herunterzudrücken und die Tür zu öffnen. Aber, so viel war sicher, es führte kein Weg zurück. Und ich spürte, dass dort hinter der Tür mein Weg weiterging. Ich wusste nicht, was auf mich wartete und was diese Diagnose im Einzelnen bedeutete, aber es nutzte auch nichts, die Augen zu verschließen. Ich hatte Angst. Aber auch den festen Willen, alles dafür zu tun, um weiterzuleben. Mit den Kindern. Und mit meiner Frau.
Auf einmal spürte ich, was jetzt wichtig war. Ich sank vor Almut auf die Knie, die völlig mitgenommen und bleich auf ihrem Stuhl kauerte. Ich nahm ihre Hände in meine und sagte: »Almut, wir schaffen das! Was auch immer passiert, wir müssen für die Kinder sorgen. Wir müssen für sie da sein. Und wir werden ihnen auch dieses Jahr ein schönes Weihnachtsfest bereiten. Nach den Feiertagen sehen wir weiter.«
Almut nickte.
Dann gaben wir uns heulend und zitternd gegenseitig das wichtigste Versprechen unseres Lebens: dass wir alles tun würden, was in unserer Macht steht, um Christoph und Julia zu begleiten. Mindestens so lange, bis sie auf eigenen Füßen stehen konnten als gesunde junge Menschen.
Am Morgen des Heiligen Abends spaziere ich mit den Kindern wie so oft über den Riensberger Friedhof nahe unserer Wohnung. Er ist wie ein Park mit großen alten Bäumen bewachsen, beherbergt einen kleinen See mit Enten und wunderschöne Pflanzenbiotope. Hier können wir in ruhiger Umgebung und ungefährlich für die Kinder unsere Runden drehen und die frische Luft genießen. Dass es ein Friedhof ist, hat mich bisher nie gestört. Doch während ich heute den Kinderwagen an einer Ruhestätte nach der anderen vorbeischiebe, muss ich immer wieder an den Tod denken. Wie ein Zeichen für meine düsteren Ahnungen und die plötzlich verdunkelte Zukunft, steigt Rauch über dem Krematorium auf. Ich will das nicht! Nur schnell wieder zurück nach Hause, denke ich und mache abrupt kehrt.
Christoph, der im Kinderwagen eingeschlafen war, wird für einen Moment unruhig. Julia, die die Bescherung kaum abwarten kann, läuft immer mal wieder ein, zwei Meter vor. Sie ahnt nicht, was in den Gedanken ihres Papas vorgeht. Sie träumt wahrscheinlich von der großen Puppe, die sie sich so sehnlich gewünscht hat und die ich schon vor Wochen besorgt habe.
Als wir den Ausgang des Friedhofs erreichen, schlägt uns laut der Verkehrslärm entgegen, Fußgänger hetzen über den Bürgersteig und die Straßenbahn rattert vorbei. Ich atme auf: Leben.
Wie bisher jedes Jahr seit Julias Geburt feiern wir auch diesmal Weihnachten in Sprockhövel im Ruhrgebiet. Wie jedes Jahr gibt es am Heiligabend Wild, das Reinhold, mein Stiefvater – ein passionierter Jäger und Revierförster –, selbst geschossen hat. »Nimm doch noch, Kind«, sagt meine Mutter zu Almut und legt ihr noch eine Scheibe vom Rehbraten auf den Teller. Almut lächelt tapfer, aber ich sehe ihr an, dass ihr nach etwas ganz anderem zumute ist. Als sie nach dem Essen aufsteht und vorgibt, zur Toilette zu gehen, folge ich ihr. Im Nebenzimmer nehmen wir uns in den Arm und vergießen die Tränen, die wir vor meiner Mutter und meinem Stiefvater verbergen. Was sollen wir ihnen auch sagen? Wir wissen ja selbst noch nicht genau, ob auch ich und die Kinder HIV-positiv sind und Erklärungen haben wir auch nicht. Ich frage mich, wie meine alte Mutter und ihr konservativer Mann damit umgehen würden? Könnten sie es überhaupt verkraften? Würden sie uns vielleicht sogar Vorwürfe machen? Es fällt nicht weiter auf, dass Almut und ich verweint ins Wohnzimmer zurückkehren, denn Opa heult auch immer regelmäßig, wenn’s so richtig schön feierlich wird.
Nach dem Essen steht der traditionelle Spaziergang im Wald an, damit meine Mutter die Bescherung in Ruhe vorbereiten kann. Die Kinder freuen sich, denn sie dürfen den Tieren im Gehege ein Weihnachtsgeschenk zu den Futterstellen bringen – Äpfel, Möhren und andere Leckereien. Mit roten Wangen verteilen Julia und Christoph die Gaben. »Komm, Häschen. Komm, kleines Reh«, flüstern sie immer wieder. Leise warten wir darauf, dass die Tiere das Futter abholen. Wie sehr hatten wir uns auf das Weihnachtsfest gefreut, doch jetzt ist alles wie durch eine trübe Glasscheibe entrückt. Im Kopf immer wieder der Gedanke: Wir müssen sterben. Und dann die Fragen: Müssen wir wirklich sterben? Jetzt schon? Nicht auszuhalten. Aber wir lassen uns nichts anmerken, behalten unsere Ängste und Sorgen für uns. Während die Kinder noch oben in ihrem Zimmer spielen, belade ich am Morgen des zweiten Weihnachtstages den Wagen für unsere Rückfahrt nach Bremen. Zunächst unser Gepäck und die Weihnachtsgeschenke, dann die vielen kleinen Kartons mit kulinarischen Köstlichkeiten, die meine Mutter uns gepackt hat: selbst gemachte Wildpasteten, Gläser mit eingemachtem Obst, Honig, den der Bruder meines Stiefvaters – ein Hobbyimker – selbst geerntet und geschleudert hatte. Dazu Kühltaschen mit Gefrorenem. Die gewohnten Handgriffe kommen mir vor, als belade ich ein Totenschiff für die letzte Reise. Das nichts ahnende Lächeln meiner Mutter und die gewohnt derben Witze meines Stiefvaters geben mir diesmal Stiche ins Herz. Als Julia und Christoph schließlich sicher in den Kindersitzen festgeschnallt sind, Almut abreisebereit neben mir steht und ich Mama zum Abschied in den Arm nehme, ist er plötzlich da, dieser unerschütterliche Gedanke: Wir dürfen niemandem etwas sagen! Unter keinen Umständen! Egal, was bei den nächsten Untersuchungen herauskommt! Es kann uns sowieso niemand helfen und darüber zu reden verhindert den Tod auch nicht. Es bleibt uns nur eine Wahl: Schweigen. Weihnachten 1990 wird zum ersten Akt in einem Theaterstück, das wir von nun an viele Jahre spielen sollten: Die gesunde und glückliche Familie. Ein Theaterstück, von dem wir bis kurz zuvor geglaubt hatten, es sei die Realität.
Nach den Feiertagen fahre ich zum Gesundheitsamt, um mich ebenfalls auf HIV-Antikörper testen zu lassen. Mit der Untersuchung der Kinder warten wir noch ab, denn wir möchten ihnen den Arztbesuch und die Blutabnahme nicht ohne Grund zumuten. Wir wünschen uns, dass sie so unbeschwert wie möglich aufwachsen.
Copyright © 2009 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG,
Bergisch Gladbach
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Bibliographische Angaben
- Autor: Dieter Niemeyer
- 2009, 250 Seiten, Maße: 13,6 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Herausgegeben: Sylvia Gredig
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3785724055
- ISBN-13: 9783785724057
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