Ich singe für die Freiheit
Die Lebensreise einer buddhistischen Nonne
Die musikalische Botschafterin des BuddhismusSie ist ein Star in der weltumspannenden Gemeinschaft der Tibeter - die musikalische Stimme des Buddhismus.Ani Choying, Tochter von Exil-Tibetern, ist elf Jahre alt, als sie in einem buddhistischen Tempel in...
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Produktinformationen zu „Ich singe für die Freiheit “
Die musikalische Botschafterin des Buddhismus
Sie ist ein Star in der weltumspannenden Gemeinschaft der Tibeter - die musikalische Stimme des Buddhismus.
Ani Choying, Tochter von Exil-Tibetern, ist elf Jahre alt, als sie in einem buddhistischen Tempel in Kathmandu um Aufnahme als Nonne bittet. Es ist ein Akt der Auflehnung und eine Flucht - vor dem cholerischen Vater, der regelmäßig seine Frau und seine Tochter brutal misshandelt. Zwei Jahre später tritt sie in ein Kloster in den Bergen hoch über Kathmandu ein. Sie erhält eine Ausbildung und lernt die buddhistischen Rituale. Ihr Meister - ein weltweit verehrter Rinpoche - schult ihre Stimme und lehrt sie, tibetische Mantras und Chös zu singen. Dort hat sie erstmals in ihrem Leben das Gefühl, frei zu sein. Als ihr Meister Tulku Urgyen stirbt, bricht ihre Welt zusammen.
In diese Zeit fällt ein Anruf von Steve Tibbett. Steve war Gast im Kloster gewesen, er hatte Ani Choyings rituelle Gesänge aufgenommen und daraus in Amerika eine CD produziert. Nun soll es eine Konzerttournee geben. Choying spürt, dass diese CD der Anfang ist, um ihren großen Traum zu verwirklichen: eine Schule für die zu gründen, an deren Bildung in Nepal kein Gedanke verschwendet wird - die Frauen. Seither gibt Ani Choying regelmäßig Konzerte und ist international bekannt. Und ihr Traum ist wahr geworden.
Klappentext zu „Ich singe für die Freiheit “
Sie ist ein Star in der weltumspannenden Gemeinschaft der Tibeter - die musikalische Stimme des Buddhismus.Ani Choying, Tochter von Exil-Tibetern, ist elf Jahre alt, als sie in einem buddhistischen Tempel in Kathmandu um Aufnahme als Nonne bittet. Es ist ein Akt der Auflehnung und eine Flucht vor dem cholerischen Vater, der regelmäßig seine Frau und seine Tochter brutal misshandelt. Zwei Jahre später tritt sie in ein Kloster in den Bergen hoch über Kathmandu ein. Sie erhält eine Ausbildung und lernt die buddhistischen Rituale. Ihr Meister - ein weltweit verehrter Rinpoche - schult ihre Stimme und lehrt sie, tibetische Mantras und Chös zu singen. Dort hat sie erstmals in ihrem Leben das Gefühl, frei zu sein. Als ihr Meister Tulku Urgyen stirbt, bricht ihre Welt zusammen.In diese Zeit fällt ein Anruf von Steve Tibbett. Steve war Gast im Kloster gewesen, er hatte Ani Choyings rituelle Gesänge aufgenommen und daraus in Amerika eine CD produziert. Nun soll es eine Konzerttournee geben. Choying spürt, dass diese CD der Anfang ist, um ihren großen Traum zu verwirklichen: eine Schule für die zu gründen, an deren Bildung in Nepal kein Gedanke verschwendet wird - die Frauen. Seither gibt Ani Choying regelmäßig Konzerte und ist international bekannt. Und ihr Traum ist wahr geworden.
Lese-Probe zu „Ich singe für die Freiheit “
Ich singe für die Freiheit - Die Lebensreise einer buddhistischen Nonne von Ani Choying DrolmaVorwort
Das Wort Nyingjé, das man im Deutschen mit dem Begriff »Mitgefühl« wiedergeben kann, bedeutet auf Tibetisch »der Herr des Herzens«; im übertragenen Sinne: der, der über unsere Gedanken herrschen soll. In der buddhistischen Lehre ist Mitgefühl der Wunsch, jeder Form von Leid, und vor allem seinen Ursachen – Ignoranz, Hass, Gier, Neid und so weiter –, entgegenzuwirken. Die altruistische Liebe wiederum ist der Wunsch, dass alle Wesen glücklich sein und die Quelle des Glücks finden mögen.
Wenn wir ausschließlich mit uns selbst beschäftigt sind, werden wir verletzlich und verfallen leicht der Verwirrung, der Machtlosigkeit und der Angst. Wenn wir aber aus tiefem Mitgefühl angesichts des Leids anderer Empathie verspüren, weicht die ohnmächtige Resignation dem Mut, die Depression der Liebe, die Engstirnigkeit der Öffnung gegenüber unserer Umgebung.
Im Allgemeinen hängen unser Mitgefühl und unsere Liebe von der wohlwollenden oder aggressiven Haltung ab, die uns oder unseren Nächsten von der Außenwelt entgegengebracht wird. Deshalb fällt es uns extrem schwer, Mitgefühl für jene zu empfinden, die uns schaden. Das buddhistische Nyingjé wünscht aus tiefstem Herzen, dass unterschiedslos alle Wesen vom Leid und seinen Ursachen, insbesondere dem Hass, befreit werden. In diesem autobiografischen Bericht zeigt uns Ani Choying Drolma, wie sie, nachdem sie von einem gewalttätigen Vater physisch und moralisch gequält worden ist, vom Hass zum Mitgefühl, von der Knechtschaft zur Freiheit und vom Leid zum inneren Frieden gefunden hat. Sie demonstriert auf triumphale Weise, dass die Berufung zur Nonne für sie keineswegs bedeutet, auf »alles Schöne im
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Leben« zu verzichten, sondern ihr vielmehr einen Weg gezeigt hat, sich von unzähligen schmerzhaften Zwängen zu befreien. Der Vogel, der sich in den Himmel erhebt, »verzichtet « nicht auf seinen Käfig, er befreit sich bei seinem freudvollen Flug davon.
Ani Choying hat sich aber nicht damit begnügt, diese Befreiung nur für sich zu verwirklichen. Sie hat sie voller Enthusiasmus und mit der großen Tiefe ihrer Gefühle genutzt und sich in den Dienst ihrer Mitmenschen gestellt: Für obdachlose Nonnen setzt sie sich ebenso ein wie für arme Kinder ohne Schulbildung.
Seitdem ich Ani Choying näher kenne und wir mehrere Projekte gemeinsam betreuen, kommt es mir vor, als sei sie ständig auf der Suche nach jemandem, dem sie helfen kann. Zum Gedenken an ihre Mutter, die an Nierenversagen gestorben ist, geht das Autorenhonorar für dieses Buch an das erste Dialysezentrum in Kathmandu, das seine Leistungen allen, die darauf angewiesen sind, zu erschwinglichen Preisen anbietet.
Matthieu Ricard
Prolog
Ich ziehe mich hinter die Kulissen zurück, während im Saal weiter der Applaus tobt. Das geht jetzt schon mindestens fünf Minuten so. Einer der Organisatoren des Konzerts fasst mich sanft am Arm und schiebt mich noch einmal auf die Bühne.
»Los, Ani, wink deinem Publikum zu!«
Ich kehre also zurück. Es sind vierzehntausend Zuschauer, wurde mir gesagt. Auch wenn ich es inzwischen gewohnt bin aufzutreten, hat es nach wie vor etwas Beeindruckendes für mich. Das Konzert, das ich soeben in dieser riesigen Halle in Hongkong gegeben habe, war eine einzigartige Erfahrung: Ich durfte die Festlichkeiten zum zehnten Jubiläum der Rückgabe der früheren britischen Kolonie an China eröffnen. Mit einigen der berühmtesten chinesischen und taiwanesischen Sänger bin ich aufgetreten, begleitet von sechshundert buddhistischen Mönchen. Der Lärm im Saal dringt wie durch einen Nebel zu mir, der Applaus, die Hurrarufe, das Lachen meiner Nachbarn. Ich bin so gerührt … Mehrere Mönche treten auf mich zu, um mir zu gratulieren, mir zu sagen, wie sehr sie meinen religiösen Gesang schätzen. Ich bin glücklich, dass meine Lieder den Menschen gefallen. Es ist weder Gier nach Erfolg noch Eitelkeit: Ich pfeife auf all das. Es ist vielmehr die Freude, dass meine Botschaft gehört wird. Alle meine Lieder sprechen von der Liebe, sie verkünden eine Botschaft der Hoffnung. Je mehr sie sich verbreitet, desto seliger bin ich.
In dem Taxi, das durch die Straßen Hongkongs gleitet, um mich ins Hotel zu bringen, strecke ich mit einem Seufzen meine Beine aus. Ich bin müde. In wenigen Tagen fliege ich nach München, dann nach Madrid, wo ich weitere Konzerte gebe. Dann reise ich zurück nach Kathmandu in das Viertel Bodnath, in dem ich vor nunmehr siebenunddreißig Jahren geboren wurde. Ich bin erschöpft, ja, aber glücklich. Dieses Konzert hat mir eine Menge Geld eingebracht, das ich in meine Schule investieren werde. Nichts ist mir wichtiger. Meine Stimme ist mein Werkzeug. Ich trage einen Kampf aus: gegen Armut und Unwissenheit, die dazu führen, dass Nonne zu werden für viele junge buddhistische Mädchen in Nepal und Tibet die einzige Möglichkeit ist, der Hölle zu entkommen. Nonne zu werden, um nicht Haussklavin zu sein, um nicht mit einem groben Mann verheiratet zu werden, der seine Frau schlägt und wie ein Maultier arbeiten lässt. Ich kenne die Geschichte gut: Ich bin eine von ihnen. Im Alter von zehn Jahren habe ich beschlossen, niemals zu heiraten und niemals mehr zuzulassen, dass jemand die Hand gegen mich erhebt. Angefangen bei meinem Vater.
Mein Vater … Wie ich ihn geliebt habe! Wie ich ihn gehasst habe! Er hat mich verprügelt wie einen Hund. Er hat mich bewundert wie eine Göttin. Zwei Männer haben in meinem Leben für mich gezählt und mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Mein Vater, weil er mich geschlagen hat; mein buddhistischer Meister, weil er mich geliebt hat. Diesen beiden Männern verdanke ich alles, und das werde ich nie vergessen. Ohne den Zorn des einen und das Mitgefühl des anderen wäre ich heute gewiss mit einem zwanzig Jahre älteren Händler verheiratet – eine unterwürfige Ehefrau wie die meisten Tibeterinnen, die am Morgen kocht, am Nachmittag wäscht und nachts ihrem Mann zu Diensten ist. Ich würde nicht lesen können, doch das wäre unwichtig, denn ich hätte eine ganze Schar von Kindern großzuziehen und kaum Zeit, mich in irgendwelche Träumereien aus gedruckten Worten zu verlieren. Ich wäre abhängig und gefesselt – ohne mir dessen bewusst zu sein. Dieses Schicksal ist mir erspart geblieben. Ich weiß mein Glück zu schätzen.
»Ihre Lieder sind so beruhigend, sie befreien mich von allen Spannungen. Ihre Stimme ist so sanft, danke!«, beglückwünscht man mich oft nach meinen Konzerten.
Sanft, ja, das kann ich sein. Ich bin klein, und man sagt, von meinem Gesicht und meiner Haltung ginge etwas Zartes aus. Mein rasierter Schädel und meine orangefarbenen Kleider, deutliche Zeichen meines Status als Nonne, fordern Zurückhaltung von mir. Ich mag keine schroffen Gesten, ich spreche leise, ich zwinge mich, freundlich zu lächeln. Durch das Praktizieren des Buddhismus und das Meditieren bin ich zu einer gewissen inneren Gelassenheit gelangt.
Aber auch wenn ich eine Frau bin, stecken in mir Härte und Entschlossenheit, die so manchen Mann in die Knie zwingen würden. In meinem tiefsten Innern verbirgt sich, wie schmelzende Lava in der Erdmitte, eine außerordentlich dichte Zusammenballung von Kraft und Energie, die mich antreibt und leitet. Dieser geballte feste Wille ist heute mein bester Verbündeter. Gestern noch hätte er mich zum Schlimmsten führen können. Er hat mich bisweilen schlecht beraten. Viel Gewalt, viel Hass. Wie ein gezähmter Tiger verharrt er dort in meinem Herzen, kauert in meinem Magen, domestiziert und doch für immer grundlegend wild. Ich bin eine Kriegerin. Und meine Waffen heißen Liebe und Mitgefühl.
Gezeichnet
Ich wurde in Kathmandu geboren, in einem Viertel namens Bodnath. Das ist ein kleines Stück Tibet, verbannt ins benachbarte Nepal. Ein großes Steintor markiert den Eingang zu unserem Viertel. Ringsumher ist Nepal. Drinnen ist unser Zuhause. Die Straßen verlaufen sternförmig vom Stupa aus, dem gewaltigen buddhistischen Tempel, der das Nervenzentrum des Viertels darstellt. Meine Mutter hebt immer wieder voller Stolz hervor, dass er einer der größten des Landes ist. Am Abend versammeln sich dort die Familien, um zu beten und die neuesten Neuigkeiten auszutauschen. Die Tibeter haben die Gewohnheit angenommen, immer in derselben Richtung um die Stupas herumzugehen, das heißt links herum – das ist sehr wichtig –, während sie die vielen in den Mauern verankerten Gebetsmühlen drehen und ihre Gebete hersagen. Tausende von kleinen bunten Seidenwimpeln, hier im Ort Lungta genannt, flattern im Wind. Die Händler sprechen tibetisch, die meisten Menschen trinken Pocha, Buttertee, und die Momos, mit Fleisch oder Gemüse gefüllte Teigtaschen, sollen hier so gut schmecken wie in Lhasa, der Hauptstadt Tibets. Einige unserer Nachbarn sind Nepalesen, und das Zusammenleben mit ihnen ist völlig problemlos. Das tibetische Blut meiner Eltern fließt in meinen Adern, aber ich betrachte mich als Tibeto-Nepalesin und bin stolz, in diesem Land, dem Land Buddhas, geboren zu sein.
Meine Eltern haben beide, noch bevor sie einander kennenlernten, ihr Heimatland Mitte der 1950er-Jahre verlassen, als die chinesischen Kommunisten in Tibet einmarschierten und alle töteten oder verhafteten, die sich ihnen nicht beugen wollten. Sie kamen aus derselben Region im Osten des Landes, der Provinz Kham, wenn auch nicht aus demselben Dorf.
Sie landeten mit ihren jeweiligen Familien zunächst in Indien, wo sie sich dann begegneten. Meine Eltern sprechen wenig von ihrem Vorleben. Manchmal abends, wenn Gäste zu Besuch sind, höre ich sie von ihren Erinnerungen erzählen. Sie scheinen hier nicht unglücklich zu sein; das Leben ist weniger rau als im Hochgebirge, das sie verlassen haben. Wie die meisten ihrer Nachbarn tragen sie die traditionellen tibetischen Gewänder, die vorne geschlossen und in der Taille mit einem bunten Stoffband gehalten werden. Mein Vater, der zwei Kopf größer ist als die anderen Männer, hat schulterlanges Haar, das er zu einem dünnen Pferdeschwanz zusammenbindet. Meine Mutter hat lange schwarze Zöpfe, die über ihre schweren Brüste bis auf ihre Hüften fallen. Sie hilft meinem Vater bei der Arbeit und kümmert sich natürlich um den Haushalt. Wir leben zusammen im selben Raum. Alles findet hier zwischen den Zementmauern auf einer Fläche statt, die kaum größer als ein Schlafzimmer ist. Hier wird gearbeitet, gekocht, gegessen und geschlafen. Alles. Hier fertigt mein Vater seine Heiligenfiguren an. Er arbeitet schwer und braucht Ruhe, wenn er bei Einbruch der Dämmerung sein Werkzeug beiseitelegt und die am Tag hergestellten Figuren entlang der Wand aufgestellt hat. Er fertigt sie mit Formen an, in die er Bronze oder Kupfer gießt. Dann bemalt er sie mit gefährlichen Produkten, die ich nicht berühren darf. An der Wand gegenüber kauernd, atme ich die Dämpfe ein. Sie steigen mir zu Kopfe, und nachher bin ich immer ein wenig benebelt und weggetreten. Ich entferne mich von der Realität, wenn ich die Dämpfe aus den Flaschen mit dem Totenkopf einatme. Ich sehe ihm gern bei seiner Arbeit zu, ganz still, um ihn nicht zu stören. Als sie sich kennenlernten, waren meine Eltern verliebt. Aber nicht ineinander. Mein Vater lebte mit der Frau seines Herzens zusammen. Sie hatten einen Sohn, meinen Halbbruder. Sie waren glücklich. Meine Mutter hatte eine Tochter mit einem tibetischen Armeeangehörigen, den sie nur sehr selten sah, da er wegen seines Berufs ständig auf Reisen war, doch sie liebte ihn heiß und innig. Sie schrieb ihm oft, was ich immer sehr romantisch gefunden habe.
Mein Großvater mütterlicherseits dagegen mochte ihn überhaupt nicht. Dem Großvater bin ich nur einmal begegnet, und dabei hörte ich, wie er diesen ersten Ehemann als Tunichtgut beschimpfte. Als die Ehefrau meines Vaters in Indien starb, gab ihm mein Großvater seine Tochter zur Frau. Das geschah einfach so, ohne dass meine Mutter nach ihrer Meinung gefragt worden wäre. Die Töchter haben sich nicht in Entscheidungen einzumischen. Das ist bei uns so Sitte: Die Eltern entscheiden über das Schicksal ihrer Kinder. Es gab nicht mal eine Hochzeitszeremonie. Nicht genug Geld, nicht genug Zeit. Man hat sie zusammengebracht – und fertig.
Auf jeden Fall war das Herz nicht bei der Sache. Mein Vater hatte seine Heißgeliebte verloren, und meine Mutter, die ohne Nachricht von ihrem Angebeteten war, musste ihre Tochter ihrem eigenen Vater und ihrer Tante überlassen. Eines Morgens, das Herz voller Hass und Verzweiflung, ist sie zu ihrem neuen Zuhause aufgebrochen. Ihr neuer Mann war fünfundzwanzig Jahre älter als sie. Um den Strom ihrer Tränen zum Versiegen zu bringen, hat man ihr erzählt, ihr schöner Märchenprinz habe widerstandslos die finanzielle Abfindung akzeptiert, die mein Vater ihm angeboten hatte, um ihm seine Frau zu nehmen – das ist in Tibet so üblich, wenn man die Frau eines anderen auswählt. Er habe nichts unternommen, um sie zurückzuerobern oder sie zu behalten, und habe das Geld ohne Weiteres eingesteckt. Meine Mutter war schier verzweifelt bei der Vorstellung, dass ihr Geliebter sie so leicht vergessen haben sollte, und wäre am liebsten gestorben. Schließlich ergab sie sich in ihr Schicksal.
Ich weiß nicht, ob man sich darüber freuen soll oder nicht, jedenfalls kam ich dann irgendwann zur Welt – als das Produkt einer Zwangsehe.
Am zehnten Tag des vierten Monats des Mondkalenders im Jahr der Ratte hat meine Mutter in unserem Haus entbunden. Das hat sie mir immer gesagt, doch ich glaube, dass sie es nicht genau wusste. Diese Dinge sind nicht besonders wichtig. Meine Mutter war achtmal schwanger; nur vier Kinder haben überlebt. Jedes zweite. Der Tod ist so mächtig wie das Leben. Der Kreislauf des Lebens und des Todes ist zu komplex, als dass ein einzelnes Datum eine Rolle spielen würde … Wenn ich nach meinem Geburtstag gefragt werde, antworte ich, um nicht lange erklären zu müssen, warum ich den Tag meiner Geburt nicht kenne, »am 4. Juni 1971«, und damit geben sich alle zufrieden.
Als ich fünf Jahre alt bin, beschließt meine Mutter, dass ich groß genug sei, um ihr zu helfen. Wer ernährt werden will, muss sich sein täglich Brot verdienen. Ich bin für die Wasserversorgung verantwortlich. Jeden Morgen und jeden Abend mache ich mich mit meinen beiden Eimern auf den Weg zum öffentlichen Brunnen ein paar Straßen von uns entfernt. Die sind schwer, und ich darf kein Wasser verschütten. Ich bin stolz, etwas für meine Mutter zu tun. Ich helfe ihr gern. Ich sehe genau, dass sie nicht glücklich ist, auch wenn sie sich nicht wirklich beschwert. Mein Vater kommt oft betrunken nach Hause und schlägt seine Frau wegen nichts und wieder nichts. Wenn er schließlich vom Schlagen müde ist, fällt er auf seine Bettstatt am Boden und schläft schnarchend ein. Ich schmiege mich dann an sie und lege meinen Kopf in ihre Halsbeuge. Ich hauche ihr sanft ins Ohr – die einzige Liebkosung, die ich kenne. In der Ecke am weitesten vom elterlichen Bett entfernt, auf dem harten und kalten Zementboden fest aneinander gedrängt, schlafen wir ein. Wenn uns die Kälte weckt, legt sich meine Mutter, so als wäre nichts gewesen, zu ihm ins Bett und ich mich in meines. Die Beine angewinkelt, die Arme vor dem Bauch verschränkt, presse ich mich an die Wand in der Hoffnung, sie ein Stück zurückdrängen zu können. In dieser Stellung kann ich wenigstens das Bett meiner Eltern überwachen und mich vergewissern, dass alles in Ordnung ist. Und wenn mein Vater aufwacht und sein Recht fordert, indem er die Beine seiner Frau auseinanderdrückt, kann ich mich zumindest umdrehen, um nicht länger mit ansehen zu müssen, was zu hören ich nicht verhindern kann.
Mit sechs Jahren weiß ich bereits den feindseligen Blick meines Vaters zu deuten, seine verkrampften Kiefer, die mahlen, obwohl es nichts zu kauen gibt. Er grübelt über etwas nach, das steht fest. Aber worüber? – Es gibt immer einen Grund dafür, dass es Schläge hagelt. Sehr bald reicht meine Mutter dem väterlichen Zorn nicht mehr aus. Anfangs versucht sie, mich zu beschützen, vergebens. Wann hat mich mein Vater zum ersten Mal geschlagen? Mein Gedächtnis hat es vorgezogen, diese Information nicht zu speichern. Vielleicht war ich auch noch zu klein, als dass ich mich daran noch erinnern könnte.
Übersetzung: Eliane Hagedorn und Bettina Runge
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009 by Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Ani Choying hat sich aber nicht damit begnügt, diese Befreiung nur für sich zu verwirklichen. Sie hat sie voller Enthusiasmus und mit der großen Tiefe ihrer Gefühle genutzt und sich in den Dienst ihrer Mitmenschen gestellt: Für obdachlose Nonnen setzt sie sich ebenso ein wie für arme Kinder ohne Schulbildung.
Seitdem ich Ani Choying näher kenne und wir mehrere Projekte gemeinsam betreuen, kommt es mir vor, als sei sie ständig auf der Suche nach jemandem, dem sie helfen kann. Zum Gedenken an ihre Mutter, die an Nierenversagen gestorben ist, geht das Autorenhonorar für dieses Buch an das erste Dialysezentrum in Kathmandu, das seine Leistungen allen, die darauf angewiesen sind, zu erschwinglichen Preisen anbietet.
Matthieu Ricard
Prolog
Ich ziehe mich hinter die Kulissen zurück, während im Saal weiter der Applaus tobt. Das geht jetzt schon mindestens fünf Minuten so. Einer der Organisatoren des Konzerts fasst mich sanft am Arm und schiebt mich noch einmal auf die Bühne.
»Los, Ani, wink deinem Publikum zu!«
Ich kehre also zurück. Es sind vierzehntausend Zuschauer, wurde mir gesagt. Auch wenn ich es inzwischen gewohnt bin aufzutreten, hat es nach wie vor etwas Beeindruckendes für mich. Das Konzert, das ich soeben in dieser riesigen Halle in Hongkong gegeben habe, war eine einzigartige Erfahrung: Ich durfte die Festlichkeiten zum zehnten Jubiläum der Rückgabe der früheren britischen Kolonie an China eröffnen. Mit einigen der berühmtesten chinesischen und taiwanesischen Sänger bin ich aufgetreten, begleitet von sechshundert buddhistischen Mönchen. Der Lärm im Saal dringt wie durch einen Nebel zu mir, der Applaus, die Hurrarufe, das Lachen meiner Nachbarn. Ich bin so gerührt … Mehrere Mönche treten auf mich zu, um mir zu gratulieren, mir zu sagen, wie sehr sie meinen religiösen Gesang schätzen. Ich bin glücklich, dass meine Lieder den Menschen gefallen. Es ist weder Gier nach Erfolg noch Eitelkeit: Ich pfeife auf all das. Es ist vielmehr die Freude, dass meine Botschaft gehört wird. Alle meine Lieder sprechen von der Liebe, sie verkünden eine Botschaft der Hoffnung. Je mehr sie sich verbreitet, desto seliger bin ich.
In dem Taxi, das durch die Straßen Hongkongs gleitet, um mich ins Hotel zu bringen, strecke ich mit einem Seufzen meine Beine aus. Ich bin müde. In wenigen Tagen fliege ich nach München, dann nach Madrid, wo ich weitere Konzerte gebe. Dann reise ich zurück nach Kathmandu in das Viertel Bodnath, in dem ich vor nunmehr siebenunddreißig Jahren geboren wurde. Ich bin erschöpft, ja, aber glücklich. Dieses Konzert hat mir eine Menge Geld eingebracht, das ich in meine Schule investieren werde. Nichts ist mir wichtiger. Meine Stimme ist mein Werkzeug. Ich trage einen Kampf aus: gegen Armut und Unwissenheit, die dazu führen, dass Nonne zu werden für viele junge buddhistische Mädchen in Nepal und Tibet die einzige Möglichkeit ist, der Hölle zu entkommen. Nonne zu werden, um nicht Haussklavin zu sein, um nicht mit einem groben Mann verheiratet zu werden, der seine Frau schlägt und wie ein Maultier arbeiten lässt. Ich kenne die Geschichte gut: Ich bin eine von ihnen. Im Alter von zehn Jahren habe ich beschlossen, niemals zu heiraten und niemals mehr zuzulassen, dass jemand die Hand gegen mich erhebt. Angefangen bei meinem Vater.
Mein Vater … Wie ich ihn geliebt habe! Wie ich ihn gehasst habe! Er hat mich verprügelt wie einen Hund. Er hat mich bewundert wie eine Göttin. Zwei Männer haben in meinem Leben für mich gezählt und mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Mein Vater, weil er mich geschlagen hat; mein buddhistischer Meister, weil er mich geliebt hat. Diesen beiden Männern verdanke ich alles, und das werde ich nie vergessen. Ohne den Zorn des einen und das Mitgefühl des anderen wäre ich heute gewiss mit einem zwanzig Jahre älteren Händler verheiratet – eine unterwürfige Ehefrau wie die meisten Tibeterinnen, die am Morgen kocht, am Nachmittag wäscht und nachts ihrem Mann zu Diensten ist. Ich würde nicht lesen können, doch das wäre unwichtig, denn ich hätte eine ganze Schar von Kindern großzuziehen und kaum Zeit, mich in irgendwelche Träumereien aus gedruckten Worten zu verlieren. Ich wäre abhängig und gefesselt – ohne mir dessen bewusst zu sein. Dieses Schicksal ist mir erspart geblieben. Ich weiß mein Glück zu schätzen.
»Ihre Lieder sind so beruhigend, sie befreien mich von allen Spannungen. Ihre Stimme ist so sanft, danke!«, beglückwünscht man mich oft nach meinen Konzerten.
Sanft, ja, das kann ich sein. Ich bin klein, und man sagt, von meinem Gesicht und meiner Haltung ginge etwas Zartes aus. Mein rasierter Schädel und meine orangefarbenen Kleider, deutliche Zeichen meines Status als Nonne, fordern Zurückhaltung von mir. Ich mag keine schroffen Gesten, ich spreche leise, ich zwinge mich, freundlich zu lächeln. Durch das Praktizieren des Buddhismus und das Meditieren bin ich zu einer gewissen inneren Gelassenheit gelangt.
Aber auch wenn ich eine Frau bin, stecken in mir Härte und Entschlossenheit, die so manchen Mann in die Knie zwingen würden. In meinem tiefsten Innern verbirgt sich, wie schmelzende Lava in der Erdmitte, eine außerordentlich dichte Zusammenballung von Kraft und Energie, die mich antreibt und leitet. Dieser geballte feste Wille ist heute mein bester Verbündeter. Gestern noch hätte er mich zum Schlimmsten führen können. Er hat mich bisweilen schlecht beraten. Viel Gewalt, viel Hass. Wie ein gezähmter Tiger verharrt er dort in meinem Herzen, kauert in meinem Magen, domestiziert und doch für immer grundlegend wild. Ich bin eine Kriegerin. Und meine Waffen heißen Liebe und Mitgefühl.
Gezeichnet
Ich wurde in Kathmandu geboren, in einem Viertel namens Bodnath. Das ist ein kleines Stück Tibet, verbannt ins benachbarte Nepal. Ein großes Steintor markiert den Eingang zu unserem Viertel. Ringsumher ist Nepal. Drinnen ist unser Zuhause. Die Straßen verlaufen sternförmig vom Stupa aus, dem gewaltigen buddhistischen Tempel, der das Nervenzentrum des Viertels darstellt. Meine Mutter hebt immer wieder voller Stolz hervor, dass er einer der größten des Landes ist. Am Abend versammeln sich dort die Familien, um zu beten und die neuesten Neuigkeiten auszutauschen. Die Tibeter haben die Gewohnheit angenommen, immer in derselben Richtung um die Stupas herumzugehen, das heißt links herum – das ist sehr wichtig –, während sie die vielen in den Mauern verankerten Gebetsmühlen drehen und ihre Gebete hersagen. Tausende von kleinen bunten Seidenwimpeln, hier im Ort Lungta genannt, flattern im Wind. Die Händler sprechen tibetisch, die meisten Menschen trinken Pocha, Buttertee, und die Momos, mit Fleisch oder Gemüse gefüllte Teigtaschen, sollen hier so gut schmecken wie in Lhasa, der Hauptstadt Tibets. Einige unserer Nachbarn sind Nepalesen, und das Zusammenleben mit ihnen ist völlig problemlos. Das tibetische Blut meiner Eltern fließt in meinen Adern, aber ich betrachte mich als Tibeto-Nepalesin und bin stolz, in diesem Land, dem Land Buddhas, geboren zu sein.
Meine Eltern haben beide, noch bevor sie einander kennenlernten, ihr Heimatland Mitte der 1950er-Jahre verlassen, als die chinesischen Kommunisten in Tibet einmarschierten und alle töteten oder verhafteten, die sich ihnen nicht beugen wollten. Sie kamen aus derselben Region im Osten des Landes, der Provinz Kham, wenn auch nicht aus demselben Dorf.
Sie landeten mit ihren jeweiligen Familien zunächst in Indien, wo sie sich dann begegneten. Meine Eltern sprechen wenig von ihrem Vorleben. Manchmal abends, wenn Gäste zu Besuch sind, höre ich sie von ihren Erinnerungen erzählen. Sie scheinen hier nicht unglücklich zu sein; das Leben ist weniger rau als im Hochgebirge, das sie verlassen haben. Wie die meisten ihrer Nachbarn tragen sie die traditionellen tibetischen Gewänder, die vorne geschlossen und in der Taille mit einem bunten Stoffband gehalten werden. Mein Vater, der zwei Kopf größer ist als die anderen Männer, hat schulterlanges Haar, das er zu einem dünnen Pferdeschwanz zusammenbindet. Meine Mutter hat lange schwarze Zöpfe, die über ihre schweren Brüste bis auf ihre Hüften fallen. Sie hilft meinem Vater bei der Arbeit und kümmert sich natürlich um den Haushalt. Wir leben zusammen im selben Raum. Alles findet hier zwischen den Zementmauern auf einer Fläche statt, die kaum größer als ein Schlafzimmer ist. Hier wird gearbeitet, gekocht, gegessen und geschlafen. Alles. Hier fertigt mein Vater seine Heiligenfiguren an. Er arbeitet schwer und braucht Ruhe, wenn er bei Einbruch der Dämmerung sein Werkzeug beiseitelegt und die am Tag hergestellten Figuren entlang der Wand aufgestellt hat. Er fertigt sie mit Formen an, in die er Bronze oder Kupfer gießt. Dann bemalt er sie mit gefährlichen Produkten, die ich nicht berühren darf. An der Wand gegenüber kauernd, atme ich die Dämpfe ein. Sie steigen mir zu Kopfe, und nachher bin ich immer ein wenig benebelt und weggetreten. Ich entferne mich von der Realität, wenn ich die Dämpfe aus den Flaschen mit dem Totenkopf einatme. Ich sehe ihm gern bei seiner Arbeit zu, ganz still, um ihn nicht zu stören. Als sie sich kennenlernten, waren meine Eltern verliebt. Aber nicht ineinander. Mein Vater lebte mit der Frau seines Herzens zusammen. Sie hatten einen Sohn, meinen Halbbruder. Sie waren glücklich. Meine Mutter hatte eine Tochter mit einem tibetischen Armeeangehörigen, den sie nur sehr selten sah, da er wegen seines Berufs ständig auf Reisen war, doch sie liebte ihn heiß und innig. Sie schrieb ihm oft, was ich immer sehr romantisch gefunden habe.
Mein Großvater mütterlicherseits dagegen mochte ihn überhaupt nicht. Dem Großvater bin ich nur einmal begegnet, und dabei hörte ich, wie er diesen ersten Ehemann als Tunichtgut beschimpfte. Als die Ehefrau meines Vaters in Indien starb, gab ihm mein Großvater seine Tochter zur Frau. Das geschah einfach so, ohne dass meine Mutter nach ihrer Meinung gefragt worden wäre. Die Töchter haben sich nicht in Entscheidungen einzumischen. Das ist bei uns so Sitte: Die Eltern entscheiden über das Schicksal ihrer Kinder. Es gab nicht mal eine Hochzeitszeremonie. Nicht genug Geld, nicht genug Zeit. Man hat sie zusammengebracht – und fertig.
Auf jeden Fall war das Herz nicht bei der Sache. Mein Vater hatte seine Heißgeliebte verloren, und meine Mutter, die ohne Nachricht von ihrem Angebeteten war, musste ihre Tochter ihrem eigenen Vater und ihrer Tante überlassen. Eines Morgens, das Herz voller Hass und Verzweiflung, ist sie zu ihrem neuen Zuhause aufgebrochen. Ihr neuer Mann war fünfundzwanzig Jahre älter als sie. Um den Strom ihrer Tränen zum Versiegen zu bringen, hat man ihr erzählt, ihr schöner Märchenprinz habe widerstandslos die finanzielle Abfindung akzeptiert, die mein Vater ihm angeboten hatte, um ihm seine Frau zu nehmen – das ist in Tibet so üblich, wenn man die Frau eines anderen auswählt. Er habe nichts unternommen, um sie zurückzuerobern oder sie zu behalten, und habe das Geld ohne Weiteres eingesteckt. Meine Mutter war schier verzweifelt bei der Vorstellung, dass ihr Geliebter sie so leicht vergessen haben sollte, und wäre am liebsten gestorben. Schließlich ergab sie sich in ihr Schicksal.
Ich weiß nicht, ob man sich darüber freuen soll oder nicht, jedenfalls kam ich dann irgendwann zur Welt – als das Produkt einer Zwangsehe.
Am zehnten Tag des vierten Monats des Mondkalenders im Jahr der Ratte hat meine Mutter in unserem Haus entbunden. Das hat sie mir immer gesagt, doch ich glaube, dass sie es nicht genau wusste. Diese Dinge sind nicht besonders wichtig. Meine Mutter war achtmal schwanger; nur vier Kinder haben überlebt. Jedes zweite. Der Tod ist so mächtig wie das Leben. Der Kreislauf des Lebens und des Todes ist zu komplex, als dass ein einzelnes Datum eine Rolle spielen würde … Wenn ich nach meinem Geburtstag gefragt werde, antworte ich, um nicht lange erklären zu müssen, warum ich den Tag meiner Geburt nicht kenne, »am 4. Juni 1971«, und damit geben sich alle zufrieden.
Als ich fünf Jahre alt bin, beschließt meine Mutter, dass ich groß genug sei, um ihr zu helfen. Wer ernährt werden will, muss sich sein täglich Brot verdienen. Ich bin für die Wasserversorgung verantwortlich. Jeden Morgen und jeden Abend mache ich mich mit meinen beiden Eimern auf den Weg zum öffentlichen Brunnen ein paar Straßen von uns entfernt. Die sind schwer, und ich darf kein Wasser verschütten. Ich bin stolz, etwas für meine Mutter zu tun. Ich helfe ihr gern. Ich sehe genau, dass sie nicht glücklich ist, auch wenn sie sich nicht wirklich beschwert. Mein Vater kommt oft betrunken nach Hause und schlägt seine Frau wegen nichts und wieder nichts. Wenn er schließlich vom Schlagen müde ist, fällt er auf seine Bettstatt am Boden und schläft schnarchend ein. Ich schmiege mich dann an sie und lege meinen Kopf in ihre Halsbeuge. Ich hauche ihr sanft ins Ohr – die einzige Liebkosung, die ich kenne. In der Ecke am weitesten vom elterlichen Bett entfernt, auf dem harten und kalten Zementboden fest aneinander gedrängt, schlafen wir ein. Wenn uns die Kälte weckt, legt sich meine Mutter, so als wäre nichts gewesen, zu ihm ins Bett und ich mich in meines. Die Beine angewinkelt, die Arme vor dem Bauch verschränkt, presse ich mich an die Wand in der Hoffnung, sie ein Stück zurückdrängen zu können. In dieser Stellung kann ich wenigstens das Bett meiner Eltern überwachen und mich vergewissern, dass alles in Ordnung ist. Und wenn mein Vater aufwacht und sein Recht fordert, indem er die Beine seiner Frau auseinanderdrückt, kann ich mich zumindest umdrehen, um nicht länger mit ansehen zu müssen, was zu hören ich nicht verhindern kann.
Mit sechs Jahren weiß ich bereits den feindseligen Blick meines Vaters zu deuten, seine verkrampften Kiefer, die mahlen, obwohl es nichts zu kauen gibt. Er grübelt über etwas nach, das steht fest. Aber worüber? – Es gibt immer einen Grund dafür, dass es Schläge hagelt. Sehr bald reicht meine Mutter dem väterlichen Zorn nicht mehr aus. Anfangs versucht sie, mich zu beschützen, vergebens. Wann hat mich mein Vater zum ersten Mal geschlagen? Mein Gedächtnis hat es vorgezogen, diese Information nicht zu speichern. Vielleicht war ich auch noch zu klein, als dass ich mich daran noch erinnern könnte.
Übersetzung: Eliane Hagedorn und Bettina Runge
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009 by Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Ani Choying Drolma
Ani Choying Drolma, geboren 1971 in Kathmandu als Tochter von Exil-Tibetern, buddhistische Nonne und Sängerin mit Weltruhm. Bisher hat sie vier CDs eingespielt, einer ihrer Songs hat es sogar in die US-Charts geschafft. In Deutschland ist sie beim Besuch des Dalai Lama in Berlin aufgetreten. Mit den Erlösen ihrer CDs und Konzerte gründete sie eine Schule und wird ein Krankenhaus bauen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ani Choying Drolma
- 2009, 255 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Mit Laurence Debril
- Übersetzer: Eliane Hagedorn, Bettina Runge
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 376450319X
- ISBN-13: 9783764503192
Rezension zu „Ich singe für die Freiheit “
"In der kraftvollen und bewegenden Erzählung zeigt uns Ani Choying Drolma, wie man Hass in Mitgefühl, Leiden in inneren Frieden und Unterdrückung in Freiheit verwandeln kann. Ihr Buch ist eine wunderbare Quelle der Inspiration und Vorbild für ein Leben im Dienste anderer!"
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