Ich sollte als Schwarze Witwe sterben
Ich sollte als Schwarze Witwe sterben von Sabine Adler
LESEPROBE
Handgranaten am Bein
Dschamil rannte die Straße hinunter, keuchte und schnaufte,der Rucksack rutschte ihm immer wieder von der rechten Schulter und schlugschwer in seine Armbeuge. Er hatte keine Zeit, ihn richtig aufzusetzen, durftesich keine Pause gönnen, sonst würde der Siebenuhrfünfer ohne ihn nachJessentuki fahren. Die Bahnhofsuhr zeigte zwei Minuten nach sieben.
Den Bahnsteig bevölkerte eine düstere Menschenmenge in meistschwarzen Lederjacken und Wollmützen, der Einheitskluft der Tschetschenen.Dazwischen entdeckte er Ali, Ruslan und die anderen. Als Dschamil die Stufen zuihnen hinaufhastete, rollte der Regionalzug gerade in die Station vonMineralnyje Wody ein. Außer Atem begrüßte er seine Kommilitonen, schüttelteallen die Hand, soviel Zeit mußte sein, und schlug Ruslan, seinem Freund, aufdie Schulter. Der Schlag knallte laut auf der Jacke, Ruslans Neuanschaffung,auf die er stolz war wie ein König. »Starkes Teil«, würdigte Dschamil dasglänzende Stück.
Der Zug hielt. Vor ihnen stiegen zwei junge Frauen ein, dieMühe hatten, ihre schwere Reisetasche in den Waggon zu hieven. Dschamil faßtemit an. Er wollte ihnen die Tasche ins Abteil tragen, aber die beiden bestandendarauf, daß er sie direkt neben der Zugtür absetzte. Dschamil folgte Ruslanund den anderen zu den Sitzplätzen. Weil das Abteil jedoch bis auf den letztenPlatz belegt war, kehrten sie zurück in den Vorraum zu den beiden Frauen mitder Tasche. Der Morgenzug von Mineralnyje Wody nach Jessentuki war immer vollbesetzt.
»Dschamil, hast du die Feldskizze gezeichnet?« fragte Ruslan.Dschamil galt als Koryphäe am Erdölinstitut, er nickte. Die besten Experten,rußlandweit, hatte die Fachschule für Erdöltechnik in Grosny ausgebildet.Solange die zerbombten Schulgebäude nicht wieder aufgebaut waren, fanden dieKurse in Mineralnyje Wody oder Jessentuki statt, also im russischen Teil desKaukasus.
Dschamil kramte den Hefter aus dem Rucksack und erklärteRuslan, der nie etwas verstand, die Skizze, die einen kartographierten Ausschnittdes Erdinneren zeigte. Verschiedene Farben sollten Sandschichten, Lehmböden undÖlkammern darstellen. Dschamil hatte versucht, so gut es ging perspektivisch zuzeichnen, doch verglichen mit den perfekten Computersimulationen der großen Ölgesellschaftennahm sich seine Zeichnung dilettantisch und hinterwäldlerisch aus. Er wußte,daß ihm nur ein guter Abschluß einen Platz an den Hochleistungscomputern derÖlriesen bot. Er schrieb bereits an seiner Diplomarbeit. Bei seinenBewerbungen würde es sich zeigen, ob er gut genug war.
Noch hatten die Tschetschenen ihren hervorragenden Ruf alsÖlspezialisten nicht eingebüßt. Dschamil träumte davon, für Lukoil, Sibneft,Tatneft oder wie die großen Ölfirmen auch immer hießen präzise Zeichnungen vom Erdinnerenanzufertigen. Er wollte den Erdölspezialisten genaue Karten an die Hand geben,damit sie wußten, wo sie mit ihren Bohrungen ansetzen mußten, wie groß die Ölkammernwaren, welche Ausbeute zu erhoffen war. Gern würde er Techniken entwickeln, mitdenen selbst der letzte Tropfen aus jeder Kammer gesaugt werden konnte, dochdavon waren sogar die fortschrittlichsten Firmen noch weit entfernt.
Er hatte einmal eine Präsentation in 3-D-Technik gesehen.Alle mußten dafür alberne Pappbrillen aufsetzen, doch niemand achtete mehrdarauf, als sich das Erdreich räumlich vor ihnen auftat und man glaubte, durchdie Kammern spazieren zu können. Dschamil war ein Erdölnarr, ganz anders alsRuslan, der in dem ruckelnden Zug lustlos die Skizze abmalte.
Fast halb acht. Der Stadtrand von Jessentuki kam in Sicht.Dschamil drängte seinen Freund einzupacken. »Mach nachher in der Pause weiter,wir sind da.«
Plötzlich riß eine der beiden jungen Frauen mit der Taschedie Waggontür auf. Beide lehnten sich hinaus. Der Zug fuhr zwar schon etwaslangsamer, aber immer noch viel zu schnell, um abspringen zu können. Das wäreviel zu gefährlich. Die erste wagte es dennoch, und die zweite folgte ihr.Ihre große Tasche stand jetzt mitten in der offenen Tür. Ein junger Mann in derNähe griff plötzlich hinein, dann zerriß ein ohrenbetäubender Knall den Waggon.Die Bombe fetzte die Regionalbahn in zwei Teile. Vom Vorraum, wo Dschamil indie Luft geschleudert wurde, blieb nichts mehr übrig. Alle vor der Abteiltürdes zweiten Waggons waren sofort tot: Dschamil, sein Freund Ruslan und derMann, der in die Tasche gefaßt und damit offenbar den Sprengstoff gezündethatte. An den Überresten seiner Beine wurden später angebundene Handgranatengefunden.
Die Wucht der Bombe hatte den Waggon aus der Spur gehobenund dadurch den gesamten Zug zum Stehen gebracht. Durch die Explosion fing dasAbteil Feuer. Stichflammen schlugen hoch. Der Zug stoppte fünfzig Meter vordem Bahnhof von Jessentuki, wo Dschamil und Ruslan aussteigen und einen neuenStudientag beginnen wollten.
© 2005 Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, München
Interviewmit SabineAdler
„SchwarzeWitwen“ nennt man Frauen, die durch gezielte Selbstmordanschlägemöglichst viele Menschen mit in den Tod reißen. Aber tun sie dieswirklich freiwillig? Die Journalistin Sabine Adler hat auf Ihren Reisen in denKaukasus mit Frauen gesprochen, die als Schwarze Witwen sterben sollten.
Für das DeutschlandRadio berichten Sie seit sechsJahren aus Russland. Ihre Recherchen führten Sie auch in dietschetschenischen Krisengebiete – häufig ohne das Wissen derrussischen Behörden. Wie gehen Sie mit dieser gefährlichen Situationum? Wie reagieren Ihre Familie und Freunde?
Meiner Familie habe ich immer erst hinterher, wenn ichvon diesen Reisen zurückgekommen bin, erzählt, wo im Kaukasus ichgenau war. Denn nicht immer stand bereits vorher fest, ob mich meine Begleitergefahrlos nach Tschetschenien würden hineinbringen können. ObersterGrundsatz war: Nur wenn mein Gefühl mir sagte, dass ich es riskieren kann,tat ich es auch. Zudem stand ich dann jeweils unter dem Schutz eines Clans, diewichtigste Voraussetzung überhaupt für die eigene Sicherheit.Für Kaukasier ist Gastfreundschaft ein hohes Gut. Für den Gast tunsie alles, was einschließt, dass sie auch für seine Sicherheitsorgen.
Die terroristischen Anschläge tschetschenischer Extremistenauf das Musicaltheater in Moskau und die Schule in Beslan haben denTschetschenien-Konflikt und die Schwarzen Witwen in das Licht der (Medien-)Öffentlichkeit gerückt. Was hat für Sie persönlich denAusschlag gegeben, sich mit dem Leben und Sterben der Schwarzen Witwen zubeschäftigen?
Die Begegnung mitRaissa, meiner späteren Heldin, war für mich das ausschlaggebendeMoment, mich näher mit den Schwarzen Witwen zu befassen. Als ich Raissa inder russischen Kaserne kennenlernte, traf ich auf eine junge Frau, in der sichdie gesamte Tragödie ihres Volkes widerspiegelte: Ihre Familie warzerfallen, zwei ihrer Schwestern sind als Schwarze Witwen im MoskauerMusical-Geiseldrama ums Leben gekommen, ihr Land ist zerrüttet vomjahrelangen Krieg und Partisanenkampf gegen Moskaus Truppen. Raissa sollte vonihren eigenen Brüdern als Schwarze Witwe rekrutiert werden. Weil siewusste was mit ihren Schwestern passiert war, wusste sie auch, dass sie damitihr Todesurteil unterschrieben hätte. In ihrer Verzweiflung willigte siedeshalb ein, sich ausgerechnet von den Feinden ihres Volkes, den russischenSoldaten, schützen zu lassen. Damit ist ihr, zumindest vorläufig,jede Rückkehr nach Hause in die tschetschenische Gesellschaft versperrt.
Bei den Recherchen zu Ihrem Erfahrungsbericht „Ichsollte als Schwarze Witwe sterben“ haben Sie mit vielen jungen Frauengesprochen, die in der patriarchalischen Gesellschaft Tschetscheniens leben.Wissen diese Frauen um das Unrecht, das Ihnen Väter, Brüder undEhemänner antun, die Sie als Schwarze Witwen in den Tod schicken? Wiegehen sie damit um?
Den Frauen wird wenn überhaupt wohl zu spätbewusst, dass sie regelrecht verheizt werden. Von Zeugenaussagen währenddes Moskauer Geiseldramas wissen wir, dass den Frauen starke Zweifel überdie Richtigkeit ihrer Mission gekommen sind. Doch da gab es für sielängst kein zurück mehr. Einer Schwarze Witwe, Sarema M., sind kurzvor dem Zünden der Rucksackbombe in einem Moskauer Cafe die Nervendurchgegangen, sie hat sich als Attentäterin zu erkennen gegeben. Einrussisches Gericht hat sie zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, obwohlsie sich bei den Vernehmungen kooperativ verhalten hatte. Ein völligfalsches Signal der russischen Seite an mögliche Nachfolgerinnen! Viele Frauen,die ich traf, die selbst bereit gewesen wären, in Anschlägen Rachefür das ihnen angetane Unrecht zu üben, waren frei von diesenÜberlegungen und Zweifeln. Allerdings standen sie auch noch nicht vor derEntscheidung Leben oder Tod.
Was geschieht in dieser Gesellschaft mit mutigen Frauenwie Raissa, die sich ihrem Schicksal als Schwarze Witwe nicht fügenwollen?
Raissa ist eineAusnahmeerscheinung. Dass sie ihren Schutz durch Russen zuließ, macht siein Tschetschenien wohl vor allem verdächtig. Dementsprechend negativ wirdüber sie gesprochen. Sie ist keine Heldin, sondern eine junge Frau, dieleben möchte, am liebsten Englischlehrerin geworden wäre. Dass ihreTräume nicht wahr werden können, nimmt sie mehr oder weniger klaglos hin, dass sie aber in einemneuen Witwenkommando geopfert werden sollte, dagegen wehrte sie sich. Siekämpfte um ihr Leben, denn das Schicksal ihre Schwestern hatte sie vorAugen, wusste, wie wenig die falschen Versprechen der rekrutierendenBrüder wert waren. Unter „patriotischen“ Tschetschenen wirdeine solche Haltung nicht honoriert. In der kriegsmüden Bevölkerungwird der eine oder die andere sie aber sicher verstehen.
Gibtes auch Frauen, die sich freiwillig und voller Stolz als Schwarze Witwefür Ihr Land und Ihren Glauben opfern?
Es gibt sie, denn vielen ist so großes Leid und– zum Beispiel in massenhaften Vergewaltigungen – so großeSchmach zugefügt worden, dass sie aus Rache und um ihr eigenes Gesicht zuwahren, gegen die Peiniger vorgehen. Eine Frau sagte mir: „Bevor ich michweiter vor ihnen (den Soldaten, die sie zu acht vergewaltigt haben) verstecke,töte ich sie lieber.
Gibtes für die Leser Ihres Buches, die von Raissas Schicksal berührtwurden, eine Möglichkeit, den unterdrückten tschetschenischen Frauenzu helfen?
Als vertrauenswürdighabe ich die russische Menschenrechtsorganisation „Memorial“kennengelernt. Sie dokumentiert seit Jahren unermüdlich die Verbrechen an derZivilbevölkerung, bringt Fälle vor Gericht – erst jüngstsogar bis zum Europäischen Gerichtshof. Sie hilft den Opfern undweiß, wovon sie redet, denn etliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiterarbeiten in Tschetschenien und Inguschetien, sind selbst Tschetschenen.Die Fragen stellte Natalie Stowasser / lorenzspringer medien
- Autor: Sabine Adler
- 2005, 348 Seiten, 2 farbige Abbildungen, Maße: 13,2 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: DVA
- ISBN-10: 3421058717
- ISBN-13: 9783421058713
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