Ihm in die Augen sehen
Täglich macht Sabine Dardenne Notizen und hält fest, was mit ihr geschieht. Sie schreibt Briefe an ihre Eltern, Hilferufe, Beschwörungen. Es sind Briefe, die nie ankommen, Briefe, in denen sie auf kindliche Weise erzählt, was sie erlebt. Sie ist krank, ihr tut alles weh, sie wird gehalten wie ein Tier.
Acht Jahre hat es gedauert, bis Sabine Dardenne von der schlimmsten Erfahrung ihres Lebens sprechen kann. Jetzt bricht sie das Schweigen. Sie will aufklären, will aufrütteln, damit sich nie wiederholt, was sie durchmachen musste.
''Ich will ihm in die Augen sehen und beweisen, dass er mich nicht besiegt hat.''
Sabine vertraut dem Mann, der bereits vier andere Mädchen getötet hat, und versucht sich mit der Lage zu arrangieren, achtzig schreckliche, endlose Tage lang. Sie ahnt nicht, dass alles nur eine Lüge ist, dass er nicht ihr Schutzengel ist.Täglich macht Sabine Dardenne Notizen und hält fest, was mit ihr geschieht. Sie schreibt Briefe an ihre Eltern, Hilferufe, Beschwörungen. Es sind Briefe, die nie ankommen, Briefe, in denen sie auf kindliche Weise erzählt, was sie erlebt. Sie ist krank, ihr tut alles weh, sie wird gehalten wie ein Tier...Acht Jahre hat es gedauert, bis Sabine Dardenne von der schlimmsten Erfahrung ihres Lebens sprechen kann. Jetzt bricht sie das Schweigen. Sie will aufklären, will aufrütteln, damit sich nie wiederholt, was sie durchmachen musste.
Ihm in die Augen sehen - Meine verlorene Kindheit von Sabine Dardenne
LESEPROBE
Ich war zwölf,nahm mein Fahrrad und machte mich auf den Weg zur Schule. Ich heiße Sabine. Ichwohnte in einem kleinen belgischen Dorf, und auf dem Weg zur Schule bin ichverschwunden. Die Polizei glaubte zunächst, ich sei ausgerissen, was auch meineEltern lange gehofft haben. Meine Mutter hat in unserem Haus die ganze Nachtein Licht brennen und einen Fensterladen offenstehen lassen für den Fall, dassich beschließen würde, in den Schoß der Familie zurückzukehren. Meine Großmutterhat in derselben Hoffnung ihre Eingangstür unverriegelt gelassen.
Ich war einrebellisches, auf jeden Fall sehr unabhängiges Mädchen und habe mir nichtsgefallen lassen. Ich hatte oft Streit mit meiner Mutter und mit meinen älterenSchwestern. An besagtem Tag hatte ich das von meiner Mutter unterschriebeneZeugnisheft - mit der Note »mangelhaft« in Mathematik - im Ranzen. Der Gedanke,ich sei ausgerissen, lag auf der Hand, das ist der erste Verdacht beiErmittlungen dieser Art. Dann wartete man auf eine Lösegeldforderung: Das Familientelefonwurde abgehört, und die Eltern zuckten bei jedem Anruf zusammen. Man hat sogarmeinen Vater verdächtigt! Während dieser Zeit berichteten die Schlagzeilen derZeitungen von den Ergebnissen der Untersuchung: »Sabine unauffindbar«,»Suchaktion in Rumillies«, »Ein Hubschrauber, um Sabine zu finden«,»Vergebliche Suche«
Die Gendarmerierichtete einen Krisenstab und eine Hotline für eventuelle Zeugen ein. Es wurdenkleine Plakate gedruckt und an Hausmauern und Schaufenster von Geschäftengeheftet oder auf der Straße verteilt. Die Schelde wurde abgesucht, dieGendarmen führten die traditionellen Verhöre in der Nachbarschaft durch, manschickte einen Hubschrauber, um die Umgebung abzusuchen, und selbst dieMitschüler vom Gymnasium beteiligten sich und suchten das Unterholz undunbebautes
Gelände mitStöcken ab. Hunderte von Autofahrern klebten Vermisstenanzeigen an ihre Wagen.Hundertfünfzig Männer und hundertsechzehn Soldaten beteiligten sich an denSuchaktionen, doch sie blieben erfolglos. Man hat achtzig Tage nach mirgesucht. Mein Foto klebte an allen Wänden meines Landes - selbst im Ausland.
»Vermisst wirdeine Minderjährige 1,45 m groß, schlank, blaue Augen, blondes halblanges Haar.Am Tag ihres Verschwindens gekleidet in schwarze Sportschuhe mit Hanfsohlen,blaue Jeans, einen weißen Unterziehpulli, einen langen roten Pullover und eineblaue K-Way-Regenjacke. Sabine hat ihren Personalausweis dabei und ihreSchultasche Marke Kipling. Sie hatte 100 Belgische Franken
bei sich. Sie hatihr Elternhaus mit ihrem Mountainbike Marke Dunlop, metallicgrün, verlassen, andem Gepäckträger war ein roter Beutel mit ihrem Schwimmzeug befestigt. Siewurde zuletzt am Morgen des 28. Mai 1996 gegen 7.25 Uhr auf der ChausseeDaudenarde in der Nähe der Autobahnbrücke Richtung Tournai gesehen. Wenn SieSabine gesehen haben oder über sachdienliche Hinweise verfügen, so wenden Siesich an die Gendarmerie von Tournai oder an jede Polizeidienststelle.«
Ich gehörte vonnun an zu der traurigen Gruppe von kleinen Mädchen oder Jugendlichen, die inBelgien verschwunden sind:
Julie Lejeune undMelissa Russo. Zusammen am 25. Juni 1995 im Alter von acht Jahren verschwunden.
An Marchal undEefje Lambrecks. Zusammen am 23. August 1995 im Alter von siebzehn und neunzehnJahren verschwunden.
Sabine Dardenne.Allein am 28. Mai 1996 im Alter von zwölfeinhalb Jahren verschwunden.
Laetitia Delhez.Allein am 9. August 1996 im Alter von vierzehneinhalb Jahren verschwunden.
Das sind die sechsOpfer der Affäre, die mein Land wie ein gesellschaftliches, mediales undpolitisches Erdbeben erschüttern sollte. Noch heute sprechen die Journalistenin der ganzen Welt von der »Affäre Dutroux« oder vom »Monster von Belgien«.
Ich habe das Ganzesozusagen von innen erlebt. Jahrelang habe ich über »meine persönlicheGeschichte« in der schlechten Gesellschaft des meistgehassten Psychopathen vonganz Belgien geschwiegen. Ich bin eine der wenigen Überlebenden, die das Glückhatten, dieser Art von Monster entkommen zu sein. Dieses Buch zu schreiben war notwendigfür mich, damit man aufhört, mich »schief« anzusehen, und damit mir in Zukunftniemand mehr Fragen stellt. Wenn ich den Mut gefunden habe, dieses Martyrium zurekonstruieren, dann vor allem deshalb, damit kein Richter mehr Pädophile nachVerbüßung der Hälfte ihrer Haftstrafe wegen »guter Führung« und ohne weitereVorsichtsmaßnahmen entlässt. Einige werden als zurechnungsfähig und intelligenteingestuft. Man erachtet sie als straffähig, also therapierbar. Diese Haltungzeugt von einer erschreckenden Weltfremdheit.
Am Ende läuft esalso auf Haft für eine bestimmte Zeit oder, im Wiederholungsfall, auf»lebenslänglich« hinaus. Was mich so aufbringt, ist dieser Wiederholungsfall.Denn es existieren moderne und ausgeklügelte Techniken, mit deren Hilfe dieWege eines Verbrechers kontrolliert werden können, wenn man ihn einmalidentifiziert hat. Die Justiz hätte die Mittel dazu, und es obliegt denRegierungen, darüber zu entscheiden. Mögen sie es in Zukunft nicht vergessen.Nie wieder darf so etwas geschehen. Am 28. Oktober 2004 werde ich einundzwanzigJahre alt. Die Zukunft, die mich erwartet, wird hoffentlich friedlich sein,auch wenn es heißt: »Das Unvergessliche kann man nicht vergessen.«
© Droemer KnaurVerlag
Übersetzung: Eléonore Delair
- Autor: Sabine Dardenne
- 2004, 280 Seiten, Maße: 13,1 x 20,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Unter Mitarb. v. Marie-Therese Cuny
- Verlag: DROEMER KNAUR
- ISBN-10: 3426273675
- ISBN-13: 9783426273678
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