Im Fluss des Lebens
Roman
Von der Kostbarkeit des Lebens und der Süße der Liebe
Als die erfolgreiche Schriftstellerin Agnes Berg ihre Tochter und ihren Schwiegersohn durch einen Unfall verliert, wird alles infrage gestellt, woran sie bisher glaubte. Doch in dieser...
Als die erfolgreiche Schriftstellerin Agnes Berg ihre Tochter und ihren Schwiegersohn durch einen Unfall verliert, wird alles infrage gestellt, woran sie bisher glaubte. Doch in dieser...
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Produktinformationen zu „Im Fluss des Lebens “
Von der Kostbarkeit des Lebens und der Süße der Liebe
Als die erfolgreiche Schriftstellerin Agnes Berg ihre Tochter und ihren Schwiegersohn durch einen Unfall verliert, wird alles infrage gestellt, woran sie bisher glaubte. Doch in dieser schmerzlichen Zeit bietet sich ihr auch eine Chance: Ihre beiden Enkelkinder, für die sie nun sorgen muss, wecken in ihr endlich den Mut, ihre Sehnsucht nach Geborgenheit zuzulassen und sich einer neuen Liebe zu öffnen...
Ein Roman voller Weisheit über das Leben, den Tod und die Chance, neu anzufangen.
Als die erfolgreiche Schriftstellerin Agnes Berg ihre Tochter und ihren Schwiegersohn durch einen Unfall verliert, wird alles infrage gestellt, woran sie bisher glaubte. Doch in dieser schmerzlichen Zeit bietet sich ihr auch eine Chance: Ihre beiden Enkelkinder, für die sie nun sorgen muss, wecken in ihr endlich den Mut, ihre Sehnsucht nach Geborgenheit zuzulassen und sich einer neuen Liebe zu öffnen...
Ein Roman voller Weisheit über das Leben, den Tod und die Chance, neu anzufangen.
Klappentext zu „Im Fluss des Lebens “
Von der Kostbarkeit des Lebens und der Süße der LiebeAls die erfolgreiche Schriftstellerin Agnes Berg ihre Tochter und ihren Schwiegersohn durch einen Unfall verliert, wird alles infrage gestellt, woran sie bisher glaubte. Doch in dieser schmerzlichen Zeit bietet sich ihr auch eine Chance: Ihre beiden Enkelkinder, für die sie nun sorgen muss, wecken in ihr endlich den Mut, ihre Sehnsucht nach Geborgenheit zuzulassen und sich einer neuen Liebe zu öffnen ...
Ein Roman voller Weisheit über das Leben, den Tod und die Chance, neu anzufangen.
Von der Kostbarkeit des Lebens und der Süße der Liebe Als die erfolgreiche Schriftstellerin Agnes Berg ihre Tochter und ihren Schwiegersohn durch einen Unfall verliert, wird alles infrage gestellt, woran sie bisher glaubte. Doch in dieser schmerzlichen Zeit bietet sich ihr auch eine Chance: Ihre beiden Enkelkinder, für die sie nun sorgen muss, wecken in ihr endlich den Mut, ihre Sehnsucht nach Geborgenheit zuzulassen und sich einer neuen Liebe zu öffnen...Ein Roman voller Weisheit über das Leben, den Tod und die Chance, neu anzufangen.
Lese-Probe zu „Im Fluss des Lebens “
Im Fluss des Lebens von Ruth Maria Kubitschek1 Die Reise
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Agnes lag in ihrem so geliebten, ausladenden Bett, wie immer auf der linken Seite, als hielte sie für jemanden den Platz an ihrer rechten Körperhälfte frei. Das ist doch absolut lächerlich, dachte sie, kein Mann hat seit zwanzig Jahren das Bett mit mir geteilt und das ist auch gut so. Sie rutschte in die Mitte des Bettes. Als Alleinherrscherin von Tisch und Bett konnte Agnes tun und lassen, was sie wollte. Nichts Männliches neben ihr, niemand, der sie im Schlaf umklammert hielt und sie liebevoll »Schnuggere« nannte. Die Erinnerung an diesen Mann tauchte auf, der, wenn er bei ihr gewesen war, die ganze Erde und den Himmel füllte, sie verschlang, umschlang, aufsaugte, aß und trank. Doch für ihn hatte es, wenn er unterwegs gewesen war, noch andere Frauen gegeben. Ob er mit ihnen dieselbe tiefe Nähe erlebt hatte? Sie wusste es nicht und würde es auch, Gott sei Dank, nie erfahren. Zwanzig Jahre war das nun her, dass sie sich selbst diese Trennung auferlegt hatte und daran beinahe zugrunde gegangen wäre. Sie rief sich zur Ordnung. Das wollen wir ja schon gar nicht: in die Vergangenheit einsteigen. Heute ist heute, ges tern war und morgen ist noch hinter einem Schleier verborgen. So verhielt es sich auch mit ihrem Preis, den sie morgen für ihren neuen Roman bekommen sollte: den Bayerischen Literaturpreis. Wozu aufgeregt sein und sich Gedanken machen über das, was erst morgen geschieht? Sie hatte ihren Koffer gepackt und der Anzug für die Preis verleihung hing griffbereit im Flur am Schrank. Genüsslich drehte sie sich wieder auf die linke Seite ihres Bettes. Es ging ihr gut. Sie war glücklich, auch wenn sie auf der linken Seite ihres Bettes allein schlief. Als Großmutter verhalte ich mich absolut moralisch, kam ihr in den Sinn. Darüber musste sie selbst lachen. Was ist denn das für ein blöder Gedanke, absolut moralisch? Wäre es denn unmoralisch, wenn sie einen Freund oder Liebhaber hätte? Natürlich, Mama, hörte sie ihre Tochter Johanna sagen. In deinem Alter, bist du noch zu retten? Wozu willst du denn mit siebzig noch einen Liebhaber? Ja, was glaubt sie denn! Dass mit siebzig das Leben vorbei ist oder, besser gesagt, das Liebesleben? Dass man keine erotischen Vorstellungen mehr hat, keine Träume von Zweisamkeit, Wärme und Zärtlichkeit? Man denkt doch nicht daran, wie alt man ist. Innen ist man noch jung, das sieht nur im Außen etwas ältlich aus. Agnes riss sich zusammen. Sie dachte spöttisch: Warum habe ich heute lauter so komische Gedanken? Ich sollte besser schlafen, damit ich morgen gut aussehe. Sie kuschelte sich auf ihre linke Seite, zog die Beine an und fühlte sich geborgen. Mit einem liebevollen Gedanken umhüllte sie alle, die in ihrem Herzen wohnten. Sie seufzte tief und schlief ein.
Am Morgen donnerte es an ihre Schlafzimmertür. »Agnes, Agnes«, schrie es, »wach auf, ich fasse es nicht. Verschläft dieses Weib ihren großen Tag. Du Babe, wach auf, es ist sieben Uhr.« »Es grenzt an ein Wunder, Katharina, dass du nicht mit der ganzen Tür in mein Schlafzimmer gefallen bist.« Damit sprang Agnes fröhlich aus dem Bett. »In zehn Mi nu ten bin ich fertig. Du weißt, ich bin Improvisieren gewohnt. « »Ha, ha, diesen Spruch kenn ich. Doch allein mit Im provisieren wärst du in deinem Chaos ganz schön aufgeschmissen. « Katharina nahm den Anzug, den Agnes bereitgehängt hatte, gab ihn in eine Schutzhülle und zog mit dem ganzen Gepäck ab. Sie schrie noch im Flur: »Reto wartet schon unten am Auto, wir sind bereit, nur die Künstlerin trödelt.« Agnes hörte das nicht mehr, weil sie unter der Dusche stand und heißes und kaltes Wasser über sich laufen ließ. Ja, ja, eiskalt, eiskalt, jetzt bin ich wach. Sie schlüpfte in ihre Jeans, in einen Pullover und nach zehn Minuten stand sie vor Katharina und Reto, die beim Auto warteten. Agnes dachte: Was für ein guter Typ Mann Reto doch ist. Er sah schon am Morgen elegant und seriös aus. Sein silbergrauer Pullover harmonierte mit seinen kurzen Locken. Katharina stand daneben, wie immer schlank und schmal in ihren Jeans und für das bevor stehende Ereignis hatte sie sich verschiedenfarbige Strähnen ins Haar machen lassen. Die Farben auf ihrem Kopf sahen aus wie die einer Glückskatze. »Guten Morgen, meine Lieben, ich hasse Leute, die zu spät kommen, Entschuldigung!« Reto küsste sie, wie in der Schweiz üblich, rechts, links und wieder rechts auf die Wange, indem er immer in gefährlicher Nähe an ihren Lippen vorbeirutschte und sein Oberlippenbärtchen sie kitzelte. Sie hätte ihn gerne mal geküsst, einfach so, doch war sie schließlich zehn Jahre älter. Das tut man nicht und sie traute es sich auch nicht. Sie fuhr ihm durch sein lockiges, silbergraues Haar, das war weniger gefährlich, und sprudelte heraus: »Ich freue mich so, dass du dir Zeit genommen hast, mit mir nach Mün chen zu kommen, da kann mir nichts passieren. Eine männliche Begleitung bin ich gar nicht mehr gewöhnt. Die Leute werden einiges zu tratschen haben. Wenn ich nur mit Katharina auftreten würde, hätten sie einen ande ren Grund dafür.« »Einsteigen, einsteigen ihr zwei. Ich fahre, damit ihr das wisst.« Dabei schaute Katharina Reto mit Dackelaugen an. »Einmal in meinem Leben möchte ich einen Mercedes sechshundert fahren.« »Das ist doch gar nicht dein Traumauto, du liebst doch das Sportcoupé«, meinte Agnes spöttelnd. Reto, der nicht so recht verstand, worüber die beiden sprachen, mischte sich ein: »Katharina, du kannst gerne fahren, doch denk daran, mein Auto ist keine japanische Reisschüssel. « »Ja, ja ich weiß«, entgegnete Katharina, »ich habe eine kostbare Fracht und fahre wie Agnes, wie eine lahme Ente.« Reto freute sich, dass er nun über drei Stunden mit Agnes hinten im Auto sitzen konnte - endlich hatte er sie einmal für sich allein. Katharina wusste, wie sehr Reto Agnes verehrte, wie seine Augen leuchteten, wenn er Agnes anschaute, wie er versuchte, ihr behilflich zu sein in allen Belangen ihres Lebens. Oft wirkte er dabei etwas unbeholfen, aber voller Hingabe. Doch die Babe Agnes bemerkte das nicht. Sie war immer mit sich und ihrem Schreiben beschäftigt. Im Grunde war sie ein egoistisches Weib, was sie natürlich selbst nicht wahrhaben wollte. Ja, in jedem Fall ein Weib, ein heißes Weib für ihr Alter. Sie war zwar etwas füllig, doch das Schönste an ihr waren ihre klaren durchsichtigen Augen und ihre starken blonden Haare. Sie hatte im mer noch eine unwiderstehliche Ausstrahlung, die Babe. Als Katharina in Stein am Rhein nicht über die Rheinbrücke fuhr, sondern auf die thurgauische Landstraße abbog, schrie Agnes von hinten: »Ja, wo willst du denn hin?« »Na, über die Schweiz nach Konstanz zur Fähre. Weißt du, was jetzt auf der deutschen Seite los ist? Da brauchen wir ja Stunden bis Lindau. Ich weiß schon, was ich mache und wie ich fahre.« Agnes lehnte sich wieder entspannt zurück, zu Reto gewandt meinte sie: »Katharina hat sowieso immer das letzte Wort, also halte ich meinen Mund.« »In diesem Fall hat sie wirklich recht«, verteidigte Reto Katharina. »So herum zu fahren ist viel klüger, hier ist kaum Verkehr bis Konstanz und die Fähre spart uns Zeit.« Agnes freute sich, dass Reto Katharina verteidigte. Sie war glücklich, wenn sie spürte, dass ihre Freunde sich vertru gen, ja mochten, auch wenn es manchmal auf ihre Kosten ging. Gegen Katharinas naive Schlagfertigkeit war sie sowieso machtlos. Sie fuhren durch kleine Dörfer auf der Schweizer Seite des Untersees. Agnes sah entspannt aus dem Fenster und Katharina, die als Gärtnerin arbeitete, fragte sich, wann die Schweizer ihre hübschen Gärten eigentlich bearbeiten, weil man sie nie darin sah. Doch alles blühte, wie jetzt im September: Rosen, Sonnenblumen, Hortensien und Dahlien. Auf der Straße bei Mammern, dort, wo sich der Untersee wieder öffnet und einen Blick auf die Reichenau freigibt, war Agnes wieder, wie beim ersten Mal, als sie hier ge wesen war, begeistert von der Schönheit dieser Landschaft. »Schau nur, Reto, wie märchenhaft dieser See aussieht, mit den weichen Schwingen der Höri, der Reichenau und den fernen Bergen, mitten im See die Insel Reichenau, wie Avalon, ja, ein deutsch-schweizerisches Avalon.« Reto schaute Agnes mit seinen warmen braunen Augen liebevoll an. »Weißt du, Agnes, was mich an dir immer so überrascht?
Du kannst dich immer noch so begeistern, staunen wie ein Kind.« »Jetzt darfst du bloß nicht sagen: Und das in deinem Alter«, warf Katharina von vorn ein. Agnes lachte herzlich: »Ich denke, wenn man aufhört zu staunen über diese Welt und ihre Schönheit, ist man schon ein bisschen tot. Ich stehe fast jeden Abend fassungslos vor diesem gigantischen Schauspiel des Sonnenuntergangs zwischen den Hegau-Bergen. Die Farben, die diese Sonnenscheibe bei ihrem Verschwinden ausgießt, umflutet uns mit Goldgelb, Rosa, Rot, Violett und der See glüht geradezu und spiegelt die Farben lange wider. Darüber sieht man oft Wolkenbilder, die, engelsgleich, der Sonne bei ihrem Untergang ihre Reverenz erweisen.« Reto schaute sie ein wenig skeptisch von der Seite an, doch Agnes fuhr unbeirrt fort: »Und diese Schönheit ist ein Geschenk der Natur für uns, einfach so. Dafür müssen wir nichts bezahlen. Die Natur schenkt uns Blumen, Wälder, Berge, Flüsse und Seen, die zu unserer Benutzung eigentlich frei wären. Sollte uns das nicht nachdenklich machen, für das, was wir alles bezahlen müssen? Ich könnte gar nicht mehr in einer Stadt leben, wo die Häuser einem den Blick zum Himmel versperren.« Nachdenklich meinte Reto: »Vielleicht verliert man das Staunen oder sieht die Schönheit nicht mehr, wenn man immer hier gelebt hat.« »Warst du denn nie weg?« »O doch, ich habe in Zürich studiert und war auch viel auf Reisen. Ich war in Asien oder auf Kauai, einer Insel von Hawaii, die ich ganz besonders schön und einmalig finde. Außerdem, Agnes, wenn die Sonne aufgeht, schlafe ich noch und wenn sie untergeht, arbeite ich meistens im Büro und da versperren mir sogar in unserer kleinen Stadt die Häuser die Sicht.« »Das ist keine Ausrede. Du könntest deine Arbeit kurz unterbrechen, auf die Rheinbrücke gehen, das Schauspiel der Farben genießen, um dann wieder weiterzuarbeiten.« »Vielleicht werde ich deinen Rat befolgen und dir dann berichten ...« Agnes spürte den Blick von Katharina im Rückspiegel. »Wie fährt sich denn dieser Wagen?« »Ich habe mich soeben mit diesem Superschlitten verlobt. Ihr dürft uns gratulieren. Beachtet mich gar nicht, ich bin vollauf beschäftigt! Danke der Nachfrage.« »Schön, dass ich bei einer so glücklichen Zusammen füh rung behilflich sein durfte«, lachte Reto. »Aber wo habt ihr beide euch eigentlich kennengelernt?«, fragte er. »Katha rina, du kommst doch aus Konstanz, oder? Zumin dest hört sich dein Dialekt so an.« »Ja, und der ist ja wohl nicht zu überhören«, meinte Agnes und lachte. »Zum Beispiel: Agnes gib mir mal der Butter, Agnes ruf mir mal an ..., am Anfang dachte ich, die veräppelt mich.« »Und wo seid ihr euch dann begegnet?«, fragte er hartnäckig. »Ich wohnte damals in Ermatingen. Als ich mein erstes Märchenbuch schrieb, habe ich es dort ein paar jungen Leu ten im Schwimmbad vorgelesen und alle durften Kritik üben. Katharina war damals fünfundzwanzig. Mit ihrem gesunden, bodenständigen Naturell wurde sie meine beste Kritikerin. Heute ist sie nach vielen Umwegen, wie du weißt, ein freier Gartenunternehmer und ich bin manchmal ihr Azubi.« »Ha, ha«, ließ Katharina sich herab zu unterbrechen, »du und Azubi! Du bist und bleibst die Regierung. Denn wenn du mir schon mal hilfst, weißt du sowieso alles besser.« »Ja, ja, das schon«, entgegnete Agnes, »doch ich komme damit nicht zum Zug.« »Wieso nennst du sie die Regierung?«, fragte Reto humor voll. »Weil ich nichts zu sagen habe, so wie jede Regierung«, lachte Agnes. Katharina konterte: »Weißt du, Reto, sie weiß immer alles besser, aber ich bin ja schlau und mache, was ich für richtig halte.« »Sag ich doch, ich bin zwar die Regierung, habe allerdings wenig Einfluss oder Chancen, da Katharina immer das letzte Wort hat.« Als sie in Konstanz zum Hafen abbogen, meinte Katharina schnippisch: »Wie ihr seht, steht die Fähre für uns bereit und wir können direkt auffahren. Tja, wenn Profis wie ich am Steuer sitzen, bleibt halt nichts dem Zufall überlassen!« »Das liebe ich, hier ganz vorn am Bug bei der Überfahrt im Auto zu sitzen, den See nach allen Seiten zu genießen ...«, unterbrach Agnes sie.
»Aber heute bleiben wir nicht sitzen, heute frühstücken wir. Geht schon mal vor, ihr zwei, und bestellt mir einen Cappuccino und eine Brezel«, befahl Katharina. Reto und Agnes taten dieses ohne Widerrede. Katharina hatte nicht umsonst den Spitznamen »das letzte Wort«. Friedlich saßen die drei nach einer Weile in dem Restaurant der Fähre beim Frühstück. Agnes schaute nach Osten zum Säntis, zur Sonne, die schon höher stand und das Wasser glitzern ließ wie flüssiges Gold. Mit einem wohligen Seufzer erzählte sie: »Früher, als ich noch in München gelebt habe und im Sommer hier herfuhr, erfüllte mich jedes Mal, wenn ich in Meersburg den Bodensee sah, ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Bei der Überfahrt auf dem See fiel alles Schwere von mir ab. Die frische Brise weitete mein Herz und ich fühlte mich frei. Der See trennte alles Vergangene, alles Laute, was in mir tobte, alle Wut, alle Verzweiflung, alle Ängste und allen Schmerz. Es fühlte sich so an, als ob der See bereit wäre, alles aufzunehmen und zu erlösen.« Katharina und Reto hörten ihr aufmerksam zu. Agnes hielt kurz inne und sprach dann weiter wie zu sich selbst: »Der Duft des Sommers, den ich in meinen Ferien im Schwimmbad in Ermatingen erleben durfte, erinnerte mich an den Duft meiner Kindheit in Burghausen an der Salzach, die voller Wärme und Fröhlichkeit war. Katha rina, kannst du dich noch an Ermatingen, an Frau Schäfli erinnern?« »Aber klar doch - eine imposante Erscheinung, die alles
unter Kontrolle hatte und jedes Kind im Schwimmbad folgte ihr aufs Wort und wir Erwachsene auch.« »Damals mit fünfzig war ich noch einigermaßen gut in Form und wir durchquerten zu dritt den Untersee schwimmend zur Reichenau - Katharina, ich und die alte Lehrerin vom Dorf, Hedi Blattner. Der Lehrer von Ermatingen begleitete uns mit dem Boot mit einer weißen Fahne, da mit wir von den großen Schiffen, die den Rhein fluss abwärts fuhren, nicht überfahren wurden. Auf der Reichenau landeten wir ausgerechnet bei dem Besitztum der Nonnen, die uns nicht erlaubten, den Strand zu betreten und unsere nassen Badeanzüge zu wechseln. Sie hatten auch kein Mitleid, obwohl wir vor Kälte zitterten wie Espenlaub. Also stiegen wir ins Boot und der Lehrer musste auf Befehl von Hedi Blattner streng nach Westen schauen, damit wir unsere nassen Badeanzüge wechseln konnten. Kannst du dich noch an Hedi Blattner erinnern?« »Ja, sie hat über den Vorfall sogar ein Gedicht verfasst.« »Hedi hat überhaupt über viele kleine Begebenheiten Gedichte geschrieben, die wir dann bei Kaffee und Kuchen bei Frau Schäfli recht oft zu hören bekamen. Einmal bei Hochwasser saßen wir fast bis zu den Knien im Wasser auf unseren Stühlen, machten daraus ein Kneippbad und verzehrten die Himbeertorte von Frau Schäfli. Wir haben gelacht und gesungen und keiner hat auf die Figur geachtet. Leider ist Frau Schäfli an ihren vielen Kuchen ge storben.« Reto sah Agnes lächelnd an. In seinen braunen Augen tanz ten kleine Lichtflecken, die wie Gold schimmerten. Er versank in Agnes' hellen Augen und fragte sie: »Wie kamst du überhaupt in diese Gegend?« »Das ist eine lange Geschichte, zu lang für die Überfahrt. Ich hatte Freunde in Salenstein, die mich jeden Sommer einluden, und da verliebte ich mich in diesen See und zog hierher.« Mit einer großen Armbewegung schloss Agnes die ganze Umgebung mit ein. »Schau, dort die Birnau, wie leuchtend die Kirche auf dem Hügel steht, da hinten die Insel Mainau, da oben das Schloss Meersburg, da hinten die Bregenzer Berge und der Säntis; und nichts engt einen ein, alles ist weit und unbegrenzt ...« Katharina unterbrach sie: »Kommt, wir müssen gehen.« Reto bestand darauf, zu bezahlen. »Ich bin heute euer Begleiter. Das wäre ja noch schöner, dass Frauen bezahlen, das geht gegen meine Schweizer Ehre.« Während sie zurück zum Auto gingen, schauten Katharina und Agnes sich vielsagend an; das waren sie nicht gewöhnt, meistens mussten sie selbst bezahlen. Doch es gefiel Agnes, von einem Mann so fürsorglich behandelt zu werden. Sie stiegen ins Auto und verließen die Fähre in Richtung Lindau. Katharina war vollkommen eins mit diesem Auto. »Also, Reto, ich muss zugeben, es ist wirklich ein großer Unterschied zu meiner japanischen Reisschüssel, das fährt ja von allein. Absoluter Luxus!«
»Da hast du recht. Ich leiste mir diesen Luxus auch nur deshalb, weil mein Leben sich zwischen Stein am Rhein, Basel, Genf und Zürich abspielt. Daher wollte ich, dass mir die Zeit, die ich im Auto verbringe, Spaß macht und ich mich sicher fühlen kann.« »Vielleicht hätte ich auch Rechtsanwalt werden sollen«, seufzte Katharina. »Du würdest es im Büro gar nicht aushalten!«, rief Agnes dazwischen. »Du brauchst doch frische Luft und liebst es, auf Bäume zu steigen, ihnen einen anständigen Haarschnitt zu verpassen und ab und zu runterzufallen, weil du partout den Heldentod sterben willst.« Sie wandte sich zu Reto. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele Verletzungen Katharina schon ausgehalten hat. Katharina, darf ich die mit dem Nagel erzählen?« »Wenn es dir Spaß macht.« »Nach Katharinas diversen Heldentaten habe ich ihr den Namen Kasimir de Bell verliehen. In meiner Vorstellung sah ich sie immer in einem Zug von Rittern, bewaffnet mit Lanzen, reitend und natürlich war sie der Anführer. Komischerweise kam dieses Bild, nachdem ich Katharina kennengelernt hatte, immer wieder. Das Ritterliche strahlt sie in schwierigen Situationen einfach aus.« »Ich dachte, du wolltest die Geschichte mit dem Nagel erzählen ...«, kam es von vorn mit einer Spur Verlegenheit in der Stimme. »Katharina baute mit einem Freund in einem Garten eine Mauer aus Eisenbahnbohlen die ungefähr einen Meter zwan zig lang waren und sehr schwer. Sie war als Ritter unterwegs, hob die Schwelle allein hoch, rutschte aus, ver suchte heldenhaft wegzuspringen, was ihr schon oft gelungen war, doch dieses Mal fiel diese schwere Bohle nicht weit genug: Sie landete auf ihrem großen Zeh. Zum Glück war der Straßenbauer Ilg, ein Freund von ihr, da und die beiden Männer hoben die Bohle von ihrem Zeh, der so fort blau war und Kasimir kreidebleich ... Der Straßenbauer meinte: ›Wir müssen den Zeh aufbohren, das Blut muss raus.‹ Gott sei Dank hatte er im Auto diverse Bohrer. Kasimir bekam einen Schnaps, der Freund hielt sie fest und der Straßenbauer bohrte mit dem kleinsten Bohrer, den er finden konnte, mit sehr viel Gefühl den Zeh auf. Das Blut schoss heraus. Erst mal war Katharina gerettet. Nach der erfolgreichen Operation tranken alle drei einen Schnaps. Und, ob du es glaubst oder nicht, Katharina arbei tete weiter, als ob nichts ge wesen wäre.« »Ritter Kasimir ist anscheinend mit seinen Begabungen eine Fundgrube an abstrusen Geschichten«, meinte Reto. »Das kann man wohl sagen. Noch eine?«, fragte Agnes und lachte bereits, bevor sie mit dem Erzählen anfing. »Es war um Weihnachten herum. Katharina war wieder als Ritter unterwegs. Sie wollte alle Bäume und jeden Strauch beleuchten und wagte sich auch an ziemlich hohe Zypressen. Die Dame vom Elektrogeschäft hatte gerade neue Leuchtschnüre ge bracht, die sie Kasimir reichte. Da rutschte die Leiter weg. Kasimir sprang blitzschnell heldenhaft zur Seite und der Dame vom Elektrogeschäft mitten auf den Kopf. Diese arme Frau fiel sofort in Ohnmacht, lag eine Weile be we gungs los am Boden, bis wir sie wieder ins Leben zurückgeholt und sie vorsichtshalber ins Krankenhaus gebracht hatten. Wochenlang danach musste sie eine Halskrause tragen, aber Kasimir ist nichts passiert.« »Vielleicht solltest du als Nächstes einen Ritterroman schreiben?«, meinte Reto und schaute Agnes direkt in die hellen Augen. Dann fuhr er ernsthaft fort: »Vorhin auf der Fähre hast du erzählt, dass der See all deine Verzweiflung, deinen Schmerz und deine Wut aufgelöst hat. Was war denn so schwer in München?« Aha, der Anwalt, er fragt gezielt, dachte Agnes. »Warum willst du das wissen?«, antwortete sie zurückhaltend. »Ich habe lange in München mit meiner Tochter gelebt. Ich war dort Lehrerin an einem Gymnasium und ich bin selbst verantwortlich dafür, dass mein Leben chaotisch und schwer wurde.« Irgendwas in ihr machte zu und die ganze Leichtigkeit, die sie bisher auf der Fahrt empfunden hatte, war verflogen. »Heute will ich nach vorn schauen, Reto, nicht zurück.« »Entschuldige, ich wollte nicht indiskret sein.« Reto wurde etwas verlegen. Er musste vorsichtig sein mit dieser Frau und seine Neugier, warum Agnes so geworden ist, wie sie war, zügeln, auch wenn es ihm schwerfiel. »Weißt du, Agnes, du wirkst auf mich so ausgeglichen, als ob dich nichts erschüttern könnte.« Er lachte: »Außer Vertragsverhandlungen natürlich, das weiß ich inzwischen.« »Gott sei Dank habe ich dafür jetzt dich, Reto. Seitdem du mit uns im Haus wohnst, bringt mich nicht mehr jeder Brief, den ich von einer Behörde bekomme, ins Schleudern. Früher haben mich die Schreiben vom Finanzamt fast gelähmt. Das ist durch dich wirklich ganz anders geworden. « »Gehört das Haus eigentlich dir oder deinem Schwiegersohn, diesem berühmten Architekten aus dem Tessin?« »Na, Sergio natürlich. Glaubst du, ich könnte mir vom Bücherschreiben so ein Haus leisten? Er hat, der Einfachheit halber, Katharina und mir die Verwaltung übergeben. Er wollte, dass die Enkelkinder, wenn sie zu mir kommen, es fast so schön haben wie zu Hause.« »Ja, schön ist es bei uns. Nicht umsonst habe ich mein Haus in der Stadt vermietet, um mehr in der Natur zu wohnen.« »Wir haben dich ja auch erst nach langem Suchen, Zögern und Prüfen als Mieter akzeptiert. Weil wir einen Mann im Haus haben wollten, den wir mit heiklen Fragen belästi gen können und der auch mal mit anpackt, wenn es nötig ist. Du hast vor allen anderen gewonnen.« »Welche Ehre«, Reto grinste genüsslich. »Katharina hatte, wie du dir denken kannst, auch bei die ser Entscheidung das letzte Wort.« Agnes schaute Reto an. Was wusste sie wirklich über ihn? Sie und Katharina hatten noch keine Frau an seiner Seite gesichtet. Ganz mutig fragte sie: »Reto, warst du eigentlich mal verheiratet?« »Das ist aber auch ein bisschen sehr direkt ...« »Oh, entschuldige, du bist mir keine Erklärung schuldig. Katharina und ich haben uns einfach gefragt ...«
»Mich lass aus dem Spiel! Mich interessiert es wirklich nicht, Reto, wie und wo du Sex hast.« »Also, Katharina, du bist ja richtig vulgär, Sex, ts... ts...« »Vulgär ist ein schönes Wort«, konterte Katharina, »mal was anderes.« Reto nahm die Hand von Agnes, strich zärtlich über ihren Handrücken, der voller brauner Altersflecken war. »Nicht, Reto, meine Hände sehen furchtbar aus. Warum bekommt man so braune Flecken im Alter?« »Ich finde es nicht furchtbar, ich finde deine Hände schön. Sie passen gut zu dir. Darf ich sie halten? Ich glaube, es fällt mir dann leichter, von mir zu erzählen.« Agnes wurde verlegen, weil durch die Berührung ihrer Hände auf einmal eine zärtliche Verbindung zwischen ihnen schwang. Reto hatte eine schöne, feste Männerhand mit schlanken, kräftigen Fingern - aber auch nicht zu kräftig, gerade richtig. Sie mochte seine Hand, sie war beides: männlich und weiblich. Er war auch bestimmt nicht einfach gestrickt. Eigentlich, dachte sie, gefällt er mir. Quatsch, der ist doch viel zu jung für dich. Agnes hatte die ganze Zeit auf seine Hände geschaut, dann sagte sie leise: »Ich höre dir gerne zu, Reto. Ich mag es, wenn Männer ehrlich sind und von sich erzählen. Ich muss zugeben, dass ich das nicht oft erlebt habe ...« »Ich komme aus dem Appenzeller Land. Mein Vater war Bauer und hatte viel Grund, den er später als Bauland verkaufen konnte. Damit hatten wir genügend Geld, dass ich
Copyright © dieser Ausgabe 2010 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Herstellung | Helga Schörnig
Agnes lag in ihrem so geliebten, ausladenden Bett, wie immer auf der linken Seite, als hielte sie für jemanden den Platz an ihrer rechten Körperhälfte frei. Das ist doch absolut lächerlich, dachte sie, kein Mann hat seit zwanzig Jahren das Bett mit mir geteilt und das ist auch gut so. Sie rutschte in die Mitte des Bettes. Als Alleinherrscherin von Tisch und Bett konnte Agnes tun und lassen, was sie wollte. Nichts Männliches neben ihr, niemand, der sie im Schlaf umklammert hielt und sie liebevoll »Schnuggere« nannte. Die Erinnerung an diesen Mann tauchte auf, der, wenn er bei ihr gewesen war, die ganze Erde und den Himmel füllte, sie verschlang, umschlang, aufsaugte, aß und trank. Doch für ihn hatte es, wenn er unterwegs gewesen war, noch andere Frauen gegeben. Ob er mit ihnen dieselbe tiefe Nähe erlebt hatte? Sie wusste es nicht und würde es auch, Gott sei Dank, nie erfahren. Zwanzig Jahre war das nun her, dass sie sich selbst diese Trennung auferlegt hatte und daran beinahe zugrunde gegangen wäre. Sie rief sich zur Ordnung. Das wollen wir ja schon gar nicht: in die Vergangenheit einsteigen. Heute ist heute, ges tern war und morgen ist noch hinter einem Schleier verborgen. So verhielt es sich auch mit ihrem Preis, den sie morgen für ihren neuen Roman bekommen sollte: den Bayerischen Literaturpreis. Wozu aufgeregt sein und sich Gedanken machen über das, was erst morgen geschieht? Sie hatte ihren Koffer gepackt und der Anzug für die Preis verleihung hing griffbereit im Flur am Schrank. Genüsslich drehte sie sich wieder auf die linke Seite ihres Bettes. Es ging ihr gut. Sie war glücklich, auch wenn sie auf der linken Seite ihres Bettes allein schlief. Als Großmutter verhalte ich mich absolut moralisch, kam ihr in den Sinn. Darüber musste sie selbst lachen. Was ist denn das für ein blöder Gedanke, absolut moralisch? Wäre es denn unmoralisch, wenn sie einen Freund oder Liebhaber hätte? Natürlich, Mama, hörte sie ihre Tochter Johanna sagen. In deinem Alter, bist du noch zu retten? Wozu willst du denn mit siebzig noch einen Liebhaber? Ja, was glaubt sie denn! Dass mit siebzig das Leben vorbei ist oder, besser gesagt, das Liebesleben? Dass man keine erotischen Vorstellungen mehr hat, keine Träume von Zweisamkeit, Wärme und Zärtlichkeit? Man denkt doch nicht daran, wie alt man ist. Innen ist man noch jung, das sieht nur im Außen etwas ältlich aus. Agnes riss sich zusammen. Sie dachte spöttisch: Warum habe ich heute lauter so komische Gedanken? Ich sollte besser schlafen, damit ich morgen gut aussehe. Sie kuschelte sich auf ihre linke Seite, zog die Beine an und fühlte sich geborgen. Mit einem liebevollen Gedanken umhüllte sie alle, die in ihrem Herzen wohnten. Sie seufzte tief und schlief ein.
Am Morgen donnerte es an ihre Schlafzimmertür. »Agnes, Agnes«, schrie es, »wach auf, ich fasse es nicht. Verschläft dieses Weib ihren großen Tag. Du Babe, wach auf, es ist sieben Uhr.« »Es grenzt an ein Wunder, Katharina, dass du nicht mit der ganzen Tür in mein Schlafzimmer gefallen bist.« Damit sprang Agnes fröhlich aus dem Bett. »In zehn Mi nu ten bin ich fertig. Du weißt, ich bin Improvisieren gewohnt. « »Ha, ha, diesen Spruch kenn ich. Doch allein mit Im provisieren wärst du in deinem Chaos ganz schön aufgeschmissen. « Katharina nahm den Anzug, den Agnes bereitgehängt hatte, gab ihn in eine Schutzhülle und zog mit dem ganzen Gepäck ab. Sie schrie noch im Flur: »Reto wartet schon unten am Auto, wir sind bereit, nur die Künstlerin trödelt.« Agnes hörte das nicht mehr, weil sie unter der Dusche stand und heißes und kaltes Wasser über sich laufen ließ. Ja, ja, eiskalt, eiskalt, jetzt bin ich wach. Sie schlüpfte in ihre Jeans, in einen Pullover und nach zehn Minuten stand sie vor Katharina und Reto, die beim Auto warteten. Agnes dachte: Was für ein guter Typ Mann Reto doch ist. Er sah schon am Morgen elegant und seriös aus. Sein silbergrauer Pullover harmonierte mit seinen kurzen Locken. Katharina stand daneben, wie immer schlank und schmal in ihren Jeans und für das bevor stehende Ereignis hatte sie sich verschiedenfarbige Strähnen ins Haar machen lassen. Die Farben auf ihrem Kopf sahen aus wie die einer Glückskatze. »Guten Morgen, meine Lieben, ich hasse Leute, die zu spät kommen, Entschuldigung!« Reto küsste sie, wie in der Schweiz üblich, rechts, links und wieder rechts auf die Wange, indem er immer in gefährlicher Nähe an ihren Lippen vorbeirutschte und sein Oberlippenbärtchen sie kitzelte. Sie hätte ihn gerne mal geküsst, einfach so, doch war sie schließlich zehn Jahre älter. Das tut man nicht und sie traute es sich auch nicht. Sie fuhr ihm durch sein lockiges, silbergraues Haar, das war weniger gefährlich, und sprudelte heraus: »Ich freue mich so, dass du dir Zeit genommen hast, mit mir nach Mün chen zu kommen, da kann mir nichts passieren. Eine männliche Begleitung bin ich gar nicht mehr gewöhnt. Die Leute werden einiges zu tratschen haben. Wenn ich nur mit Katharina auftreten würde, hätten sie einen ande ren Grund dafür.« »Einsteigen, einsteigen ihr zwei. Ich fahre, damit ihr das wisst.« Dabei schaute Katharina Reto mit Dackelaugen an. »Einmal in meinem Leben möchte ich einen Mercedes sechshundert fahren.« »Das ist doch gar nicht dein Traumauto, du liebst doch das Sportcoupé«, meinte Agnes spöttelnd. Reto, der nicht so recht verstand, worüber die beiden sprachen, mischte sich ein: »Katharina, du kannst gerne fahren, doch denk daran, mein Auto ist keine japanische Reisschüssel. « »Ja, ja ich weiß«, entgegnete Katharina, »ich habe eine kostbare Fracht und fahre wie Agnes, wie eine lahme Ente.« Reto freute sich, dass er nun über drei Stunden mit Agnes hinten im Auto sitzen konnte - endlich hatte er sie einmal für sich allein. Katharina wusste, wie sehr Reto Agnes verehrte, wie seine Augen leuchteten, wenn er Agnes anschaute, wie er versuchte, ihr behilflich zu sein in allen Belangen ihres Lebens. Oft wirkte er dabei etwas unbeholfen, aber voller Hingabe. Doch die Babe Agnes bemerkte das nicht. Sie war immer mit sich und ihrem Schreiben beschäftigt. Im Grunde war sie ein egoistisches Weib, was sie natürlich selbst nicht wahrhaben wollte. Ja, in jedem Fall ein Weib, ein heißes Weib für ihr Alter. Sie war zwar etwas füllig, doch das Schönste an ihr waren ihre klaren durchsichtigen Augen und ihre starken blonden Haare. Sie hatte im mer noch eine unwiderstehliche Ausstrahlung, die Babe. Als Katharina in Stein am Rhein nicht über die Rheinbrücke fuhr, sondern auf die thurgauische Landstraße abbog, schrie Agnes von hinten: »Ja, wo willst du denn hin?« »Na, über die Schweiz nach Konstanz zur Fähre. Weißt du, was jetzt auf der deutschen Seite los ist? Da brauchen wir ja Stunden bis Lindau. Ich weiß schon, was ich mache und wie ich fahre.« Agnes lehnte sich wieder entspannt zurück, zu Reto gewandt meinte sie: »Katharina hat sowieso immer das letzte Wort, also halte ich meinen Mund.« »In diesem Fall hat sie wirklich recht«, verteidigte Reto Katharina. »So herum zu fahren ist viel klüger, hier ist kaum Verkehr bis Konstanz und die Fähre spart uns Zeit.« Agnes freute sich, dass Reto Katharina verteidigte. Sie war glücklich, wenn sie spürte, dass ihre Freunde sich vertru gen, ja mochten, auch wenn es manchmal auf ihre Kosten ging. Gegen Katharinas naive Schlagfertigkeit war sie sowieso machtlos. Sie fuhren durch kleine Dörfer auf der Schweizer Seite des Untersees. Agnes sah entspannt aus dem Fenster und Katharina, die als Gärtnerin arbeitete, fragte sich, wann die Schweizer ihre hübschen Gärten eigentlich bearbeiten, weil man sie nie darin sah. Doch alles blühte, wie jetzt im September: Rosen, Sonnenblumen, Hortensien und Dahlien. Auf der Straße bei Mammern, dort, wo sich der Untersee wieder öffnet und einen Blick auf die Reichenau freigibt, war Agnes wieder, wie beim ersten Mal, als sie hier ge wesen war, begeistert von der Schönheit dieser Landschaft. »Schau nur, Reto, wie märchenhaft dieser See aussieht, mit den weichen Schwingen der Höri, der Reichenau und den fernen Bergen, mitten im See die Insel Reichenau, wie Avalon, ja, ein deutsch-schweizerisches Avalon.« Reto schaute Agnes mit seinen warmen braunen Augen liebevoll an. »Weißt du, Agnes, was mich an dir immer so überrascht?
Du kannst dich immer noch so begeistern, staunen wie ein Kind.« »Jetzt darfst du bloß nicht sagen: Und das in deinem Alter«, warf Katharina von vorn ein. Agnes lachte herzlich: »Ich denke, wenn man aufhört zu staunen über diese Welt und ihre Schönheit, ist man schon ein bisschen tot. Ich stehe fast jeden Abend fassungslos vor diesem gigantischen Schauspiel des Sonnenuntergangs zwischen den Hegau-Bergen. Die Farben, die diese Sonnenscheibe bei ihrem Verschwinden ausgießt, umflutet uns mit Goldgelb, Rosa, Rot, Violett und der See glüht geradezu und spiegelt die Farben lange wider. Darüber sieht man oft Wolkenbilder, die, engelsgleich, der Sonne bei ihrem Untergang ihre Reverenz erweisen.« Reto schaute sie ein wenig skeptisch von der Seite an, doch Agnes fuhr unbeirrt fort: »Und diese Schönheit ist ein Geschenk der Natur für uns, einfach so. Dafür müssen wir nichts bezahlen. Die Natur schenkt uns Blumen, Wälder, Berge, Flüsse und Seen, die zu unserer Benutzung eigentlich frei wären. Sollte uns das nicht nachdenklich machen, für das, was wir alles bezahlen müssen? Ich könnte gar nicht mehr in einer Stadt leben, wo die Häuser einem den Blick zum Himmel versperren.« Nachdenklich meinte Reto: »Vielleicht verliert man das Staunen oder sieht die Schönheit nicht mehr, wenn man immer hier gelebt hat.« »Warst du denn nie weg?« »O doch, ich habe in Zürich studiert und war auch viel auf Reisen. Ich war in Asien oder auf Kauai, einer Insel von Hawaii, die ich ganz besonders schön und einmalig finde. Außerdem, Agnes, wenn die Sonne aufgeht, schlafe ich noch und wenn sie untergeht, arbeite ich meistens im Büro und da versperren mir sogar in unserer kleinen Stadt die Häuser die Sicht.« »Das ist keine Ausrede. Du könntest deine Arbeit kurz unterbrechen, auf die Rheinbrücke gehen, das Schauspiel der Farben genießen, um dann wieder weiterzuarbeiten.« »Vielleicht werde ich deinen Rat befolgen und dir dann berichten ...« Agnes spürte den Blick von Katharina im Rückspiegel. »Wie fährt sich denn dieser Wagen?« »Ich habe mich soeben mit diesem Superschlitten verlobt. Ihr dürft uns gratulieren. Beachtet mich gar nicht, ich bin vollauf beschäftigt! Danke der Nachfrage.« »Schön, dass ich bei einer so glücklichen Zusammen füh rung behilflich sein durfte«, lachte Reto. »Aber wo habt ihr beide euch eigentlich kennengelernt?«, fragte er. »Katha rina, du kommst doch aus Konstanz, oder? Zumin dest hört sich dein Dialekt so an.« »Ja, und der ist ja wohl nicht zu überhören«, meinte Agnes und lachte. »Zum Beispiel: Agnes gib mir mal der Butter, Agnes ruf mir mal an ..., am Anfang dachte ich, die veräppelt mich.« »Und wo seid ihr euch dann begegnet?«, fragte er hartnäckig. »Ich wohnte damals in Ermatingen. Als ich mein erstes Märchenbuch schrieb, habe ich es dort ein paar jungen Leu ten im Schwimmbad vorgelesen und alle durften Kritik üben. Katharina war damals fünfundzwanzig. Mit ihrem gesunden, bodenständigen Naturell wurde sie meine beste Kritikerin. Heute ist sie nach vielen Umwegen, wie du weißt, ein freier Gartenunternehmer und ich bin manchmal ihr Azubi.« »Ha, ha«, ließ Katharina sich herab zu unterbrechen, »du und Azubi! Du bist und bleibst die Regierung. Denn wenn du mir schon mal hilfst, weißt du sowieso alles besser.« »Ja, ja, das schon«, entgegnete Agnes, »doch ich komme damit nicht zum Zug.« »Wieso nennst du sie die Regierung?«, fragte Reto humor voll. »Weil ich nichts zu sagen habe, so wie jede Regierung«, lachte Agnes. Katharina konterte: »Weißt du, Reto, sie weiß immer alles besser, aber ich bin ja schlau und mache, was ich für richtig halte.« »Sag ich doch, ich bin zwar die Regierung, habe allerdings wenig Einfluss oder Chancen, da Katharina immer das letzte Wort hat.« Als sie in Konstanz zum Hafen abbogen, meinte Katharina schnippisch: »Wie ihr seht, steht die Fähre für uns bereit und wir können direkt auffahren. Tja, wenn Profis wie ich am Steuer sitzen, bleibt halt nichts dem Zufall überlassen!« »Das liebe ich, hier ganz vorn am Bug bei der Überfahrt im Auto zu sitzen, den See nach allen Seiten zu genießen ...«, unterbrach Agnes sie.
»Aber heute bleiben wir nicht sitzen, heute frühstücken wir. Geht schon mal vor, ihr zwei, und bestellt mir einen Cappuccino und eine Brezel«, befahl Katharina. Reto und Agnes taten dieses ohne Widerrede. Katharina hatte nicht umsonst den Spitznamen »das letzte Wort«. Friedlich saßen die drei nach einer Weile in dem Restaurant der Fähre beim Frühstück. Agnes schaute nach Osten zum Säntis, zur Sonne, die schon höher stand und das Wasser glitzern ließ wie flüssiges Gold. Mit einem wohligen Seufzer erzählte sie: »Früher, als ich noch in München gelebt habe und im Sommer hier herfuhr, erfüllte mich jedes Mal, wenn ich in Meersburg den Bodensee sah, ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Bei der Überfahrt auf dem See fiel alles Schwere von mir ab. Die frische Brise weitete mein Herz und ich fühlte mich frei. Der See trennte alles Vergangene, alles Laute, was in mir tobte, alle Wut, alle Verzweiflung, alle Ängste und allen Schmerz. Es fühlte sich so an, als ob der See bereit wäre, alles aufzunehmen und zu erlösen.« Katharina und Reto hörten ihr aufmerksam zu. Agnes hielt kurz inne und sprach dann weiter wie zu sich selbst: »Der Duft des Sommers, den ich in meinen Ferien im Schwimmbad in Ermatingen erleben durfte, erinnerte mich an den Duft meiner Kindheit in Burghausen an der Salzach, die voller Wärme und Fröhlichkeit war. Katha rina, kannst du dich noch an Ermatingen, an Frau Schäfli erinnern?« »Aber klar doch - eine imposante Erscheinung, die alles
unter Kontrolle hatte und jedes Kind im Schwimmbad folgte ihr aufs Wort und wir Erwachsene auch.« »Damals mit fünfzig war ich noch einigermaßen gut in Form und wir durchquerten zu dritt den Untersee schwimmend zur Reichenau - Katharina, ich und die alte Lehrerin vom Dorf, Hedi Blattner. Der Lehrer von Ermatingen begleitete uns mit dem Boot mit einer weißen Fahne, da mit wir von den großen Schiffen, die den Rhein fluss abwärts fuhren, nicht überfahren wurden. Auf der Reichenau landeten wir ausgerechnet bei dem Besitztum der Nonnen, die uns nicht erlaubten, den Strand zu betreten und unsere nassen Badeanzüge zu wechseln. Sie hatten auch kein Mitleid, obwohl wir vor Kälte zitterten wie Espenlaub. Also stiegen wir ins Boot und der Lehrer musste auf Befehl von Hedi Blattner streng nach Westen schauen, damit wir unsere nassen Badeanzüge wechseln konnten. Kannst du dich noch an Hedi Blattner erinnern?« »Ja, sie hat über den Vorfall sogar ein Gedicht verfasst.« »Hedi hat überhaupt über viele kleine Begebenheiten Gedichte geschrieben, die wir dann bei Kaffee und Kuchen bei Frau Schäfli recht oft zu hören bekamen. Einmal bei Hochwasser saßen wir fast bis zu den Knien im Wasser auf unseren Stühlen, machten daraus ein Kneippbad und verzehrten die Himbeertorte von Frau Schäfli. Wir haben gelacht und gesungen und keiner hat auf die Figur geachtet. Leider ist Frau Schäfli an ihren vielen Kuchen ge storben.« Reto sah Agnes lächelnd an. In seinen braunen Augen tanz ten kleine Lichtflecken, die wie Gold schimmerten. Er versank in Agnes' hellen Augen und fragte sie: »Wie kamst du überhaupt in diese Gegend?« »Das ist eine lange Geschichte, zu lang für die Überfahrt. Ich hatte Freunde in Salenstein, die mich jeden Sommer einluden, und da verliebte ich mich in diesen See und zog hierher.« Mit einer großen Armbewegung schloss Agnes die ganze Umgebung mit ein. »Schau, dort die Birnau, wie leuchtend die Kirche auf dem Hügel steht, da hinten die Insel Mainau, da oben das Schloss Meersburg, da hinten die Bregenzer Berge und der Säntis; und nichts engt einen ein, alles ist weit und unbegrenzt ...« Katharina unterbrach sie: »Kommt, wir müssen gehen.« Reto bestand darauf, zu bezahlen. »Ich bin heute euer Begleiter. Das wäre ja noch schöner, dass Frauen bezahlen, das geht gegen meine Schweizer Ehre.« Während sie zurück zum Auto gingen, schauten Katharina und Agnes sich vielsagend an; das waren sie nicht gewöhnt, meistens mussten sie selbst bezahlen. Doch es gefiel Agnes, von einem Mann so fürsorglich behandelt zu werden. Sie stiegen ins Auto und verließen die Fähre in Richtung Lindau. Katharina war vollkommen eins mit diesem Auto. »Also, Reto, ich muss zugeben, es ist wirklich ein großer Unterschied zu meiner japanischen Reisschüssel, das fährt ja von allein. Absoluter Luxus!«
»Da hast du recht. Ich leiste mir diesen Luxus auch nur deshalb, weil mein Leben sich zwischen Stein am Rhein, Basel, Genf und Zürich abspielt. Daher wollte ich, dass mir die Zeit, die ich im Auto verbringe, Spaß macht und ich mich sicher fühlen kann.« »Vielleicht hätte ich auch Rechtsanwalt werden sollen«, seufzte Katharina. »Du würdest es im Büro gar nicht aushalten!«, rief Agnes dazwischen. »Du brauchst doch frische Luft und liebst es, auf Bäume zu steigen, ihnen einen anständigen Haarschnitt zu verpassen und ab und zu runterzufallen, weil du partout den Heldentod sterben willst.« Sie wandte sich zu Reto. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele Verletzungen Katharina schon ausgehalten hat. Katharina, darf ich die mit dem Nagel erzählen?« »Wenn es dir Spaß macht.« »Nach Katharinas diversen Heldentaten habe ich ihr den Namen Kasimir de Bell verliehen. In meiner Vorstellung sah ich sie immer in einem Zug von Rittern, bewaffnet mit Lanzen, reitend und natürlich war sie der Anführer. Komischerweise kam dieses Bild, nachdem ich Katharina kennengelernt hatte, immer wieder. Das Ritterliche strahlt sie in schwierigen Situationen einfach aus.« »Ich dachte, du wolltest die Geschichte mit dem Nagel erzählen ...«, kam es von vorn mit einer Spur Verlegenheit in der Stimme. »Katharina baute mit einem Freund in einem Garten eine Mauer aus Eisenbahnbohlen die ungefähr einen Meter zwan zig lang waren und sehr schwer. Sie war als Ritter unterwegs, hob die Schwelle allein hoch, rutschte aus, ver suchte heldenhaft wegzuspringen, was ihr schon oft gelungen war, doch dieses Mal fiel diese schwere Bohle nicht weit genug: Sie landete auf ihrem großen Zeh. Zum Glück war der Straßenbauer Ilg, ein Freund von ihr, da und die beiden Männer hoben die Bohle von ihrem Zeh, der so fort blau war und Kasimir kreidebleich ... Der Straßenbauer meinte: ›Wir müssen den Zeh aufbohren, das Blut muss raus.‹ Gott sei Dank hatte er im Auto diverse Bohrer. Kasimir bekam einen Schnaps, der Freund hielt sie fest und der Straßenbauer bohrte mit dem kleinsten Bohrer, den er finden konnte, mit sehr viel Gefühl den Zeh auf. Das Blut schoss heraus. Erst mal war Katharina gerettet. Nach der erfolgreichen Operation tranken alle drei einen Schnaps. Und, ob du es glaubst oder nicht, Katharina arbei tete weiter, als ob nichts ge wesen wäre.« »Ritter Kasimir ist anscheinend mit seinen Begabungen eine Fundgrube an abstrusen Geschichten«, meinte Reto. »Das kann man wohl sagen. Noch eine?«, fragte Agnes und lachte bereits, bevor sie mit dem Erzählen anfing. »Es war um Weihnachten herum. Katharina war wieder als Ritter unterwegs. Sie wollte alle Bäume und jeden Strauch beleuchten und wagte sich auch an ziemlich hohe Zypressen. Die Dame vom Elektrogeschäft hatte gerade neue Leuchtschnüre ge bracht, die sie Kasimir reichte. Da rutschte die Leiter weg. Kasimir sprang blitzschnell heldenhaft zur Seite und der Dame vom Elektrogeschäft mitten auf den Kopf. Diese arme Frau fiel sofort in Ohnmacht, lag eine Weile be we gungs los am Boden, bis wir sie wieder ins Leben zurückgeholt und sie vorsichtshalber ins Krankenhaus gebracht hatten. Wochenlang danach musste sie eine Halskrause tragen, aber Kasimir ist nichts passiert.« »Vielleicht solltest du als Nächstes einen Ritterroman schreiben?«, meinte Reto und schaute Agnes direkt in die hellen Augen. Dann fuhr er ernsthaft fort: »Vorhin auf der Fähre hast du erzählt, dass der See all deine Verzweiflung, deinen Schmerz und deine Wut aufgelöst hat. Was war denn so schwer in München?« Aha, der Anwalt, er fragt gezielt, dachte Agnes. »Warum willst du das wissen?«, antwortete sie zurückhaltend. »Ich habe lange in München mit meiner Tochter gelebt. Ich war dort Lehrerin an einem Gymnasium und ich bin selbst verantwortlich dafür, dass mein Leben chaotisch und schwer wurde.« Irgendwas in ihr machte zu und die ganze Leichtigkeit, die sie bisher auf der Fahrt empfunden hatte, war verflogen. »Heute will ich nach vorn schauen, Reto, nicht zurück.« »Entschuldige, ich wollte nicht indiskret sein.« Reto wurde etwas verlegen. Er musste vorsichtig sein mit dieser Frau und seine Neugier, warum Agnes so geworden ist, wie sie war, zügeln, auch wenn es ihm schwerfiel. »Weißt du, Agnes, du wirkst auf mich so ausgeglichen, als ob dich nichts erschüttern könnte.« Er lachte: »Außer Vertragsverhandlungen natürlich, das weiß ich inzwischen.« »Gott sei Dank habe ich dafür jetzt dich, Reto. Seitdem du mit uns im Haus wohnst, bringt mich nicht mehr jeder Brief, den ich von einer Behörde bekomme, ins Schleudern. Früher haben mich die Schreiben vom Finanzamt fast gelähmt. Das ist durch dich wirklich ganz anders geworden. « »Gehört das Haus eigentlich dir oder deinem Schwiegersohn, diesem berühmten Architekten aus dem Tessin?« »Na, Sergio natürlich. Glaubst du, ich könnte mir vom Bücherschreiben so ein Haus leisten? Er hat, der Einfachheit halber, Katharina und mir die Verwaltung übergeben. Er wollte, dass die Enkelkinder, wenn sie zu mir kommen, es fast so schön haben wie zu Hause.« »Ja, schön ist es bei uns. Nicht umsonst habe ich mein Haus in der Stadt vermietet, um mehr in der Natur zu wohnen.« »Wir haben dich ja auch erst nach langem Suchen, Zögern und Prüfen als Mieter akzeptiert. Weil wir einen Mann im Haus haben wollten, den wir mit heiklen Fragen belästi gen können und der auch mal mit anpackt, wenn es nötig ist. Du hast vor allen anderen gewonnen.« »Welche Ehre«, Reto grinste genüsslich. »Katharina hatte, wie du dir denken kannst, auch bei die ser Entscheidung das letzte Wort.« Agnes schaute Reto an. Was wusste sie wirklich über ihn? Sie und Katharina hatten noch keine Frau an seiner Seite gesichtet. Ganz mutig fragte sie: »Reto, warst du eigentlich mal verheiratet?« »Das ist aber auch ein bisschen sehr direkt ...« »Oh, entschuldige, du bist mir keine Erklärung schuldig. Katharina und ich haben uns einfach gefragt ...«
»Mich lass aus dem Spiel! Mich interessiert es wirklich nicht, Reto, wie und wo du Sex hast.« »Also, Katharina, du bist ja richtig vulgär, Sex, ts... ts...« »Vulgär ist ein schönes Wort«, konterte Katharina, »mal was anderes.« Reto nahm die Hand von Agnes, strich zärtlich über ihren Handrücken, der voller brauner Altersflecken war. »Nicht, Reto, meine Hände sehen furchtbar aus. Warum bekommt man so braune Flecken im Alter?« »Ich finde es nicht furchtbar, ich finde deine Hände schön. Sie passen gut zu dir. Darf ich sie halten? Ich glaube, es fällt mir dann leichter, von mir zu erzählen.« Agnes wurde verlegen, weil durch die Berührung ihrer Hände auf einmal eine zärtliche Verbindung zwischen ihnen schwang. Reto hatte eine schöne, feste Männerhand mit schlanken, kräftigen Fingern - aber auch nicht zu kräftig, gerade richtig. Sie mochte seine Hand, sie war beides: männlich und weiblich. Er war auch bestimmt nicht einfach gestrickt. Eigentlich, dachte sie, gefällt er mir. Quatsch, der ist doch viel zu jung für dich. Agnes hatte die ganze Zeit auf seine Hände geschaut, dann sagte sie leise: »Ich höre dir gerne zu, Reto. Ich mag es, wenn Männer ehrlich sind und von sich erzählen. Ich muss zugeben, dass ich das nicht oft erlebt habe ...« »Ich komme aus dem Appenzeller Land. Mein Vater war Bauer und hatte viel Grund, den er später als Bauland verkaufen konnte. Damit hatten wir genügend Geld, dass ich
Copyright © dieser Ausgabe 2010 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Herstellung | Helga Schörnig
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Autoren-Porträt von Ruth Maria Kubitschek
Ruth Maria Kubitschek wurde 1931 in Komotau im heutigen Tschechien geboren. Mit sechzehn Jahren besuchte sie die Hochschule für Theater und Musik in Halle und später das Stanislawsy-Institut, mit zwanzig drehte sie ihren ersten Film. 1958 verließ sie mit ihrem Sohn Alexander aus der Ehe mit Götz Friedrich die damalige DDR und ging ans Schlosstheater in Celle. Dann wurde sie von Fritz Kortner entdeckt. Später erlangte sie durch ihre Rollen in den TV-Serien "Monaco Franze", "Kir Royal" und "Das Erbe der Guldenburgs" Berühmtheit. Ruth Maria Kubitschek veröffentlichte bereits mehrere Bücher.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ruth Maria Kubitschek
- 2010, 295 Seiten, Maße: 11,8 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Diana
- ISBN-10: 3453354354
- ISBN-13: 9783453354357
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