Im Land der Männer
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Suleiman wird vorzeitig erwachsen, weil seine behütete Welt zusammenbricht und er in seiner Verunsicherung nicht mehr wiedergutzumachende Fehler begeht. Am Ende des Sommers schicken ihn seine Eltern nach Kairo, wo er vor Gaddafis Zugriff sicher ist. Das bedeutet aber auch, daß er nicht mehr in seine Heimat zurückkehren kann.
Auf dem Markt sieht Suleiman seinen Vater, obwohl er sich angeblich im Ausland aufhält. Er trägt eine Sonnenbrille, geht an Suleiman vorbei, ohne ihn zu bemerken und verschwindet in einem Haus am Märtyrerplatz. Als er später zu Hause anruft, behauptet er, weit weg zu sein. Suleiman versteht nicht, warum ihn seine Eltern belügen. Auch auf der Straße vor dem Haus, wo er immer mit den Nachbarsjungen spielt, hat sich alles verändert. Karim, sein bester Freund, steht seit einer Woche nur am Rand oder kommt gar nicht mehr heraus. Seit dem Tag, an dem Karims Vater Ustath Raschid von vier Männern mit einem weißen Auto abgeholt worden ist. Es heißt, Ustath Raschid sei ein Verräter. Und Suleiman soll sich von Karim fernhalten.
Im Land der Männer von Hisham Matar
LESEPROBE
1
Ich erinnere mich an jenen letztenSommer, bevor ich weggeschickt wurde. Wir schrieben das Jahr 1979, und dieSonne war überall. Tripolis lag strahlend und still in sie gebettet. Mensch,Tier und Ameise suchten verzweifelt nach Schatten, jenen wenigen grauenFlecken des Erbarmens, die ins allumfassende Weiß geschnitten waren. WahreErleichterung kam jedoch erst mit der Nacht, wenn eine von der Leere der Wüstegekühlte Brise heranwehte, angefeuchtet vom rauschenden Meer, ein zögernderGast, der schweigend durch die leeren Straßen strich, unsicher, wie weit ersich in das Reich des großen Fixsterns wagen durfte. Und schon stieg er wiederauf, dieser Stern, verlässlich wie je, und vertrieb die gesegnete Brise. Es wurdeMorgen.
Das Fenster ihres Zimmers war weitoffen, der Gummibaum draußen still und starr, sein Grün verschämt im frühen Licht.Sie war erst in Schlaf gefallen, als die Dämmerung grau am Himmel heraufzog.Aber selbst da war ich noch zu verwirrt, um von ihrer Seite zu weichen, undfragte mich, ob sie nicht gleich wieder hochschrecken würde, wie eine Handpuppe,die sich totgestellt hatte, ob sie sich nicht eineweitere Zigarette anstecken und mich wie erst vor Minuten noch anflehen würde,bloß nichts zu verraten, bitte, bitte, nichts zu verraten.
Baba erfuhr nie von Mamas Krankheit. Siewurde nur krank, wenn er auf Geschäftsreise und die Welt ohne ihn war. Dann schienenwir als stumme Mahnungen zurückzubleiben, leere Seiten, die mit der Erinnerunggefüllt werden mussten, warum die beiden überhaupt geheiratet hatten.
Ich saß da und betrachtete ihrschönes Gesicht, sah, wie sich ihre Brust beim Atmen hob und senkte, und wichnicht von ihrer Seite. Wieder und wieder hörte ich, was sie mir eben erzählt hatte,die Worte schwammen in meinem Kopf herum.
Endlich erhob ich mich und ging insBett.
Als sie aufwachte, kam sie zu mir.Ich spürte ihr Gewicht neben mich sinken, ihre Finger in meinem Haar. DasGeräusch ihrer Nägel auf meinem Kopf erinnerte mich an ein ungutes Ereignis.Ich hatte mir eine Dattel in den Mund gesteckt, und erst als die kleinenKörperpanzer zwischen meinen Zähnen knackten, wurde mir klar, dass sie vollerAmeisen war. Still lag ich da, tat so, als schliefe ich, und lauschte ihremAtem, in den sich Tränen mischten.
Beim Frühstück versuchte ich, sowenig wie möglich zu sagen. Mein Schweigen machte sie nervös. Sie überlegte,was wir zu Mittag essen könnten. Sie fragte mich, ob ich gern Marmelade oderHonig hätte. Ich sagte nein, aber sie holte dennoch beides aus dem Kühlschrank.Und dann, wie immer morgens, wenn sie krank gewesen war, machte sie eineSpazierfahrt mit mir, um mich aus meinem Schweigen zu holen und wieder zu mirselbst zu bringen.
Während sie darauf wartete, dass derMotor warmlief, machte sie das Radio an und drehte den Senderknopf, bis dieschöne Stimme von Abd al-BasitAbd al-Sammad erklang. Ichwar froh darüber, denn wie alle wissen, muss man schweigen und demütig zuhören,wenn aus dem Koran gelesen wird.
Kurz bevor wir in die Gergarish-Straße bogen, die am Meer entlangführt, erschienwie aus dem Nichts Bahloul, der Bettler. Mama tratauf die Bremse und sagte: »Ya satir.« Er ging langsam hinüber auf ihre Seite, dieschmutzigen Hände fest auf den Bauch gepresst, seine Lippen zitterten. »Hallo, Bahloul«, sagte Mama und wühlte in ihrem Portemonnaieherum. »Ich sehe dich, ich sehe dich«, sagte er, und obwohl er diese Worte fastimmer murmelte, dachte ich diesmal, was für ein Idiot Bahlouldoch sei und dass ich mir wünschte, er würde verschwinden. Ich sah ihn imSeitenspiegel, wie er mitten auf der Straße stand und das Geld, das Mama ihmgegeben hatte, an die Brust drückte, als hätte er einen Schmetterling gefangen.
Sie fuhr mit mir in die Stadt, zumSesam-Mann auf dem Markt neben dem Märtyrerplatz, von dem man aufs Meer sieht,dem Platz mit der stolzen Statue von SeptimiusSeverus, dem römischen Kaiser, der vor langer, langer Zeit in Leptis geboren wurde. Sie kaufte mir so vieleSesamstangen, wie ich nur wollte, die alle einzeln in weißes, an den Endengedrehtes Wachspapier eingewickelt waren. Ich wollte nicht, dass sie dieStangen in ihre Tasche steckte. An solchen Tagen war ich stur. »Aber ich mussnoch einkaufen«, sagte sie, »und so fallen sie dir gleich runter.« »Nein«, sagte ich und zog die Brauen zusammen, »ich wartedraußen auf dich«, und marschierte zornig davon, ohne mich darum zu kümmern, obich sie verlieren und in der großen Stadt nicht wiederfindenwürde. »Hör zu«, rief sie hinter mir her und zog damit die Aufmerksamkeit derLeute auf sich. »Warte bei Septimius Severus auf mich.«
Auf der einen Seite des Marktes warein großes Café, dessen Tische bis in die Passage reichten. Männer saßen dortund spielten Domino oder Karten. Ein paar der Gesichter kannte ich. Ihre Augenwaren auf Mama gerichtet. Ich fragte mich, ob sie nicht ein weiteres Kleidtragen sollte.
Während ich mich von ihr entfernte,spürte ich, wie meine Macht über sie nachließ. Mitleid und Traurigkeitergriffen mich, weil sie an diesen Morgen immer so großzügig und so verlegenwar, als wäre sie nackt auf die Straße hinausgetreten. Ich wollte zu ihrlaufen, ihre Hand halten und mich an ihr Kleid klammern, während sie einkaufteund sich der Welt stellte, einer Welt voller Männer und Männergier. Ich zwangmich jedoch, nicht zurückzusehen, sondern konzentrierte mich auf die Lädenunter den Bögen auf beiden Seiten der Passage. Schwarze Seidentücher bauschtensich sanft vor dem einen, vor dem anderen türmten sich mannshohe Stapel roterKappen. Oben über den Durchgang spannten sich dunkle Stoffbahnen, zwischendenen hier und da weiße Lichtklingen hindurchstießenund den in der Luft schwimmenden Staub aufleuchten ließen. Reglos und schönbeschienen sie Bögen und Boden, schossen jedoch wie Funken auf Köpfe und Körperder Passanten und ließen die Schatten weit dunkler erscheinen, als sie waren.
Der Platz draußen warsonnenüberflutet, die Erde fast weiß vor Helligkeit, und die dunklen Schuhe undGestalten, die ihn überquerten, wirkten wie Dinge, die über der Welt trieben.Ich wünschte, ich hätte Mama die Sesamstangen gegeben. Kleine Nadeln stachenmir in den Arm, und ich ärgerte mich, weil ich so stur gewesen war und mir soviele hatte kaufen lassen. Einen ganzen Armvoll trugich herum, aber ich verspürte keinerlei Appetit.
Ich lehnte mich gegen den kühlenMarmorsockel von Septimius Severus. Der römischeKaiser stand über mir und streckte den Arm Richtung Meer, sein silberbeschlagener Gürtel wand sich unter dem Bauch umseinen Leib. »Libyen drängend, nach Rom zu sehen«, so beschrieb Ustaz Raschid diese Haltung. UstazRaschid lehrte Kunstgeschichte in der AlFateh-Universitätund war der Vater meines besten Freundes Karim. Ich erinnerte mich, dass unserFührer in einer seiner Militäruniformen genauso dastand und mit dem Arm winkte,als am Revolutionstag die Panzer vor ihm vorbeifuhren.
Ich wandte mich dem Meer zu, demtürkis leuchtenden Meer jenseits des Platzes. Es kam mir vor wie ein riesiges blauesUngeheuer, das sich über den Rand der Welt schob. »Grrr «, knurrte ich und fragte mich gleich, ob mich jemand gehört hatte. Mehrmalstrat ich mit der Hacke gegen den Sokkel. Ich starrteauf den Boden, in die Hitze und das Gleißen und verspürte den Wunsch, mitoffenen Augen einzuschlafen. Und dann, ohne dass ich nach ihm Ausschau gehaltenhätte, fiel mein Blick direkt auf ihn: Da war Baba.
Er stand am Rand des Bürgersteigs ineiner Straße auf der anderen Seite des Platzes und sah nach links und rechts,ob Autos kamen, so weit vorgebeugt, dass man glauben konnte, er würde gleichvornüberfallen. Bevor er auf die Straße trat, wedelte er mit der Hand undschnippte zweimal mit den Fingern. Ich kannte diese Geste. Manchmal machte ersie zu mir hin, als wollte er sagen: »Komm schon, komm schon«, dazu das Fingerschnippen:»He, wach auf.« Hinter ihm kam Nasser, Babas Büroangestellter. Er trug eine kleine, schwarzglänzende Schreibmaschine unter dem Arm und bemühte sich, mit Baba Schritt zu halten. Baba warbereits auf der Straße und kam in meine Richtung. Einen Moment lang fragte ichmich, ob er Nasser zu Septimius Severus brachte, umihm all die Dinge zu erzählen, die er mir über den römischen Kaiser, Leptis Magna und Rom beigebracht hatte. Bababetrachtete Nasser wie einen jüngeren Bruder, das sagte er immer wieder.
»Baba?« flüsterte ich.
Zwei dunkle Gläser wölbten sich wieSchildkrötenbuckel vor seinen Augen. Himmel, Sonne und Meer waren von Gott inFarben getaucht, auf die wir zeigen und sagen konnten, das Meer ist türkis, dieSonne bananengelb, der Himmel blau. Sonnenbrillen sind schrecklich, dachteich, weil sie das alles verändern und ihre Träger so fern von uns halten. Erstvor wenigen Tagen hatte Baba uns zum Abschied geküsst.»Möge Gott dich sicher zu uns zurückbringen«, hatte Mama gesagt, »und möge dieReise sich lohnen.« Ich küsste seine Hand so, wie eres mir beigebracht hat. Er beugte sich zu mir herab und flüsterte mir ins Ohr:»Pass auf deine Mutter auf, du bist jetzt der Herr im Haus«, und dabei grinsteer mich an, wie es Leute tun, die denken, sie hätten dir ein Komplimentgemacht. Aber jetzt sieh, sieh doch nur: Hier geht er, ich könnte ihn berühren,hier, wo wir zusammensein sollten. Mein Herz schlugschneller. Er kam näher. Vielleicht meint er mich? dachte ich. Seine Augen warennicht zu erkennen.
Ich sah seinen so vertrauten Gang -den Kopf leicht angehoben, die sauber geputzten Lederschuhe, wie sie mit jedemSchritt vor ihm auf den Boden klackten - und hoffte, dass er meinen Namenrufen, winken, mit den Fingern schnippen würde. Ich schwöre, wenn er das getanhätte, wäre ich ihm in die Arme geflogen. Als er ganz nah war, so nah, dass ichden Arm hätte ausstrecken können, um ihn zu berühren, hielt ich den Atem an,und meine Ohren füllten sich mit Stille. Ich betrachtete seinen ernstenGesichtsausdruck - einen Ausdruck, den ich bewunderte und fürchtete -, bekametwas vom Geruch seines Eau de Cologne in die Nase und fühlte, wie sich dieLuft um ihn bauschte, als er vorüberging. Nasser folgte ihm auf dem Fuß, dieschwarz glänzende Schreibmaschine unter dem Arm. Ich wünschte, ich wäre anseiner Stelle und folgte Baba wie ein Schatten. Siegingen in eines der Gebäude mit Blick auf den Platz. Es war weiß und hattegrüne Fensterläden. Grün war die Farbe der Revolution, aber man sah seltengrüne Fensterläden.
»Habe ich nicht gesagt, du sollstbeim Standbild warten?« hörte ich Mama hinter mirsagen. Ich drehte mich um und sah, dass ich SeptimiusSeverus weit hinter mir gelassen hatte.
Mir war schlecht, und ich hatteAngst, etwas falsch gemacht zu haben. Baba war nichtauf Geschäftsreise, sondern hier in Tripolis, wo wir zusammenseinsollten. Ich hätte den Arm ausstrecken und ihn aufhalten können. Warum hatteich es nicht getan?
Ich saß im Auto, während sie dieEinkäufe einlud, und hielt
immer noch die Sesamstangen fest.Ich sah zu dem Haus auf, in das Baba und Nassergegangen waren. Ein Fenster im obersten Stock erzitterte und öffnete sich. Baba erschien darin. Er blickte auf den Platz hinaus, ohneSonnenbrille jetzt, und stützte sich mit den Händen auf die Fensterbank, wieein Führer, der darauf wartete, dass das Klatschen und die Sprechchöre aufhörten.Er hängte ein kleines rotes Handtuch an die Wäscheleine und verschwand imInneren des Hauses.
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© Verlag Luchterhand
Übersetzung: Werner Löcher-Lawrence
- Autor: Hisham Matar
- 2007, 1, 254 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Löcher-Lawrence, Werner
- Verlag: Viking
- ISBN-10: 3630872441
- ISBN-13: 9783630872445
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