In den Abgrund / Magierdämmerung Bd.3
Roman. Originalausgabe
England 1897. Der Kampf um die Wahre Quelle der Magie spitzt sich zu. Jonathan Kentham und Kendra, der Enkelin des "Wächters" Giles McKellen, ist es gelungen, ein Artefakt zu schaffen, mit dem das Siegel von Atlantis wieder geschlossen werden kann. Jupiter...
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Produktinformationen zu „In den Abgrund / Magierdämmerung Bd.3 “
Klappentext zu „In den Abgrund / Magierdämmerung Bd.3 “
England 1897. Der Kampf um die Wahre Quelle der Magie spitzt sich zu. Jonathan Kentham und Kendra, der Enkelin des "Wächters" Giles McKellen, ist es gelungen, ein Artefakt zu schaffen, mit dem das Siegel von Atlantis wieder geschlossen werden kann. Jupiter Holmes und Randolph Brown stehen derweil vor einer unsicheren Allianz mit der magischen Inquisition des Vatikan. Doch auch der Usurpator Wellington war nicht untätig. Er hat die Quelle der Magie unter seine Kontrolle gebracht, und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er über eine Waffe verfügt, die mächtiger ist als alles, was die Welt bis dahin gesehen hat ...
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Magierdämmerung - In den Abgrund von Bernd PerpliesKAPITEL 27: UNSICHERE ALLIANZEN
24. April 1897, 13: 02 Uhr GMT
Atlantik, etwa 450 Seemeilen südwestlich von England
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Über dem Atlantik lag ein freundlicher Aprilnachmittag. Kaum ein Lüftchen regte sich, und das Meer funkelte im Schein der strahlenden Sonne. Im Salon des Luftschiffes Gladius Dei herrschte ein deutlich kühleres Klima, und das hatte nichts mit der tatsächlichen Raumtemperatur zu tun. Lionida Diodato stand an der Fensterfront des Raums und hatte die Hände vor dem Körper gefaltet. Ihr Blick, der durch die gelb getönten Gläser ihrer Brille fiel, ruhte auf der Gruppe Männer, die sich in der Mitte des Salons mit grimmigen Mienen gegenüberstanden.
Auf der einen Seite war da Hauptmann Friedrich Wilhelm von Stein, der Kommandant der Gladius Dei. Die blaue Uniform mit dem roten Kragen und den goldenen Knöpfen wirkte so steif, als würde sie auch ohne den Mann, der in ihr steckte, aufrecht stehen. Von Steins Rechte lag auf dem Knauf seines Offizierssäbels, mit der Linken zwirbelte er seinen prachtvollen Schnauzbart. Flankiert wurde er von zwei deutschen Soldaten, deren Hände in der Nähe ihrer Revolver schwebten, wenngleich sie sie noch nicht gezogen hatten. Ein Stück hinter ihnen stand Emilio Scarcatore, Lionidas Begleiter. Der Wissenschaftler zwinkerte nervös.
Den Männern gegenüber befand sich ein höchst ungewöhnliches Trio: ein kultiviert, wenn auch heruntergekommen wirkender Gentleman in braunem Tweed, der einen schmutzigen Invernessmantel übergeworfen hatte, ein grimmig dreinschauender Bursche in einem langen Kutschermantel und mit Schiebermütze auf dem Kopf, dessen behaarte Unterschenkel in klobigen Hufen endeten, sowie eine kleine, silbergrau getigerte Katze, deren durchscheinender, schimmernder Körper etwas eindeutig Geisterhaftes an sich hatte.
Während die Männer von Stein wachsam anstarrten, saß die Katze seelenruhig auf dem Boden des Salons und sah sich um. Man konnte das Gefühl bekommen, das ganze Geschehen kümmere sie überhaupt nicht. Doch als der Blick ihrer grünen Augen Lionida beiläufig streifte, spürte die Magieragentin, wie sich ihre Nackenhärchen aufstellten. Dieses Tier wusste durchaus, was um es herum vorging, und beobachtete sie alle sehr genau!
»Meine Herren, ich denke, Sie schulden uns eine Erklärung dafür, warum Sie hier draußen mitten auf dem Meer in einem Ruderboot treiben«, beendete der deutsche Offizier das angespannte Schweigen. Er sprach Englisch, denn ihre Gäste stammten - zumindest ihrer Kleidung nach - von den Britischen Inseln. Sein Akzent allerdings war ebenso wenig zu überhören wie der befehlende Unterton in seiner Stimme. Vielleicht hätte ich das Gespräch führen sollen, dachte Lionida. Diplomatie scheint nicht von Steins Stärke zu sein. Andererseits blieb ihr immer noch die Möglichkeit, als beschwichtigendes Element einzugreifen, sollte sich die Lage weiter verschärfen.
Der satyrartige Mann im Kutschermantel runzelte die Stirn. »Warum erklären Sie uns nicht erst mal, was Sie hier draußen mit diesem Ungetüm von einem Flugapparat treiben?«, knurrte er feindselig.
Von Stein holte scharf Luft und drückte die Brust heraus. »Sie könnten ein wenig mehr Dankbarkeit zeigen. Wären wir nicht gewesen, wären Sie so weit draußen auf dem Ozean sicher verdurstet!«
Es schien, als wolle der Satyr eine weitere grimmige Antwort geben, doch sein Begleiter legte ihm eine Hand auf die Schulter. »So sehr es mich schmerzt, es zugeben zu müssen, aber ganz unrecht hat er nicht, Randolph. Lassen Sie mich mal.« Der Träger des Invernessmantels setzte ein Lächeln auf, das ein wenig so aussah, als habe er in eine Zitrone gebissen. Dann wandte er sich Lionida zu, entweder aus Höflichkeit oder weil er den Verdacht hegte, dass der bellende Deutsche nur der Kampfhund an der Leine irgendeiner Kraft im Hintergrund war. »Mein Name ist Moriarty, Arthur Moriarty, freischaffender Magier und Helfer in allen Lebenslagen«, stellte er sich vor und deutete eine Verbeugung an. »Ich würde Ihnen meine Karte reichen, aber ich fürchte, ich habe im Augenblick keine bei mir. Und Sie sind ...?« Er blickte Lionida erwartungsvoll an. Also schön, dachte sie. Er hat einen Teil seines Blattes gezeigt, erweisen wir ihm den gleichen Gefallen. »Ich bin Francesca Buitoni und ...« Sie verspürte ein kaum merkliches Zupfen in ihrem Geist. Ihre Miene blieb freundlich, aber ihr Tonfall wurde etwas kühler. »... ich rate Ihnen, aus meinem Kopf zu verschwinden, wenn Sie nicht möchten, dass ich Sie und Ihre Begleiter aus der Ausstiegsluke der Gladius Dei werfen lasse.«
»Ich bitte um Vergebung.« Moriarty senkte leicht den Kopf. Er machte einen angemessen schuldbewussten Eindruck, aber Lionida war das kurze Aufblitzen in seinen Augen nicht entgangen. Es war ein Test, durchfuhr es sie. Er wollte wissen, ob ich sein Eindringen bemerke, um meine Kräfte besser einschätzen zu können. Dieser Mister Moriarty ist ein schlauer Fuchs. Innerlich lächelte sie. Diese Begegnung versprach noch interessant zu werden. »Sie sind also ein Magier«, drängte sich von Stein wieder ins Gespräch zurück. Dem Hauptmann gefiel es offensichtlich gar nicht, derart übergangen zu werden. »Das sagte ich schon«, bestätigte Moriarty. »Da dieser Flugapparat von Ihnen umfangreiche - und ich möchte hinzufügen: höchst staunenswerte - Fadenmanipulationen aufweist, hielt ich es für unbedenklich, diesbezüglich offen zu Ihnen zu sein.« »Und was ist mit Ihren Begleitern?« Moriarty neigte den Kopf. »Wenn ich vorstellen darf: Moran, meine Katze, und Mister Brown, der, ganz ungeachtet seines Äußeren, nicht mit irgendwelchen griechischen Naturgeistern verwechselt werden möchte. Ein bedauerlicher magischer Unfall sorgte für sein etwas ungewöhnliches Erscheinungsbild - doch im Herzen ist er durch und durch ein Londoner Mann von der Straße.«
»Erzählen Sie denen doch gleich meine ganze Lebensgeschich te«, knurrte sein Begleiter.
»Wir wollen mal nichts überstürzen«, erwiderte Moriarty, der offenbar immer das letzte Wort haben musste. »Noch wissen wir nicht, ob diese Gentlemen Freund oder Feind sind.«
Lionida entging nicht, dass er sie in diese Frage nicht mit einbezog. Da sie nicht annahm, dass er sie beleidigen wollte, indem er sie einem Mann gleichsetzte, hatte er sich allem Anschein nach sein Urteil über sie bereits gebildet.
»Bevor wir uns dieser Frage widmen, sollten wir vielleicht zumindest der Höflichkeit Genüge tun und die Vorstellungsrunde beenden«, sagte Lionida. »Hauptmann von Stein kennen Sie bereits. Und dies hier ist Signore Emilio Scarcatore. Er begleitet mich auf dieser Reise.« Sie deutete auf den Wissenschaftler des Officium contra Magiae, der daraufhin grüßend nickte. Morans Nackenhaare sträubten sich, und der Schwanz der geisterhaften Katze peitschte unruhig hin und her. Moriartys Augen verengten sich leicht, als er Scarcatores Nicken erwiderte. Sie spüren, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmt, erkannte Lionida. Normalerweise gab sich ihr Begleiter große Mühe zu verheimlichen, dass er ein Deflector war. Doch ganz war es ihm offenbar nicht gelungen, seine besondere Beziehung zur Magie vor dem prüfenden Auge von Moriarty und Moran zu verbergen. Ihnen entgeht nicht viel, Mister Moriarty, nicht wahr? Aber meine Geheimnisse werde ich schon zu hüten wissen. »Um zu Ihrer Frage zurückzukehren, ob wir Ihre Freunde oder Feinde sind ...« Die Magieragentin vollführte eine vage Geste mit der rechten Hand, um die Aufmerksamkeit ihrer Gäste abzulenken, während sie, in der Absicht, selbst ein wenig zu spionieren, in die Wahrsicht überwechselte. »Das hängt nicht unwesentlich davon ab, in wessen Diensten Sie stehen und welche Pläne Sie hier draußen verfolgen.«
Wie ein Vorhang glitt die Wirklichkeit beiseite und enthüllte das gelblich glitzernde Fadenchaos, das dahinter vor den Blicken normaler Menschen verborgen lag. Funkelnd zogen sich die Fäden kreuz und quer durch den Salon des Luftschiffs, wobei sie die anwesenden Personen in ein dichtes Geflecht aus Verbindungen hüllten. Lionida richtete ihre Aufmerksamkeit auf Moriarty. Es überraschte sie kaum, dass dessen Fadenaura von geradezu nichtssagenden Willkürbewegungen geprägt war. Der Magier schützte sich vor einer Überprüfung in der Wahrsicht. Sie würde sich also bei der Frage, ob er sie belog oder die Wahrheit sprach, auf ihr Gefühl verlassen müssen. Moriarty räusperte sich. »In wessen Diensten wir stehen, lässt sich dieser Tage nicht mehr so leicht beantworten wie früher. Einst gehörte ich dem Orden des Silbernen Kreises an, doch das ist schon seit einiger Zeit nicht mehr der Fall. Darüber hinaus besteht auch der Orden nicht mehr in der Art, wie man ihn kannte.«
Die Nennung des britischen Magierzirkels ließ Lionida aufhorchen. In ihrem Kopf begannen Mosaiksteinchen an ihren Platz zu fallen und ein Bild zu ergeben. Seit gestern Abend sind wir auf dem Weg zu den Koordinaten, wo sich laut Emma die Wahre Quelle der Magie befinden soll. Dabei folgen wir in etwa der Route, die auch der Wahnsinnige Wellington mit seinem zum Leben erwachten Tauchboot genommen haben dürfte. Nun fischen wir zwei Magier aus dem Meer, die dem Order of the Silver Circle angehören - oder angehört haben. Könnte es sich um entflohene Gefangene handeln? Dass es zum Kampf zwischen den Anhängern des Ersten Lordmagiers Albert Dunholm und den Getreuen von Victor Mordred Wellington kam, wissen wir ja mittlerweile. Wenn dem so wäre, hätten wir wohl einen gemeinsamen Widersacher. Lionida beschloss, dieser Frage auf den Grund zu gehen und sich dafür etwas weiter aus dem Fenster zu lehnen. Sie riskierte nichts, indem sie gewisse Dinge preisgab. Sollten sich die beiden Männer und die Katze als Feinde herausstellen, konnte man sich ihrer immer noch entledigen. Scarcatore würde dabei sicher höchst nützlich sein. Sie trat einen Schritt näher und neigte leicht den Kopf. »Lassen Sie uns dieses Gespräch abkürzen, Mister Moriarty. Wir wissen, dass es zu einer Spaltung des Ordens kam. Uns ist weiterhin bekannt, dass Lordmagier Wellington die Kontrolle an sich gerissen hat. Darüber hinaus ist es ihm gelungen, eine Magiequelle von gefährlicher Stärke aus dem Meer zu heben. Man nennt sie die Wahre Quelle der Magie. Sagt Ihnen das etwas?« Moriarty und Brown wechselten einen raschen Blick. An Moriartys Aura war nichts abzulesen, aber sein Begleiter strahlte eindeutig Besorgnis aus. Lionida verspürte einen Anflug von Triumph. Du magst stark in der Magie sein, mein grobschlächtiger Freund - vielleicht sogar stärker als ich. Aber es fehlt dir an Selbstbeherrschung. Moriarty mag mich täuschen können, aber du nicht. Dieser Umstand ließ sich später möglicherweise noch ausnutzen. »Die Signora hat Sie etwas gefragt«, schnarrte von Stein, als sich das Schweigen der aus dem Meer gefischten Männer in die Länge zog. Moriarty würdigte den deutschen Offizier keines Blickes, sondern wandte sich weiterhin direkt an Lionida: »Nun, da Sie so offen zu uns sind, möchte ich nicht weniger offen zu Ihnen sein. Es drängt sich mir der Verdacht auf, dass uns mit Wellington ein Mann gegenübersteht, den wir beide entmachtet sehen wollen. Sie haben recht mit allem, was Sie sagten: Es gab einen Umsturz innerhalb des Ordens. Die Anhänger des früheren Ersten Lordmagiers Albert Dunholm wurden von Wellingtons Bewegung des Neuen Morgen getötet oder gefangen genommen. Wir gehörten zu diesen Gefangenen, die - so nehme ich angesichts unseres gegenwärtigen Aufenthaltsortes an - zur Wahren Quelle gebracht werden sollten. Uns gelang die Flucht, die zugegebenermaßen hier draußen ein unrühmliches Ende gefunden hätte, wenn Sie nicht aufgetaucht wären. Dafür bin ich Ihnen dankbar, ganz gleich, welchen Zwist wir noch haben mögen.« Ein dünnes Lächeln umspielte Lionidas Mundwinkel. »Von mir aus müssen wir gar keinen Zwist haben, Mister Moriarty. Wenn Sie vernünftig sind, werden Sie uns als angenehme Gastgeber kennenlernen, nicht wahr, Hauptmann von Stein?« Sie blickte den Kapitän der Gladius Dei aufmunternd an. Dieser nickte etwas gezwungen. »Wenn Sie es sagen, Signora.« Lionida richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Moriarty. »Also, was können Sie uns über die Wahre Quelle sagen?« »So gut wie nichts«, gestand der Magier mit einem Schulterzucken. »Magiegeschichte war nie mein bevorzugtes Fach in der Zauberschule.« Er schenkte ihr ein süffisantes Grinsen. Von Steins Augenbrauen zogen sich zusammen, und er räusperte sich warnend. Das Grinsen auf Moriartys Lippen verschwand. »Sie haben recht. Jetzt ist nicht der Zeitpunkt zum Scherzen. Was - ganz nebenbei bemerkt - in mir die Frage aufwirft, ob es für Sie Deutsche jemals einen richtigen Zeitpunkt zum Scherzen gibt.« Er hob eine Hand, bevor der Offizier darauf etwas erwidern konnte. »Ich weiß, ich weiß, ich schweife erneut ab. Der Wahren Quelle der Magie galt Ihr Interesse. Nun, man sagt, die Quelle sei vor Tausenden von Jahren versiegelt und im Ozean versenkt worden, um das Zeitalter, in welchem die Magie über die Erde herrschte, zu beenden. Der Absicht jener Altvorderen zufolge, die dafür verantwortlich waren, sollte die Quelle auf ewig verschlossen in der Tiefe des Meeres ruhen. Mir scheint allerdings, dass ihre Sicherungsmaßnahmen diesbezüglich alles andere als hinreichend waren. Schließlich ist es dem selbsternannten Ersten Lordmagier Wellington ohne übertriebene Mühe gelungen, den Standort der Quelle auszumachen, das Siegel zu brechen und sie einmal mehr aus den Fluten auftauchen zu lassen. Ob das nun einem erfreulichen oder einem grauenvollen Ereignis gleichkommt, daran scheiden sich die Geister.« Moriarty hob fragend eine Augenbraue. »Dürfte ich erfahren, welche Absichten Sie in Bezug auf die Quelle hegen? Sie nannten ihre Stärke ›gefährlich‹. Das weckt gewisse Hoffnungen in mir.«
»Unsere Absichten haben Sie nicht zu kümmern«, informierte von Stein den Briten, wie Lionida es erwartet hatte. Das Ironische daran war, dass der Deutsche höchstwahrscheinlich auch nicht wusste, was seine Passagiere von der Magieabwehr des Vatikans vorhatten. Himmel, ich weiß ja selbst nicht, wie der Plan genau aussieht. Castafiori war diesbezüglich alles andere als mitteilsam, dachte die Magieragentin. »Sie erfahren, was zu tun ist, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist«, hatte der Leiter des O. C. M. gesagt. Sehr hilfreich ...Wenn sie so darüber nachdachte, ließ dieser Satz eigentlich nur zwei Schlüsse zu: Entweder hatte Castafiori versiegelte Befehle an Bord deponieren lassen, oder Scarcatore mit seinem geheimnisvollen Koffer, den er immer mit sich herumtrug, wusste mehr, als er bislang preisgegeben hatte. Dieser Frage würde sie sich demnächst ebenfalls widmen müssen. Einstweilen widerstand sie der Versuchung, dem Gelehrten einen forschenden Blick zuzuwerfen. Stattdessen setzte sie eine versöhnliche Miene auf. »Mein lieber Mister Moriarty, ich möchte es ein wenig anders ausdrücken als der gute Hauptmann von Stein. Unsere Pläne werden wir Ihnen gegenwärtig sicher nicht enthüllen. Unsere Absichten hingegen sind den Ihren sehr ähnlich. Wir wollen wie Sie, dass Lordmagier Wellington und die Wahre Quelle nicht noch mehr Schaden anrichten als bereits geschehen. Das macht uns vielleicht nicht zu Freunden, aber zumindest zu Verbündeten in dieser Sache.« Moriarty neigte in einer Geste der Zustimmung den Kopf. »Mehr wäre wohl zu viel verlangt, aber es ist eine Grundlage - eine Grundlage, auf der sich hoffentlich aufbauen lässt.«
Etwas in seinem Tonfall ließ Lionida überrascht aufmerken. Versuchte der Brite etwa, mit ihr zu flirten? Sie ließ die Wahrsicht fallen, um sich Moriarty noch einmal etwas genauer anzuschauen. An der Oberfläche wirkte er wie der typische Dandy, wenn auch gegenwärtig wie ein ziemlich heruntergekommener Dandy. Aber da war noch mehr ... Sie ließ ein hintergründiges Lächeln ihre Lippen kräuseln, während sie auf ihn zutrat. Das Spiel zwischen Mann und Frau beherrschte sie genauso gut. »Wir werden sehen«, verkündete sie mit samtiger Stimme, während sie ihm über den schmalen Rand ihrer Brillengläser in die Augen blickte. Es waren Augen, die viel gesehen hatten. Dieser Mann war mehr als nur ein vergnügungssüchtiger Gentleman mit gewissem magischem Talent. Es mochte in der Tat lohnenswert sein, sich eingehender mit ihm zu beschäftigen. Eine nette Abwechslung, nachdem es hier an Bord sonst keine Herausforderungen dieser Art gibt, dachte sie.
»Das heißt, wir dürfen uns einstweilen als Ihre Gäste betrachten?«, fragte Holmes.
Lionida nickte, dann schaute sie zu von Stein hinüber. »Mit Ihrem Einverständnis, Hauptmann.«
Der deutsche Offizier legte die Arme auf den Rücken. »Wir werden Ihnen ein Quartier zuweisen. Sie werden sich entweder dort oder hier im Salon aufhalten, wo Sie die Mahlzeiten einnehmen dürfen. Die anderen Teile des Luftschiffs sind Ihnen verboten. Erwischt einer meiner Männer Sie beim Herumschnüffeln, lasse ich Sie in Ketten legen, das verspreche ich Ihnen. Das gilt auch für Ihr Haustier.« »Keine Sorge«, meldete sich Brown zu Wort. »Ihr teures Luftschiff interessiert uns nicht im Geringsten.« »Schön«, sagte Lionida. »Dann werden die Männer Sie jetzt zu Ihrem Quartier geleiten. Machen Sie sich frisch und ruhen Sie sich aus. Abendessen gibt es, wenn ich nicht irre, gegen sieben Uhr.« Zur Versicherung warf sie einen Blick zu von Stein, der ihr bestätigend zunickte.
»Äh, ich möchte nicht aufdringlich wirken, aber wäre es möglich, schon früher einen kleinen Happen zu bekommen?«, wandte Moriarty ein. »Wir mussten geraume Zeit auf den Genuss von Essen und einem guten Schluck verzichten.« »Der Koch wird Ihnen etwas bringen«, brummte von Stein.
Der britische Magier deutete eine Verbeugung an. »Verbindlichsten Dank. Komm, Moran. Brown.« Flankiert von zwei der Soldaten verließen die beiden Männer und die Geisterkatze den Raum.
»Sie sind dieser Miss Buitoni ja ganz schön um den Rock gestrichen, Holmes«, stellte Randolph fest, nachdem sich die Tür zu ihrer kleinen, spartanisch eingerichteten Kabine geschlossen hatte. »Dieser gesteifte deutsche Hauptmann würde das sicher Verbrüderung mit dem Feind nennen.«
Er hat mich Haustier genannt, beschwerte sich Watson. »Sieh es ihm nach«, sagte Holmes. »Er ist ein Deutscher. Was wissen die schon? Und Sie, Brown, seien Sie nicht albern. Ich habe lediglich versucht, eine missliche Lage für uns so angenehm wie möglich zu gestalten.« Er zog seine Jacke aus und hängte sie über die Lehne einer der zwei schlichten Stühle, die zusammen mit einem Stockbett, einem Tisch und einer Waschnische die ganze Einrichtung darstellten. Randolph schnaubte. »Sie hingen an ihren Lippen! Diese Italienerin hätte auf sonstwelche Gedanken kommen können.« »Das hoffe ich doch sehr, denn nur deshalb habe ich mich so verhalten«, sagte Holmes mit einem selbstzufriedenen Grinsen. »Ich wollte sie von dem ablenken, was wirklich geschah.«
»Was meinen Sie damit?« Holmes setzte sich auf das schmale untere Bett und klopfte auf seine Oberschenkel. »Na, komm her, Watson. Was weißt du zu berichten?«
Die Geisterkatze spazierte gemessenen Schrittes auf ihn zu, sprang dann mit einem Satz auf die Bettdecke und von dort auf Holmes' Schoß. »Augenblick mal ... Watson?« Randolph hob verwirrt die Augenbrauen. »In der Tat«, bestätigte Holmes und strich mit einer Hand behutsam an der Stelle durch die Luft, wo sich das entstofflichte Rückenfell seiner durchscheinenden Gefährtin befand. »Ich habe sie in Francescas Kopf etwas herumspionieren lassen. Sie heißt übrigens gar nicht Francesca Buitoni, sondern Lionida Diodato. Was für ein hübscher Name. Ich finde, er passt zu ihr, meinen Sie nicht auch?« Randolph ging nicht auf die Frage ein. »Das heißt, Ihr eigener telepathischer Angriff war nur eine Finte?«, wollte er stattdessen wissen. »Sehr gut erkannt, mein lieber Brown. Mein plumpes Anklopfen an die Pforten ihres Geistes sollte nur vertuschen, dass Watson gleichzeitig durch das metaphorische Fenster hineinschlüpfte. Ich nahm an, dass sie einer Katze nicht viel Aufmerksamkeit schenken würde, wenn ich sie stattdessen vollkommen in Beschlag nehmen würde. Offensichtlich lag ich damit nicht ganz falsch.« Er warf der Katze einen milde tadelnden Blick zu. »Auch wenn du durch deine allzu deutliche Abneigung gegenüber diesem Scarcatore beinahe alles ruiniert hättest«, sagte er und klopfte Watson leicht auf den Rücken. Er ist ein gefährlicher Mann, meldete sich die Geisterkatze zu Wort. Randolph sah, dass sich ihre Krallen bei den Worten in den Stoff von Holmes' Hose gruben und ihr Schwanz zweimal nervös zuckte. Die Magie selbst scheint ihn zu fürchten, denn dort, wo sogar bei gewöhnlichen Menschen ein leichter Glanz ist, herrscht bei ihm nur Dunkelheit. Halte ihn von mir fern. Er ist widernatürlich. Der letzte Satz klang ein wenig komisch, ausgesprochen von einer Katze, durch deren Körper man hindurchschauen konnte wie durch eine Luftspiegelung, aber Watson erweckte nicht den Eindruck, als sei sie zum Scherzen aufgelegt.
»Keine Angst, meine Liebe«, sagte Holmes. »Dieser Knabe wird dir keinen Ärger bereiten. Dafür sorge ich schon. Und wenn ich zum beliebten Allheilmittel unseres guten Mister Brown greifen muss.«
Randolph ballte die rechte Hand zur Faust und hob sie mit grimmigem Grinsen in die Höhe. »Hilft auch bei Magiern.« »Was hast du noch herausgefunden, Watson?«, fragte Holmes. Nicht viel. Die Gedanken der Frau konnte ich nicht verstehen. Holmes verzog das Gesicht. »Natürlich. Sie wird auf Italienisch gedacht haben. Wie dumm von mir. Ich hätte es verstanden ...« Allerdings fand ich einige Bilder in ihrem Kopf. Sie kommt aus einer riesigen Stadt mit vielen Kirchen und Tempeln. In der Mitte fließt ein Fluss. Und sie dient einem grauhaarigen Mann, der wie ein Priester aussieht. Sie reiste mit einer Kutsche in die Berge. Dort war das Flugschiff versteckt. Ich glaube, sie ist die Anführerin hier, auch wenn der Mann mit dem Schnauzbart sich so wichtig gibt. »Ja, in dieser Annahme stimme ich mit dir überein.« Holmes nickte bedächtig. Er warf Randolph einen Blick zu. »Vielleicht haben wir uns geirrt.« »Wie meinen Sie das?« »Das Flugschiff gehört gar nicht den Deutschen. Die Kreuze auf dem Rumpf hielt ich zuerst für Zeichen des Kaiserreichs. Aber schon der Name hätte mich stutzig machen sollen: Gladius Dei - das Schwert Gottes. Ich habe vielmehr das Gefühl, dass wir der vatikanischen Magieabwehr in die Hände gefallen sind.« »Na großartig«, brummte Randolph. »Diese Hexenjäger mag ich ja besonders.« »Nun, zumindest können wir davon ausgehen, dass der Papst nicht die Absicht hat, die Quelle für sich zu beanspruchen. Bei den Deutschen wäre das sicher anders gewesen. Ich glaube, dass dieses Schiff und seine Besatzung geschickt wurden, um die Wahre Quelle zu zerstören - wie auch immer sie das anstellen wollen.« »Das heißt, diese Buitoni, die eigentlich Diodato heißt, hat zumindest in dem Punkt die Wahrheit gesagt: Wir ziehen am gleichen Strang.«
»Ja, so sieht es wohl aus.« Randolph kam eine Angelegenheit in den Sinn, die schon eine Weile unterschwellig an ihm genagt hatte. »Sollen wir ihr von der Sache erzählen, die wir an Bord der Nautilus gesehen haben?« Holmes schüttelte den Kopf. »Lernen wir unsere neuen Verbündeten erst einmal beim Abendessen ein bisschen besser kennen. Danach können wir sie immer noch warnen.« Ein Lächeln trat auf die Züge des Magiers. »Wenn ich es so bedenke, ist das Ganze doch eigentlich eine recht erfreuliche Entwicklung. Hätten wir die Franzosen überreden wollen, mit uns in den Kampf zu ziehen, hätten wir nicht nur viel Zeit verloren, sondern womöglich auch noch teuer dafür bezahlt. Nun bekommen wir die vielleicht stärksten Verbündeten, die man in Europa finden kann, praktisch frei Haus geliefert.« »Wenn man davon absieht, dass es sich um religiöse Fanatiker handelt«, merkte Randolph an. Er musste zugeben, dass ihre Lage im Moment deutlich besser aussah als noch vor zwei Stunden. Aber deswegen würde er keinesfalls die Hufe hochlegen und sich entspannen. Der Magieabwehr war nicht zu trauen. »Am Ende bekämpfen sie nicht nur die Quelle, sondern nutzen die Gunst des Augenblicks, um sich auch noch zweier britischer Magier zu entledigen und eine Katze zu exorzieren, die die Ordnung von Leben und Tod stört.« Watson fauchte leise. Dann sollten wir uns davor schützen. »Und wie genau?«, wollte Randolph wissen. Indem wir von diesem Flugschiff fliehen oder uns zu unschätzbaren Verbündeten machen. Der Kutscher lachte kurz auf. »Fliehen steht wohl außer Frage hier draußen auf dem Meer. Womit wir beim Verbünden wären, und damit hat Holmes ja schon nachdrücklich begonnen.« Er warf dem Magier einen spöttischen Blick zu. »Vielleicht sollten Sie diesen Kurs weiterverfolgen, so fragwürdig ich ihn auch finde. Es mag uns die Haut retten, wenn diese Diodato Ihrem unvergleichlichen Charme erliegt.« »Ich werde mein Bestes geben«, versprach Holmes. Lionidas Lippen verzogen sich zu einem süffisanten Lächeln. »Nun, Mister Holmes, darauf freue ich mich schon.« Sie reichte von Stein den trompetenförmigen Hörer zurück. »Ich danke Ihnen. Ich glaube nicht, dass wir im Moment noch auf weitere erhellende Dinge hoffen dürfen, aber hören Sie die drei ruhig weiter ab, wenn Sie möchten.« »Das werden wir, Signora.« Von Stein winkte einem der Luftschiffer, die sich mit ihnen auf der Brücke befanden. »Übernehmen Sie.« »Jawohl, Herr Hauptmann«, bestätigte der Mann auf Deutsch. Während sich der Soldat an die Apparatur setzte, traten Lionida, von Stein und Scarcatore an den nahen Kartentisch. »Gibt es eigentlich in jeder Kabine solch eine Abhörvorrichtung?«, fragte der Wissenschaftler. Auf seiner Miene lag ein gelindes Unbehagen.
© 2011 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.
Über dem Atlantik lag ein freundlicher Aprilnachmittag. Kaum ein Lüftchen regte sich, und das Meer funkelte im Schein der strahlenden Sonne. Im Salon des Luftschiffes Gladius Dei herrschte ein deutlich kühleres Klima, und das hatte nichts mit der tatsächlichen Raumtemperatur zu tun. Lionida Diodato stand an der Fensterfront des Raums und hatte die Hände vor dem Körper gefaltet. Ihr Blick, der durch die gelb getönten Gläser ihrer Brille fiel, ruhte auf der Gruppe Männer, die sich in der Mitte des Salons mit grimmigen Mienen gegenüberstanden.
Auf der einen Seite war da Hauptmann Friedrich Wilhelm von Stein, der Kommandant der Gladius Dei. Die blaue Uniform mit dem roten Kragen und den goldenen Knöpfen wirkte so steif, als würde sie auch ohne den Mann, der in ihr steckte, aufrecht stehen. Von Steins Rechte lag auf dem Knauf seines Offizierssäbels, mit der Linken zwirbelte er seinen prachtvollen Schnauzbart. Flankiert wurde er von zwei deutschen Soldaten, deren Hände in der Nähe ihrer Revolver schwebten, wenngleich sie sie noch nicht gezogen hatten. Ein Stück hinter ihnen stand Emilio Scarcatore, Lionidas Begleiter. Der Wissenschaftler zwinkerte nervös.
Den Männern gegenüber befand sich ein höchst ungewöhnliches Trio: ein kultiviert, wenn auch heruntergekommen wirkender Gentleman in braunem Tweed, der einen schmutzigen Invernessmantel übergeworfen hatte, ein grimmig dreinschauender Bursche in einem langen Kutschermantel und mit Schiebermütze auf dem Kopf, dessen behaarte Unterschenkel in klobigen Hufen endeten, sowie eine kleine, silbergrau getigerte Katze, deren durchscheinender, schimmernder Körper etwas eindeutig Geisterhaftes an sich hatte.
Während die Männer von Stein wachsam anstarrten, saß die Katze seelenruhig auf dem Boden des Salons und sah sich um. Man konnte das Gefühl bekommen, das ganze Geschehen kümmere sie überhaupt nicht. Doch als der Blick ihrer grünen Augen Lionida beiläufig streifte, spürte die Magieragentin, wie sich ihre Nackenhärchen aufstellten. Dieses Tier wusste durchaus, was um es herum vorging, und beobachtete sie alle sehr genau!
»Meine Herren, ich denke, Sie schulden uns eine Erklärung dafür, warum Sie hier draußen mitten auf dem Meer in einem Ruderboot treiben«, beendete der deutsche Offizier das angespannte Schweigen. Er sprach Englisch, denn ihre Gäste stammten - zumindest ihrer Kleidung nach - von den Britischen Inseln. Sein Akzent allerdings war ebenso wenig zu überhören wie der befehlende Unterton in seiner Stimme. Vielleicht hätte ich das Gespräch führen sollen, dachte Lionida. Diplomatie scheint nicht von Steins Stärke zu sein. Andererseits blieb ihr immer noch die Möglichkeit, als beschwichtigendes Element einzugreifen, sollte sich die Lage weiter verschärfen.
Der satyrartige Mann im Kutschermantel runzelte die Stirn. »Warum erklären Sie uns nicht erst mal, was Sie hier draußen mit diesem Ungetüm von einem Flugapparat treiben?«, knurrte er feindselig.
Von Stein holte scharf Luft und drückte die Brust heraus. »Sie könnten ein wenig mehr Dankbarkeit zeigen. Wären wir nicht gewesen, wären Sie so weit draußen auf dem Ozean sicher verdurstet!«
Es schien, als wolle der Satyr eine weitere grimmige Antwort geben, doch sein Begleiter legte ihm eine Hand auf die Schulter. »So sehr es mich schmerzt, es zugeben zu müssen, aber ganz unrecht hat er nicht, Randolph. Lassen Sie mich mal.« Der Träger des Invernessmantels setzte ein Lächeln auf, das ein wenig so aussah, als habe er in eine Zitrone gebissen. Dann wandte er sich Lionida zu, entweder aus Höflichkeit oder weil er den Verdacht hegte, dass der bellende Deutsche nur der Kampfhund an der Leine irgendeiner Kraft im Hintergrund war. »Mein Name ist Moriarty, Arthur Moriarty, freischaffender Magier und Helfer in allen Lebenslagen«, stellte er sich vor und deutete eine Verbeugung an. »Ich würde Ihnen meine Karte reichen, aber ich fürchte, ich habe im Augenblick keine bei mir. Und Sie sind ...?« Er blickte Lionida erwartungsvoll an. Also schön, dachte sie. Er hat einen Teil seines Blattes gezeigt, erweisen wir ihm den gleichen Gefallen. »Ich bin Francesca Buitoni und ...« Sie verspürte ein kaum merkliches Zupfen in ihrem Geist. Ihre Miene blieb freundlich, aber ihr Tonfall wurde etwas kühler. »... ich rate Ihnen, aus meinem Kopf zu verschwinden, wenn Sie nicht möchten, dass ich Sie und Ihre Begleiter aus der Ausstiegsluke der Gladius Dei werfen lasse.«
»Ich bitte um Vergebung.« Moriarty senkte leicht den Kopf. Er machte einen angemessen schuldbewussten Eindruck, aber Lionida war das kurze Aufblitzen in seinen Augen nicht entgangen. Es war ein Test, durchfuhr es sie. Er wollte wissen, ob ich sein Eindringen bemerke, um meine Kräfte besser einschätzen zu können. Dieser Mister Moriarty ist ein schlauer Fuchs. Innerlich lächelte sie. Diese Begegnung versprach noch interessant zu werden. »Sie sind also ein Magier«, drängte sich von Stein wieder ins Gespräch zurück. Dem Hauptmann gefiel es offensichtlich gar nicht, derart übergangen zu werden. »Das sagte ich schon«, bestätigte Moriarty. »Da dieser Flugapparat von Ihnen umfangreiche - und ich möchte hinzufügen: höchst staunenswerte - Fadenmanipulationen aufweist, hielt ich es für unbedenklich, diesbezüglich offen zu Ihnen zu sein.« »Und was ist mit Ihren Begleitern?« Moriarty neigte den Kopf. »Wenn ich vorstellen darf: Moran, meine Katze, und Mister Brown, der, ganz ungeachtet seines Äußeren, nicht mit irgendwelchen griechischen Naturgeistern verwechselt werden möchte. Ein bedauerlicher magischer Unfall sorgte für sein etwas ungewöhnliches Erscheinungsbild - doch im Herzen ist er durch und durch ein Londoner Mann von der Straße.«
»Erzählen Sie denen doch gleich meine ganze Lebensgeschich te«, knurrte sein Begleiter.
»Wir wollen mal nichts überstürzen«, erwiderte Moriarty, der offenbar immer das letzte Wort haben musste. »Noch wissen wir nicht, ob diese Gentlemen Freund oder Feind sind.«
Lionida entging nicht, dass er sie in diese Frage nicht mit einbezog. Da sie nicht annahm, dass er sie beleidigen wollte, indem er sie einem Mann gleichsetzte, hatte er sich allem Anschein nach sein Urteil über sie bereits gebildet.
»Bevor wir uns dieser Frage widmen, sollten wir vielleicht zumindest der Höflichkeit Genüge tun und die Vorstellungsrunde beenden«, sagte Lionida. »Hauptmann von Stein kennen Sie bereits. Und dies hier ist Signore Emilio Scarcatore. Er begleitet mich auf dieser Reise.« Sie deutete auf den Wissenschaftler des Officium contra Magiae, der daraufhin grüßend nickte. Morans Nackenhaare sträubten sich, und der Schwanz der geisterhaften Katze peitschte unruhig hin und her. Moriartys Augen verengten sich leicht, als er Scarcatores Nicken erwiderte. Sie spüren, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmt, erkannte Lionida. Normalerweise gab sich ihr Begleiter große Mühe zu verheimlichen, dass er ein Deflector war. Doch ganz war es ihm offenbar nicht gelungen, seine besondere Beziehung zur Magie vor dem prüfenden Auge von Moriarty und Moran zu verbergen. Ihnen entgeht nicht viel, Mister Moriarty, nicht wahr? Aber meine Geheimnisse werde ich schon zu hüten wissen. »Um zu Ihrer Frage zurückzukehren, ob wir Ihre Freunde oder Feinde sind ...« Die Magieragentin vollführte eine vage Geste mit der rechten Hand, um die Aufmerksamkeit ihrer Gäste abzulenken, während sie, in der Absicht, selbst ein wenig zu spionieren, in die Wahrsicht überwechselte. »Das hängt nicht unwesentlich davon ab, in wessen Diensten Sie stehen und welche Pläne Sie hier draußen verfolgen.«
Wie ein Vorhang glitt die Wirklichkeit beiseite und enthüllte das gelblich glitzernde Fadenchaos, das dahinter vor den Blicken normaler Menschen verborgen lag. Funkelnd zogen sich die Fäden kreuz und quer durch den Salon des Luftschiffs, wobei sie die anwesenden Personen in ein dichtes Geflecht aus Verbindungen hüllten. Lionida richtete ihre Aufmerksamkeit auf Moriarty. Es überraschte sie kaum, dass dessen Fadenaura von geradezu nichtssagenden Willkürbewegungen geprägt war. Der Magier schützte sich vor einer Überprüfung in der Wahrsicht. Sie würde sich also bei der Frage, ob er sie belog oder die Wahrheit sprach, auf ihr Gefühl verlassen müssen. Moriarty räusperte sich. »In wessen Diensten wir stehen, lässt sich dieser Tage nicht mehr so leicht beantworten wie früher. Einst gehörte ich dem Orden des Silbernen Kreises an, doch das ist schon seit einiger Zeit nicht mehr der Fall. Darüber hinaus besteht auch der Orden nicht mehr in der Art, wie man ihn kannte.«
Die Nennung des britischen Magierzirkels ließ Lionida aufhorchen. In ihrem Kopf begannen Mosaiksteinchen an ihren Platz zu fallen und ein Bild zu ergeben. Seit gestern Abend sind wir auf dem Weg zu den Koordinaten, wo sich laut Emma die Wahre Quelle der Magie befinden soll. Dabei folgen wir in etwa der Route, die auch der Wahnsinnige Wellington mit seinem zum Leben erwachten Tauchboot genommen haben dürfte. Nun fischen wir zwei Magier aus dem Meer, die dem Order of the Silver Circle angehören - oder angehört haben. Könnte es sich um entflohene Gefangene handeln? Dass es zum Kampf zwischen den Anhängern des Ersten Lordmagiers Albert Dunholm und den Getreuen von Victor Mordred Wellington kam, wissen wir ja mittlerweile. Wenn dem so wäre, hätten wir wohl einen gemeinsamen Widersacher. Lionida beschloss, dieser Frage auf den Grund zu gehen und sich dafür etwas weiter aus dem Fenster zu lehnen. Sie riskierte nichts, indem sie gewisse Dinge preisgab. Sollten sich die beiden Männer und die Katze als Feinde herausstellen, konnte man sich ihrer immer noch entledigen. Scarcatore würde dabei sicher höchst nützlich sein. Sie trat einen Schritt näher und neigte leicht den Kopf. »Lassen Sie uns dieses Gespräch abkürzen, Mister Moriarty. Wir wissen, dass es zu einer Spaltung des Ordens kam. Uns ist weiterhin bekannt, dass Lordmagier Wellington die Kontrolle an sich gerissen hat. Darüber hinaus ist es ihm gelungen, eine Magiequelle von gefährlicher Stärke aus dem Meer zu heben. Man nennt sie die Wahre Quelle der Magie. Sagt Ihnen das etwas?« Moriarty und Brown wechselten einen raschen Blick. An Moriartys Aura war nichts abzulesen, aber sein Begleiter strahlte eindeutig Besorgnis aus. Lionida verspürte einen Anflug von Triumph. Du magst stark in der Magie sein, mein grobschlächtiger Freund - vielleicht sogar stärker als ich. Aber es fehlt dir an Selbstbeherrschung. Moriarty mag mich täuschen können, aber du nicht. Dieser Umstand ließ sich später möglicherweise noch ausnutzen. »Die Signora hat Sie etwas gefragt«, schnarrte von Stein, als sich das Schweigen der aus dem Meer gefischten Männer in die Länge zog. Moriarty würdigte den deutschen Offizier keines Blickes, sondern wandte sich weiterhin direkt an Lionida: »Nun, da Sie so offen zu uns sind, möchte ich nicht weniger offen zu Ihnen sein. Es drängt sich mir der Verdacht auf, dass uns mit Wellington ein Mann gegenübersteht, den wir beide entmachtet sehen wollen. Sie haben recht mit allem, was Sie sagten: Es gab einen Umsturz innerhalb des Ordens. Die Anhänger des früheren Ersten Lordmagiers Albert Dunholm wurden von Wellingtons Bewegung des Neuen Morgen getötet oder gefangen genommen. Wir gehörten zu diesen Gefangenen, die - so nehme ich angesichts unseres gegenwärtigen Aufenthaltsortes an - zur Wahren Quelle gebracht werden sollten. Uns gelang die Flucht, die zugegebenermaßen hier draußen ein unrühmliches Ende gefunden hätte, wenn Sie nicht aufgetaucht wären. Dafür bin ich Ihnen dankbar, ganz gleich, welchen Zwist wir noch haben mögen.« Ein dünnes Lächeln umspielte Lionidas Mundwinkel. »Von mir aus müssen wir gar keinen Zwist haben, Mister Moriarty. Wenn Sie vernünftig sind, werden Sie uns als angenehme Gastgeber kennenlernen, nicht wahr, Hauptmann von Stein?« Sie blickte den Kapitän der Gladius Dei aufmunternd an. Dieser nickte etwas gezwungen. »Wenn Sie es sagen, Signora.« Lionida richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Moriarty. »Also, was können Sie uns über die Wahre Quelle sagen?« »So gut wie nichts«, gestand der Magier mit einem Schulterzucken. »Magiegeschichte war nie mein bevorzugtes Fach in der Zauberschule.« Er schenkte ihr ein süffisantes Grinsen. Von Steins Augenbrauen zogen sich zusammen, und er räusperte sich warnend. Das Grinsen auf Moriartys Lippen verschwand. »Sie haben recht. Jetzt ist nicht der Zeitpunkt zum Scherzen. Was - ganz nebenbei bemerkt - in mir die Frage aufwirft, ob es für Sie Deutsche jemals einen richtigen Zeitpunkt zum Scherzen gibt.« Er hob eine Hand, bevor der Offizier darauf etwas erwidern konnte. »Ich weiß, ich weiß, ich schweife erneut ab. Der Wahren Quelle der Magie galt Ihr Interesse. Nun, man sagt, die Quelle sei vor Tausenden von Jahren versiegelt und im Ozean versenkt worden, um das Zeitalter, in welchem die Magie über die Erde herrschte, zu beenden. Der Absicht jener Altvorderen zufolge, die dafür verantwortlich waren, sollte die Quelle auf ewig verschlossen in der Tiefe des Meeres ruhen. Mir scheint allerdings, dass ihre Sicherungsmaßnahmen diesbezüglich alles andere als hinreichend waren. Schließlich ist es dem selbsternannten Ersten Lordmagier Wellington ohne übertriebene Mühe gelungen, den Standort der Quelle auszumachen, das Siegel zu brechen und sie einmal mehr aus den Fluten auftauchen zu lassen. Ob das nun einem erfreulichen oder einem grauenvollen Ereignis gleichkommt, daran scheiden sich die Geister.« Moriarty hob fragend eine Augenbraue. »Dürfte ich erfahren, welche Absichten Sie in Bezug auf die Quelle hegen? Sie nannten ihre Stärke ›gefährlich‹. Das weckt gewisse Hoffnungen in mir.«
»Unsere Absichten haben Sie nicht zu kümmern«, informierte von Stein den Briten, wie Lionida es erwartet hatte. Das Ironische daran war, dass der Deutsche höchstwahrscheinlich auch nicht wusste, was seine Passagiere von der Magieabwehr des Vatikans vorhatten. Himmel, ich weiß ja selbst nicht, wie der Plan genau aussieht. Castafiori war diesbezüglich alles andere als mitteilsam, dachte die Magieragentin. »Sie erfahren, was zu tun ist, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist«, hatte der Leiter des O. C. M. gesagt. Sehr hilfreich ...Wenn sie so darüber nachdachte, ließ dieser Satz eigentlich nur zwei Schlüsse zu: Entweder hatte Castafiori versiegelte Befehle an Bord deponieren lassen, oder Scarcatore mit seinem geheimnisvollen Koffer, den er immer mit sich herumtrug, wusste mehr, als er bislang preisgegeben hatte. Dieser Frage würde sie sich demnächst ebenfalls widmen müssen. Einstweilen widerstand sie der Versuchung, dem Gelehrten einen forschenden Blick zuzuwerfen. Stattdessen setzte sie eine versöhnliche Miene auf. »Mein lieber Mister Moriarty, ich möchte es ein wenig anders ausdrücken als der gute Hauptmann von Stein. Unsere Pläne werden wir Ihnen gegenwärtig sicher nicht enthüllen. Unsere Absichten hingegen sind den Ihren sehr ähnlich. Wir wollen wie Sie, dass Lordmagier Wellington und die Wahre Quelle nicht noch mehr Schaden anrichten als bereits geschehen. Das macht uns vielleicht nicht zu Freunden, aber zumindest zu Verbündeten in dieser Sache.« Moriarty neigte in einer Geste der Zustimmung den Kopf. »Mehr wäre wohl zu viel verlangt, aber es ist eine Grundlage - eine Grundlage, auf der sich hoffentlich aufbauen lässt.«
Etwas in seinem Tonfall ließ Lionida überrascht aufmerken. Versuchte der Brite etwa, mit ihr zu flirten? Sie ließ die Wahrsicht fallen, um sich Moriarty noch einmal etwas genauer anzuschauen. An der Oberfläche wirkte er wie der typische Dandy, wenn auch gegenwärtig wie ein ziemlich heruntergekommener Dandy. Aber da war noch mehr ... Sie ließ ein hintergründiges Lächeln ihre Lippen kräuseln, während sie auf ihn zutrat. Das Spiel zwischen Mann und Frau beherrschte sie genauso gut. »Wir werden sehen«, verkündete sie mit samtiger Stimme, während sie ihm über den schmalen Rand ihrer Brillengläser in die Augen blickte. Es waren Augen, die viel gesehen hatten. Dieser Mann war mehr als nur ein vergnügungssüchtiger Gentleman mit gewissem magischem Talent. Es mochte in der Tat lohnenswert sein, sich eingehender mit ihm zu beschäftigen. Eine nette Abwechslung, nachdem es hier an Bord sonst keine Herausforderungen dieser Art gibt, dachte sie.
»Das heißt, wir dürfen uns einstweilen als Ihre Gäste betrachten?«, fragte Holmes.
Lionida nickte, dann schaute sie zu von Stein hinüber. »Mit Ihrem Einverständnis, Hauptmann.«
Der deutsche Offizier legte die Arme auf den Rücken. »Wir werden Ihnen ein Quartier zuweisen. Sie werden sich entweder dort oder hier im Salon aufhalten, wo Sie die Mahlzeiten einnehmen dürfen. Die anderen Teile des Luftschiffs sind Ihnen verboten. Erwischt einer meiner Männer Sie beim Herumschnüffeln, lasse ich Sie in Ketten legen, das verspreche ich Ihnen. Das gilt auch für Ihr Haustier.« »Keine Sorge«, meldete sich Brown zu Wort. »Ihr teures Luftschiff interessiert uns nicht im Geringsten.« »Schön«, sagte Lionida. »Dann werden die Männer Sie jetzt zu Ihrem Quartier geleiten. Machen Sie sich frisch und ruhen Sie sich aus. Abendessen gibt es, wenn ich nicht irre, gegen sieben Uhr.« Zur Versicherung warf sie einen Blick zu von Stein, der ihr bestätigend zunickte.
»Äh, ich möchte nicht aufdringlich wirken, aber wäre es möglich, schon früher einen kleinen Happen zu bekommen?«, wandte Moriarty ein. »Wir mussten geraume Zeit auf den Genuss von Essen und einem guten Schluck verzichten.« »Der Koch wird Ihnen etwas bringen«, brummte von Stein.
Der britische Magier deutete eine Verbeugung an. »Verbindlichsten Dank. Komm, Moran. Brown.« Flankiert von zwei der Soldaten verließen die beiden Männer und die Geisterkatze den Raum.
»Sie sind dieser Miss Buitoni ja ganz schön um den Rock gestrichen, Holmes«, stellte Randolph fest, nachdem sich die Tür zu ihrer kleinen, spartanisch eingerichteten Kabine geschlossen hatte. »Dieser gesteifte deutsche Hauptmann würde das sicher Verbrüderung mit dem Feind nennen.«
Er hat mich Haustier genannt, beschwerte sich Watson. »Sieh es ihm nach«, sagte Holmes. »Er ist ein Deutscher. Was wissen die schon? Und Sie, Brown, seien Sie nicht albern. Ich habe lediglich versucht, eine missliche Lage für uns so angenehm wie möglich zu gestalten.« Er zog seine Jacke aus und hängte sie über die Lehne einer der zwei schlichten Stühle, die zusammen mit einem Stockbett, einem Tisch und einer Waschnische die ganze Einrichtung darstellten. Randolph schnaubte. »Sie hingen an ihren Lippen! Diese Italienerin hätte auf sonstwelche Gedanken kommen können.« »Das hoffe ich doch sehr, denn nur deshalb habe ich mich so verhalten«, sagte Holmes mit einem selbstzufriedenen Grinsen. »Ich wollte sie von dem ablenken, was wirklich geschah.«
»Was meinen Sie damit?« Holmes setzte sich auf das schmale untere Bett und klopfte auf seine Oberschenkel. »Na, komm her, Watson. Was weißt du zu berichten?«
Die Geisterkatze spazierte gemessenen Schrittes auf ihn zu, sprang dann mit einem Satz auf die Bettdecke und von dort auf Holmes' Schoß. »Augenblick mal ... Watson?« Randolph hob verwirrt die Augenbrauen. »In der Tat«, bestätigte Holmes und strich mit einer Hand behutsam an der Stelle durch die Luft, wo sich das entstofflichte Rückenfell seiner durchscheinenden Gefährtin befand. »Ich habe sie in Francescas Kopf etwas herumspionieren lassen. Sie heißt übrigens gar nicht Francesca Buitoni, sondern Lionida Diodato. Was für ein hübscher Name. Ich finde, er passt zu ihr, meinen Sie nicht auch?« Randolph ging nicht auf die Frage ein. »Das heißt, Ihr eigener telepathischer Angriff war nur eine Finte?«, wollte er stattdessen wissen. »Sehr gut erkannt, mein lieber Brown. Mein plumpes Anklopfen an die Pforten ihres Geistes sollte nur vertuschen, dass Watson gleichzeitig durch das metaphorische Fenster hineinschlüpfte. Ich nahm an, dass sie einer Katze nicht viel Aufmerksamkeit schenken würde, wenn ich sie stattdessen vollkommen in Beschlag nehmen würde. Offensichtlich lag ich damit nicht ganz falsch.« Er warf der Katze einen milde tadelnden Blick zu. »Auch wenn du durch deine allzu deutliche Abneigung gegenüber diesem Scarcatore beinahe alles ruiniert hättest«, sagte er und klopfte Watson leicht auf den Rücken. Er ist ein gefährlicher Mann, meldete sich die Geisterkatze zu Wort. Randolph sah, dass sich ihre Krallen bei den Worten in den Stoff von Holmes' Hose gruben und ihr Schwanz zweimal nervös zuckte. Die Magie selbst scheint ihn zu fürchten, denn dort, wo sogar bei gewöhnlichen Menschen ein leichter Glanz ist, herrscht bei ihm nur Dunkelheit. Halte ihn von mir fern. Er ist widernatürlich. Der letzte Satz klang ein wenig komisch, ausgesprochen von einer Katze, durch deren Körper man hindurchschauen konnte wie durch eine Luftspiegelung, aber Watson erweckte nicht den Eindruck, als sei sie zum Scherzen aufgelegt.
»Keine Angst, meine Liebe«, sagte Holmes. »Dieser Knabe wird dir keinen Ärger bereiten. Dafür sorge ich schon. Und wenn ich zum beliebten Allheilmittel unseres guten Mister Brown greifen muss.«
Randolph ballte die rechte Hand zur Faust und hob sie mit grimmigem Grinsen in die Höhe. »Hilft auch bei Magiern.« »Was hast du noch herausgefunden, Watson?«, fragte Holmes. Nicht viel. Die Gedanken der Frau konnte ich nicht verstehen. Holmes verzog das Gesicht. »Natürlich. Sie wird auf Italienisch gedacht haben. Wie dumm von mir. Ich hätte es verstanden ...« Allerdings fand ich einige Bilder in ihrem Kopf. Sie kommt aus einer riesigen Stadt mit vielen Kirchen und Tempeln. In der Mitte fließt ein Fluss. Und sie dient einem grauhaarigen Mann, der wie ein Priester aussieht. Sie reiste mit einer Kutsche in die Berge. Dort war das Flugschiff versteckt. Ich glaube, sie ist die Anführerin hier, auch wenn der Mann mit dem Schnauzbart sich so wichtig gibt. »Ja, in dieser Annahme stimme ich mit dir überein.« Holmes nickte bedächtig. Er warf Randolph einen Blick zu. »Vielleicht haben wir uns geirrt.« »Wie meinen Sie das?« »Das Flugschiff gehört gar nicht den Deutschen. Die Kreuze auf dem Rumpf hielt ich zuerst für Zeichen des Kaiserreichs. Aber schon der Name hätte mich stutzig machen sollen: Gladius Dei - das Schwert Gottes. Ich habe vielmehr das Gefühl, dass wir der vatikanischen Magieabwehr in die Hände gefallen sind.« »Na großartig«, brummte Randolph. »Diese Hexenjäger mag ich ja besonders.« »Nun, zumindest können wir davon ausgehen, dass der Papst nicht die Absicht hat, die Quelle für sich zu beanspruchen. Bei den Deutschen wäre das sicher anders gewesen. Ich glaube, dass dieses Schiff und seine Besatzung geschickt wurden, um die Wahre Quelle zu zerstören - wie auch immer sie das anstellen wollen.« »Das heißt, diese Buitoni, die eigentlich Diodato heißt, hat zumindest in dem Punkt die Wahrheit gesagt: Wir ziehen am gleichen Strang.«
»Ja, so sieht es wohl aus.« Randolph kam eine Angelegenheit in den Sinn, die schon eine Weile unterschwellig an ihm genagt hatte. »Sollen wir ihr von der Sache erzählen, die wir an Bord der Nautilus gesehen haben?« Holmes schüttelte den Kopf. »Lernen wir unsere neuen Verbündeten erst einmal beim Abendessen ein bisschen besser kennen. Danach können wir sie immer noch warnen.« Ein Lächeln trat auf die Züge des Magiers. »Wenn ich es so bedenke, ist das Ganze doch eigentlich eine recht erfreuliche Entwicklung. Hätten wir die Franzosen überreden wollen, mit uns in den Kampf zu ziehen, hätten wir nicht nur viel Zeit verloren, sondern womöglich auch noch teuer dafür bezahlt. Nun bekommen wir die vielleicht stärksten Verbündeten, die man in Europa finden kann, praktisch frei Haus geliefert.« »Wenn man davon absieht, dass es sich um religiöse Fanatiker handelt«, merkte Randolph an. Er musste zugeben, dass ihre Lage im Moment deutlich besser aussah als noch vor zwei Stunden. Aber deswegen würde er keinesfalls die Hufe hochlegen und sich entspannen. Der Magieabwehr war nicht zu trauen. »Am Ende bekämpfen sie nicht nur die Quelle, sondern nutzen die Gunst des Augenblicks, um sich auch noch zweier britischer Magier zu entledigen und eine Katze zu exorzieren, die die Ordnung von Leben und Tod stört.« Watson fauchte leise. Dann sollten wir uns davor schützen. »Und wie genau?«, wollte Randolph wissen. Indem wir von diesem Flugschiff fliehen oder uns zu unschätzbaren Verbündeten machen. Der Kutscher lachte kurz auf. »Fliehen steht wohl außer Frage hier draußen auf dem Meer. Womit wir beim Verbünden wären, und damit hat Holmes ja schon nachdrücklich begonnen.« Er warf dem Magier einen spöttischen Blick zu. »Vielleicht sollten Sie diesen Kurs weiterverfolgen, so fragwürdig ich ihn auch finde. Es mag uns die Haut retten, wenn diese Diodato Ihrem unvergleichlichen Charme erliegt.« »Ich werde mein Bestes geben«, versprach Holmes. Lionidas Lippen verzogen sich zu einem süffisanten Lächeln. »Nun, Mister Holmes, darauf freue ich mich schon.« Sie reichte von Stein den trompetenförmigen Hörer zurück. »Ich danke Ihnen. Ich glaube nicht, dass wir im Moment noch auf weitere erhellende Dinge hoffen dürfen, aber hören Sie die drei ruhig weiter ab, wenn Sie möchten.« »Das werden wir, Signora.« Von Stein winkte einem der Luftschiffer, die sich mit ihnen auf der Brücke befanden. »Übernehmen Sie.« »Jawohl, Herr Hauptmann«, bestätigte der Mann auf Deutsch. Während sich der Soldat an die Apparatur setzte, traten Lionida, von Stein und Scarcatore an den nahen Kartentisch. »Gibt es eigentlich in jeder Kabine solch eine Abhörvorrichtung?«, fragte der Wissenschaftler. Auf seiner Miene lag ein gelindes Unbehagen.
© 2011 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.
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Autoren-Porträt von Bernd Perplies
Bernd Perplies wurde 1977 in Wiesbaden geboren und studierte Filmwissenschaft und Germanistik in Mainz. Heute arbeitet er am Deutschen Filminstitut in Frankfurt a. M. als Redakteur von filmportal.de und ist darüber hinaus als Übersetzer tätig.
Bibliographische Angaben
- Autor: Bernd Perplies
- 2011, 512 Seiten, Maße: 13,4 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: LYX
- ISBN-10: 3802582667
- ISBN-13: 9783802582660
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