In einer einzigen Nacht
Hannah lebt mit ihrer Familie abgeschieden irgendwo in Maine und ist deshalb froh, Tobias Judson, einen Freund ihrer Familie, bei sich aufzunehmen. Da ihr Mann Dan seinen kranken Vater besucht, sind Hannah und Tobias allein, und es fällt dem charismatischen, politisch aktiven und dadurch sehr geheimnisvollen Mann nicht schwer, Hannahs Herz zu erobern. Hannah gibt der Versuchung nach, lässt sich verführen und erlebt Momente unendlichen Glücks. Doch Tobias hat andere Pläne, nutzt Hannahs Schwäche, um ein böses Spiel mit ihr zu treiben ...
Dreißig Jahre lang gelingt es Hannah, zu vergessen, wie sehr sie damals verletzt wurde. Als Tobias in einem Buch öffentlich macht, was ihn mit Hannah verbindet, ahnt sie, dass sie ihr Geheimnis nicht länger hüten kann.
"Ein grandioser Roman mit zutiefst glaubwürdigen Charakteren und einer Geschichte, die einem den Schlaf raubt." - Sunday Times
"Mit großem Einfühlungsvermögen schreibt Douglas Kennedy das faszinierende Porträt einer Frau, der man als Leser bis zur letzten Seite eng verbunden bleibt." - Independent on Sunday
"Eine großartige, bewegende Geschichte, deren Spannung mit jeder Seite zunimmt." - Vogue
In einer einzigen Nacht von DouglasKennedy
LESEPROBE
1966-1973
Nach seinerVerhaftung wurde mein Vater berühmt.
Wir schriebendas Jahr 1966, und Dad (oder Winthrop Latham,
wie er von allenaußer seinem Kind genannt wurde) war der erste
Professor an derUniversität von Vermont, der sich gegen den Vietnamkrieg
aussprach. Indem Frühjahr ging er einem campusweiten
Protestzugvoran, der mit einem Sit-down vor dem Verwaltungsgebäude
endete. MeinVater führte die dreihundert Studenten an, die
sechsunddreißigStunden lang friedlich den Eingang blockierten
und den gesamtenUniversitätsbetrieb lahmlegten. Schließlich wurden
Polizei undNationalgarde gerufen. Die Protestierenden wollten
nicht weichen,und im öffentlich-rechtlichen Fernsehen war zu
sehen, wie Dadins Gefängnis gekarrt wurde.
Damals war daseine Sensation. Dad hatte als einer der Ersten studentischen
Ungehorsam gegenden Krieg angezettelt, und das Bild
dieses einsamen,ehrwürdigen Yankees in Tweedjackett und blauem
Button-down-Hemd,der von zwei Vermonter Staatspolizisten gewaltsam
abtransportiertwurde, schaffte es bis in die landesweiten
Nachrichtensendungen.
»Dein Dad ist socool!«, sagten alle an der Highschool am nächsten
Vormittag zumir. Als ich zwei Jahre später an der University of
Vermont zustudieren begann, provozierte schon die bloße Erwähnung,
dass ichProfessor Lathams Tochter war, genau dieselbe
Reaktion.
»Dein Dad ist socool!« Und ich nickte, lächelte knapp und sagte:
»Ja, er isttoll.«
Verstehen Siemich bitte nicht falsch, ich bewundere meinen
Vater. Das warschon immer so und wird auch immer so bleiben.
Aber wenn duachtzehn bist - wie ich 1969 - und darum kämpfst,
wenigstens denHauch einer eigenen Identität zu haben, während
der eigene Vatermittlerweile so etwas wie der Tom Paine deiner Heimatstadt
und deines Collegesgeworden ist, kann es leicht passieren,
das dich seinlanger tugendhafter Schatten zum Zwerg macht.
Ich hätte seinerübervaterhaften moralischen Größe entgehen
und an einanderes College wechseln können. Stattdessen entschied
ich mich, mittenin meinem zweiten Studienjahr, für das Zweitbeste:
Ich verliebtemich.
Dan Buchan warvöllig anders als mein Vater. Während Dad der
Ruf des mitallen Wassern gewaschenen - Choate, Princeton und
für seineDissertation schließlich Harvard - weißen Ostküstlers anhaftete,
stammte Dan ausirgendeinem Kaff namens Glens Falls im
ländlichen Teildes Staates New York. Sein Vater war Hausmeister an
einer Schule,und seine Mutter hatte zu Lebzeiten einen kleinen Maniküreladen
betrieben. Danwar der Erste aus seiner Familie, der überhaupt
studierte - unddann auch noch gleich Medizin. Außerdem
war erschüchtern. Er gab in Gesprächen nie den Ton an, spielte sich
bei keinerGelegenheit in den Vordergrund. Und er war ein guter Zuhörer
- immer weitinteressierter an dem, was man selbst zu sagen
hatte. Dasgefiel mir. Höchst interessant fand ich auch seine vornehme
Zurückhaltung.Er war ernsthaft - und wusste anders als die
anderen, die ichdamals am College kannte, ganz genau, was er erreichen
wollte. Schon beiunserem ersten Date erzählte er mir bei einem
Bier, dass ereigentlich nicht den Ehrgeiz besaß, sich auf eines der großen
Gebiete wie dieNeurochirurgie zu werfen. Genauso wenig hätte
er vor, denbequemsten Weg zu gehen und seinen Facharzt auf einem
Gebiet zumachen, auf dem viel Geld zu holen war, wie in der Dermatologie.
Nein, er hatteein Auge auf die Allgemeinmedizin geworfen.
»Ich möchte bloßein kleiner Landarzt sein, mehr nicht«, sagte er.
DieMedizinstudenten im ersten Studienjahr hatten einen Dreizehnstundentag,
und Danstudierte ununterbrochen. Wir hätten
unterschiedlichernicht sein können. Ich hatte Englisch als Hauptfach
und wollte nachmeinem Abschluss als Lehrerin arbeiten. Aber
es waren diefrühen Siebziger, und wenn man nicht gerade durch
den Scheuersackeines Medizin- oder Jurastudiums ging, hatte man
natürlich allesandere im Kopf als die »Zukunft«.
Dan warvierundzwanzig, als ich ihn kennenlernte, und der fünfjährige
Altersunterschiedwar nicht so gewaltig. Er kam mir viel
zielstrebigerund erwachsener vor als die anderen Jungs, mit denen
ich vor ihmausgegangen war, und das gefiel mir auf Anhieb.
Nicht dass ichgroß Ahnung von Männern gehabt hätte. An der
Highschool hatteich einen Freund namens Jared gehabt. Er war
ein Bücherwurmund Künstlertyp und hat mich richtig angehimmelt,
bis er nachChicago an die Uni ging und klar war, dass
keiner von unseine Fernbeziehung wollte. In meinem ersten
Semester amCollege erlag ich dann kurz dem Reiz des Unkonventionellen,
als ich mitCharlie zusammen war. Wie Jared war
er ganz süß,sehr belesen, ein guter Redner und »kreativ«, was in
Charlies Fallhieß, dass er jede Menge schwülstige Gedichte
schrieb. Charliewar ständig zugedröhnt, er war einer von denen,
die schon zumFrühstückskaffee einen Joint rauchen. Eine Zeit
lang störte michdas nicht - obwohl ich eigentlich nicht zu seiner
Szene gehörte.Trotzdem, rückblickend brauchte ich diesen kurzen
Abstieg insBacchanalische. Wir schrieben schließlich das
Jahr 1969! Abernachdem ich die Matratze auf dem Fußboden,
die chaotischeBude, in der er hauste, und seine zunehmend verworrener
werdendenMonologe über Gott und die Welt drei Wochen
lang ausgehaltenhatte, kam der eine Abend, an dem ich zu
ihm ging und ermit drei Freunden dahockte und einen Joint rumgehen
ließen, währenddie Grateful Dead aus der Stereoanlage
plärrten.
»Hey «, meinteer zu mir und verfiel wieder in Schweigen. Über
das Getöse derMusik hinweg fragte ich ihn, ob er mit mir ins Kino
gehen wolle,aber er sagte bloß wieder »Hey« und nickte weise
dazu, so alshätte er mir gerade ein tiefes karmisches Geheimnis
über dieungelösten Rätsel des Lebens offenbart.
Ich blieb nichtlange, sondern trabte wieder auf den Campus zurück,
wo ich michschließlich in der Cafeteria allein an einem Bier
festhielt undüber ein Päckchen Viceroy hermachte. Als ich gerade
meine dritteZigarette rauchte, tauchte Margy auf. Sie war meine beste
Freundin, einedünne, gertenschlanke Intelligenzbestie aus Man-
hattan mit einemdichten Schopf schwarzer Locken. Sie war am
Central ParkWest groß geworden, hatte die richtige Schule besucht
(die NightingaleBamford) und war superklug. Sie hatte aber, wie sie
selbst zugab,»nie Lust gehabt, mal ein Buch aufzuschlagen«, sodass
sie schließlichan einer staatlichen Universität in Vermont landete.
»Und dabei binich noch nicht mal wild aufs Skifahren.«
»Du siehst aus,als wärst du schlecht gelaunt«, sagte sie, setzte sich,
nahm sich eineViceroy aus meiner Packung und zündete sie mit
einemStreichholz aus dem Briefchen auf dem Tisch an. »Tolle Nacht
mit Charliegehabt?«
Ich zuckte mitden Achseln.
»Wieder mal dasübliche Monstrositätenkabinett drüben in seiner
Kommune?«,fragte sie.
»Hm-hm.«
»Na, dass er süßaussieht, macht es sicher wett, dass «
Sie verstummtemitten im Satz und nahm einen tiefen Zug von
ihrer Zigarette.
»Sprich weiter«,sagte ich. »Was wolltest du sagen?«
Wieder eintiefer, nachdenklicher Zug an der Zigarette.
»Der Mann istununterbrochen high. Deshalb kommt er auch über
einsilbigeWörter nicht sonderlich weit hinaus, stimmt s?«
Ich musste widerWillen lachen, denn in echter New Yorker Manier
hatte Margy dasganze Dilemma mit einem Satz auf den Punkt
gebracht. Undmit derselben umstandslosen Direktheit sprach sie
auch über ihreeigenen Schwächen und darüber, warum sie nach
drei Monaten amCollege immer noch keinen Freund hatte.
»Die Kerle hiersind entweder verrückt aufs Skifahren - was meiner
Meinung nach nichtsanderes als ein Synonym für Blabla
ist oderballern sich so die Birne zu, dass ihr Gehirn aussieht wie
Schweizer Käse.«
»Hey, es istdoch nicht für immer«, verteidigte ich mich.
»Ich spreche jaauch gar nicht von deinem Mr. Dingsbums, Süße.
Das war nur eineganz allgemeine Bemerkung.«
»Ob er am Bodenzerstört ist, wenn ich ihn sausen lasse, was
meinst du?«
»Ich bitte dich!Der zieht dreimal an der dämlichen Bong, der da
bei ihmrumsteht, und hat die Sache vor dem zweiten Ausatmen
schonverschmerzt.«
Ich brauchtetrotzdem noch mehrere Wochen, um endgültig
Schluss zumachen. Ich hasse unangenehme Menschen und möchte
bei allenbeliebt sein. Das ist eine Eigenschaft von mir, die meine
Mutter Dorothyimmer an mir kritisiert hat - denn weil sie ebenfalls
aus New York(und meine Mutter) war, machte sie ebenfalls nicht
viel Federlesensund sagte mir geradeheraus, was sie dachte.
»Du musst nichtbei allen beliebt sein«, sagte sie einmal, als ich
noch auf dieHighschool ging und mich darüber beklagte, dass ich
nicht zurKlassensprecherin gewählt worden war. »Ich finde das
cool, nicht zurbreiten Masse zu gehören. Es ist nämlich völlig in
Ordnung, klug zusein.«
»Wer lauter B imZeugnis hat, ist nicht klug«, sagte ich. »Das ist
Mittelmaß.«
»Dieselben Notenhatte ich auf der Highschool auch«, sagte meine
Mutter. »Und ichwar ziemlich stolz darauf. Genau wie du hatte ich
nur wenigeFreunde und hab es nicht zur Cheerleaderin gebracht.«
»Mom, an deinerSchule gab es gar keine Cheerleader.«
»Gut, dann ebennicht bis in den Schachclub. Was ich damit sagen
will, istFolgendes: Die Mädchen, die auf der Highschool beliebt
sind, sindmeistens die uninteressantesten und sie heiraten am
Ende immerKieferchirurgen. Nicht dass dein Vater oder ich etwas
an dirauszusetzen hätten. Im Gegenteil: Du bist unsere Heldin.«
»Ich weiß«, logich. Denn ich fühlte mich nicht wie eine Heldin.
Mein Daddy warein Held - ein großer, unebener, radikaler Held -,
und meine Momkonnte sich damit brüsten, wie sie nach dem Krieg
mit De Kooning,Johns, Rauschenberg, Pollock und all den anderen
Stars der NewYorker Schule rumgehangen hatte. Sie hatte in Paris
ausgestellt undsprach immer noch Französisch, sie unterrichtete
halbtags an derKunstakademie der Uni und wirkte stets so verdammt
perfekt undselbstsicher. Während ich im Grunde zu nichts
Talent hatte undauch nicht die Leidenschaft besaß, die meine
Eltern zeitihres Lebens umtrieb.
»Jetzt setz dichnicht so unter Druck«, sagte meine Mutter. »Du
hast noch nichtmal angefangen zu leben, geschweige denn, herauszufinden,
worin du gutbist.«
Und dann saustesie zu einem Treffen der Vermonter Künstler gegen
den Krieg, vondenen sie selbstverständlich die Sprecherin war.
Und genau daswar das Problem mit meiner Mutter: Sie hatte
immer zu tun undwar bestimmt nicht der Typ, der mit anderen Bratenrezepte
austauscht,Plätzchen für die Pfadfinderinnen bäckt und
fürWeihnachtsaufführungen Kostüme näht. Um ehrlich zu sein,
war Mom sogardie schlechteste Köchin aller Zeiten. Es war ihr so
was von egal, obdie Spaghetti halbgar aus dem Topf kamen oder ob
dieFrühstücksflocken hart und klumpig geworden waren. Und was
die Hausarbeitbetraf Sagen wir mal so: Als ich dreizehn wurde,
kam ich darauf,dass es einfacher war, wenn ich sie selbst machte.
Ich bezog füralle die Betten, ich wusch die Wäsche der ganzen
Familie undkaufte für die ganze Woche ein. Es machte mir nichts
aus, das alleszu organisieren. Das gab mir das Gefühl, verantwortlich
zu sein,außerdem gefiel es mir, wenn alles glatt lief.
»Du spielstwirklich gern Hausfrau, was?«, sagte Mom einmal, als
ich gleich nachdem College die Küche zu putzen begann.
»Hey, seidankbar, dass es überhaupt jemand macht.«
Andererseitssetzten sie mir nie Grenzen, sagten nie, was ich nicht
anziehen sollte,hielten mich nie dazu an, mein Zimmer aufzuräumen.
Aber vielleichtbrauchten sie das ja auch nicht. Ich blieb abends
nie besonderslange weg, zog mich nie im Hippie-Stil an (mir waren
kurze Röckelieber) und war insgesamt viel ordentlicher als sie.
Sie machten mirnicht mal die Hölle heiß, als ich mit siebzehn
anfing zurauchen.
»Ich hab einenArtikel im Atlantic gelesen, in dem stand, dass
Rauchen Krebsverursachen kann«, sagte meine Mutter, als sie mich
dabei erwischte,wie ich hinterm Haus heimlich eine qualmte. »Aber
es ist deineLunge, Kind.«
Meine Freundebeneideten mich um diese Eltern, die mir alles erlaubten.
Sie fanden estoll, dass sie Radikale waren, und auch, dass
unser rotverschaltes Neuengland-Haus vollhing mit Moms verrück-
ten abstraktenBildern. Doch der Preis, den ich für diese Freiheit
bezahlte, war,eine Mutter zu haben, die immerzu sarkastisch war.
»Der ist abernicht besonders helle«, sagte meine Mutter einen
Tag, nachdemmeine Eltern Charlie kennengelernt hatten.
»Es ist ja nichtfür die Ewigkeit«, fügte mein Vater hinzu.
»Hoffentlich.«
»Wenigstenseinmal muss man auch mit einem Wirrkopf zusammengewesen
sein«, sagtemein Vater und schenkte meiner Mutter
ein spöttischesLächeln.
»De Kooning warkein Wirrkopf.«
»Der war immergeistlos.«
»Ich war auchnicht mit ihm zusammen . Das waren doch nur
zwei Wochen «
»Hey, ich binim Zimmer«, sagte ich, brauchte mich aber kein bisschen
zu fragen, wiesie es geschafft hatten, mich vollkommen zu
übersehen,sondern staunte höchstens ein wenig, dass Mom einmal
die Geliebte vonWillem De Kooning gewesen war.
»Das ist unsdurchaus bewusst, Hannah«, entgegnete meine Mutter
ruhig. »Es gingnur ausnahmsweise mal nicht um dich.«
Aua. Das wartypisch Mom. Mein Vater zwinkerte mir zu, so als
wolle er sagen»Du weißt, sie meint es nicht so«. Das Dumme war
nur, sie meintees eben doch so. Brav, wie ich war, stürmte ich nicht
inteenagerhafter Wut hinaus, sondern steckte es einfach weg - wie
immer.
Als es darumging, mich in meinem Unabhängigkeitsstreben zu
bestärken, legtemeine Mutter mir nahe, auf ein College zu gehen,
das nicht inBurlington war - und gab mir Saures, als ich kleine
Nesthockerinmich doch für die University of Vermont entschied.
Mom wollteunbedingt, dass ich in einem Wohnheim auf dem Campus
wohnte. »Es wirdlangsam Zeit, dich aus dem Nest zu schubsen«,
sagte sie.
Eine von vielenGemeinsamkeiten zwischen Margy und mir war
unsereunorthodoxe Herkunft: Wir hatten weiße Ostküstler zu Vätern
und schwierigeJüdinnen zu Müttern, deren Erwartungen wir
anscheinend niegerecht werden konnten.
»Deine Momkriegt wenigstens den Hintern hoch und macht ihre
Kunst«, sagteMargy. »Für meine Mom ist es schon eine Sensation,
wenn sie sichdie Nägel machen lässt.«
»Hast du schonmal Angst gehabt, du könntest in nichts gut
sein?«, fragteich unvermittelt.
»Das Gefühl habich dauernd. Meine Mutter erinnert mich ja auch
ständig daran,dass ich fürs Vassar vorgesehen war und in Vermont
gelandet bin.Alles, was ich weiß, ist, dass ich sehr gut Zigaretten
schnorren undmich wie Janis Joplin anziehen kann ich strotze
also nichtgerade vor Selbstbewusstsein. Was bringt dich denn jetzt
ins Grübeln?«
»Manchmal glaubeich, ich bin für meine Eltern so etwas wie ein
unabhängigerStaat und eine Riesenenttäuschung.«
»Das sagen diedir so?«
»Nicht direkt.Aber ich weiß, dass ich nicht der Hit bin, den sie
sich vorgestellthaben.«
»Hey, du bistachtzehn. Da muss man einfach abloosen auch
wenn ichüberhaupt nicht finde, dass das auf dich zutrifft.«
»Ich muss mirein Ziel setzen.«
Margyverschluckte sich und hustete ein Rauchwölkchen heraus.
»Also bitte«,sagte sie.
Aber ich warfest entschlossen, mich zusammenzureißen - das
Interesse meinerEltern zu wecken und ihnen zu beweisen, was für
ein ernst zunehmender Mensch ich war. Fürs Erste stürzte ich mich
in mein Studium,blieb die meisten Abende bis zehn in der Bibliothek
und ackerte eineMenge zusätzlichen Stoff durch, vor allem für
den Kurs»Meilensteine in der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts
«. Wir lasenDickens und Thackeray, Hawthorne und Melville,
ja sogar GeorgeEliot. Aber von den vielen Büchern, die ich für diesen
Erstsemesterkurslas, hatte mich eigentlich nur Flauberts
Madame Bovary so richtiggepackt.
»Aber das istdoch so deprimierend«, sagte Margy.
»Genau darumgeht s doch!«, sagte ich. »Das Buch ist deprimierend,
weil es sorealistisch ist.«
»Diesenromantischen Mist, in den sie sich da manövriert hat,
findest durealistisch, so ist es? Die Frau ist doch ein richtiges Schaf,
oder? Heiratetdiesen Langweiler, zieht in dieses langweilige Nest,
nur um sich danndiesem Schleimer von Soldaten an den Hals zu
werfen, für densie bloß eine Matratze ist, mehr nicht.«
»Aber genausoist es doch. Das ist doch der Witz an dem Roman!
Jemand nutztseine Affären, um der Langeweile des eigenen Lebens
zu entfliehen.«
»Und, was gibt ssonst noch Neues?«, sagte Margy.
Meinen Vaterhingegen interessierte, wie mir das Buch gefallen
hatte. Wirwaren, was selten vorkam, aber manchmal eben doch, zusammen
Mittag essen,freilich außerhalb des Campus. (Denn so sehr
ich ihn auchbewunderte, mit meinem Vater in der Mensa gesehen
werden wollteich dann doch nicht). Ich schlürfte meine Muschelsuppe
in einem kleinenDiner in der Nähe der Uni und erzählte ihm,
wie sehr mir dasBuch gefiel. Emma Bovary, sagte ich, sei meiner
Meinung nachdoch »ein richtiges Opfer der Gesellschaft«.
»Inwiefern?«,fragte er.
»Na, weil sie ineinem Leben gefangen ist, das sie nicht will, und
weil sie glaubt,sich in einen anderen zu verlieben, würde ihre Probleme
lösen.«
Er lächelte michan und sagte: »Das ist sehr gut. Genau.«
»Ich begreifeallerdings nicht, warum ihr als Ausweg nur der
Selbstmordblieb. Warum ist sie nicht abgehauen, nach Paris oder
sonst wohin?«
»Du betrachtestEmma vom Standpunkt einer Amerikanerin aus
denSechzigerjahren aus und nicht als jemanden, der in den Konventionen
seiner Zeitgefangen ist. Den Scharlachroten Buchstaben
hast du dochgelesen, oder?«
Ich nickte.
»Tja, heutefragen wir uns vielleicht, warum Hester Prynne das
überhauptmitgemacht hat, mit einem großen A auf der Brust in
Bostonherumzulaufen, unter der ständigen Drohung der tonangebenden
Puritaner ihrerGemeinde, ihr das Kind wegzunehmen. Wir
könnten unsfragen: Warum hat sie nicht einfach ihre Tochter
genommen und istabgehauen, woandershin? Aber für Hester hätte
die Fragevielleicht gelautet: Wo kann ich hin? Für sie gab es kein
Entrinnen - siehat ihre Strafe ja fast schon als Schicksal angesehen.
Und bei Emma istes genauso. Sie weiß, dass sie, wenn sie nach
Paris flieht,bestenfalls als Näherin oder in einem anderen deprimierenden
kleinbürgerlichenJobendet - das neunzehnte Jahrhundert
hat esverheirateten Frauen nun mal kaum verziehen, wenn sie
vor ihrerVerantwortung davongelaufen sind.«
»Dauert dieseVorlesung noch lange?«, sagte ich lachend. »Ich
hab nämlich umzwei ein Seminar.«
»Ich kommegerade zum Punkt«, sagte Dad lächelnd. »Und der
Punkt ist, dasses auf persönliches Glück überhaupt nicht ankam.
Flaubert hat alserster großer Romancier verstanden, dass wir uns
alle mit demGefängnis herumplagen müssen, das wir uns selbst geschaffen
haben.«
»Du auch, Dad?«,sagte ich, überrascht über seine Äußerung. Er
lächelte michwieder einmal wehmütig an und stierte dann auf seine
Suppenschüssel.
»Jeder langweiltsich mal«, sagte er. Dann wechselte er das Thema.
Es war nicht daserste Mal, dass mein Vater andeutete, mit meiner
Mom stünde nichtalles zum Besten. Dass sie sich stritten, wusste
ich. Meine Momwar eine laute Brooklynerin und ging in die Luft,
wenn ihr etwasnicht passte. Mein Dad - in der Beziehung ganz
Bostoner -hasste den öffentlichen Schlagabtausch (es sei denn, er
war mitjubelnden Massen und drohender Verhaftung verbunden).
Deshalb ging er,wenn sich meine Mutter über irgendetwas aufregte,
lieber gleich inDeckung.
Als ich nochjünger war, beunruhigten mich diese lauten Auseinandersetzungen.
Doch als ichälter wurde, begriff ich allmählich,
dass meineEltern im Großen und Ganzen gut miteinander auskamen
- dass sie einedieser irrsinnig unberechenbaren Beziehungen
hatten, dieirgendwie trotzdem gut gingen, vielleicht gerade deshalb,
weil sie sogegensätzlich waren. Auch wenn ich sie beim Erwachsenwerden
lieber öfter inmeiner Nähe gehabt hätte - eines
habe ich ausdieser stürmischen Ehe, in der beide Partner auf ihre
geistigeUnabhängigkeit bedacht waren, doch gelernt: nämlich dass
zwei Menschennicht ständig aufeinanderhocken müssen, damit
eine Beziehunggelingen kann. Doch als Dad durchblicken ließ, dass
er sich zu Hausemanchmal langweilte, begriff ich noch etwas: Ein
Außenstehenderweiß nie, was zwischen zwei Menschen vorgeht
man kann da nurspekulieren.
Genauso wie mannur spekulieren kann, warum eine Frau wie
Emma Bovary sofest daran glaubte, dass die Liebe die Antwort auf
all ihreProbleme wäre.
»Weil die allermeistenFrauen Idioten sind, deshalb«, sagte meine
Mutter, als ichden Fehler machte, sie zu fragen, was sie von Flauberts
Roman hielt.»Und weißt du, warum sie Idioten sind? Weil sie
ihr ganzesVertrauen in einen Mann setzen. Das ist der falsche Weg.
Kapiert? Injedem Fall.«
»Ich bin nichtblöd, Mom«, sagte ich.
»Das wird sichschon noch weisen.«
© Diana Verlag
Übersetzung:Silvia Morawetz
- Autor: Douglas Kennedy
- 2006, 607 Seiten, Maße: 14,4 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Morawetz, Silvia
- Verlag: Diana
- ISBN-10: 3453290240
- ISBN-13: 9783453290242
"Mit großem Einfühlungsvermögen schreibt Douglas Kennedy das faszinierende Porträt einer Frau, der man als Leser bis zur letzten Seite eng verbunden bleibt." (Independent on Sunday)
"Eine großartige, bewegende Geschichte, deren Spannung mit jeder Seite zunimmt." (Vogue)
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