In meinem Himmel
Susie Salmon führt das ganz normale Leben eines Teenagers in einer amerikanischen Kleinstadt - bis zu jenem Tag im...
Susie Salmon führt das ganz normale Leben eines Teenagers in einer amerikanischen Kleinstadt - bis zu jenem Tag im Dezember, als sie allein durch ein Maisfeld nach Hause geht. Ein Nachbar hat ihr aufgelauert, ein Mann, der sie vergewaltigen, töten und ihre Leiche verschwinden lassen wird. Aber Susies Existenz ist damit nicht ausgelöscht. Von "ihrem Himmel" aus verfolgt sie das Leben auf der Erde, beobachtet, wie die Polizei nach ihrem Mörder sucht, während ihre Freunde und ihre Familie mühevoll nach Wegen suchen, um den Verlust zu verarbeiten. Bis die Wunden vernarbt sind und die fragile Balance menschlicher Existenz wiederhergestellt ist. Und bis auch Susie ihren Seelenfrieden finden kann...
"Ein atemberaubendes Meisterwerk"
THE NEW YORKER
"Dieser Roman hat mir eines der unvergesslichsten und eindrucksvollsten Leseerlebnisse beschert, die ich seit langem machen durfte."
MICHAEL CHABON
Susie Salmon führt das ganz normale Leben eines Teenagers in einer amerikanischen Kleinstadt - bis zu jenem Tag im Dezember, als sie allein durch ein Maisfeld nach Hause geht. Denn dort lauert ihr ein Nachbar auf, ein Mann, der sie vergewaltigen, töten und ihre Leiche verschwinden lassen wird. Aber Susies Existenz ist damit nicht ausgelöscht. Von "ihrem Himmel" aus verfolgt sie das Leben auf der Erde, beobachtet sie, wie ihre Geschwister, Eltern und Freunde mühevoll nach Wegen suchen, um den Verlust zu verarbeiten. Bis die Wunden vernarbt sind, neues Leben entstanden, und die fragile Balance menschlicher Existenz wiederhergestellt ist. Und auch Susie ihren Seelenfrieden gefunden hat und die Welt hinter sich lassen kann...
In meinem Himmel von Alice Sebold
LESEPROBE
Mein Nachname war Salmon, also Lachs, wie der Fisch; VornameSusie. Ich war vierzehn, als ich am 6. Dezember 1973 ermordet wurde. AufZeitungsfotos in den Siebzigern sahen die vermissten Mädchen meistens aus wieich: hellhäutig und mit mausbraunen Haaren. Das war, bevor Bilder von Kindernaller Hautfarben und Geschlechter nach und nach auf Milchtüten und in derTagespost auftauchten. Damals glaubten die Leute noch, so etwas gescheheeinfach nicht.
Für mein Jahrbuch in der Junior High hatte ich mir ein Zitat von einemspanischen Dichter ausgesucht, auf den mich meine Schwester aufmerksam gemachthatte, Juan Ramón Jiménez. Es ging so: »Wenn sie dir liniertes Papier geben,dann schreib quer dazu.« Ich wählte es, weil es meine Verachtung für eine klarstrukturierte Umgebung wie mein Klassenzimmer ausdrückte und ich außerdem fand,dass es mich, da es kein bescheuertes Zitat von einer Rockband war, alsliterarisch gebildet kennzeichnete. Ich war Mitglied des Schachclubs und derChemie-AG und ließ alles anbrennen, was ich in Mrs. DelminicosHauswirtschaftsunterricht zuzubereiten versuchte. Mein Lieblingslehrer war Mr.Botte, bei dem wir Biologie hatten, und der die Frösche und Krebse, die wirsezieren mussten, gern zu neuem Leben erweckte, indem er sie in ihrengewachsten Tiegeln tanzen ließ.
Mr. Botte hat mich übrigens nicht getötet. Glauben Sie nicht, dass jederMensch, dem Sie hier begegnen, verdächtig ist. Das ist das Problem. Man kannnie wissen. Mr. Botte kam zu meiner Trauerfeier (wie, wenn ich das hinzufügendarf, fast die gesamte Junior High - so beliebt war ich noch nie) und weinteziemlich heftig. Er hatte ein krankes Kind. Das wussten wir alle, und obwohlwir uns manchmal dazu zwingen mussten, lachten wir deshalb mit, nur, um ihnglücklich zu machen, wenn er über seine eigenen Witze lachte, die schon einenBart hatten, ehe er mein Lehrer wurde. Seine Tochter starb anderthalb Jahrenach mir. Sie hatte Leukämie, aber in meinem Himmel habe ich sie nie gesehen.
Mein Mörder war ein Mann aus unserer Nachbarschaft. Meiner Mutter gefielenseine Blumenrabatten, und mein Vater unterhielt sich mal mit ihm überDüngemittel. Mein Mörder glaubte an altmodische Zutaten wie Eierschalen undKaffeesatz, die, wie er sagte, seine eigene Mutter schon benutzt hatte. MeinVater kam lächelnd nach Hause und riss Witze darüber, dass der Garten desMannes zwar wunderschön sein mochte, aber zum Himmel stinken würde, sobald eineHitzewelle zuschlüge.
Am 6. Dezember 1973 allerdings schneite es, und ich nahm auf dem Heimweg vonder Schule eine Abkürzung durch das Maisfeld. Es war bereits dunkel, da dieTage im Winter kürzer sind, und ich erinnere mich, wie die abgebrochenenMaisstängel mir das Gehen erschwerten. Der Schnee fiel sacht, wie ein Schaueraus kleinen Händen, und ich atmete durch die Nase, bis sie so sehr lief, dass
ich den Mund aufmachen musste. Zwei Meter von Mr. Harvey entfernt streckte ichdie Zunge heraus, um eine Schneeflocke zu kosten.
»Krieg keinen Schreck«, sagte Mr. Harvey.
Natürlich erschrak ich in einem Maisfeld im Dunkeln. Nachdem ich tot war, fielmir ein, dass ein leichter Duft von Kölnischwasser in der Luft gelegen hatte,ich jedoch nicht darauf geachtet oder geglaubt hatte, er käme von einem derHäuser vor mir.
»Mr. Harvey«, sagte ich.
»Du bist das ältere Salmon-Mädchen, stimmt's?«
»Ja.«
»Wie geht's zu Hause?«
Obgleich Älteste von drei Geschwistern und oft die Beste in einer Klassenarbeitin Naturkunde, fühlte ich mich in Gegenwart von Erwachsenen nie ganz wohl.
»Gut«, sagte ich. Ich fror, aber die natürliche Autorität seines Alters unddazu die Tatsache, dass er ein Nachbar war und sich mit meinem Vater überDüngemittel unterhalten hatte, ließen mich wie angewurzelt stehen bleiben.
»Ich habe hier was gebaut«, sagte er. »Möchtest du es sehen?«
»Mir ist ein bisschen kalt, Mr. Harvey«, sagte ich, »und meine Mom hat es gern,wenn ich vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause bin.«
»Es ist schon dunkel, Susie«, sagte er.
Heute wünschte ich, ich hätte gemerkt, wie unheimlich das war. Ich hatte ihmmeinen Namen nie genannt. Vermutlich dachte ich, mein Vater hätte ihm eine derpeinlichen Anekdoten erzählt, in denen er selbst bloß Liebesbeweise gegenüberseinen Kindern sah. Mein Vater gehörte zu den Dads, die ein Foto von ihrernackten dreijährigen Tochter in das Bad im Erdgeschoss hängen, dasjenige, dasdie Gäste benutzen. Gott sei Dank hat er das mit meiner kleinen SchwesterLindsey gemacht. Diese Erniedrigung blieb mir zumindest erspart. Doch ererzählte gern, wie ich, sobald Lindsey geboren war, so eifersüchtig auf siewurde, dass ich eines Tages, als er im Nebenzimmer am Telefon war, auf derCouch entlangrobbte - er konnte mich von seinem Standort aus sehen - undversuchte, Lindsey in ihrem tragbaren Bettchen anzupinkeln. Diese Geschichtedemütigte mich jedes Mal, wenn er sie erzählte, dem Pastor unserer Kirche,unserer Nachbarin Mrs. Stead, die Therapeutin war und deren Einstellung dazu erhören wollte, und jedem, der irgendwann mal meinte: »Susie hat eine MengeMumm!«
»Mumm!«, pflegte mein Vater dann zu sagen. »Über ihren Mumm kann ich Ihnen waserzählen«, und dann ließ er umgehend seineWie-Susie-Lindsey-anpinkelte-Geschichte vom Stapel.
Wie sich aber erwies, hatte mein Vater uns Mr. Harvey gegenüber nicht erwähntund ihm auch nicht die Wie-Susie-Lindsey-anpinkelte-Geschichte erzählt.
Später sollte Mr. Harvey, als er auf der Straße mit meiner Mutterzusammenstieß, diese Worte sagen: »Ich habe von der grässlichen, grässlichenTragödie gehört. Wie hieß Ihre Tochter noch mal?«
»Susie«, sagte meine Mutter, die unter der Last des Namens all ihre Kräftezusammennehmen musste, einer Last, von der sie naiverweise hoffte, dass sieirgendwann leichter werden würde, denn sie wusste nicht, dass sie für den Restihres Lebens nur auf neue und mannigfaltige Weise schmerzen würde.
Mr. Harvey sagte das Übliche: »Ich hoffe, sie kriegen den Mistkerl. Es tut mirLeid, dass Sie sie verloren haben.«
Ich war inzwischen in meinem Himmel, wo ich meine Gliedmaßen zusammensetzte undseine Dreistigkeit nicht fassen konnte. »Der Mann hat kein Schamgefühl«, sagteich zu Franny, meiner Aufnahmeberaterin. »Genau«, sagte sie, und das war alles,was sie antwortete. In meinem Himmel gab es nicht viel Gequatsche.
Mr. Harvey meinte, es würde nur einen Augenblick dauern, also folgte ich ihmein Stückchen weiter ins Maisfeld hinein, wo weniger Stängel abgebrochen waren,weil keiner hier die Abkürzung zur Junior High nahm. Meine Mom hatte meinemkleinen Bruder Buckley erzählt, der Mais auf dem Feld sei ungenießbar, als erfragte, warum niemand aus der Nachbarschaft ihn äße. »Der Mais ist für Pferde,nicht für Menschen«, sagte sie. »Auch nicht für Hunde?«, fragte Buckley.»Nein«, erwiderte meine Mutter. »Auch nicht für Dinosaurier?«, fragte Buckley.Und immer so weiter.
»Ich habe ein kleines Versteck gebaut«, sagte Mr. Harvey.
Er blieb stehen und wandte sich zu mir um.
»Ich sehe nichts«, sagte ich. Mir war bewusst, dass
Mr. Harvey mich merkwürdig anschaute. Ältere Männer hatten mich schon öfter soangeguckt, seit ich meinen
Babyspeck verloren hatte, aber normalerweise drehten sie meinetwegen nichtdurch, wenn ich meinen königsblauen Parka und meine superweiten, gelbenSchlaghosen trug. Seine Brille war klein und rund und hatte ein goldfarbenesGestell, und seine Augen blickten über sie hinweg auf mich.
»Du solltest aufmerksamer sein, Susie«, sagte er.
Ich hatte das Gefühl, ich müsste meine Aufmerksamkeit auf den Heimweg richten,doch ich tat es nicht. Wieso nicht? Franny meinte, solche Fragen seienfruchtlos. »Du hast es eben nicht getan, und damit hat sich's. Grüble
nicht darüber nach. Das bringt nichts. Du bist tot, und das musst duakzeptieren.«
»Versuch's noch mal«, sagte Mr. Harvey, und er hockte sich hin und klopfte aufden Boden.
»Was ist das?«, fragte ich.
Meine Ohren waren eiskalt. Die bunte Mütze mit der Bommel und den Glöckchen,die meine Mutter mir zu Weihnachten gemacht hatte, mochte ich nicht tragen. Ichhatte sie in meine Parkatasche gestopft.
Ich entsinne mich, dass ich hinüberging und neben ihm auf den Boden stampfte.Er fühlte sich noch härter an als gefrorene Erde, die schon ganz schön hartist.
»Das ist Holz«, sagte Mr. Harvey. »Damit der Eingang nicht einbricht. Ansonstenbesteht es nur aus Erde.«
»Was ist es?«, fragte ich. Ich fror nicht mehr und war auch nicht mehrmerkwürdig berührt von dem Blick, den er mir zugeworfen hatte. Es war, als wäreich im Naturkundeunterricht: Ich war neugierig.
»Komm und guck's dir an.«
Der Einstieg war unbequem, das räumte er ein, sobald wir beide in dem Lochwaren. Aber ich staunte so sehr darüber, wie er einen Schornstein gebaut hatte,der den Rauch ableiten würde, falls er da unten jemals ein Feuer machte, dassich über die Unbequemlichkeit des Ein- und Ausstiegs gar nicht nachdachte.Außerdem muss ich hinzufügen, dass Flucht kein Konzept war, mit dem ichwirklich Erfahrung hatte. Das Schlimmste, dem ich bisher hatte entfliehenmüssen, war Artie gewesen, ein seltsam aussehender Junge in der Schule, dessenVater Leichenbestatter war. Er tat gern so, als hätte er eine Spritze mitEinbalsamierungsflüssigkeit bei sich. Auf seine Hefte zeichnete er Spritzen,aus denen dunkle Kleckse tropften.
»Das ist klasse!«, sagte ich zu Mr. Harvey. Er hätte der Glöckner von NotreDame sein können, über den wir im Französischunterricht etwas gelesen hatten.Mir war es egal. Ich machte eine totale Kehrtwende. Ich war mein Bruder Buckleybei unserem Tagesausflug ins Naturkunde-Museum in New York, wo er sich in diedort ausgestellten riesigen Skelette verliebt hatte. Das Wort Klasse hatte ichseit der Grundschule nicht mehr in der Öffentlichkeit benutzt.
»Als ob man einem Baby seinen Lutscher wegnimmt«, sagte Franny.
Ich sehe das Erdloch vor mir, als wäre es gestern gewesen, und das ist es auch.Für uns ist das Leben ein ständiges Gestern. Das Loch war so groß wie einkleines Zimmer, die Abstellkammer in unserem Haus zum Beispiel, wo wir unsereStiefel und Regenmäntel aufbewahrten und Mom noch eine Waschmaschine mitTrockner hineingequetscht hatte, übereinander. Ich konnte fast aufrecht darinstehen, Mr. Harvey dagegen musste sich bücken. Durch die Art und Weise, wie ergegraben hatte, war an den Längsseiten eine Bank entstanden. Er setzte sichunverzüglich hin.
»Sieh dich um«, sagte er.
Ich starrte es voller Erstaunen an, das Bord über ihm, wo er Streichhölzer,eine Reihe Batterien und eine batteriegetriebene Leuchtstofflampe deponierthatte, die das einzige Licht im Raum ausstrahlte - ein unheimliches Licht, dasseine Gesichtszüge verschwimmen ließ, als er auf mir war.
Auf dem Bord lagen auch ein Spiegel und ein Rasierer und Rasierkrem. Das fandich komisch. Erledigte er das nicht zu Hause? Aber ich nahm wohl an, dass einMann, der ein vollkommen intaktes Einfamilienhaus hat und dann nur eine halbeMeile entfernt davon einen unterirdischen Raum baut, ein bisschen verrückt seinmuss. Mein Vater hatte eine nette Art, Menschen wie ihn zu beschreiben: »DerMann ist ein Original, weiter nichts.«
Also dachte ich wohl, Mr. Harvey sei ein Original, und der Raum gefiel mir, under war warm, und ich wollte wissen, wie er ihn gebaut hatte, wie das Ganzefunktionierte, und wo er all das gelernt hatte.
Aber bis der Hund der Gilberts drei Tage später meinen Ellbogen fand und miteiner verräterischen Maishülse daran nach Hause brachte, hatte Mr. Harvey dasLoch verschlossen. Ich war währenddessen im Transit. Deshalb kriegte ich nichtmit, wie er sich abschuftete, die hölzerne Verstärkung entfernte, sämtlicheBeweisstücke zusammen mit meinen Körperteilen einsackte, bis auf jenenEllbogen. Als ich dann endlich das Nötigste bereithatte, um wieder aufzutauchenund mir das Treiben auf der Erde anzuschauen, war ich mehr an meiner Familieals an irgendetwas anderem interessiert.
Meine Mutter saß mit offenem Mund auf einem Stuhl an der Haustür. Ihr blassesGesicht blasser, als ich es je gesehen hatte. Ihre blauen Augen starr. MeinenVater drängte es zur Betriebsamkeit. Er wollte Einzelheiten in Erfahrungbringen und gemeinsam mit den Polizisten das Maisfeld durchkämmen. Ich dankeGott heute noch für einen kleinen Kriminalbeamten namens Len Fenerman. Er wies zweiUniformierte an, meinen Dad in die Stadt zu begleiten und ihn alleÖrtlichkeiten aufzeigen zu lassen, wo ich mich mit meinen Freundinnenrumgetrieben hatte. Die Beamten hielten meinen Dad den ganzen ersten Tag langin einem einzigen Einkaufszentrum auf Trab. Niemand hatte Lindsey etwaserzählt, die dreizehn war und alt genug gewesen wäre, oder Buckley, der vierwar und, um ehrlich zu sein, nie vollständig durchblicken würde.
Mr. Harvey fragte mich, ob ich eine kleine Erfrischung wolle. So formulierte eres. Ich sagte, ich müsse nach Hause.
»Sei höflich und nimm eine Cola«, sagte er. »Die anderen Kinder würden bestimmteine trinken.«
»Welche anderen Kinder?«
»Ich habe das hier für die Kinder aus der Nachbarschaft gebaut. Ich dachte, eskönnte vielleicht so eine Art Clubhaus sein.«
Ich glaube nicht, dass ich ihm das abnahm, auch damals nicht. Ich war derMeinung, dass er log, doch ich fand, es war eine jämmerliche Lüge. Ich dachtemir, er sei wohl einsam. Wir hatten in Sexualkunde über Männer wie ihn gelesen.Männer, die nie heirateten und jeden Abend Tiefkühlgerichte aßen und solcheAngst vor Ablehnung hatten, dass sie nicht einmal Haustiere besaßen. Er tat mirLeid.
»Okay«, willigte ich ein. »Ich nehme eine Cola.«
Nach einer Weile fragte er: »Ist dir nicht warm, Susie? Warum ziehst du nichtdeinen Parka aus?«
Ich tat es.
Dann sagte er: »Du bist sehr hübsch, Susie.«
»Danke«, erwiderte ich, obwohl er mich so anguckte, dass mir, wie meineFreundin Clarissa und ich es nannten, ganz blümerant zu Mute wurde.
»Hast du einen Freund?«
»Nein, Mr. Harvey«, sagte ich. Ich schluckte den Rest meiner Cola herunter,eine ganze Menge, und sagte: »Ich muss gehen, Mr. Harvey. Es ist toll hier,aber ich muss gehen.«
Er stand auf und zog vor den sechs ausgegrabenen Stufen, die in die Weltführten, seine Glöckner-von-NotreDame-Nummer ab. »Ich weiß nicht, warum duglaubst, dass du gehen könntest.«
Ich redete, damit ich mir nicht klarmachen musste, dass Mr. Harvey keinOriginal war. Jetzt, da er den Eingang versperrte, war er mir unheimlich undekelte mich an.
»Mr. Harvey, ich muss wirklich nach Hause.«
»Zieh deine Sachen aus.«
»Was?«
»Zieh deine Sachen aus«, sagte Mr. Harvey. »Ich will überprüfen, ob du nochJungfrau bist.«
»Das bin ich, Mr. Harvey.«
»Ich will sichergehen. Deine Eltern werden mir dankbar sein.«
»Meine Eltern?«
»Sie wollen nur brave Mädchen«, sagte er.
»Mr. Harvey«, sagte ich, »bitte lassen Sie mich gehen.«
»Du gehst nicht, Susie. Du gehörst jetzt mir.«
Fitness war damals keine große Sache, Aerobic den wenigsten ein Begriff.Mädchen sollten weich und sanft sein, und nur die Mädchen, die wir im Verdachthatten, lesbisch zu sein, konnten in der Schule die Seile hochklettern.
Ich wehrte mich heftig. Ich wehrte mich, so gut ich konnte, dagegen, dass Mr.Harvey mir wehtat, doch mein So-gut-ich-konnte war nicht gut genug, nichtannähernd, und so lag ich bald auf dem Boden, im Boden, und er auf mir,keuchend und schwitzend, nachdem er bei dem Gerangel seine Brille verlorenhatte.
Ich war so lebendig damals. Ich dachte, es sei das Schlimmste auf der Welt, miteinem Mann auf mir flach auf dem Rücken zu liegen. In der Erde gefangen zusein, ohne dass jemand wusste, wo ich war.
Ich dachte an meine Mutter.
Meine Mutter sah bestimmt auf das Zifferblatt der Uhr an ihrem Backofen. Es warein neuer Herd, und es gefiel ihr zu gut, dass er eine Uhr hatte. »Ich kannalles auf die Minute genau zubereiten«, sagte sie zu ihrer eigenen Mutter,einer Mutter, der Backöfen vollkommen schnuppe waren.
Sie würde über meine Verspätung besorgt sein, allerdings eher ärgerlich alsbesorgt. Während mein Vater in
die Garage fuhr, würde sie herumfuhrwerken, ihm einen Drink eingießen, einentrockenen Sherry, und eine wütende Miene aufsetzen. »Du kennst doch die JuniorHigh«, würde sie sagen. »Womöglich ist Frühlingsfest.« »Abigail«, würde meinVater erwidern, »wie kann Frühlingsfest sein, wenn es schneit?« Nachdem siedamit gescheitert war, scheuchte meine Mutter vielleicht Buckley ins Zimmer undsagte: »Spiel mit deinem Vater«, während sie in die Küche abtauchte und sichselbst einen Schluck Sherry genehmigte.
© Goldmann Verlag
Übersetzung: Almuth Carstens
Autoren-Porträtvon Alice Sebold
Alice Sebold hat an der Syracuse University studiert, inManhattan und Kalifornien gelebt und für die New York Times sowie die ChicagoTribune geschrieben. Nach dem Buch "Lucky" ist der "In meinem Himmel" ihrzweites Buch und zugleich ihr Debüt als Romanautorin. Alice Sebold lebt mitihrem Mann, dem Schriftsteller Glen David Gold, in Kalifornien. Sie schreibtderzeit an ihrem neuen Roman.
- Autor: Alice Sebold
- 2003, 3, 380 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Amerikan. v. Almuth Carstens
- Verlag: MANHATTAN
- ISBN-10: 3442545528
- ISBN-13: 9783442545520
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