Haut / Inspector Jack Caffery Bd.4
Psychothriller
In der Nähe von Bristol wird eine Frauenleiche gefunden. Selbstmord? Inspector Caffery hat Zweifel - und soll Recht behalten. Und auch Polizeitaucherin Flea Marley hat ein dickes Problem: Im Kofferraum ihres Wagens liegt eine weitere Tote, eine Frau, nach der die Polizei fieberhaft sucht.
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Produktinformationen zu „Haut / Inspector Jack Caffery Bd.4 “
In der Nähe von Bristol wird eine Frauenleiche gefunden. Selbstmord? Inspector Caffery hat Zweifel - und soll Recht behalten. Und auch Polizeitaucherin Flea Marley hat ein dickes Problem: Im Kofferraum ihres Wagens liegt eine weitere Tote, eine Frau, nach der die Polizei fieberhaft sucht.
Klappentext zu „Haut / Inspector Jack Caffery Bd.4 “
Zwei mysteriöse Selbstmorde, ein teuflisches Wesen und Inspector Jack Caffery, der gegen seine eigene Angst ankämpftAls die Leiche einer Frau in der Nähe von Bristol gefunden wird, deutet alles auf einen Selbstmord hin. Doch Detective Inspector Caffery ist skeptisch, und tatsächlich bleibt es nicht bei einer Toten. Auch ein zweites Rätsel lässt ihn nicht los: die Suche nach einem Wesen, dem sogenannten "Tokoloshe", dem man Zauberkräfte zuspricht und der Caffery zu verfolgen scheint. Aber auch Polizeitaucherin Flea Marley ist in einem Alptraum gefangen. Denn im Kofferraum ihres Wagens entdeckt sie eine Tote - eine Frau, nach der die Polizei von Bristol fieberhaft sucht ...
Lese-Probe zu „Haut / Inspector Jack Caffery Bd.4 “
Haut von Mo Hayder1
Die menschliche Haut ist ein Organ, das größte des Körpers, und besteht aus der Dermis, der Epidermis und einer subkutanen Fettschicht. Wenn man sie in einem Stück abziehen und ausbreiten wollte, würde sie eine Fläche von knapp zwei Quadratmetern bedecken. Und sie ist schwer: Bei all dem Protein und dem damit verbundenen Fett hat sie ein enormes Gewicht. Die Haut eines gesunden erwachsenen Mannes wiegt zwischen zehn und fünfzehn Kilo, je nach seiner Größe. Genauso viel wie ein kleines Kind.
Die Haut einer Frau dagegen wiegt etwas weniger. Auch ihre Fläche ist kleiner.
Die meisten Männer mittleren Alters, selbst diejenigen, die allein in einer entlegenen Gegend von Somerset leben, würden niemals darüber nachdenken, wie eine Frau ohne ihre Haut aussähe. Sie würden auch keinen Grund haben, sich zu fragen, wie ihre Haut aussähe, wenn man sie ausgespannt auf eine Werkbank nagelte.
Aber natürlich sind die meisten Männer nicht wie dieser Mann.
Dieser Mann ist völlig anders.
2
... mehr
Tief in den regennassen Mendip Hills in Somerset liegen acht überflutete Kalksteinbrüche. Sie wurden schon vor langer Zeit stillgelegt; ihre Eigentümer haben sie durchnummeriert, von eins bis acht, und sie liegen in einem hufeisenförmigen Halbkreis beieinander. Nummer acht, am südöstlichen Ende, grenzt beinahe unmittelbar an das, was in der Umgebung als Elf's Grotto bezeichnet wird: die Elfengrotte, ein System aus tropfenden Höhlen und Gängen, die tief in die Erde hinunterreichen. Den regionalen Mythen zufolge führen geheime Ausgänge aus diesem Höhlensystem in die alten römischen Bleibergwerke, und in alten Zeiten haben die Elfen in Elf's Grotto die Tunnel als Fluchtwege benutzt. Manche sagen, wegen all der Sprengungen im zwanzigsten Jahrhundert münden diese Tunnel jetzt direkt in die gefluteten Steinbrüche.
Sergeant »Flea« Marley, die Leiterin der Unterwasser-Sucheinheit der Avon and Somerset Police ließ sich kurz nach vier an einem klaren Mainachmittag in den Steinbruch Nummer acht gleiten. Sie dachte nicht an geheime Eingänge. Sie suchte nicht nach Löchern in der Wand. Sie dachte an eine Frau, die seit drei Tagen vermisst war. Die Frau hieß Lucy Mahoney, und die Profis an Land glaubten, ihre Leiche könnte hier unten sein, irgendwo unter dieser weiten Wasserfläche, eingerollt in den Tang auf einem dieser Simse.
Flea tauchte zehn Meter hinunter und bewegte den Unterkiefer hin und her, um den Druck in ihren Ohren auszugleichen. In dieser Tiefe war das Wasser von einem gespenstischen, fast graugrünen Blau, und nur ein zarter Hauch von milchigem Kalksteinstaub schwebte da, wo ihre Flossen ihn aufgewirbelt hatten. Perfekt. Normalerweise herrschte in dem Wasser, in dem sie tauchte, null Sichtweite - als würde sie durch eine Suppe schwimmen, sodass sie ganz auf ihren Tastsinn angewiesen war -, aber hier unten konnte sie mindestens drei Meter weit sehen. Sie entfernte sich von der Einstiegsstelle und hangelte sich an der Kalksteinwand entlang, bis der Zug der Sicherungsleine konstant war. Sie erkannte jedes Detail, jede sich wiegende Wasserpflanze, jeden Steinblock auf dem Grund. Jede Stelle, an der eine Leiche hätte landen können.
»Sarge?« Police Corporal Wellard, ihr Leinenführer, sprach in sein Funkmikrofon, und seine Stimme ertönte in ihrem Ohr, als stünde er neben ihr. »Sehen Sie was?«
»Ja«, murmelte sie. »Ich sehe die Zukunft.«
»Hä?«
»Ich kann in die Zukunft sehen, Wellard. Ich sehe, wie ich in einer Stunde völlig durchgefroren hier auftauche. Und ich sehe die Enttäuschung in allen Gesichtern, weil ich mit leeren Händen komme.«
»Wieso?«
»Keine Ahnung. Ich glaube nur nicht, dass sie hier unten ist. Fühlt sich nicht so an. Seit wann wird sie vermisst?«
»Seit zweieinhalb Tagen.«
»Und ihr Wagen. Wo war der geparkt?«
»'ne halbe Meile weit von hier. Auf der B 3135.«
»Hielt man sie für depressiv?«
»Ihr Exmann wurde im Zusammenhang mit der Vermissten-
meldung befragt. Er sagt ganz entschieden, sie war es nicht.« »Und sonst keine Verbindung mit dem Steinbruch? Nichts,
was ihr gehört? Sie war nicht schon öfter hier oder so was?« »Nein.«
Flea paddelte mit den Flossen ein Stück weiter, und die Nabelschnur - die Luft- und Sprechfunkleitung, die sie mit der Oberfläche verband - wehte sanft hinter ihr her. Steinbruch Nummer acht war ein berüchtigter Ort für Selbstmörder. Vielleicht hatte der polizeiliche Fahndungsberater, Stuart Pearce, die Ansicht der Familie über Lucy Mahoney nicht geteilt. Vielleicht hatte er deshalb diese spezielle Nadel in die Landkarte gestochen und sie zu dieser Suchaktion eingeteilt. Entweder das - oder er klammerte sich an einen Strohhalm. Sie war Stuart Pearce schon begegnet. Vermutlich war Letzteres der Fall.
»Konnte sie schwimmen, Wellard? Ich hab vergessen, danach zu fagen.«
»Ja. Sie war eine gute Schwimmerin.«
»Dann muss sie sich mit einem Gewicht belastet haben, wenn sie Selbstmord begangen hat. Mit einem Rucksack oder so was. Das bedeutet, sie muss sich nah am Rand befinden. Lassen Sie uns die Suche im Pendelmuster durchführen, bis auf zehn Meter hinaus.«
»Äh, Sarge, da gibt's ein Problem. Bei zehn Metern kommen Sie tiefer als fünfzig Meter.«
Wellard besaß einen Plan des Steinbruchs. Flea hatte ihn oben studiert. Als die Steinbruchfirma fingerförmige Löcher gebohrt hatte, um den Sprengstoff hineinzuschieben, hatten sie zehn Meter lange Bohrer benutzt, und folglich war das Gestein - bevor sie die Pumpen abschalten und das Wasser in den Steinbruch strömen ließen - in zehn Meter dicken Scheiben abgesprengt worden. An einem Ende betrug die Wassertiefe zwanzig bis dreißig Meter, am anderen war es tiefer; da ging es mehr als fünfzig Meter hinunter. Die Vorschrift der Gesundheits- und Sicherheitsabteilung war eindeutig: Kein Polizeitaucher hatte die Genehmigung, tiefer als fünfzig Meter zu tauchen. Niemals.
»Sarge? Haben Sie gehört? Am Ende des Suchbogens wären Sie fünfzig Meter tief. Vielleicht tiefer.«
Sie räusperte sich. »Haben Sie das ganze Bananenbrot aufgegessen?«
»Hä?«
An diesem Morgen vor Dienstantritt hatte sie Bananenbrot für das ganze Team gebacken. So etwas tat sie normalerweise nicht. Sie war die zweitjüngste nach Wellard und der Boss, aber sie bemutterte niemanden. Und sie hatte es nicht getan, weil sie gern backte. Sie hatten in letzter Zeit schlimme Zeiten durchgemacht: Einer von ihnen hatte aus psychischen Gründen Sonderurlaub, und nach dem, was er zu Anfang der Woche hatte durchmachen müssen, würde er wahrscheinlich nicht zurückkehren. Dazu kamen ihre miesen Launen; in den letzten zwei Jahren war es ein Albtraum gewesen, mit ihr zu arbeiten. Ab und zu musste sie ihnen etwas zurückgeben.
»Haben wir, ja. Aber Sarge, da sind ein paar Senken, die weit über fünfzig Meter tief sind.«
»Auf wessen Seite stehen Sie, Wellard? Auf unserer oder auf der des Sicherheitsbeauftragten?«
Schweigen. Besser gesagt, Wellards lautloses Murren. Wenn es darum ging, sich wie ein altes Weib aufzuführen, steckte er mühelos das ganze Team in die Tasche. »Okay. Aber wenn Sie es wirklich machen wollen, werde ich den Lautsprecher leiser stellen. Der ganze Steinbruch kann Sie hören, und wir haben heute eine Zuschauergalerie.«
»Wieso?«
»Da ist eine Verkehrsstreife vorbeigekommen, um zu gucken, und die stehen jetzt da oben auf den Zementstaubdünen. Ich glaube, sie trinken Kaffee.«
»Ich nehme an, dieser bescheuerte Fahndungsberater ist nicht dabei, oder?«
»Noch nicht.«
»Wie schön.« Jetzt wurde sie sarkastisch. »Es wird nur manchmal als höflich empfunden, wenn der Fahndungsberater seinen Arsch ebenfalls aus dem Bett bewegt, wenn er ein Team rausjagt wie in diesem Fall.«
Sie wurde langsamer. Im dunkler werdenden Wasser vor ihr spannte sich ein Netz über ihren Weg. Dahinter lag der Abschnitt, wo der Grund auf über fünfzig Meter abfiel. Das Wasser dort wirkte dunkler und blauer. Kälter. Der Bereich war so unsicher, dass die Firma dort ein Netz gespannt hatte, um die Hobbytaucher, die hier manchmal ihre Übungen absolvierten, zurückzuhalten. Sie griff in das Netz, schaltete die Tauchlampe ein und richtete den Lichtstrahl auf den Boden des Steinbruchs, der dort steil abfiel.
Sie war Pearce erst einmal begegnet, aber das hatte genügt. Sie würde sich von ihm nicht einschüchtern lassen. Selbst wenn es bedeutete, gegen alle Berufsregeln zu verstoßen - sie würde den Teufel tun und die Suche hier abbrechen. Rechts neben sich entdeckte sie ein in Beton eingelassenes Schild. Die Worte waren grün von Algen: Gefahr: Tiefe über 50 Meter. Stichprobenkontrollen der Tauchcomputer in diesem Bereich. Tauchen Sie nicht jenseits Ihrer Fähigkeiten.
Eine gute Stelle, um den Tauchcomputer aufzuhängen, dachte sie. Nimm das Gerät vom Handgelenk, häng es an einen der Nägel, und auf dem Rückweg kannst du es wieder abholen. Niemand würde nachher bei einer Kontrolle merken, dass du tiefer als fünfzig Meter getaucht bist. Die Computereinheit oben registrierte kein Tauchprotokoll. Solche Tricks hatte ihr Dad angewandt, als er noch lebte. Er war ein Extremsporttaucher gewesen, und er hatte alles getan, um die Grenzen immer weiter zu verschieben und so tief zu tauchen, wie er wollte.
Mit ihrem Tauchermesser schnitt sie ein Loch in das Netz. Dann nahm sie vorsichtig den Tauchcomputer ab und hängte ihn an das Schild. Mit eingeschalteter Lampe glitt sie durch die Öffnung und folgte dem Lichtstrahl hinunter in die Dunkelheit.
Der Steuerstrich ihres Kompasses lag hart auf Nordwest, als sie anfing abwärtszuschwimmen, tiefer und immer tiefer; sie folgte der Felsformation und blieb ungefähr zwei Meter darüber. Wellard rollte die Führungsleine hinter ihr ab. Der Plan hatte gestimmt: Es war tief hier. Sie glitt langsam nach unten, ließ sich vom Lichtstrahl leiten und rechnete im Kopf. Ohne Computer würde sie Grundzeit und Dekompressionspausen selbst kalkulieren müssen.
Im Dunkeln rechts von ihr bewegte sich etwas. Sie riss die Lampe herum und spähte in den Lichtstrahl; sie pendelte aus und schwebte horizontal im Wasser. In Steinbruch Nummer acht lebten keine Fische. Er war vor Jahren geflutet worden, und das Unternehmen hatte niemals welche eingesetzt. Bäche waren auch nicht in der Nähe, also würde es nicht mal Krebse geben. Außerdem - was sich da bewegt hatte, war kein Fisch. Es war zu groß gewesen.
Ihr Herz schlug tief in der Brust. Sie atmete gleichmäßig - zu tief, und sie würde aufsteigen, zu flach, und sie würde Auftrieb verlieren. Hier unten sollte und konnte sich nichts bewegen, denn es gab auch keine Strömung. Alles sollte still sein. Langsam schwamm sie auf die Stelle zu, wo sie die Bewegung bemerkt hatte.
»Sarge?« Wellard hatte oben sofort gemerkt, dass sie den Kurs gewechselt hatte. »Alles okay?«
»Ja, ja. Geben Sie mir noch ein Bar.«
Wenn sie tiefer ging, war es Wellards Aufgabe an der Steuereinheit, den Druck der Luft zu erhöhen, die durch die Nabelschnur zu ihr herunterkam. Sie drehte sich um und leuchtete mit der Lampe hinter sich, um zu sehen, wie weit sie sich von dem Netz entfernt hatte. Wahrscheinlich war sie ungefähr siebenundvierzig Meter tief und ging langsam tiefer. Noch drei Meter, und sie hätte die vorgeschriebene Tauchgrenze erreicht. »Ja - auf sechzehn.«
»Sechzehn Bar? Das bringt Sie auf ...«
»Ich weiß, wohin es mich bringt. Lassen Sie das meine Sorge sein.«
Sie schwamm weiter und streckte jetzt die Hände vor sich aus, weil sie nicht sicher war, was sie erwartete. Achtundvierzig Meter. Neunundvierzig. Jetzt war sie da, wo sie die Bewegung gesehen hatte.
»Sarge? Wissen Sie, wie tief Sie sind?«
»Halten Sie«, flüsterte sie. »Halten Sie mich stabil.«
Sie richtete die Lampe nach oben und schaute in die Höhe. Es war eine ungemütliche Haltung, denn die Maske wollte sich heben, sodass Wasser eindringen konnte. Sie drückte sie mit den Fingerspitzen ans Gesicht und spähte in den silbrig sprudelnden Strom der Luftblasen, die in einer langen Kolonne zielstrebig über ihr hochstiegen - zur Oberfläche, die jetzt so weit entfernt war, dass man sie nicht mehr erkennen konnte. Da befand sich etwas in dieser funkelnden Säule. Flea war sicher. Etwas Dunkles schwamm da oben. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Waren das nackte Fußsohlen?
»Sarge, das reicht. Sie sind über fünfzig. Können Sie mich hören?«
»Hey, Wellard«, flüsterte sie. Die Luftblasen waren verschwunden, hatten sich aufgelöst in frostige Zacken aus Licht. Plötzlich sah alles wieder so aus, wie es sein sollte. Das Wasser war leer. »Ist hier noch jemand drin?«
»Noch jemand?«
»Ja«, fauchte sie; es sollte nicht klingen, als hätte sie Angst. Hoffentlich waren die Lautsprecher leise gestellt. Nicht jeder am Ufer brauchte ihre Stimme zu hören. »Schwimmt außer mir noch jemand hier herum? Das müssten Sie doch mitbekommen haben.«
Pause. Ein kurzes Zögern. Dann seine Stimme, ein wachsamer Unterton. »Boss? Sie wissen, dass Sie weit drüber sind, oder? Vielleicht wird's Zeit, den zweiten Mann runterzuschicken.«
N2-Narkose, meinte er. In dieser Tiefe war es leicht, von der desorientierenden, giftigen Wirkung überwältigt zu werden, die Stickstoff unter hohen Druckverhältnissen haben konnte. Sie dachte und reagierte, als hätte sie einen Nachmittag im Pub verbracht. Eine Halluzination wie diese vorhin war das klassische Merkmal einer N2-Narkose. Sie starrte den Luftblasen nach. Da war etwas Dunkles gewesen, so groß wie eine große Schildkröte. Aber ohne Panzer. Es war glatt und haarlos gewesen, agil und kräftig. Mit den Füßen eines Menschen.
»Ich habe keine Narkose, Wellard, ich schwör's Ihnen. Sagen Sie mir nur, dass hier unten nicht noch jemand herum-schwimmt. Das ist alles.«
»Da ist sonst niemand, okay? Und der Rettungstaucher bereitet sich jetzt vor.«
»Nein.« Ihre Nabelschnur war hinter ihr an einem Grat oder einem Stein hängen geblieben. Gereizt hob sie die Schultern, wedelte mit der rechten Hand und spürte, wie das Kabel sich wieder löste und freikam. »Nicht nötig, dass jemand herunterkommt. Ich bin hier fast fertig.«
Wellard hatte natürlich recht. Wenn es sich um eine Narkose handelte, dann sollte sie herauskommen. Aber sie brauchte noch eine Minute, um sich zu vergewissern, dass sie alles abgesucht hatte. Also neigte sie sich nach unten, und es fühlte sich gut an, wie der Druck auf der Maske nachließ. Sie leuchtete nach vorn. Dort, ungefähr zehn Meter weiter, war die Wand des Steinbruchs zu Ende; sie hatte den Grund erreicht. Weiter ging es nicht, und es gab keinen Zweifel: Lucy Mahoney war nicht hier. Gut. Sie hatte recht gehabt. Es würde Spass machen aufzusteigen und Pearce mitzuteilen, dass er sich geirrt habe.
Die Gummidichtung ihrer Maske sog sich an ihrem Gesicht fest - und blockierte.
Sie griff nach der Maske. Versuchte, Atem zu holen. Aber da kam nichts; die Dichtung saugte sich noch fester, und sie verspürte einen vertrauten Druck unter dem Brustbein. Sie kannte das Gefühl vom Training her. Die Luft kam nicht durch. Sie fummelte über ihrem rechten Ohr an der Maske. Das war sicher kein Problem; das Team da oben pumpte die Luft zu ihr herunter, und der Vorrat konnte nicht zu Ende sein. Aber manchmal verhakte sich die Nabelschnur mit dem Druckhebel an der Maske und sperrte die Zufuhr ab. Das war leicht zu beheben. Wenn man Ruhe behielt. Ruhe.
Ihr Herz klopfte, als sie den Hebel fand. Sie drückte ihn herunter und versuchte noch einmal zu atmen. Ihre Rippen spannten sich. Nichts kam. Sofort stellte sie den Hebel hoch.
Nichts.
Herunter. Nichts.
»Sarge?« Wellard klang panisch. »Was ist los? Was läuft da unten?«
Aber sie hatte keine Luft zum Antworten. Die Arme schmerzten. In ihrem Kopf dröhnte es, und es fühlte sich an, als wäre er auf die zweifache Größe angeschwollen. Als stünde jemand auf ihrer Brust. Sie riss den Kopf in den Nacken. Ihr Mund stand weit offen. Sie tastete nach dem Schalterblock an ihrer Weste, um auf die Notfallflasche umzuschalten.
»Sarge? Ich habe sämtliche Ventile offen, aber irgendwoher dringt Luft ein. Haben Sie Druck?«
Sie wusste, was da oben jetzt vorging. Der Standby-Taucher würde sich hektisch in den Anzug zwängen; vor lauter Panik würden seine Finger sich in den Gurten der Maske verheddern, und er würde alles vergessen, was er gelernt hatte. Seine Knie würden zittern. Er würde nicht rechtzeitig kommen. Sie hatte nur noch Sekunden, keine Minuten mehr.
Mit einer gefühllosen Hand schlug sie an ihre Weste. Fand den Schalterblock nicht. Ihr Kopf schwoll immer weiter, immer härter an. Es kribbelte in ihren Gliedern.
»Ich muss Sie rausziehen, Sarge. Das muss ich einfach.«
Sie hörte nicht mehr zu. Die Zeit lief immer langsamer, und Wellard, der verzweifelt die Führungsleine einholte und sie herauszog, war in einer anderen Welt. Auf einem anderen Planeten. Sie wusste, dass ihr erschlaffter Körper sich ruckartig rückwärts durch das Wasser bewegte. Sie spürte, dass die Lampe aus ihren Fingern glitt, sie fühlte, wie sie träge an ihr Bein stieß, bevor sie versank. Sie versuchte nicht, sie festzuhalten.
In der Dunkelheit zehn Meter vor ihr war etwas aufgetaucht, das aussah wie eine weiße Qualle. Nicht das, was sie kurz vorher halluziniert hatte, sondern etwas anderes, das sich blähte, sich in gespenstischen Spiralbewegungen hob und senkte wie eine Wolke aus Haaren. Es schien da zu schweben, von unsichtbaren Strömungen hin und her geschoben, als wäre es irgendwohin unterwegs gewesen - vielleicht zum Grund - und hätte jetzt innegehalten, um sie zu beobachten. Als interessierte es sich für das, was hier passierte. Für ihren Kampf.
Die Oberseite dieses Dings hob sich, streckte sich, verlängerte sich zu langen, rankenähnlichen Haaren, und jetzt wusste sie, was sie sah.
Mum.
Mum, die seit zwei Jahren tot war. Das lange blonde Haar, das sie immer im Nacken zu einem Knoten gebunden hatte, hob sich und wallte in der Dunkelheit, wehte um ihr Gesicht.
»Wach auf, Flea. Gib Acht auf dich.«
Flea antwortete nicht. Sie konnte es nicht. In der realen Welt hatte ihr Körper sich auf die Seite gelegt und zuckte wie ein Fisch mit geplatzter Schwimmblase.
»Gib Acht auf dich.«
Mum drehte sich. Mit den Bewegungen ihrer kleinen weißen Hände steuerte sie ihren Körper so, dass sie Flea ins Gesicht sehen konnte. Ihr Haar umwehte sie, und ihre schlanken weißen Beine schwebten hinter ihr wie ein Schleier. Ihr liebes, fahles Gesicht war jetzt ganz nah, und sie legte Flea die Hände auf die Schultern. »Hör zu.« Ihr Ton war scharf. »Wach auf! Sofort. Gib Acht auf dich.«
Sie schüttelte Flea, und als diese nicht reagierte, umfasste sie ihre Hand, führte sie zu dem Schalterblock und legte den Schalter um, der die Sauerstoffversorgung auf die Tauchflasche umstellte.
Übersetzung: Rainer Schmidt
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Tief in den regennassen Mendip Hills in Somerset liegen acht überflutete Kalksteinbrüche. Sie wurden schon vor langer Zeit stillgelegt; ihre Eigentümer haben sie durchnummeriert, von eins bis acht, und sie liegen in einem hufeisenförmigen Halbkreis beieinander. Nummer acht, am südöstlichen Ende, grenzt beinahe unmittelbar an das, was in der Umgebung als Elf's Grotto bezeichnet wird: die Elfengrotte, ein System aus tropfenden Höhlen und Gängen, die tief in die Erde hinunterreichen. Den regionalen Mythen zufolge führen geheime Ausgänge aus diesem Höhlensystem in die alten römischen Bleibergwerke, und in alten Zeiten haben die Elfen in Elf's Grotto die Tunnel als Fluchtwege benutzt. Manche sagen, wegen all der Sprengungen im zwanzigsten Jahrhundert münden diese Tunnel jetzt direkt in die gefluteten Steinbrüche.
Sergeant »Flea« Marley, die Leiterin der Unterwasser-Sucheinheit der Avon and Somerset Police ließ sich kurz nach vier an einem klaren Mainachmittag in den Steinbruch Nummer acht gleiten. Sie dachte nicht an geheime Eingänge. Sie suchte nicht nach Löchern in der Wand. Sie dachte an eine Frau, die seit drei Tagen vermisst war. Die Frau hieß Lucy Mahoney, und die Profis an Land glaubten, ihre Leiche könnte hier unten sein, irgendwo unter dieser weiten Wasserfläche, eingerollt in den Tang auf einem dieser Simse.
Flea tauchte zehn Meter hinunter und bewegte den Unterkiefer hin und her, um den Druck in ihren Ohren auszugleichen. In dieser Tiefe war das Wasser von einem gespenstischen, fast graugrünen Blau, und nur ein zarter Hauch von milchigem Kalksteinstaub schwebte da, wo ihre Flossen ihn aufgewirbelt hatten. Perfekt. Normalerweise herrschte in dem Wasser, in dem sie tauchte, null Sichtweite - als würde sie durch eine Suppe schwimmen, sodass sie ganz auf ihren Tastsinn angewiesen war -, aber hier unten konnte sie mindestens drei Meter weit sehen. Sie entfernte sich von der Einstiegsstelle und hangelte sich an der Kalksteinwand entlang, bis der Zug der Sicherungsleine konstant war. Sie erkannte jedes Detail, jede sich wiegende Wasserpflanze, jeden Steinblock auf dem Grund. Jede Stelle, an der eine Leiche hätte landen können.
»Sarge?« Police Corporal Wellard, ihr Leinenführer, sprach in sein Funkmikrofon, und seine Stimme ertönte in ihrem Ohr, als stünde er neben ihr. »Sehen Sie was?«
»Ja«, murmelte sie. »Ich sehe die Zukunft.«
»Hä?«
»Ich kann in die Zukunft sehen, Wellard. Ich sehe, wie ich in einer Stunde völlig durchgefroren hier auftauche. Und ich sehe die Enttäuschung in allen Gesichtern, weil ich mit leeren Händen komme.«
»Wieso?«
»Keine Ahnung. Ich glaube nur nicht, dass sie hier unten ist. Fühlt sich nicht so an. Seit wann wird sie vermisst?«
»Seit zweieinhalb Tagen.«
»Und ihr Wagen. Wo war der geparkt?«
»'ne halbe Meile weit von hier. Auf der B 3135.«
»Hielt man sie für depressiv?«
»Ihr Exmann wurde im Zusammenhang mit der Vermissten-
meldung befragt. Er sagt ganz entschieden, sie war es nicht.« »Und sonst keine Verbindung mit dem Steinbruch? Nichts,
was ihr gehört? Sie war nicht schon öfter hier oder so was?« »Nein.«
Flea paddelte mit den Flossen ein Stück weiter, und die Nabelschnur - die Luft- und Sprechfunkleitung, die sie mit der Oberfläche verband - wehte sanft hinter ihr her. Steinbruch Nummer acht war ein berüchtigter Ort für Selbstmörder. Vielleicht hatte der polizeiliche Fahndungsberater, Stuart Pearce, die Ansicht der Familie über Lucy Mahoney nicht geteilt. Vielleicht hatte er deshalb diese spezielle Nadel in die Landkarte gestochen und sie zu dieser Suchaktion eingeteilt. Entweder das - oder er klammerte sich an einen Strohhalm. Sie war Stuart Pearce schon begegnet. Vermutlich war Letzteres der Fall.
»Konnte sie schwimmen, Wellard? Ich hab vergessen, danach zu fagen.«
»Ja. Sie war eine gute Schwimmerin.«
»Dann muss sie sich mit einem Gewicht belastet haben, wenn sie Selbstmord begangen hat. Mit einem Rucksack oder so was. Das bedeutet, sie muss sich nah am Rand befinden. Lassen Sie uns die Suche im Pendelmuster durchführen, bis auf zehn Meter hinaus.«
»Äh, Sarge, da gibt's ein Problem. Bei zehn Metern kommen Sie tiefer als fünfzig Meter.«
Wellard besaß einen Plan des Steinbruchs. Flea hatte ihn oben studiert. Als die Steinbruchfirma fingerförmige Löcher gebohrt hatte, um den Sprengstoff hineinzuschieben, hatten sie zehn Meter lange Bohrer benutzt, und folglich war das Gestein - bevor sie die Pumpen abschalten und das Wasser in den Steinbruch strömen ließen - in zehn Meter dicken Scheiben abgesprengt worden. An einem Ende betrug die Wassertiefe zwanzig bis dreißig Meter, am anderen war es tiefer; da ging es mehr als fünfzig Meter hinunter. Die Vorschrift der Gesundheits- und Sicherheitsabteilung war eindeutig: Kein Polizeitaucher hatte die Genehmigung, tiefer als fünfzig Meter zu tauchen. Niemals.
»Sarge? Haben Sie gehört? Am Ende des Suchbogens wären Sie fünfzig Meter tief. Vielleicht tiefer.«
Sie räusperte sich. »Haben Sie das ganze Bananenbrot aufgegessen?«
»Hä?«
An diesem Morgen vor Dienstantritt hatte sie Bananenbrot für das ganze Team gebacken. So etwas tat sie normalerweise nicht. Sie war die zweitjüngste nach Wellard und der Boss, aber sie bemutterte niemanden. Und sie hatte es nicht getan, weil sie gern backte. Sie hatten in letzter Zeit schlimme Zeiten durchgemacht: Einer von ihnen hatte aus psychischen Gründen Sonderurlaub, und nach dem, was er zu Anfang der Woche hatte durchmachen müssen, würde er wahrscheinlich nicht zurückkehren. Dazu kamen ihre miesen Launen; in den letzten zwei Jahren war es ein Albtraum gewesen, mit ihr zu arbeiten. Ab und zu musste sie ihnen etwas zurückgeben.
»Haben wir, ja. Aber Sarge, da sind ein paar Senken, die weit über fünfzig Meter tief sind.«
»Auf wessen Seite stehen Sie, Wellard? Auf unserer oder auf der des Sicherheitsbeauftragten?«
Schweigen. Besser gesagt, Wellards lautloses Murren. Wenn es darum ging, sich wie ein altes Weib aufzuführen, steckte er mühelos das ganze Team in die Tasche. »Okay. Aber wenn Sie es wirklich machen wollen, werde ich den Lautsprecher leiser stellen. Der ganze Steinbruch kann Sie hören, und wir haben heute eine Zuschauergalerie.«
»Wieso?«
»Da ist eine Verkehrsstreife vorbeigekommen, um zu gucken, und die stehen jetzt da oben auf den Zementstaubdünen. Ich glaube, sie trinken Kaffee.«
»Ich nehme an, dieser bescheuerte Fahndungsberater ist nicht dabei, oder?«
»Noch nicht.«
»Wie schön.« Jetzt wurde sie sarkastisch. »Es wird nur manchmal als höflich empfunden, wenn der Fahndungsberater seinen Arsch ebenfalls aus dem Bett bewegt, wenn er ein Team rausjagt wie in diesem Fall.«
Sie wurde langsamer. Im dunkler werdenden Wasser vor ihr spannte sich ein Netz über ihren Weg. Dahinter lag der Abschnitt, wo der Grund auf über fünfzig Meter abfiel. Das Wasser dort wirkte dunkler und blauer. Kälter. Der Bereich war so unsicher, dass die Firma dort ein Netz gespannt hatte, um die Hobbytaucher, die hier manchmal ihre Übungen absolvierten, zurückzuhalten. Sie griff in das Netz, schaltete die Tauchlampe ein und richtete den Lichtstrahl auf den Boden des Steinbruchs, der dort steil abfiel.
Sie war Pearce erst einmal begegnet, aber das hatte genügt. Sie würde sich von ihm nicht einschüchtern lassen. Selbst wenn es bedeutete, gegen alle Berufsregeln zu verstoßen - sie würde den Teufel tun und die Suche hier abbrechen. Rechts neben sich entdeckte sie ein in Beton eingelassenes Schild. Die Worte waren grün von Algen: Gefahr: Tiefe über 50 Meter. Stichprobenkontrollen der Tauchcomputer in diesem Bereich. Tauchen Sie nicht jenseits Ihrer Fähigkeiten.
Eine gute Stelle, um den Tauchcomputer aufzuhängen, dachte sie. Nimm das Gerät vom Handgelenk, häng es an einen der Nägel, und auf dem Rückweg kannst du es wieder abholen. Niemand würde nachher bei einer Kontrolle merken, dass du tiefer als fünfzig Meter getaucht bist. Die Computereinheit oben registrierte kein Tauchprotokoll. Solche Tricks hatte ihr Dad angewandt, als er noch lebte. Er war ein Extremsporttaucher gewesen, und er hatte alles getan, um die Grenzen immer weiter zu verschieben und so tief zu tauchen, wie er wollte.
Mit ihrem Tauchermesser schnitt sie ein Loch in das Netz. Dann nahm sie vorsichtig den Tauchcomputer ab und hängte ihn an das Schild. Mit eingeschalteter Lampe glitt sie durch die Öffnung und folgte dem Lichtstrahl hinunter in die Dunkelheit.
Der Steuerstrich ihres Kompasses lag hart auf Nordwest, als sie anfing abwärtszuschwimmen, tiefer und immer tiefer; sie folgte der Felsformation und blieb ungefähr zwei Meter darüber. Wellard rollte die Führungsleine hinter ihr ab. Der Plan hatte gestimmt: Es war tief hier. Sie glitt langsam nach unten, ließ sich vom Lichtstrahl leiten und rechnete im Kopf. Ohne Computer würde sie Grundzeit und Dekompressionspausen selbst kalkulieren müssen.
Im Dunkeln rechts von ihr bewegte sich etwas. Sie riss die Lampe herum und spähte in den Lichtstrahl; sie pendelte aus und schwebte horizontal im Wasser. In Steinbruch Nummer acht lebten keine Fische. Er war vor Jahren geflutet worden, und das Unternehmen hatte niemals welche eingesetzt. Bäche waren auch nicht in der Nähe, also würde es nicht mal Krebse geben. Außerdem - was sich da bewegt hatte, war kein Fisch. Es war zu groß gewesen.
Ihr Herz schlug tief in der Brust. Sie atmete gleichmäßig - zu tief, und sie würde aufsteigen, zu flach, und sie würde Auftrieb verlieren. Hier unten sollte und konnte sich nichts bewegen, denn es gab auch keine Strömung. Alles sollte still sein. Langsam schwamm sie auf die Stelle zu, wo sie die Bewegung bemerkt hatte.
»Sarge?« Wellard hatte oben sofort gemerkt, dass sie den Kurs gewechselt hatte. »Alles okay?«
»Ja, ja. Geben Sie mir noch ein Bar.«
Wenn sie tiefer ging, war es Wellards Aufgabe an der Steuereinheit, den Druck der Luft zu erhöhen, die durch die Nabelschnur zu ihr herunterkam. Sie drehte sich um und leuchtete mit der Lampe hinter sich, um zu sehen, wie weit sie sich von dem Netz entfernt hatte. Wahrscheinlich war sie ungefähr siebenundvierzig Meter tief und ging langsam tiefer. Noch drei Meter, und sie hätte die vorgeschriebene Tauchgrenze erreicht. »Ja - auf sechzehn.«
»Sechzehn Bar? Das bringt Sie auf ...«
»Ich weiß, wohin es mich bringt. Lassen Sie das meine Sorge sein.«
Sie schwamm weiter und streckte jetzt die Hände vor sich aus, weil sie nicht sicher war, was sie erwartete. Achtundvierzig Meter. Neunundvierzig. Jetzt war sie da, wo sie die Bewegung gesehen hatte.
»Sarge? Wissen Sie, wie tief Sie sind?«
»Halten Sie«, flüsterte sie. »Halten Sie mich stabil.«
Sie richtete die Lampe nach oben und schaute in die Höhe. Es war eine ungemütliche Haltung, denn die Maske wollte sich heben, sodass Wasser eindringen konnte. Sie drückte sie mit den Fingerspitzen ans Gesicht und spähte in den silbrig sprudelnden Strom der Luftblasen, die in einer langen Kolonne zielstrebig über ihr hochstiegen - zur Oberfläche, die jetzt so weit entfernt war, dass man sie nicht mehr erkennen konnte. Da befand sich etwas in dieser funkelnden Säule. Flea war sicher. Etwas Dunkles schwamm da oben. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Waren das nackte Fußsohlen?
»Sarge, das reicht. Sie sind über fünfzig. Können Sie mich hören?«
»Hey, Wellard«, flüsterte sie. Die Luftblasen waren verschwunden, hatten sich aufgelöst in frostige Zacken aus Licht. Plötzlich sah alles wieder so aus, wie es sein sollte. Das Wasser war leer. »Ist hier noch jemand drin?«
»Noch jemand?«
»Ja«, fauchte sie; es sollte nicht klingen, als hätte sie Angst. Hoffentlich waren die Lautsprecher leise gestellt. Nicht jeder am Ufer brauchte ihre Stimme zu hören. »Schwimmt außer mir noch jemand hier herum? Das müssten Sie doch mitbekommen haben.«
Pause. Ein kurzes Zögern. Dann seine Stimme, ein wachsamer Unterton. »Boss? Sie wissen, dass Sie weit drüber sind, oder? Vielleicht wird's Zeit, den zweiten Mann runterzuschicken.«
N2-Narkose, meinte er. In dieser Tiefe war es leicht, von der desorientierenden, giftigen Wirkung überwältigt zu werden, die Stickstoff unter hohen Druckverhältnissen haben konnte. Sie dachte und reagierte, als hätte sie einen Nachmittag im Pub verbracht. Eine Halluzination wie diese vorhin war das klassische Merkmal einer N2-Narkose. Sie starrte den Luftblasen nach. Da war etwas Dunkles gewesen, so groß wie eine große Schildkröte. Aber ohne Panzer. Es war glatt und haarlos gewesen, agil und kräftig. Mit den Füßen eines Menschen.
»Ich habe keine Narkose, Wellard, ich schwör's Ihnen. Sagen Sie mir nur, dass hier unten nicht noch jemand herum-schwimmt. Das ist alles.«
»Da ist sonst niemand, okay? Und der Rettungstaucher bereitet sich jetzt vor.«
»Nein.« Ihre Nabelschnur war hinter ihr an einem Grat oder einem Stein hängen geblieben. Gereizt hob sie die Schultern, wedelte mit der rechten Hand und spürte, wie das Kabel sich wieder löste und freikam. »Nicht nötig, dass jemand herunterkommt. Ich bin hier fast fertig.«
Wellard hatte natürlich recht. Wenn es sich um eine Narkose handelte, dann sollte sie herauskommen. Aber sie brauchte noch eine Minute, um sich zu vergewissern, dass sie alles abgesucht hatte. Also neigte sie sich nach unten, und es fühlte sich gut an, wie der Druck auf der Maske nachließ. Sie leuchtete nach vorn. Dort, ungefähr zehn Meter weiter, war die Wand des Steinbruchs zu Ende; sie hatte den Grund erreicht. Weiter ging es nicht, und es gab keinen Zweifel: Lucy Mahoney war nicht hier. Gut. Sie hatte recht gehabt. Es würde Spass machen aufzusteigen und Pearce mitzuteilen, dass er sich geirrt habe.
Die Gummidichtung ihrer Maske sog sich an ihrem Gesicht fest - und blockierte.
Sie griff nach der Maske. Versuchte, Atem zu holen. Aber da kam nichts; die Dichtung saugte sich noch fester, und sie verspürte einen vertrauten Druck unter dem Brustbein. Sie kannte das Gefühl vom Training her. Die Luft kam nicht durch. Sie fummelte über ihrem rechten Ohr an der Maske. Das war sicher kein Problem; das Team da oben pumpte die Luft zu ihr herunter, und der Vorrat konnte nicht zu Ende sein. Aber manchmal verhakte sich die Nabelschnur mit dem Druckhebel an der Maske und sperrte die Zufuhr ab. Das war leicht zu beheben. Wenn man Ruhe behielt. Ruhe.
Ihr Herz klopfte, als sie den Hebel fand. Sie drückte ihn herunter und versuchte noch einmal zu atmen. Ihre Rippen spannten sich. Nichts kam. Sofort stellte sie den Hebel hoch.
Nichts.
Herunter. Nichts.
»Sarge?« Wellard klang panisch. »Was ist los? Was läuft da unten?«
Aber sie hatte keine Luft zum Antworten. Die Arme schmerzten. In ihrem Kopf dröhnte es, und es fühlte sich an, als wäre er auf die zweifache Größe angeschwollen. Als stünde jemand auf ihrer Brust. Sie riss den Kopf in den Nacken. Ihr Mund stand weit offen. Sie tastete nach dem Schalterblock an ihrer Weste, um auf die Notfallflasche umzuschalten.
»Sarge? Ich habe sämtliche Ventile offen, aber irgendwoher dringt Luft ein. Haben Sie Druck?«
Sie wusste, was da oben jetzt vorging. Der Standby-Taucher würde sich hektisch in den Anzug zwängen; vor lauter Panik würden seine Finger sich in den Gurten der Maske verheddern, und er würde alles vergessen, was er gelernt hatte. Seine Knie würden zittern. Er würde nicht rechtzeitig kommen. Sie hatte nur noch Sekunden, keine Minuten mehr.
Mit einer gefühllosen Hand schlug sie an ihre Weste. Fand den Schalterblock nicht. Ihr Kopf schwoll immer weiter, immer härter an. Es kribbelte in ihren Gliedern.
»Ich muss Sie rausziehen, Sarge. Das muss ich einfach.«
Sie hörte nicht mehr zu. Die Zeit lief immer langsamer, und Wellard, der verzweifelt die Führungsleine einholte und sie herauszog, war in einer anderen Welt. Auf einem anderen Planeten. Sie wusste, dass ihr erschlaffter Körper sich ruckartig rückwärts durch das Wasser bewegte. Sie spürte, dass die Lampe aus ihren Fingern glitt, sie fühlte, wie sie träge an ihr Bein stieß, bevor sie versank. Sie versuchte nicht, sie festzuhalten.
In der Dunkelheit zehn Meter vor ihr war etwas aufgetaucht, das aussah wie eine weiße Qualle. Nicht das, was sie kurz vorher halluziniert hatte, sondern etwas anderes, das sich blähte, sich in gespenstischen Spiralbewegungen hob und senkte wie eine Wolke aus Haaren. Es schien da zu schweben, von unsichtbaren Strömungen hin und her geschoben, als wäre es irgendwohin unterwegs gewesen - vielleicht zum Grund - und hätte jetzt innegehalten, um sie zu beobachten. Als interessierte es sich für das, was hier passierte. Für ihren Kampf.
Die Oberseite dieses Dings hob sich, streckte sich, verlängerte sich zu langen, rankenähnlichen Haaren, und jetzt wusste sie, was sie sah.
Mum.
Mum, die seit zwei Jahren tot war. Das lange blonde Haar, das sie immer im Nacken zu einem Knoten gebunden hatte, hob sich und wallte in der Dunkelheit, wehte um ihr Gesicht.
»Wach auf, Flea. Gib Acht auf dich.«
Flea antwortete nicht. Sie konnte es nicht. In der realen Welt hatte ihr Körper sich auf die Seite gelegt und zuckte wie ein Fisch mit geplatzter Schwimmblase.
»Gib Acht auf dich.«
Mum drehte sich. Mit den Bewegungen ihrer kleinen weißen Hände steuerte sie ihren Körper so, dass sie Flea ins Gesicht sehen konnte. Ihr Haar umwehte sie, und ihre schlanken weißen Beine schwebten hinter ihr wie ein Schleier. Ihr liebes, fahles Gesicht war jetzt ganz nah, und sie legte Flea die Hände auf die Schultern. »Hör zu.« Ihr Ton war scharf. »Wach auf! Sofort. Gib Acht auf dich.«
Sie schüttelte Flea, und als diese nicht reagierte, umfasste sie ihre Hand, führte sie zu dem Schalterblock und legte den Schalter um, der die Sauerstoffversorgung auf die Tauchflasche umstellte.
Übersetzung: Rainer Schmidt
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Mo Hayder
Mo Hayder, 1962 in Essex geboren, verließ mit fünfzehn ihr Zuhause, um in London das Abenteuer zu suchen. Sie hat später viele Jahre im Ausland verbracht, unter anderem auch in Tokio, wo sie eine Zeit lang in einem Nachtclub arbeitete und für eine englische Zeitung schrieb. Sie studierte Filmwissenschaften an der American University in Washington D.C. und später Creative Writing an der Bath Spa University. Die Autorin lebt heute mit ihrem Lebensgefährten und ihrer Tochter in der Nähe von Bath.Rainer Schmidt, geboren 1951 in Mülheim/Ruhr, lebt als Übersetzer aus dem Englischen in Hamburg und Essen. Unter anderen übertrug er Romane von Frederick Forsyth, Mo Hayder, Justin Cronin und Donna Tartt ins Deutsche.
Bibliographische Angaben
- Autor: Mo Hayder
- 2011, 383 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Schmidt, Rainer
- Übersetzer: Rainer Schmidt
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442475449
- ISBN-13: 9783442475445
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