Blutnetz / Isaac Bell Bd.3
Roman
Der härteste Ermittler jagt den unbarmherzigsten Spion!
Die Nachricht sorgt für Entsetzen: Der geniale Waffenspezialist Arthur Langner ist tot! Isaac Bell, der beste Detektiv des beginnenden 20. Jahrhunderts, erkennt schnell, dass jemand es auf...
Die Nachricht sorgt für Entsetzen: Der geniale Waffenspezialist Arthur Langner ist tot! Isaac Bell, der beste Detektiv des beginnenden 20. Jahrhunderts, erkennt schnell, dass jemand es auf...
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Produktinformationen zu „Blutnetz / Isaac Bell Bd.3 “
Der härteste Ermittler jagt den unbarmherzigsten Spion!
Die Nachricht sorgt für Entsetzen: Der geniale Waffenspezialist Arthur Langner ist tot! Isaac Bell, der beste Detektiv des beginnenden 20. Jahrhunderts, erkennt schnell, dass jemand es auf die talentiertesten Waffenentwickler Amerikas abgesehen hat. Aber da befindet er sich bereits gemeinsam mit deutschen, japanischen und britischen Agenten in einem Netz aus Blut und Intrigen, wie es nur ein Meisterspion weben kann. Bell steckte schon oft in ausweglosen Situationen, doch noch nie hatte er einen Gegner wie dieses Mal - und noch nie ging es um das Schicksal der ganzen Welt!
Die Nachricht sorgt für Entsetzen: Der geniale Waffenspezialist Arthur Langner ist tot! Isaac Bell, der beste Detektiv des beginnenden 20. Jahrhunderts, erkennt schnell, dass jemand es auf die talentiertesten Waffenentwickler Amerikas abgesehen hat. Aber da befindet er sich bereits gemeinsam mit deutschen, japanischen und britischen Agenten in einem Netz aus Blut und Intrigen, wie es nur ein Meisterspion weben kann. Bell steckte schon oft in ausweglosen Situationen, doch noch nie hatte er einen Gegner wie dieses Mal - und noch nie ging es um das Schicksal der ganzen Welt!
Klappentext zu „Blutnetz / Isaac Bell Bd.3 “
Der härteste Ermittler jagt den unbarmherzigsten Spion!Die Nachricht sorgt für Entsetzen: Der geniale Waffenspezialist Arthur Langner ist tot! Isaac Bell, der beste Detektiv des beginnenden 20. Jahrhunderts, erkennt schnell, dass jemand es auf die talentiertesten Waffenentwickler Amerikas abgesehen hat. Aber da befindet er sich bereits gemeinsam mit deutschen, japanischen und britischen Agenten in einem Netz aus Blut und Intrigen, wie es nur ein Meisterspion weben kann. Bell steckte schon oft in ausweglosen Situationen, doch noch nie hatte er einen Gegner wie dieses Mal - und noch nie ging es um das Schicksal der ganzen Welt!
Die besten historischen Actionromane! Verpassen Sie keinen Fall des brillanten Ermittlers Isaac Bell. Jeder Roman ist einzeln lesbar.
Lese-Probe zu „Blutnetz / Isaac Bell Bd.3 “
Blutnetz von Clive Cussler & Justin ScottAus dem englischen von Michael Kubiak
Des Gunners Tochter
17. März 1908 Washington, D.C. Der Washington Navy Yard schlummerte wie eine antike Stadt, beschützt von soliden Mauern und einem Fluss. Alte Männer hielten Wache, trotteten von einer elektrischen Stechuhr zur nächsten, um ihre Rundgänge durch Fabrikationshallen, Materiallager, Werkstätten und Baracken zu dokumentieren. Außerhalb des Geländes erhob sich als ein düsterer Schattenberg die Ansammlung verdunkelter Arbeiterunterkünfte. Capitol Dome und Washington Monument krönten den Berg und glitzerten im Licht des Vollmondes wie polare Eiskappen. ein Eisenbahnzug näherte sich, stieß dichte Dampfwolken aus und ließ die Warnglocke durch die Nacht hallen.
US-Marineposten öffneten das North Railroad Gate.
Niemand sah Yamamoto Kenta in seinem Versteck unter dem Baltimore&ohio-Flachwagen, den die Lokomotive aufs Werftgelände schob. Die Räder des Güterwagens knirschten unter einer Ladung fünfunddreißig Zentimeter dicker Panzerplatten aus Bethlehem, Pennsylvania, auf den Schienen. Bremser koppelten den Güterwagen auf einem Nebengleis ab, während die Lokomotive zurücksetzte.
Yamamoto Kenta ließ sich vorsichtig auf die Holzschwellen und den Schotter zwischen den schienen hinab. er blieb still liegen, bis er ganz sicher war, allein zu sein. Dann folgte er den Gleisen in die dicht gestaffelte Ansammlung dreistöckiger Gebäude aus Backstein und Eisen, in denen die Naval Gun Factory untergebracht war.
... mehr
Mondlicht, das durch hohe Fenster drang, und die rot leuchtende Glut einer Reihe hoher Schmelzöfen erhellten eine riesige Halle. Laufkräne schlummerten in den Schatten unter dem Dach. Mächtige, fünfzig Tonnen schwere Geschützrohre für Großkampfschiffe, auch Dreadnoughts genannt, bedeckten den Hallenboden, als hätte ein Feuersturm einen stählernen Wald entwurzelt.
Yamamoto Kenta, ein Japaner mittleren Alters, mit ersten grauen strähnen in seinem glänzenden schwarzen Haar und einem selbstsicheren, würdevollen Auftreten, suchte sich zielsicher seinen Weg abseits der routen, an die sich die Nachtwächter bei ihren Rundgängen halten mussten, und inspizierte eingehend Drehbänke, Maschinen zum Ziehen von Geschützläufen sowie einige Schmelzöfen. vor allem interessierten ihn tiefe schächte im Hallenboden, die mit Ziegeln ausgekleideten schrumpfgruben, in denen fünfzehn Meter lange Rohre mit stahlplatten ummantelt wurden. Dabei entging seinen Augen nichts. sie waren durch ähnliche heimliche Besichtigungstouren bei Vickers und Krupp - den englischen und deutschen Schiffsgeschützfabriken - sowie in den Geschützschmieden des russischen Zaren in St. Petersburg geschärft worden.
Ein altmodisches Yale-Zylinderschloss sicherte die Tür zum Vorratsraum des Labors, der die Ingenieure und Wissenschaftler mit den Grundmaterialien versorgte, die für ihre Arbeit notwendig waren. Kenta hatte keinerlei Probleme, es mit seinem spezialwerkzeug schnell zu öffnen. in den Schränken suchte er nach Jod, wurde fündig und schüttete sechs Unzen der glänzenden schwarzblauen Kristalle in einen Briefumschlag. Dann schrieb er »kristallines Jod, 6 Unzen « auf ein Anforderungsformblatt und notierte dahinter die Initialen »Al« des legendären Chefkonstrukteurs der Waffenfabrik, Arthur Langner.
in einem abgelegenen Flügel des weitläufigen Gebäudes fand er das Testbecken, in dem Spezialisten für Panzerung torpedo-Angriffe simulierten, um die Wirkung der um ein vierfaches verstärkten Unterwasserexplosionen zu messen. Die Seemächte, die beim Bau immer größerer Schlachtschiffe hektisch miteinander wetteiferten, führten in geradezu fieberhafter Hast Experimente durch, Torpedos mit TNT Sprengladungen zu bewaffnen. Yamamoto Kenta stellte jedoch fest, dass die Amerikaner immer noch Tests mit chemischen Mixturen vornahmen, die auf Explosivstoffen mit Schießbaumwolle als Grundlage basierten. er stahl einen Sack aus Seidenstoff, der mit raucharmem modifiziertem Kordit gefüllt war.
Während er die Tür eines Materialschranks öffnete, der in den Dienstbereich des Hausmeisters gehörte, um eine Flasche Ammoniakwasser zu entwenden, hörte er einen Nachtwächter kommen. er versteckte sich in dem Wandschrank, bis der alte Mann vorbeigeschlurft und zwischen den Geschützen verschwunden war.
Schnell und lautlos huschte Yamamoto Kenta die Treppe hinauf.
Arthur Langners Zeichen- und Konstruktionsatelier, das nicht abgeschlossen war, entpuppte sich als die Werkstatt eines exzentrikers, dessen Genialität sich sowohl in der Kriegstechnik als auch auf künstlerischem Gebiet bewies. Blaupausen von Geschützverschlüssen mit Stufengewinde sowie visionäre Skizzen von Geschossen mit ungeahnter spreng- kraft teilten sich den Arbeitsraum mit einer Malstaffelei, einer Romanbibliothek, einer Bassgeige und einem Konzertflügel.
Kenta ließ Kordit, Jod und Ammoniakwasser auf dem Flügel liegen und verbrachte eine Stunde mit dem Studium der Zeichentische. »seid die Augen Japans«, predigte er bei den seltenen Gelegenheiten, da ihm sein Dienst gestattete, in die Heimat zurückzukehren, in der spionageschule der Gen'yo¯sha. »nutzt jede Gelegenheit, um zu beobachten. Ganz gleich, ob eure Mission ein Täuschungsmanöver, Sabotage oder Mord ist.«
Was er sah, machte ihm Angst. Die Zwölf-Zoll-Geschützrohre auf dem Hallenboden konnten Mörsergranaten sieben Meilen weit schießen, wobei ihre Wucht immer noch ausreichte, um fünfundzwanzig Zentimeter dicke Platten des modernsten oberflächengehärteten Panzerstahls zu durchschlagen. Aber hier oben im Zeichenatelier, wo neue Ideen ausgebrütet wurden, gab es erste Skizzen von Fünfzehn Zoll- Geschützen und sogar die eines über zwanzig Meter langen Monstrums mit sechzehn-Zoll-Kaliber, das eine Tonne Sprengstoff bis hinter den Horizont zu katapultieren vermochte. niemand wusste bislang, wie genau man mit einer solchen Waffe zielen konnte, wenn die Entfernungen einfach zu groß waren, um die Schussweite anhand der Wasserfontänen der Fehlschüsse abzuschätzen und zu korrigieren. Doch die kühne Erfindungsgabe, die Yamamoto Kenta in diesen Konstruktionen erkannte, warnte ihn, dass es nur noch eine Frage der Zeit sei, bis Amerikas Neue Navy vollständig neuartige Artillerietechnologien entwickelte.
Yamamoto Kenta deponierte einen Stapel Banknoten in der schreibtischschublade des Waffenkonstrukteurs - fünfzig US Goldzertifikate im Wert von je zwanzig Dollar. Also bedeutend mehr, als ein qualifizierter Facharbeiter in der Waffenfabrik in einem Jahr verdiente.
Die US Navy war nach der englischen und der deutschen bereits die drittgrößte Kriegsmarine der Welt. ihre nordatlantikflotte - schamlos in die Große Weiße Flotte umbenannt worden - zeigte während ihrer herausfordernd demonstrativen Reise um die Welt ihre Flagge. Aber England, Deutschland, Russland und Frankreich waren nicht die Feinde Amerikas. Die wahre Mission der Großen Weißen Flotte bestand darin, dem japanischen Kaiserreich mit seinem stählernen Geschützarsenal zu drohen. Amerika beabsichtigte, die Herrschaft über den Pazifischen Ozean von San Francisco bis Tokio an sich zu reißen.
Das würde Japan niemals zulassen, dachte Yamamoto Kenta mit einem stolzen lächeln.
Erst drei Jahre waren verstrichen, seit der russisch-Japanische Krieg die Herrschaftsverhältnisse im Westpazifik auf blutige Art und Weise grundlegend verändert hatte. Das mächtige Russland hatte versucht, Japan unter Druck zu setzen. Mittlerweile besetzte das japanische Kaiserreich Port Arthur. Die ostseeflotte Russlands lag in hundert Metern Tiefe auf dem Grund der Koreastraße westlich der Tsushima-Inseln - was in nicht geringem Maß japanischen Spionen zu verdanken war, die die russische Marine infiltriert hatten.
Während Yamamoto Kenta die Schublade mit dem Geld schloss, hatte er das unbehagliche Gefühl, beobachtet zu werden. er schaute über den Schreibtisch hinweg in die herausfordernd blickenden Augen einer schönen Frau, deren Porträtfoto in einem silbernen stehrahmen steckte. sofort erkannte er Langners dunkelhaarige Tochter und bewunderte, wie lebensnah der Fotograf ihre ausdrucksvollen Augen eingefangen hatte. sie hatte das Bild mit der schwungvoll geschriebenen Widmung »Für Vater, den ›Gunner‹, dem auch die größten schiffe noch zu klein sind!« versehen.
Kenta trat zu Langners Bücherregalen hinüber. in dicken Folianten gesammelte und gebundene Patentanträge standen neben einer umfangreichen Auswahl von Romanen. Die jüngsten Patentanträge waren auf einer Schreibmaschine getippt worden. Yamamoto Kenta zog einen Band nach dem anderen aus dem Regal und gelangte schließlich zum letzten Jahr, in dem die Anträge noch handschriftlich verfasst worden waren. er legte das Buch aufgeschlagen auf den Tisch des Konstrukteurs, holte dann aus einer seitenschublade einen Bogen Papier und einen Waterman-Füllfederhalter mit Goldfeder heraus. indem er den handschriftlichen Text immer wieder als Vorlage zu Rate zog, fälschte er einen kurzen, verworrenen Brief. er beendete ihn mit den Worten »verzeih mir« und setzte Arthur Langners Signatur darunter.
Dann begab er sich mit dem Jod und dem Ammoniakwasser ins Badezimmer des Konstrukteurs. Mit dem Kolben seiner Nambu-Pistole zertrümmerte er die Jodkristalle auf dem Rand des Marmorwaschbeckens zu einem feinen Pulver und füllte es in eine rasierschale. nun wischte er die Pistole mit dem Handtuch ab und achtete darauf, einen violetten Flecken auf dem Stoff zu hinterlassen. Dann träufelte er Ammoniakwasser auf das Jodpulver und rührte mit dem stiel von Langners Zahnbürste darin herum, bis er eine Paste aus Stickstoffjodid erhielt.
Er öffnete den Deckel des Flügels und schmierte die Paste an dem schmalen und von den tasten am weitesten entfernten ende auf die dicht beieinanderliegenden Saiten des Instruments. sobald sie getrocknet war, würde die explosive Mischung äußerst instabil und extrem stoßempfindlich sein. ein leichtes vibrieren würde bereits ausreichen, um einen lauten Knall und einen grellen Blitz auszulösen. Dabei würde die Explosion nur wenig mehr beschädigen als das Klavier. Aber als Zünder wäre sie tödlich.
Er legte den Seidenbeutel dicht über den Saiten auf den Rand des gusseisernen Rahmens. Der Beutel enthielt genügend raucharmes modifiziertes Kordit, um ein zwölf Pfund schweres Geschoss zwei Meilen weit fliegen zu lassen.
Yamamoto Kenta, dessen Augen vom Ammoniakwasser immer noch brannten, verließ die Naval Gun Factory auf dem gleichen Weg, auf dem er sie betreten hatte. Plötzlich lief jedoch einiges schief. Das nördliche Eisenbahntor wurde durch eine unerwartete nächtliche Aktivität blockiert. Rangierlokomotiven schoben und schleppten unter den Kommandos zahlreicher Bremser offene Güterwagen herein und hinaus. er zog sich tiefer in das Waffendepot zurück, vorbei am Maschinenhaus, und suchte sich seinen Weg durch ein Labyrinth aus Straßen, Gebäuden und Lagerhäusern. indem er sich an den Schornsteinen des Maschinenhauses und zwei Funkantennentürmen orientierte, die er als scharf gezeichnete Silhouetten vor dem mondhellen Nachthimmel erkennen konnte, durchquerte er einen kleinen Park und einen Garten, der von stattlichen Ziegelbauten begrenzt wurde. Darin wohnten die Familien des Kommandanten und der Offiziere der Marinewerft.
In diesem Bereich stieg das Gelände leicht an. im Nordwesten war das Capitol zu sehen, wie es scheinbar über der Stadt schwebte. er betrachtete es als ein weiteres Symbol der furchteinflößenden Macht Amerikas. Welche andere Nation hätte die größte gusseiserne Gebäudekuppel errichten können, während in ihren Grenzen gleichzeitig ein Bürgerkrieg tobte? er hatte den Seiteneingang fast erreicht, als er auf einem schmalen Weg von einem Wachtposten überrascht wurde.
Yamamoto Kenta hatte gerade noch Zeit, sich in eine Hecke zu drücken.
Wenn er jetzt geschnappt werden würde, wäre das eine Schande für Japan. er hielt sich mit dem offiziellen Auftrag in Washington, D.C., auf, bei der Katalogisierung einer kürzlich erfolgten Schenkung der Freer Collection von asiatischer Kunst an das Smithsonian Institute behilflich zu sein. Diese Tarnung gestattete ihm den Zutritt zum diplomatischen Corps und zu den Kreisen mächtiger Politiker, deren Ehefrauen sich für kunstsinnig hielten und jede seiner Äußerungen über japanische Kunst gierig aufsogen. echte experten des Smithsonian hatten ihn bereits zweimal bei gravierenden Fehlern ertappt. ihnen gegenüber hatte er die Lücken in seinem überhastet erworbenen Wissen mit seinen mangelhaften Englischkenntnissen entschuldigt. Bislang hatten sich die Experten mit dieser Begründung auch zufriedengegeben. Aber es gäbe ganz sicher keine plausible Erklärung dafür, dass ein japanischer Fachmann für asiatische Kunst zu nächtlicher Stunde im Washington Navy Yard aufgegriffen wurde.
Der Nachtwächter kam mit knirschenden schritten den kiesbestreuten Weg herauf. Yamamoto Kenta zog sich noch tiefer in seine Deckung zurück und zückte seine Pistole - als letzte Rettung seiner Anonymität. ein Pistolenschuss würde jedoch die Marinesoldaten aus ihren Baracken am Haupttor herauslocken. er wühlte sich in die Hecke hinein und suchte nach einer Lücke zwischen den Zweigen, um auf die andere Seite zu gelangen.
Der Nachtwächter hatte keinen Anlass, einen Blick auf die Hecke zu werfen, als er daran entlangtrottete. Doch Yamamoto Kenta schob sich weiter zwischen den widerspenstigen Zweigen und Ästen hindurch, bis einer von ihnen zerbrach. Der Nachtwächter blieb sofort stehen. er blickte in die Richtung, in der das Geräusch erklungen war. in diesem Augenblick beleuchtete der Mond beide Gesichter.
Der Japaner sah ihn ganz deutlich - einen pensionierten Matrosen, einen alten Seebären, der seine armselige Rente mit einer Tätigkeit als Nachtwächter aufbesserte. sein Gesicht war verwittert, die Augen trübe von den langen Jahren unter der tropischen Sonne, sein rücken wirkte gebeugt. er straffte sich beim Anblick der schlanken Gestalt, die sich in der Hecke versteckte. Plötzlich angespannt, war der Pensionär kein alter Mann mehr, der um Hilfe hätte rufen sollen, sondern er fühlte sich in seine Zeit als langgliedrige, breitschultrige »Blaujacke« in der Blüte ihres Lebens zurückgeworfen.
Yamamoto Kenta schlängelte sich vollends durch die Hecke hindurch und rannte los. Der Nachtwächter stürzte sich in die Hecke, verhedderte sich darin und brüllte nun wie ein wilder Stier. Yamamoto Kenta hörte in der Ferne laute rufe antworten. er änderte seine Laufrichtung und sprintete an einer hohen Mauer entlang. sie war errichtet worden, wie er während seiner Vorbereitungen auf diesen nächtlichen Ausflug gelesen hatte, nachdem Plünderer eingedrungen waren, als die Werft durch ein Hochwasser des Potomac überschwemmt worden war. Darum war sie auch zu hoch, um überklettert werden zu können.
Schritte trommelten auf dem Kiesweg. Alte Männer verständigten sich durch laute rufe. elektrische Taschenlampen blinkten. Plötzlich sah er die Rettung vor sich: ein Baum, der dicht an der Mauer aufragte. er krallte die Gummisohlen seiner Schuhe in die raue Borke des Baumstamms und kletterte bis zum untersten Ast, stieg noch zwei Äste höher und schwang sich auf die Mauerkrone. Da hörte er wildes Gebrüll hinter sich. Die Straße unter ihm war leer und verlassen. er sprang von der Mauerkrone hinab und federte die harte Landung mit gebeugten Knien ab.
Am Buzzard Point, unweit der Mündung der 1st Street, stieg Yamamoto Kenta in ein sechs Meter langes Motorboot, das von einer zwei Ps starken Pierce-»noiseless«-Maschine angetrieben wurde. Der Skipper lenkte das Boot in die Strömung und den Potomac hinunter. Dichter Flussnebel hüllte es wenig später ein, und Yamamoto Kenta atmete erleichtert auf.
Während er sich zum Schutz vor der Kälte in die winzige nische unter dem Bug kauerte, dachte er darüber nach, wie knapp er seinen Verfolgern entronnen war, und kam zu dem Schluss, dass er seiner Mission damit nicht geschadet hatte. Der Gartenweg war an der Stelle, wo ihn der Nachtwächter beinahe geschnappt hätte, mindestens eine halbe Meile von der Waffenfabrik entfernt. Auch war es nicht besonders schlimm, dass der alte Mann sein Gesicht gesehen hatte. Amerikaner hegten generell eine tiefe Abneigung gegen Asiaten. nur wenige konnten zwischen chinesischen und japanischen Gesichtszügen unterscheiden. Da Einwanderer aus China weitaus zahlreicher vertreten waren als japanische, würde der Nachtwächter das Eindringen eines verhassten Chinesen höchstwahrscheinlich melden - sicherlich eines Opiumsüchtigen, dachte er mit einem erleichterten
Lächeln. oder, sagte er sich lautlos kichernd, eines schändlichen Mädchenhändlers, der es auf die Töchter des Kommandanten abgesehen hatte.
Fünf Meilen weiter flussabwärts in Alexandria, Virginia, ging er an Land.
Er wartete, bis das Boot wieder vom Holzpier abgelegt hatte. Dann eilte er am Wasser entlang und betrat ein nicht erleuchtetes Lagerhaus, das mit ausrangiertem schiffstechnischem Gerät vollgestopft war, voller Staub und Spinnweben.
Ein jüngerer Mann, dem Yamamoto Kenta verächtlich den Spitznamen Spion verpasst hatte, erwartete ihn in einem spärlich erleuchteten Hinterzimmer, das als Büro diente. er war zwanzig Jahre jünger als Yamamoto Kenta und sah so durchschnittlich aus, dass er absolut unauffällig wirkte. sein Büro enthielt ebenfalls veraltete Ausrüstungsgegenstände früherer Kriege: über Kreuz arrangierte Entermesser als Wandschmuck; eine gusseiserne Dahlgren-Vorderladerkanone aus dem Bürgerkrieg, unter deren last sich der Fußboden durchbog, und hinter dem Schreibtisch einen alten Kohlefaden- Suchscheinwerfer von sechzig Zentimetern Durchmesser, wie er einst auf Kriegsschiffen zum Einsatz gekommen war. Yamamoto Kenta sah sein eigenes Gesicht als Spiegelbild in der verstaubten Sammellinse.
Er meldete den erfolgreichen Abschluss seiner Mission. Dann, während sich der Spion ausführliche Notizen machte, schilderte er präzise alles, was er in der Waffenfabrik gesehen hatte. »vieles davon«, schloss er seinen Bericht, »sieht reichlich abgenutzt aus.«
»Das verwundert kaum.«
Völlig überfordert und nur unzureichend ausgerüstet, hatte die Naval Gun Factory alles von Munitionsflaschenzügen bis hin zu Torpedorohren produziert, damit die Große Weiße Flotte schnellstens in See stechen konnte. nachdem die Kriegsschiffe ihre Liegeplätze verlassen hatten, lieferte die Fabrik ganze Zugladungen von Ersatzteilen, Visiereinrichtungen, Zündvorrichtungen, Verschlusskappen und Geschützlafetten nach San Francisco. in einem weiteren Monat würde sich die Flotte dort von ihrer vierzehntausend Meilen langen Reise um das Kap Hoorn von Südamerika erholen und im Mare Island Ship Yard einer Generalinspektion unterziehen, um danach den Pazifik zu überqueren.
»Ich würde sie nicht unterschätzen«, erwiderte Yamamoto Kenta düster. »Abgenutzte Maschinen lassen sich ersetzen.«
»Wenn sie dazu die Energie haben.«
»Nach dem, was ich gesehen habe, haben sie durchaus die Energie. und die Erfindungsgabe. sie machen nur eine kurze Pause und sammeln ihre Kräfte.«
Der Mann hinter dem Schreibtisch spürte, dass Yamamoto Kenta von seiner Furcht vor der amerikanischen Marine gelähmt, wenn nicht gar vollkommen beherrscht wurde. er hatte diese Tiraden schon früher gehört und wusste inzwischen, wie er das Thema wechseln konnte, indem er den Japaner mit überschwänglichem Lob aus dem Konzept brachte.
»Ich habe nie an ihrer hervorragenden Beobachtungsgabe gezweifelt. Aber ich staune über die Vielfalt ihres Wissens und ihrer Fähigkeiten in den Bereichen Chemie, Maschinenbau und Fälscherhandwerk. Mit einem einzigen genialen Schachzug haben sie die weitere Entwicklung amerikanischer Waffentechnik gestoppt und dem Kongress die Nachricht übermittelt, dass die Navy korrupt ist.«
Er beobachtete, dass sich Yamamoto Kenta wie ein Pfau spreizte. selbst die fähigsten Agenten hatten eine Achillesferse. in Yamamoto Kentas Fall war es eine übermäßige Eitelkeit, die ihn blendete.
»Ich bin schließlich schon lange in diesem Gewerbe tätig«, erwiderte Yamamoto Kenta mit falscher Bescheidenheit.
Tatsächlich, dachte der Mann hinter dem Schreibtisch, konnte man die chemischen Details für die Herstellung des Stickstoffjodid-Zünders in jedem einigermaßen ausführlichen Schülerlexikon nachschlagen. Was jedoch Yamamoto Kentas andere Fähigkeiten sowie sein fundiertes Wissen über Seekriegsführung keinesfalls schmälern sollte.
Nachdem er ihn ein wenig besänftigt hatte, schickte er sich an, den Japaner einem Test zu unterziehen. »letzte Woche an Bord der Lusitania«, sagte er, »ist mir zufällig ein britischer Attaché über den Weg gelaufen. sie kennen doch diese Typen. Halten sich selbst für Gentleman-Spione.«
Er hatte eine erstaunliche Begabung für Akzente, und er imitierte perfekt die gestelzte Sprechweise eines englischen Adligen. »›Die Japaner‹, verkündete dieser Gentleman allen Anwesenden im Rauchsalon, ›verfügen über eine natürliche Gabe für Spionage und eine Gerissenheit und Selbstkontrolle, wie man sie sonst nirgendwo im Westen finden kann.‹«
Yamamoto Kenta lachte. »Das klingt wie Commander Abbington- Westlake aus der Foreign Division des Naval Intelligence Department der Admiralität, der im vergangenen Sommer dabei beobachtet wurde, wie er ein Aquarell vom Long Island Sund anfertigte, auf dem zufälligerweise auch Amerikas jüngstes U-Boot der Viper-Klasse zu sehen war. Glauben sie, dass der Windbeutel es als Kompliment gemeint hat?«
»Die französische Marine, die er im vergangenen Monat so erfolgreich infiltriert hat, würde Abbington-Westlake kaum einen Windbeutel nennen. Haben sie das Geld behalten?«
»Wie bitte?«
»Das Geld, das sie in Arthur Langners Schublade legen sollten. Haben sie es für sich behalten?«
Der Japaner erstarrte. »Natürlich nicht. ich habe es im Schreibtisch deponiert.«
»Die Feinde der Navy im Kongress sollen glauben, dass sich ihr star-Designer, der sogenannte Gunner, der Annahme eines Schmiergeldes schuldig gemacht hat. Dieses Geld sollte unseren Hinweis an den Kongress untermauern, so dass man sich dort fragt, was in der Navy sonst noch im Argen liegen mag. Also, haben sie das Geld behalten?«
»es sollte mich eigentlich überraschen, dass sie einem loyalen Partner eine solche Frage stellen. Da sie selbst die Seele eines Diebes haben, nehmen sie an, dass jeder Mensch ein Dieb ist.«
»Haben sie das Geld behalten?«, wiederholte der Spion. Die Gewohnheit, in jeder Situation absolut ruhig zu bleiben, verschleierte die stählerne Energie, die in seiner untersetzten Gestalt schlummerte.
»Zum letzten Mal, ich habe das Geld nicht für mich eingesteckt. Würde es sie überzeugen, wenn ich es beim Andenken meines alten Freundes - ihres Vater - schwöre?«
»Tun sie es!«
Yamamoto Kenta blickte ihm mit unverhohlenem Hass in die Augen. »ich schwöre es beim Andenken meines alten Freundes, ihres Vater.«
»Ich denke, ich glaube ihnen.«
»Ihr Vater war ein Patriot«, erwiderte Yamamoto Kenta eisig. »sie sind ein Söldner.«
»Sie stehen auf meiner Lohnliste«, kam die noch eisigere Erwiderung. »und wenn sie ihrer Regierung die wertvolle Information überbringen, die sie in der Waffenfabrik des Washington Navy Yard aufgeschnappt haben - während Sie für mich arbeiteten -, wird ihre Regierung sie abermals entlohnen.«
»Ich spioniere nicht für Geld. ich spioniere für das Kaiserreich Japan!«
»Und für mich.«
»Einen wunderschönen Sonntagmorgen für alle, die es vorziehen, Musik zu hören, ohne von einer Predigt begleitet zu werden«, begrüßte Arthur Langner seine Freunde in der Naval Gun Factory.
in seinem ausgebeulten Straßenanzug sah er ziemlich zerknittert aus, das Haar war zerzaust, und er hatte einen stets neugierigen Ausdruck in den wachen Augen. so grinste der star-Designer des Naval Ordnance Bureau wie jemand, der sich für alles interessierte, was er sah, und der vor allem die seltsamen Dinge liebte. Der Gunner war Vegetarier, ein leidenschaftlicher Agnostiker und glaubte an die Richtigkeit der Theorie vom unbewussten, die der Wiener Neurologe Sigmund Freud aufgestellt hatte.
er hatte Patente für eine Erfindung angemeldet, die er »elektrische Saug-Reinigungsmaschine« nannte, nachdem er seine fruchtbare Phantasie in den Dienst seiner festen Überzeugung gestellt hatte, dass naturwissenschaftlich fundierte Haustechnik Frauen aus der Isolation der Hausarbeit zu befreien vermochte. Außerdem vertrat er die Meinung, dass Frauen das Recht zugestanden werden sollte zu wählen, außerhalb ihres Haushalts einer Arbeit nachzugehen und sogar die Geburtenkontrolle zu praktizieren. Weit verbreiteten abfälligen Gerüchten zufolge war seine Tochter, die sich in Washington und New York vorwiegend in den Kreisen des vergnügungssüchtigen Partyvolks bewegte, die Hauptnutznießerin dieser Forderung.
»Eine wandelnde ein-Mann-Extremistenbewegung«, beklagte sich der Kommandant der Werft regelmäßig.
Aber nachdem er hatte miterleben müssen, wie Langners jüngste Entwicklung eines zwölf Zoll/Kaliber .50-Geschützes sein vor Sandy Hook im Atlantik gelegenes Schießübungsgelände aufgewühlt hatte, erwiderte der Chef der Entwicklungsabteilung für Schiffsartillerie: »Gott sei Dank arbeitet er für uns und nicht für den Feind.«
seine Musikerkollegen, mit denen er sich am Sonntagvormittag regelmäßig traf - ein buntes Gemisch von Angestellten der Gun Factory -, lachten zustimmend, als Langners scherzte: »nur um irgendwelchen gespannt lauschenden Puritanern zu versichern, dass wir keine kompletten Heiden sind, sollten wir mit ›Amazing Grace‹ beginnen! in G-Dur, bitte.«
Er nahm am Konzertflügel Platz.
»Darf ich zuerst ein A haben, Sir?«, fragte der Cellist, ein Experte für panzerbrechende Sprengköpfe.
Langner schlug ein mittleres A an, nach dem die Saiteninstrumente gestimmt werden konnten. er verdrehte die Augen mit einem Ausdruck übertriebener Ungeduld, während die Musiker an den stimmwirbeln ihrer Instrumente herumdrehten. »sind die Herren etwa dabei, eins dieser neuen atonalen Tonsysteme zu erschaffen?«
»noch ein A, wenn sie es entbehren können, Arthur. Geht es ein wenig lauter?«
langer schlug das mittlere A ein wenig kraftvoller an und wiederholte es mehrmals. schließlich waren die Streicher zufrieden.
Der Cellist intonierte die einleitenden Noten von »Amazing Grace«.
Zu Beginn des zehnten Taktes stimmten die Geiger - ein Spezialist für torpedoantriebe und ein stämmiger Heizungsinstallateur - bei »Once was lost« ein. sie spielten die Strophe zu Ende und begannen von neuem.
Langner hob die mächtigen Hände über den Tasten, trat auf das Dämpferpedal und beendete die Zeile »a wretch like me« mit einem strahlenden G-Dur-Akkord.
im Flügel war Yamamoto Kentas Paste aus Stickstoffjodid zu einer explosiven harten Kruste getrocknet. Als Langner die Tasten niederdrückte, prallten Filzhämmer auf G-, B- und D-Saiten und versetzten sie in Schwingung. in sechs weiteren ober- und unterhalb gelegenen Oktaven begannen G-, B- und D-Saiten zu schwingen und erschütterten das Stickstoffjodid.
es explodierte mit einem scharfen, trockenen Knall, erzeugte eine violette Qualmwolke, die aus dem Resonanzkasten drang, und brachte gleichzeitig den Sack Kordit zur Zündung. Das Kordit zertrümmerte den Flügel zu einer Wolke von tausenden splittern und Partikeln Holz, Draht und Elfenbein, die Arthur Langners Kopf und Brust durchlöcherten und ihn auf der Stelle töteten.
Im Jahr 1908 unterhielt die van Dorn Detective Agency in jeder bedeutenden amerikanischen Stadt eine Niederlassung. ihre Büros waren ein Spiegelbild der typischen Gegebenheiten ihres jeweiligen Standorts. Die Zentrale in Chicago besetzte eine Suite im palastartigen Palmer House. Das staubige Ogden, Utah, ein Eisenbahnknotenpunkt, wurde von einem gemieteten Büro mit Steckbriefen an den Wänden betreut. Die New Yorker Büros befanden sich im luxuriösen Knickerbocker Hotel in der 42nd Street. und in Washington, D.C., mit seiner günstigen Nähe zum Justizministerium - einer wesentlichen Auftragsquelle - residierten die van-Dorn-Detektive im zweiten Stock des besten Hotels der Stadt, dem neuen Willard auf der Pennsylvania Avenue, zwei Blocks vom Weißen Haus entfernt.
Joseph van Dorn selbst hatte dort ein Büro. es war ein mit Nussbaum getäfeltes Arbeitszimmer, ausgestattet mit den modernsten technischen Einrichtungen, um die transkontinental operierende Firma, die er leitete, unter Kontrolle zu halten. neben dem privaten Telegraphen der Agentur hatte er drei Kerzentelefone für Fernverbindungen in den Westen bis nach Chicago, dazu ein Deveau Dictaphone, einen mit Selbstaufzug versehenen Börsenticker und ein elektrisches Kellogg Intercommunicating Telephone. Durch einen Türspion konnte er sich einen ersten Eindruck von Klienten und Informanten im Wartezimmer verschaffen. Eckfenster gestatteten einen ungehinderten Blick auf den Vorder- und den Seiteneingang des Hotels.
Durch diese Fenster beobachtete van Dorn eine Woche nach Arthur Langners tragischem Tod in der Naval Gun Factory besorgt, wie zwei Frauen aus einer Straßenbahn stiegen, den dicht bevölkerten Gehsteig überquerten und im Hotel verschwanden.
Das Telefon der internen Sprechanlage klingelte.
»Miss Langner ist da«, meldete der Hausdetektiv des Willard, ein Angestellter van Dorns.
»ich weiß.« er sah dem Besuch mit gemischten Gefühlen entgegen.
Der Gründer der van Dorn Detective Agency war ein grobschlächtiger kahlköpfiger Mann in den Vierzigern. er hatte eine ausgeprägte römische Nase, eingerahmt von einem buschigen roten Backenbart. Dazu kam das freundliche, entgegenkommende Auftreten eines Anwalts oder Geschäftsmanns, der schon früh sein Glück gemacht hatte und nun die Früchte seines Erfolgs genoss. leicht verschleierte Augen kaschierten eine wache, zupackende Intelligenz; in den staatlichen Strafanstalten saßen zahlreiche Kriminelle, die durch List dazu gebracht worden waren, diesen Gentleman so nahe an sich heranzulassen, dass er ihnen Handschellen anlegen konnte.
im Parterre fesselten die beiden Frauen die ganze Aufmerksamkeit der versammelten Männlichkeit, als sie durch das von Marmor und Gold funkelnde Foyer des Willard schwebten. Die Jüngere der beiden, ein zierliches Mädchen von achtzehn oder neunzehn Jahren, war eine modisch gekleidete rothaarige mit lebhaft funkelnden Augen. ihre Gefährtin war eine hochgewachsene Schönheit mit rabenschwarzem Haar. Der ernst ihrer Miene wurde noch durch ihre Trauerkleidung unterstrichen. ihr Hut war mit Federn der Trauerseeschwalbe verziert, ein Schleier verdeckte ihr Gesicht zur Hälfte. Die rothaarige hielt ihren Ellbogen umfasst, als wollte sie ihr auf diese Weise Kraft und Trost spenden.
Sobald sie das Foyer durchquert hatten, übernahm Dorothy Langners das Kommando und drängte ihre Begleiterin, auf einer eleganten Couch am Fuß der Treppe Platz zu nehmen.
»Bist du sicher, dass ich nicht mitkommen soll?«
»Nein, danke, Katherine. ich schaffe es schon allein.«
Dorothy Langner raffte ihre langen Röcke hoch und eilte die Treppe hinauf.
Katherine Dee reckte den Kopf und beobachtete, wie Dorothy auf dem ersten Absatz innehielt und die Stirn gegen eine glänzende Marmorsäule presste. Dann straffte sie sich, sammelte sich, bog in den Korridor ein und verschwand in der van Dorn Detective Agency - und damit aus Katherines Blickfeld.
Joseph van Dorn warf einen Blick durch den Türspion. Der Angestellte am Empfang war ein gestandener Mann - anderenfalls hätte er am Empfang der van Dorn Agency auch nichts zu suchen gehabt. Aber er war von der weiblichen Schönheit, die ihm ihre Karte reichte, anscheinend völlig überwältigt, und van Dorn erkannte, dass in diesem Augenblick die Wild Bunch hätte hereinstürmen und sämtliche Möbel hinaustragen können, ohne dass er es bemerkt hätte.
»Mein Name ist Dorothy Langner«, sagte sie mit fester, wohlklingender stimme. »ich bin mit Mr Joseph van Dorn verabredet.«
Van Dorn betrat den Empfangsraum und begrüßte sie zuvorkommend.
»Miss Langner«, sagte er, und der Anflug eines irischen Akzents milderte den harten Chicago-slang. »Darf ich sie meiner tief empfundenen Anteilnahme versichern?«
»Vielen Dank, Mr van Dorn. ich weiß zu schätzen, dass sie mich empfangen.«
Van Dorn geleitete sie in sein Heiligtum.
Dorothy schlug sein Angebot einer Tasse Tee oder eines Glases Wasser aus und kam sofort zum eigentlichen Grund ihres Besuchs.
»Die Navy hat in einer offiziellen Stellungnahme verlauten lassen, dass sich mein Vater das Leben genommen hat. ich möchte ihre Agentur engagieren, um seinen Namen von diesem Makel reinzuwaschen.«
Van Dorn hatte sich so gründlich wie möglich auf diese heikle Unterredung vorbereitet. es gab gewichtige Gründe, an der geistigen Gesundheit ihres Vaters zu zweifeln. Aber seine zukünftige Ehefrau kannte Dorothy seit ihrer gemeinsamen Zeit am Smith College, daher fühlte er sich verpflichtet, sich die Argumente der armen Frau anzuhören.
»Ich stehe ihnen natürlich gerne zu Diensten, aber ...«
»Die Navy behauptet, dass er die Explosion, die ihn tötete, selbst verursacht habe, aber sie wollen mir nicht verraten, woher sie das wissen.«
»Ich würde nicht allzu viel dahinter vermuten«, sagte van Dorn. »Die Navy ist von Natur aus sehr verschwiegen. Was mich überrascht, ist vielmehr, dass sie sich gewöhnlich sehr umsichtig um die Belange ihrer Leute und ihrer Angehörigen kümmert.«
»Mein Vater hat von Anfang an darauf geachtet, dass die Gun Factory ein eher ziviles unternehmen und weniger ein Ableger der Navy ist«, erwiderte Dorothy Langner. »Daher ist sie so etwas wie ein rein kommerzieller Betrieb.«
»Und dennoch«, wandte van Dorn behutsam ein, »soweit ich verstanden habe, haben einige zivile Fabriken einen Teil seiner Produktion übernommen.«
»Ganz sicher nicht! vielleicht die Herstellung der vier- oder sechs-Zöller. Aber nicht den Bau der schweren Geschütze für die Großkampfschiffe, die Dreadnoughts.«
»Ich frage mich, ob dieser Wechsel ihrem Vater nicht allzu große Sorgen bereitet hat.«
»Vater war an solche Veränderungen gewöhnt«, entgegnete sie ruhig und fügte mit dem Anflug eines Lächelns hinzu: »er sagte immer: ›Die Pfeile und schleudern meines wütenden Geschicks sind die Forderungen und Einschränkungen von Kongress und lokalen Interessen.‹ er hatte einen Sinn für Humor, Mr van Dorn. er lachte gern. solche Männer begehen keinen Selbstmord.«
»Natürlich nicht«, sagte van Dorn ernst.
Das Kellogg-telefon klingelte wieder.
Gerettet, dachte van Dorn. er ging zur Wand, an der das Telefon befestigt war, nahm die Hörmuschel ab und lauschte.
»Schicken sie ihn herein.«
Zu Dorothy Langner sagte er: »ich habe Isaac Bell, meinen besten Agenten, gebeten, die Arbeit an einem wichtigen Bankraub-Fall zu unterbrechen, um die Umstände des Todes ihres Vaters zu untersuchen. er wird gleich darüber berichten.«
Die tür öffnete sich. ein Mann in einem weißen Anzug trat ein, und zwar mit sparsamen Bewegungen, wie man sie bei jemandem von seiner Größe und Statur niemals erwarten würde. er maß deutlich mehr als eins achtzig, war schlank - er wog nicht mehr als einhundertfünfundsiebzig Pfund - und musste um die dreißig Jahre alt sein. Der markante Schnurrbart, der seine Oberlippe zierte, schimmerte ebenso golden wie auch sein volles, sorgfältig frisiertes Haar. sein Gesicht hatte das robuste Aussehen eines Freiluftfanatikers, der Sonne und Wind liebt.
Seine großen Hände hingen ruhig herab. Die Finger waren lang und bis zur Makellosigkeit gepflegt, obgleich einem aufmerksameren Beobachter als der trauernden Dorothy Langner gewiss nicht entgangen wäre, dass die Knöchel seiner rechten Hand gerötet und angeschwollen waren.
»Miss Langner, darf ich sie mit meinem leitenden Ermittler, Isaac Bell, bekannt machen?«
Isaac Bell bildete sich nach einem schnellen prüfenden Blick ein erstes urteil über die schöne junge Frau. Mitte zwanzig, schätzte er ihr Alter. intelligent und selbstbeherrscht. Gezeichnet von tiefer Trauer, trotzdem außerordentlich attraktiv. sie sah ihn mit einem flehenden Ausdruck an.
Bells durchdringende blaue Augen wurden sofort sanft. Jetzt bekamen sie einen violetten Schimmer, der prüfende Blick signalisierte aufrichtiges Mitgefühl. er nahm seinen breitkrempigen Hut ab und sagte: »Ihr Verlust berührt mich zutiefst, Miss Langner«, und wischte mit einem blütenweißen Taschentuch in einer eleganten und nahezu unsichtbaren Bewegung einen Blutstropfen von seiner Hand.
»Mr Bell«, fragte sie. »Was haben sie erfahren, das den Namen meines Vaters von jedem Makel befreien kann?« Bell antwortete mit einfühlsam leiser Stimme. Dabei war er durchaus freundlich, aber zugleich auch sehr direkt. »nehmen sie es mir bitte nicht übel, aber ich muss ihnen mitteilen, dass von den Vorräten an Chemikalien im Labor tatsächlich eine nicht geringe Menge Jod fehlt.«
»Er war Ingenieur«, protestierte sie. »und er war Wissenschaftler. Mit seiner Unterschrift hat er sich jeden tag Chemikalien aus dem Lager des Labors kommen lassen.«
»Jodid in Pulverform war ein wichtiger Bestandteil des Sprengstoffs, der das raucharme Pulver in seinem Konzertflügel zur Explosion brachte. Der andere Bestandteil war Ammoniakwasser. Der Hausmeister bemerkte, dass in seinem Putzschrank eine ganze Flasche davon fehlte.«
»Die hätte praktisch jeder mitnehmen können.«
»Ja, natürlich. Aber es gibt Hinweise, dass er die Chemikalien in seinem privaten Badezimmer zusammengemixt haben muss. Da sind Flecken an seinem Handtuch, Reste von pulverförmigem Sprengstoff auf seiner Zahnbürste, ein verräterischer Bodensatz in seinem Rasierbecher.«
»Woher wissen sie das alles«, fragte sie und blinzelte tränen des Zorns weg. »Die Navy hat mich nicht mal in die Nähe seines Büros gelassen. sie haben auch meinen Anwalt abgewiesen. noch nicht einmal der Polizei wurde der Zugang zur Gun Factory gestattet.«
»Nun, ich bin durchaus hineingekommen«, sagte Bell.
Ein Sekretär, in Weste, Fliege, die Hemdsärmel hochgezogen und mit Gummibändern fixiert und mit einem Double- Action-Colt in einem Schulterhalfter, kam eilig herein. »entschuldigen sie, Mr van Dorn. Der Kommandant des Washington Navy Yard ist am Telefon und rast vor Zorn.«
»Sagen sie der Telefonvermittlung, sie sollen den Anruf auf diesen Apparat schalten. entschuldigen sie mich für einen Augenblick, Miss Langner ... van Dorn hier. Guten Tag, Commander. Wie geht es ihnen? ... Ist das ihr ernst?« van Dorn lauschte und lächelte Miss Langner zwischendurch aufmunternd zu.
»Nun, sie mögen mir verzeihen, Sir, aber eine solche allgemeine Beschreibung könnte auf die Hälfte aller männlichen Bewohner Washingtons zutreffen ... sie könnte sogar auf einen Gentleman passen, der sich soeben, während wir uns unterhalten, in meinem Büro aufhält. Aber ich versichere ihnen, dass er wirklich nicht so aussieht, als wäre er in ein Handgemenge mit den United States Marines verwickelt gewesen ... es sei denn, das Corps bringt deutlich schlechter ausgebildete Ledernacken hervor als zu meiner Zeit.«
Isaac Bell schob die lädierte Hand in die Jacketttasche.
Als Joseph van Dorn dem Anrufer erneut antwortete, geschah es mit einem milden lächeln, allerdings begleitet von einem eisigen Funkeln in den Augen, vor dem der Kommandant, wenn er es vor sich gesehen hätte, einen hastigen Rückzug eingeleitet hätte.
»Nein, sir. ich werde auf die bloße Aussage ihrer Wachleute, einen Privatdetektiv auf frischer Tat ertappt zu haben, ganz gewiss keinen meiner Angestellten zu einer Gegenüberstellung zu ihnen schicken. Der Mann in meinem Büro wurde ganz sicher nicht ertappt, wie sie es ausdrücken, da er in diesem Moment hier vor mir steht ... ich werde ihre Beschwerde an den Marineminister weiterleiten, wenn wir morgen im Cosmos Club gemeinsam zu Mittag speisen. Bitte, übermitteln sie auch Mrs Dillon meine herzlichsten Grüße.«
Van Dorn hängte die Hörmuschel an den Haken und sagte: »offenbar hat ein ziemlich großer, blonder Gentleman mit Schnurrbart einige der Wächter der Marinewerft, die versucht haben, ihn in Gewahrsam zu nehmen, niedergeschlagen. «
Bell entblößte seine gleichmäßigen schneeweißen Zähne zu einem amüsierten Grinsen. »ich denke, er hätte sich bestimmt freiwillig ergeben, wenn sie nicht versucht hätten, ihn durch die Mangel zu drehen.« er wandte sich wieder an Dorothy Langner, diesmal jedoch um einiges sanfter. »nun, Miss Langner, da gibt es etwas, das ich ihnen zeigen muss.«
Er holte eine Fotografie hervor, die noch feucht vom Entwicklungsbad war. es war eine Vergrößerung von Langners Abschiedsbrief. Bell hatte ihn mit einer 3A-Kodak-Balgenkamera aufgenommen, die seine Verlobte - sie war im Filmgeschäft tätig - ihm gegeben hatte. Bell deckte den größten Teil der Fotografie mit einer Hand ab, um Miss Langner die Lektüre des ziemlich konfusen Textes zu ersparen.
»Ist das die Handschrift ihres Vaters?«
Sie zögerte, betrachtete das Foto eingehender und nickte dann zögernd. »es sieht aus wie seine Handschrift.«
Bell beobachtete sie aufmerksam. »sie sind sich offenbar nicht sicher.«
»Sie sieht nur ein wenig ... ich weiß nicht! Ja, es ist seine Handschrift.«
»Soweit ich weiß, stand ihr Vater unter großem Druck, die Produktion zu beschleunigen. Kollegen, die ihn bewunderten, geben zu, dass er unter einer hohen Belastung gelitten habe, die er vielleicht nicht mehr ertrug.«
»Unsinn!«, widersprach sie heftig. »Mein Vater goss keine Kirchenglocken. er leitete eine Waffenfabrik. er war es, der auf das Tempo drängte. und wenn es ihm zu viel gewesen wäre, hätte ich es als erste erfahren. seit dem Tod meiner Mutter hielten wir zusammen wie Pech und Schwefel.«
»Aber das tragische an einem Selbstmord ist doch«, ergriff van Dorn das Wort, »dass das Opfer keinen anderen Ausweg sieht als eine Flucht aus dem unerträglichen. es ist immer ein einsamer Tod.«
»Er hätte sein Leben niemals auf diese Art und Weise beendet. «
»Warum nicht?«, fragte Bell.
Dorothy Langner hielt für einen Moment inne, ehe sie antwortete. Dabei wurde ihr durchaus bewusst, dass der große Detektiv ungewöhnlich attraktiv wirkte und unter seinem eleganten Äußeren eine urwüchsige Kraft zu schlummern schien. Dies war eine Mischung, die sie bei den Männern suchte, jedoch nur höchst selten antraf.
»Ich habe ihm das Klavier gekauft, damit er seiner geliebten Musik wieder frönen konnte. er liebte mich viel zu sehr, um mit Hilfe dieses Instruments aus dem Leben zu scheiden.«
Isaac Bell blickte in ihre beschwörenden silberblauen Augen, während sie ihren Standpunkt vehement vertrat. »Vater war mit seiner Arbeit viel zu glücklich, um sterben zu wollen. vor vierzig Jahren hat er damit begonnen, britische vier-Zoll-Geschütze nachzubauen. Heute stellt seine Fabrik die besten Zwölf-Zöller der Welt her. Geschütze, die auf zwanzigtausend Yards genau treffen. Das sind zehn Meilen, Mr Bell!«
Bell achtete auf jede Veränderung in ihrem Tonfall, die auf mögliche Zweifel hinweisen konnte. er suchte in ihrem Gesicht nach verräterischen Anzeichen von Unsicherheit in ihrer geradezu lyrischen Beschreibung der Arbeit des verstorbenen.
»Je größer das Geschütz, desto gewaltiger ist die Kraft, die es bändigen muss. es gibt keinen Spielraum für Irrtümer oder Fehler. Der Durchmesser darf auch nicht um einen Tausendstelmillimeter schwanken. Züge einzuarbeiten erfordert die Kunstfertigkeit eines Michelangelo; die Rohrseele mit dem Mantelrohr zu umhüllen die Präzision eines Uhrmachers. Mein Vater liebte seine Geschütze - alle der am Bau eines Linienschiffgeschützes Beteiligten lieben ihre Arbeit. ein Fachmann für Dampfantriebe wie Alasdair Mac- Donald liebt seine Turbinen. Ronnie Wheeler oben in Newport liebt seine Torpedos. Farley Kent seine immer schnelleren Schiffsrümpfe. es macht große Freunde, sich einer Sache mit Haut und Haar zu verschreiben, Mr Bell, und all seine Energie hineinzustecken. solche Männer begehen keinen Selbstmord.«
Joseph van Dorn schaltete sich abermals ein. »ich kann ihnen versichern, dass Isaac Bell seine Ermittlungen so gründlich wie irgend möglich ...«
»Aber«, unterbrach Bell den Chef der Agency, »was ist, wenn Miss Langner recht hat?«
Sein Boss starrte ihn verblüfft an.
Bell sagte: »Mit Mr van Dorns Erlaubnis werde ich weitere Ermittlungen anstellen.«
Hoffnung hellte Dorothy Langners reizendes Gesicht auf. sie wandte sich zu dem Gründer der Privatdetektei um. van Dorn spreizte die Hände. »natürlich. Isaac Bell wird sich sofort mit voller Unterstützung der Agentur darum kümmern. «
ihr Dank klang eher wie eine Forderung. »Das ist alles, worum ich sie bitten kann, Mr Bell und Mr van Dorn. Nämlich um eine kritische Würdigung sämtlicher Fakten.« Ein lächeln brachte ihr Gesicht wie ein Sonnenstrahl zum Leuchten und ließ erkennen, was für ein lebensfroher und unbeschwerter Mensch sie gewesen sein musste, ehe es zu der Tragödie gekommen war. »ist das nicht das wenigste, das ich von einer Detektei erwarten kann, deren Motto ›Wir geben nicht auf. Niemals!‹ lautet?«
»Offenbar haben sie selbst also auch Erkundigungen eingezogen ... über uns«, meinte Bell und erwiderte ihr lächeln. van Dorn geleitete sie in den Empfangsraum hinaus und wiederholte seine Beileidsbekundungen.
Isaac Bell trat ans Fenster, das zur Pennsylvania Avenue hinausging. er verfolgte, wie Dorothy mit einer schlanken rothaarigen, die ihm vorher schon im Foyer aufgefallen war, aus dem Hotel kam. neben jeder anderen Begleitung hätte man die rothaarige als Schönheit einstufen können, aber neben der Tochter des Waffenkonstrukteurs neigte man dazu, sie allenfalls als hübsch zu bezeichnen.
van Dorn kam zurück. »Was hat ihre Meinung geändert, Isaac? Die liebe dieser jungen Frau zu ihrem Vater?«
»Nein. ihre liebe zu seiner Arbeit.«
er beobachtete, wie die beiden Frauen zur Haltestelle eilten, als sich eine Straßenbahn näherte, wie sie ihre Röcke rafften und einstiegen. Dorothy Langner drehte sich nicht um. Das tat jedoch die rothaarige und schickte einen abwägenden Blick hinauf zu den Fenstern der van Dorn Agency, als wüsste sie genau, wohin sie schauen musste.
van Dorn studierte die Fotografie. »ich habe noch nie ein so scharfes Bild von einem Film gesehen. Fast genauso scharf wie von einer herkömmlichen Platte.«
»Marion hat mir eine 3A Kodak beschafft. sie passt genau in die Tasche meines Mantels. sie sollten die Kamera zur Standardausrüstung machen.«
»Nicht bei fünfundsiebzig Dollar das Stück«, meinte der knauserige van Dorn. »Unsere Leute müssen mit einer Brownie für einen Dollar auskommen. Was geht ihnen durch den Kopf, Isaac? sie machen ein sorgenvolles Gesicht.«
»Ich fürchte, ich muss die Jungs in der Buchhaltung bitten, die finanziellen Verhältnisse ihres Vaters zu überprüfen.«
»Warum das?«
»Sie haben in seinem Schreibtisch gebündeltes Geld gefunden, mehr als er jemals für sich allein hätte ausgeben können.«
»Schmiergeld?«, wetterte van Dorn. »er wurde bestochen? Kein Wunder, dass sich die Navy bedeckt hält. Langner hat im Auftrag der Regierung gearbeitet und konnte sich aussuchen, bei wem er den stahl für seine Produktion kaufte.« van Dorn schüttelte voller Abscheu den Kopf. »Der Kongress hat den Ärger vor drei Jahren sicher nicht vergessen, als sich die stahlfirmen zusammentaten und einen einheitlichen Preis für Panzerstahl festlegten. nun, das erklärt auch, weshalb sie ihm mit dem Klavier ein wenig Zerstreuung verschafft hat.«
»Es sieht so aus«, gab Isaac Bell zu, »als hätte ein an sich ganz kluger Mann etwas Dummes getan und nicht ertragen können, dass er erwischt wurde. Daher hat er den Freitod gewählt.«
»ich bin überrascht, dass sie sich bereit erklärt haben, sich weiter mit der Angelegenheit zu befassen.«
»Sie ist eine sehr reizvolle junge Lady.«
Van Dorn musterte ihn skeptisch. »sie sind verlobt, Isaac.«
Isaac Bell lächelte seinen Chef mit unschuldiger Miene an. Für jemanden, der in all diesen besonderen Dingen so weltgewandt und abgeklärt war, um bei Kriminellen als lästige Landplage verhasst zu sein, war Joe van Dorn in Herzensangelegenheiten doch bemerkenswert zimperlich. »Die Tatsache, dass ich Marion Morgan liebe, macht mich keinesfalls blind für anderweitige weibliche Schönheiten. ebenso wenig bin ich immun gegen leidenschaftliche Gefühlsäußerungen. Was ich jedoch meinte, ist, dass der Glaube der auffällig attraktiven Miss Langner an die Rechtschaffenheit ihres Vaters derart unerschütterlich ist.«
»Die meisten Mütter«, hielt van Dorn dem eindringlich entgegen, »und alle Töchter können und wollen einfach nicht wahrhaben, wenn sich ihre Söhne oder Väter in kriminelle Handlungen verstrickt haben.«
»Irgendetwas an diesem handgeschriebenen Text kam ihr seltsam vor.« »Wie sind sie überhaupt auf diesen Abschiedsbrief gestoßen? «
»Die Navy hatte keine Ahnung, wie sie weiter vorgehen sollte. Daher haben sie bis auf die Leiche alles an Ort und Stelle liegen gelassen und die Tür verriegelt, um die Cops vom Schauplatz des Geschehens fernzuhalten.«
»Wie sind sie hineingekommen?«
»es war ein altes Polhem-schloss.«
van Dorn nickte. Bell hatte ein Faible für Schlösser. »Also, es überrascht mich gar nicht, dass die Navy keine Ahnung hatte, wie sie vorgehen sollte. tatsächlich glaube ich, dass sie starr vor Angst sind. es mag ja sein, dass sich Präsident Roosevelt wild entschlossen zeigt, achtundvierzig neue Schlachtschiffe bauen zu lassen, aber es gibt zahlreiche Abgeordnete im Kongress, die genau dies mit allen Mitteln verhindern wollen.«
Bell nickte. »ich hasse es, John Scully im Stich zu lassen, aber können sie mich von dem Frye-Boys-Fall abziehen, solange ich mich mit dieser Angelegenheit befasse?«
»Im Stich gelassen zu werden ist genau das, was Detektiv Scully liebt«, knurrte van Dorn ungehalten. »Der Mann agiert für meinen Geschmack viel zu selbstständig.«
»und trotzdem ist er ein scharfsichtiger Ermittler«, verteidigte Bell seinen Kollegen.
Scully war ein Agent, der nicht gerade dafür berühmt war, die Zentrale regelmäßig über den Stand seiner jeweiligen Ermittlungen zu informieren. Zurzeit verfolgte er ein Trio Bankräuber über die Grenze von Ohio nach Pennsylvania. sie hatten sich einen Namen gemacht, indem sie nach ihren Überfällen stets eine Notiz hinterließen, die sie mit dem Blut ihrer Opfer geschrieben hatten: »Fürchtet die Frye Boys!« Die erste Bank hatten sie ein Jahr zuvor in New Jersey ausgeraubt, waren dann nach Westen geflohen, hatten weitere Banken überfallen und danach für die Dauer des Winters eine Pause eingelegt. nun markierten sie ihren Weg von Illinois nach Westen mit einer Reihe blutiger Überfälle auf Kleinstadtbanken. Gleichermaßen erfinderisch wie skrupellos benutzten sie gestohlene Automobile, um die Staatsgrenzen zu überqueren und örtliche Sheriffs in einer Staubwolke hinter sich zu lassen.
»Sie sind weiterhin für den Frye-Fall zuständig, Isaac«, erklärte van Dorn mit Nachdruck. »Bis sich der Kongress endlich entschließt, eine Art nationale Ermittlungsbehörde zu gründen und zu finanzieren, wird uns das Justizministerium weiterhin fürstlich dafür bezahlen, Kriminelle zu jagen, die die Staatsgrenzen überqueren. und ich werde nicht zulassen, dass ein Einzelgänger wie Scully die Erwartungen unserer staatlichen Auftraggeber enttäuscht.«
»Wie sie wünschen, Sir«, erwiderte Bell förmlich. »Aber sie haben Miss Langner die uneingeschränkte Unterstützung der Agentur zugesagt.«
»Na schön. ich werde Scully - nur für kurze Zeit - zwei Helfer zur Seite stellen. Aber die Leitung bleibt weiterhin in ihrer Hand, und sie sollten eigentlich nicht allzu lange brauchen, um die Echtheit des Langner'schen Abschiedsbriefes zu beweisen.«
»Kann mir ihr Freund, der Marineminister, einen Passierschein für die Werft ausstellen lassen? ich möchte mich mal mit den Marines unterhalten.«
»Worüber?« Der Boss grinste. »Etwa eine Revanche?« Bell erwiderte das Grinsen, wurde jedoch schnell wieder ernst.
»Wenn Mr Langner keinen Selbstmord begangen hat, dann muss doch jemand keine Mühen gescheut haben, ihn zu töten und in Verruf zu bringen. Die Marines halten an den Toren zur Werft Wache. sie müssen am Tag vorher jemand verdächtigen dabei beobachtet haben, wie er das Gelände verließ.«
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Blanvalet Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Mondlicht, das durch hohe Fenster drang, und die rot leuchtende Glut einer Reihe hoher Schmelzöfen erhellten eine riesige Halle. Laufkräne schlummerten in den Schatten unter dem Dach. Mächtige, fünfzig Tonnen schwere Geschützrohre für Großkampfschiffe, auch Dreadnoughts genannt, bedeckten den Hallenboden, als hätte ein Feuersturm einen stählernen Wald entwurzelt.
Yamamoto Kenta, ein Japaner mittleren Alters, mit ersten grauen strähnen in seinem glänzenden schwarzen Haar und einem selbstsicheren, würdevollen Auftreten, suchte sich zielsicher seinen Weg abseits der routen, an die sich die Nachtwächter bei ihren Rundgängen halten mussten, und inspizierte eingehend Drehbänke, Maschinen zum Ziehen von Geschützläufen sowie einige Schmelzöfen. vor allem interessierten ihn tiefe schächte im Hallenboden, die mit Ziegeln ausgekleideten schrumpfgruben, in denen fünfzehn Meter lange Rohre mit stahlplatten ummantelt wurden. Dabei entging seinen Augen nichts. sie waren durch ähnliche heimliche Besichtigungstouren bei Vickers und Krupp - den englischen und deutschen Schiffsgeschützfabriken - sowie in den Geschützschmieden des russischen Zaren in St. Petersburg geschärft worden.
Ein altmodisches Yale-Zylinderschloss sicherte die Tür zum Vorratsraum des Labors, der die Ingenieure und Wissenschaftler mit den Grundmaterialien versorgte, die für ihre Arbeit notwendig waren. Kenta hatte keinerlei Probleme, es mit seinem spezialwerkzeug schnell zu öffnen. in den Schränken suchte er nach Jod, wurde fündig und schüttete sechs Unzen der glänzenden schwarzblauen Kristalle in einen Briefumschlag. Dann schrieb er »kristallines Jod, 6 Unzen « auf ein Anforderungsformblatt und notierte dahinter die Initialen »Al« des legendären Chefkonstrukteurs der Waffenfabrik, Arthur Langner.
in einem abgelegenen Flügel des weitläufigen Gebäudes fand er das Testbecken, in dem Spezialisten für Panzerung torpedo-Angriffe simulierten, um die Wirkung der um ein vierfaches verstärkten Unterwasserexplosionen zu messen. Die Seemächte, die beim Bau immer größerer Schlachtschiffe hektisch miteinander wetteiferten, führten in geradezu fieberhafter Hast Experimente durch, Torpedos mit TNT Sprengladungen zu bewaffnen. Yamamoto Kenta stellte jedoch fest, dass die Amerikaner immer noch Tests mit chemischen Mixturen vornahmen, die auf Explosivstoffen mit Schießbaumwolle als Grundlage basierten. er stahl einen Sack aus Seidenstoff, der mit raucharmem modifiziertem Kordit gefüllt war.
Während er die Tür eines Materialschranks öffnete, der in den Dienstbereich des Hausmeisters gehörte, um eine Flasche Ammoniakwasser zu entwenden, hörte er einen Nachtwächter kommen. er versteckte sich in dem Wandschrank, bis der alte Mann vorbeigeschlurft und zwischen den Geschützen verschwunden war.
Schnell und lautlos huschte Yamamoto Kenta die Treppe hinauf.
Arthur Langners Zeichen- und Konstruktionsatelier, das nicht abgeschlossen war, entpuppte sich als die Werkstatt eines exzentrikers, dessen Genialität sich sowohl in der Kriegstechnik als auch auf künstlerischem Gebiet bewies. Blaupausen von Geschützverschlüssen mit Stufengewinde sowie visionäre Skizzen von Geschossen mit ungeahnter spreng- kraft teilten sich den Arbeitsraum mit einer Malstaffelei, einer Romanbibliothek, einer Bassgeige und einem Konzertflügel.
Kenta ließ Kordit, Jod und Ammoniakwasser auf dem Flügel liegen und verbrachte eine Stunde mit dem Studium der Zeichentische. »seid die Augen Japans«, predigte er bei den seltenen Gelegenheiten, da ihm sein Dienst gestattete, in die Heimat zurückzukehren, in der spionageschule der Gen'yo¯sha. »nutzt jede Gelegenheit, um zu beobachten. Ganz gleich, ob eure Mission ein Täuschungsmanöver, Sabotage oder Mord ist.«
Was er sah, machte ihm Angst. Die Zwölf-Zoll-Geschützrohre auf dem Hallenboden konnten Mörsergranaten sieben Meilen weit schießen, wobei ihre Wucht immer noch ausreichte, um fünfundzwanzig Zentimeter dicke Platten des modernsten oberflächengehärteten Panzerstahls zu durchschlagen. Aber hier oben im Zeichenatelier, wo neue Ideen ausgebrütet wurden, gab es erste Skizzen von Fünfzehn Zoll- Geschützen und sogar die eines über zwanzig Meter langen Monstrums mit sechzehn-Zoll-Kaliber, das eine Tonne Sprengstoff bis hinter den Horizont zu katapultieren vermochte. niemand wusste bislang, wie genau man mit einer solchen Waffe zielen konnte, wenn die Entfernungen einfach zu groß waren, um die Schussweite anhand der Wasserfontänen der Fehlschüsse abzuschätzen und zu korrigieren. Doch die kühne Erfindungsgabe, die Yamamoto Kenta in diesen Konstruktionen erkannte, warnte ihn, dass es nur noch eine Frage der Zeit sei, bis Amerikas Neue Navy vollständig neuartige Artillerietechnologien entwickelte.
Yamamoto Kenta deponierte einen Stapel Banknoten in der schreibtischschublade des Waffenkonstrukteurs - fünfzig US Goldzertifikate im Wert von je zwanzig Dollar. Also bedeutend mehr, als ein qualifizierter Facharbeiter in der Waffenfabrik in einem Jahr verdiente.
Die US Navy war nach der englischen und der deutschen bereits die drittgrößte Kriegsmarine der Welt. ihre nordatlantikflotte - schamlos in die Große Weiße Flotte umbenannt worden - zeigte während ihrer herausfordernd demonstrativen Reise um die Welt ihre Flagge. Aber England, Deutschland, Russland und Frankreich waren nicht die Feinde Amerikas. Die wahre Mission der Großen Weißen Flotte bestand darin, dem japanischen Kaiserreich mit seinem stählernen Geschützarsenal zu drohen. Amerika beabsichtigte, die Herrschaft über den Pazifischen Ozean von San Francisco bis Tokio an sich zu reißen.
Das würde Japan niemals zulassen, dachte Yamamoto Kenta mit einem stolzen lächeln.
Erst drei Jahre waren verstrichen, seit der russisch-Japanische Krieg die Herrschaftsverhältnisse im Westpazifik auf blutige Art und Weise grundlegend verändert hatte. Das mächtige Russland hatte versucht, Japan unter Druck zu setzen. Mittlerweile besetzte das japanische Kaiserreich Port Arthur. Die ostseeflotte Russlands lag in hundert Metern Tiefe auf dem Grund der Koreastraße westlich der Tsushima-Inseln - was in nicht geringem Maß japanischen Spionen zu verdanken war, die die russische Marine infiltriert hatten.
Während Yamamoto Kenta die Schublade mit dem Geld schloss, hatte er das unbehagliche Gefühl, beobachtet zu werden. er schaute über den Schreibtisch hinweg in die herausfordernd blickenden Augen einer schönen Frau, deren Porträtfoto in einem silbernen stehrahmen steckte. sofort erkannte er Langners dunkelhaarige Tochter und bewunderte, wie lebensnah der Fotograf ihre ausdrucksvollen Augen eingefangen hatte. sie hatte das Bild mit der schwungvoll geschriebenen Widmung »Für Vater, den ›Gunner‹, dem auch die größten schiffe noch zu klein sind!« versehen.
Kenta trat zu Langners Bücherregalen hinüber. in dicken Folianten gesammelte und gebundene Patentanträge standen neben einer umfangreichen Auswahl von Romanen. Die jüngsten Patentanträge waren auf einer Schreibmaschine getippt worden. Yamamoto Kenta zog einen Band nach dem anderen aus dem Regal und gelangte schließlich zum letzten Jahr, in dem die Anträge noch handschriftlich verfasst worden waren. er legte das Buch aufgeschlagen auf den Tisch des Konstrukteurs, holte dann aus einer seitenschublade einen Bogen Papier und einen Waterman-Füllfederhalter mit Goldfeder heraus. indem er den handschriftlichen Text immer wieder als Vorlage zu Rate zog, fälschte er einen kurzen, verworrenen Brief. er beendete ihn mit den Worten »verzeih mir« und setzte Arthur Langners Signatur darunter.
Dann begab er sich mit dem Jod und dem Ammoniakwasser ins Badezimmer des Konstrukteurs. Mit dem Kolben seiner Nambu-Pistole zertrümmerte er die Jodkristalle auf dem Rand des Marmorwaschbeckens zu einem feinen Pulver und füllte es in eine rasierschale. nun wischte er die Pistole mit dem Handtuch ab und achtete darauf, einen violetten Flecken auf dem Stoff zu hinterlassen. Dann träufelte er Ammoniakwasser auf das Jodpulver und rührte mit dem stiel von Langners Zahnbürste darin herum, bis er eine Paste aus Stickstoffjodid erhielt.
Er öffnete den Deckel des Flügels und schmierte die Paste an dem schmalen und von den tasten am weitesten entfernten ende auf die dicht beieinanderliegenden Saiten des Instruments. sobald sie getrocknet war, würde die explosive Mischung äußerst instabil und extrem stoßempfindlich sein. ein leichtes vibrieren würde bereits ausreichen, um einen lauten Knall und einen grellen Blitz auszulösen. Dabei würde die Explosion nur wenig mehr beschädigen als das Klavier. Aber als Zünder wäre sie tödlich.
Er legte den Seidenbeutel dicht über den Saiten auf den Rand des gusseisernen Rahmens. Der Beutel enthielt genügend raucharmes modifiziertes Kordit, um ein zwölf Pfund schweres Geschoss zwei Meilen weit fliegen zu lassen.
Yamamoto Kenta, dessen Augen vom Ammoniakwasser immer noch brannten, verließ die Naval Gun Factory auf dem gleichen Weg, auf dem er sie betreten hatte. Plötzlich lief jedoch einiges schief. Das nördliche Eisenbahntor wurde durch eine unerwartete nächtliche Aktivität blockiert. Rangierlokomotiven schoben und schleppten unter den Kommandos zahlreicher Bremser offene Güterwagen herein und hinaus. er zog sich tiefer in das Waffendepot zurück, vorbei am Maschinenhaus, und suchte sich seinen Weg durch ein Labyrinth aus Straßen, Gebäuden und Lagerhäusern. indem er sich an den Schornsteinen des Maschinenhauses und zwei Funkantennentürmen orientierte, die er als scharf gezeichnete Silhouetten vor dem mondhellen Nachthimmel erkennen konnte, durchquerte er einen kleinen Park und einen Garten, der von stattlichen Ziegelbauten begrenzt wurde. Darin wohnten die Familien des Kommandanten und der Offiziere der Marinewerft.
In diesem Bereich stieg das Gelände leicht an. im Nordwesten war das Capitol zu sehen, wie es scheinbar über der Stadt schwebte. er betrachtete es als ein weiteres Symbol der furchteinflößenden Macht Amerikas. Welche andere Nation hätte die größte gusseiserne Gebäudekuppel errichten können, während in ihren Grenzen gleichzeitig ein Bürgerkrieg tobte? er hatte den Seiteneingang fast erreicht, als er auf einem schmalen Weg von einem Wachtposten überrascht wurde.
Yamamoto Kenta hatte gerade noch Zeit, sich in eine Hecke zu drücken.
Wenn er jetzt geschnappt werden würde, wäre das eine Schande für Japan. er hielt sich mit dem offiziellen Auftrag in Washington, D.C., auf, bei der Katalogisierung einer kürzlich erfolgten Schenkung der Freer Collection von asiatischer Kunst an das Smithsonian Institute behilflich zu sein. Diese Tarnung gestattete ihm den Zutritt zum diplomatischen Corps und zu den Kreisen mächtiger Politiker, deren Ehefrauen sich für kunstsinnig hielten und jede seiner Äußerungen über japanische Kunst gierig aufsogen. echte experten des Smithsonian hatten ihn bereits zweimal bei gravierenden Fehlern ertappt. ihnen gegenüber hatte er die Lücken in seinem überhastet erworbenen Wissen mit seinen mangelhaften Englischkenntnissen entschuldigt. Bislang hatten sich die Experten mit dieser Begründung auch zufriedengegeben. Aber es gäbe ganz sicher keine plausible Erklärung dafür, dass ein japanischer Fachmann für asiatische Kunst zu nächtlicher Stunde im Washington Navy Yard aufgegriffen wurde.
Der Nachtwächter kam mit knirschenden schritten den kiesbestreuten Weg herauf. Yamamoto Kenta zog sich noch tiefer in seine Deckung zurück und zückte seine Pistole - als letzte Rettung seiner Anonymität. ein Pistolenschuss würde jedoch die Marinesoldaten aus ihren Baracken am Haupttor herauslocken. er wühlte sich in die Hecke hinein und suchte nach einer Lücke zwischen den Zweigen, um auf die andere Seite zu gelangen.
Der Nachtwächter hatte keinen Anlass, einen Blick auf die Hecke zu werfen, als er daran entlangtrottete. Doch Yamamoto Kenta schob sich weiter zwischen den widerspenstigen Zweigen und Ästen hindurch, bis einer von ihnen zerbrach. Der Nachtwächter blieb sofort stehen. er blickte in die Richtung, in der das Geräusch erklungen war. in diesem Augenblick beleuchtete der Mond beide Gesichter.
Der Japaner sah ihn ganz deutlich - einen pensionierten Matrosen, einen alten Seebären, der seine armselige Rente mit einer Tätigkeit als Nachtwächter aufbesserte. sein Gesicht war verwittert, die Augen trübe von den langen Jahren unter der tropischen Sonne, sein rücken wirkte gebeugt. er straffte sich beim Anblick der schlanken Gestalt, die sich in der Hecke versteckte. Plötzlich angespannt, war der Pensionär kein alter Mann mehr, der um Hilfe hätte rufen sollen, sondern er fühlte sich in seine Zeit als langgliedrige, breitschultrige »Blaujacke« in der Blüte ihres Lebens zurückgeworfen.
Yamamoto Kenta schlängelte sich vollends durch die Hecke hindurch und rannte los. Der Nachtwächter stürzte sich in die Hecke, verhedderte sich darin und brüllte nun wie ein wilder Stier. Yamamoto Kenta hörte in der Ferne laute rufe antworten. er änderte seine Laufrichtung und sprintete an einer hohen Mauer entlang. sie war errichtet worden, wie er während seiner Vorbereitungen auf diesen nächtlichen Ausflug gelesen hatte, nachdem Plünderer eingedrungen waren, als die Werft durch ein Hochwasser des Potomac überschwemmt worden war. Darum war sie auch zu hoch, um überklettert werden zu können.
Schritte trommelten auf dem Kiesweg. Alte Männer verständigten sich durch laute rufe. elektrische Taschenlampen blinkten. Plötzlich sah er die Rettung vor sich: ein Baum, der dicht an der Mauer aufragte. er krallte die Gummisohlen seiner Schuhe in die raue Borke des Baumstamms und kletterte bis zum untersten Ast, stieg noch zwei Äste höher und schwang sich auf die Mauerkrone. Da hörte er wildes Gebrüll hinter sich. Die Straße unter ihm war leer und verlassen. er sprang von der Mauerkrone hinab und federte die harte Landung mit gebeugten Knien ab.
Am Buzzard Point, unweit der Mündung der 1st Street, stieg Yamamoto Kenta in ein sechs Meter langes Motorboot, das von einer zwei Ps starken Pierce-»noiseless«-Maschine angetrieben wurde. Der Skipper lenkte das Boot in die Strömung und den Potomac hinunter. Dichter Flussnebel hüllte es wenig später ein, und Yamamoto Kenta atmete erleichtert auf.
Während er sich zum Schutz vor der Kälte in die winzige nische unter dem Bug kauerte, dachte er darüber nach, wie knapp er seinen Verfolgern entronnen war, und kam zu dem Schluss, dass er seiner Mission damit nicht geschadet hatte. Der Gartenweg war an der Stelle, wo ihn der Nachtwächter beinahe geschnappt hätte, mindestens eine halbe Meile von der Waffenfabrik entfernt. Auch war es nicht besonders schlimm, dass der alte Mann sein Gesicht gesehen hatte. Amerikaner hegten generell eine tiefe Abneigung gegen Asiaten. nur wenige konnten zwischen chinesischen und japanischen Gesichtszügen unterscheiden. Da Einwanderer aus China weitaus zahlreicher vertreten waren als japanische, würde der Nachtwächter das Eindringen eines verhassten Chinesen höchstwahrscheinlich melden - sicherlich eines Opiumsüchtigen, dachte er mit einem erleichterten
Lächeln. oder, sagte er sich lautlos kichernd, eines schändlichen Mädchenhändlers, der es auf die Töchter des Kommandanten abgesehen hatte.
Fünf Meilen weiter flussabwärts in Alexandria, Virginia, ging er an Land.
Er wartete, bis das Boot wieder vom Holzpier abgelegt hatte. Dann eilte er am Wasser entlang und betrat ein nicht erleuchtetes Lagerhaus, das mit ausrangiertem schiffstechnischem Gerät vollgestopft war, voller Staub und Spinnweben.
Ein jüngerer Mann, dem Yamamoto Kenta verächtlich den Spitznamen Spion verpasst hatte, erwartete ihn in einem spärlich erleuchteten Hinterzimmer, das als Büro diente. er war zwanzig Jahre jünger als Yamamoto Kenta und sah so durchschnittlich aus, dass er absolut unauffällig wirkte. sein Büro enthielt ebenfalls veraltete Ausrüstungsgegenstände früherer Kriege: über Kreuz arrangierte Entermesser als Wandschmuck; eine gusseiserne Dahlgren-Vorderladerkanone aus dem Bürgerkrieg, unter deren last sich der Fußboden durchbog, und hinter dem Schreibtisch einen alten Kohlefaden- Suchscheinwerfer von sechzig Zentimetern Durchmesser, wie er einst auf Kriegsschiffen zum Einsatz gekommen war. Yamamoto Kenta sah sein eigenes Gesicht als Spiegelbild in der verstaubten Sammellinse.
Er meldete den erfolgreichen Abschluss seiner Mission. Dann, während sich der Spion ausführliche Notizen machte, schilderte er präzise alles, was er in der Waffenfabrik gesehen hatte. »vieles davon«, schloss er seinen Bericht, »sieht reichlich abgenutzt aus.«
»Das verwundert kaum.«
Völlig überfordert und nur unzureichend ausgerüstet, hatte die Naval Gun Factory alles von Munitionsflaschenzügen bis hin zu Torpedorohren produziert, damit die Große Weiße Flotte schnellstens in See stechen konnte. nachdem die Kriegsschiffe ihre Liegeplätze verlassen hatten, lieferte die Fabrik ganze Zugladungen von Ersatzteilen, Visiereinrichtungen, Zündvorrichtungen, Verschlusskappen und Geschützlafetten nach San Francisco. in einem weiteren Monat würde sich die Flotte dort von ihrer vierzehntausend Meilen langen Reise um das Kap Hoorn von Südamerika erholen und im Mare Island Ship Yard einer Generalinspektion unterziehen, um danach den Pazifik zu überqueren.
»Ich würde sie nicht unterschätzen«, erwiderte Yamamoto Kenta düster. »Abgenutzte Maschinen lassen sich ersetzen.«
»Wenn sie dazu die Energie haben.«
»Nach dem, was ich gesehen habe, haben sie durchaus die Energie. und die Erfindungsgabe. sie machen nur eine kurze Pause und sammeln ihre Kräfte.«
Der Mann hinter dem Schreibtisch spürte, dass Yamamoto Kenta von seiner Furcht vor der amerikanischen Marine gelähmt, wenn nicht gar vollkommen beherrscht wurde. er hatte diese Tiraden schon früher gehört und wusste inzwischen, wie er das Thema wechseln konnte, indem er den Japaner mit überschwänglichem Lob aus dem Konzept brachte.
»Ich habe nie an ihrer hervorragenden Beobachtungsgabe gezweifelt. Aber ich staune über die Vielfalt ihres Wissens und ihrer Fähigkeiten in den Bereichen Chemie, Maschinenbau und Fälscherhandwerk. Mit einem einzigen genialen Schachzug haben sie die weitere Entwicklung amerikanischer Waffentechnik gestoppt und dem Kongress die Nachricht übermittelt, dass die Navy korrupt ist.«
Er beobachtete, dass sich Yamamoto Kenta wie ein Pfau spreizte. selbst die fähigsten Agenten hatten eine Achillesferse. in Yamamoto Kentas Fall war es eine übermäßige Eitelkeit, die ihn blendete.
»Ich bin schließlich schon lange in diesem Gewerbe tätig«, erwiderte Yamamoto Kenta mit falscher Bescheidenheit.
Tatsächlich, dachte der Mann hinter dem Schreibtisch, konnte man die chemischen Details für die Herstellung des Stickstoffjodid-Zünders in jedem einigermaßen ausführlichen Schülerlexikon nachschlagen. Was jedoch Yamamoto Kentas andere Fähigkeiten sowie sein fundiertes Wissen über Seekriegsführung keinesfalls schmälern sollte.
Nachdem er ihn ein wenig besänftigt hatte, schickte er sich an, den Japaner einem Test zu unterziehen. »letzte Woche an Bord der Lusitania«, sagte er, »ist mir zufällig ein britischer Attaché über den Weg gelaufen. sie kennen doch diese Typen. Halten sich selbst für Gentleman-Spione.«
Er hatte eine erstaunliche Begabung für Akzente, und er imitierte perfekt die gestelzte Sprechweise eines englischen Adligen. »›Die Japaner‹, verkündete dieser Gentleman allen Anwesenden im Rauchsalon, ›verfügen über eine natürliche Gabe für Spionage und eine Gerissenheit und Selbstkontrolle, wie man sie sonst nirgendwo im Westen finden kann.‹«
Yamamoto Kenta lachte. »Das klingt wie Commander Abbington- Westlake aus der Foreign Division des Naval Intelligence Department der Admiralität, der im vergangenen Sommer dabei beobachtet wurde, wie er ein Aquarell vom Long Island Sund anfertigte, auf dem zufälligerweise auch Amerikas jüngstes U-Boot der Viper-Klasse zu sehen war. Glauben sie, dass der Windbeutel es als Kompliment gemeint hat?«
»Die französische Marine, die er im vergangenen Monat so erfolgreich infiltriert hat, würde Abbington-Westlake kaum einen Windbeutel nennen. Haben sie das Geld behalten?«
»Wie bitte?«
»Das Geld, das sie in Arthur Langners Schublade legen sollten. Haben sie es für sich behalten?«
Der Japaner erstarrte. »Natürlich nicht. ich habe es im Schreibtisch deponiert.«
»Die Feinde der Navy im Kongress sollen glauben, dass sich ihr star-Designer, der sogenannte Gunner, der Annahme eines Schmiergeldes schuldig gemacht hat. Dieses Geld sollte unseren Hinweis an den Kongress untermauern, so dass man sich dort fragt, was in der Navy sonst noch im Argen liegen mag. Also, haben sie das Geld behalten?«
»es sollte mich eigentlich überraschen, dass sie einem loyalen Partner eine solche Frage stellen. Da sie selbst die Seele eines Diebes haben, nehmen sie an, dass jeder Mensch ein Dieb ist.«
»Haben sie das Geld behalten?«, wiederholte der Spion. Die Gewohnheit, in jeder Situation absolut ruhig zu bleiben, verschleierte die stählerne Energie, die in seiner untersetzten Gestalt schlummerte.
»Zum letzten Mal, ich habe das Geld nicht für mich eingesteckt. Würde es sie überzeugen, wenn ich es beim Andenken meines alten Freundes - ihres Vater - schwöre?«
»Tun sie es!«
Yamamoto Kenta blickte ihm mit unverhohlenem Hass in die Augen. »ich schwöre es beim Andenken meines alten Freundes, ihres Vater.«
»Ich denke, ich glaube ihnen.«
»Ihr Vater war ein Patriot«, erwiderte Yamamoto Kenta eisig. »sie sind ein Söldner.«
»Sie stehen auf meiner Lohnliste«, kam die noch eisigere Erwiderung. »und wenn sie ihrer Regierung die wertvolle Information überbringen, die sie in der Waffenfabrik des Washington Navy Yard aufgeschnappt haben - während Sie für mich arbeiteten -, wird ihre Regierung sie abermals entlohnen.«
»Ich spioniere nicht für Geld. ich spioniere für das Kaiserreich Japan!«
»Und für mich.«
»Einen wunderschönen Sonntagmorgen für alle, die es vorziehen, Musik zu hören, ohne von einer Predigt begleitet zu werden«, begrüßte Arthur Langner seine Freunde in der Naval Gun Factory.
in seinem ausgebeulten Straßenanzug sah er ziemlich zerknittert aus, das Haar war zerzaust, und er hatte einen stets neugierigen Ausdruck in den wachen Augen. so grinste der star-Designer des Naval Ordnance Bureau wie jemand, der sich für alles interessierte, was er sah, und der vor allem die seltsamen Dinge liebte. Der Gunner war Vegetarier, ein leidenschaftlicher Agnostiker und glaubte an die Richtigkeit der Theorie vom unbewussten, die der Wiener Neurologe Sigmund Freud aufgestellt hatte.
er hatte Patente für eine Erfindung angemeldet, die er »elektrische Saug-Reinigungsmaschine« nannte, nachdem er seine fruchtbare Phantasie in den Dienst seiner festen Überzeugung gestellt hatte, dass naturwissenschaftlich fundierte Haustechnik Frauen aus der Isolation der Hausarbeit zu befreien vermochte. Außerdem vertrat er die Meinung, dass Frauen das Recht zugestanden werden sollte zu wählen, außerhalb ihres Haushalts einer Arbeit nachzugehen und sogar die Geburtenkontrolle zu praktizieren. Weit verbreiteten abfälligen Gerüchten zufolge war seine Tochter, die sich in Washington und New York vorwiegend in den Kreisen des vergnügungssüchtigen Partyvolks bewegte, die Hauptnutznießerin dieser Forderung.
»Eine wandelnde ein-Mann-Extremistenbewegung«, beklagte sich der Kommandant der Werft regelmäßig.
Aber nachdem er hatte miterleben müssen, wie Langners jüngste Entwicklung eines zwölf Zoll/Kaliber .50-Geschützes sein vor Sandy Hook im Atlantik gelegenes Schießübungsgelände aufgewühlt hatte, erwiderte der Chef der Entwicklungsabteilung für Schiffsartillerie: »Gott sei Dank arbeitet er für uns und nicht für den Feind.«
seine Musikerkollegen, mit denen er sich am Sonntagvormittag regelmäßig traf - ein buntes Gemisch von Angestellten der Gun Factory -, lachten zustimmend, als Langners scherzte: »nur um irgendwelchen gespannt lauschenden Puritanern zu versichern, dass wir keine kompletten Heiden sind, sollten wir mit ›Amazing Grace‹ beginnen! in G-Dur, bitte.«
Er nahm am Konzertflügel Platz.
»Darf ich zuerst ein A haben, Sir?«, fragte der Cellist, ein Experte für panzerbrechende Sprengköpfe.
Langner schlug ein mittleres A an, nach dem die Saiteninstrumente gestimmt werden konnten. er verdrehte die Augen mit einem Ausdruck übertriebener Ungeduld, während die Musiker an den stimmwirbeln ihrer Instrumente herumdrehten. »sind die Herren etwa dabei, eins dieser neuen atonalen Tonsysteme zu erschaffen?«
»noch ein A, wenn sie es entbehren können, Arthur. Geht es ein wenig lauter?«
langer schlug das mittlere A ein wenig kraftvoller an und wiederholte es mehrmals. schließlich waren die Streicher zufrieden.
Der Cellist intonierte die einleitenden Noten von »Amazing Grace«.
Zu Beginn des zehnten Taktes stimmten die Geiger - ein Spezialist für torpedoantriebe und ein stämmiger Heizungsinstallateur - bei »Once was lost« ein. sie spielten die Strophe zu Ende und begannen von neuem.
Langner hob die mächtigen Hände über den Tasten, trat auf das Dämpferpedal und beendete die Zeile »a wretch like me« mit einem strahlenden G-Dur-Akkord.
im Flügel war Yamamoto Kentas Paste aus Stickstoffjodid zu einer explosiven harten Kruste getrocknet. Als Langner die Tasten niederdrückte, prallten Filzhämmer auf G-, B- und D-Saiten und versetzten sie in Schwingung. in sechs weiteren ober- und unterhalb gelegenen Oktaven begannen G-, B- und D-Saiten zu schwingen und erschütterten das Stickstoffjodid.
es explodierte mit einem scharfen, trockenen Knall, erzeugte eine violette Qualmwolke, die aus dem Resonanzkasten drang, und brachte gleichzeitig den Sack Kordit zur Zündung. Das Kordit zertrümmerte den Flügel zu einer Wolke von tausenden splittern und Partikeln Holz, Draht und Elfenbein, die Arthur Langners Kopf und Brust durchlöcherten und ihn auf der Stelle töteten.
Im Jahr 1908 unterhielt die van Dorn Detective Agency in jeder bedeutenden amerikanischen Stadt eine Niederlassung. ihre Büros waren ein Spiegelbild der typischen Gegebenheiten ihres jeweiligen Standorts. Die Zentrale in Chicago besetzte eine Suite im palastartigen Palmer House. Das staubige Ogden, Utah, ein Eisenbahnknotenpunkt, wurde von einem gemieteten Büro mit Steckbriefen an den Wänden betreut. Die New Yorker Büros befanden sich im luxuriösen Knickerbocker Hotel in der 42nd Street. und in Washington, D.C., mit seiner günstigen Nähe zum Justizministerium - einer wesentlichen Auftragsquelle - residierten die van-Dorn-Detektive im zweiten Stock des besten Hotels der Stadt, dem neuen Willard auf der Pennsylvania Avenue, zwei Blocks vom Weißen Haus entfernt.
Joseph van Dorn selbst hatte dort ein Büro. es war ein mit Nussbaum getäfeltes Arbeitszimmer, ausgestattet mit den modernsten technischen Einrichtungen, um die transkontinental operierende Firma, die er leitete, unter Kontrolle zu halten. neben dem privaten Telegraphen der Agentur hatte er drei Kerzentelefone für Fernverbindungen in den Westen bis nach Chicago, dazu ein Deveau Dictaphone, einen mit Selbstaufzug versehenen Börsenticker und ein elektrisches Kellogg Intercommunicating Telephone. Durch einen Türspion konnte er sich einen ersten Eindruck von Klienten und Informanten im Wartezimmer verschaffen. Eckfenster gestatteten einen ungehinderten Blick auf den Vorder- und den Seiteneingang des Hotels.
Durch diese Fenster beobachtete van Dorn eine Woche nach Arthur Langners tragischem Tod in der Naval Gun Factory besorgt, wie zwei Frauen aus einer Straßenbahn stiegen, den dicht bevölkerten Gehsteig überquerten und im Hotel verschwanden.
Das Telefon der internen Sprechanlage klingelte.
»Miss Langner ist da«, meldete der Hausdetektiv des Willard, ein Angestellter van Dorns.
»ich weiß.« er sah dem Besuch mit gemischten Gefühlen entgegen.
Der Gründer der van Dorn Detective Agency war ein grobschlächtiger kahlköpfiger Mann in den Vierzigern. er hatte eine ausgeprägte römische Nase, eingerahmt von einem buschigen roten Backenbart. Dazu kam das freundliche, entgegenkommende Auftreten eines Anwalts oder Geschäftsmanns, der schon früh sein Glück gemacht hatte und nun die Früchte seines Erfolgs genoss. leicht verschleierte Augen kaschierten eine wache, zupackende Intelligenz; in den staatlichen Strafanstalten saßen zahlreiche Kriminelle, die durch List dazu gebracht worden waren, diesen Gentleman so nahe an sich heranzulassen, dass er ihnen Handschellen anlegen konnte.
im Parterre fesselten die beiden Frauen die ganze Aufmerksamkeit der versammelten Männlichkeit, als sie durch das von Marmor und Gold funkelnde Foyer des Willard schwebten. Die Jüngere der beiden, ein zierliches Mädchen von achtzehn oder neunzehn Jahren, war eine modisch gekleidete rothaarige mit lebhaft funkelnden Augen. ihre Gefährtin war eine hochgewachsene Schönheit mit rabenschwarzem Haar. Der ernst ihrer Miene wurde noch durch ihre Trauerkleidung unterstrichen. ihr Hut war mit Federn der Trauerseeschwalbe verziert, ein Schleier verdeckte ihr Gesicht zur Hälfte. Die rothaarige hielt ihren Ellbogen umfasst, als wollte sie ihr auf diese Weise Kraft und Trost spenden.
Sobald sie das Foyer durchquert hatten, übernahm Dorothy Langners das Kommando und drängte ihre Begleiterin, auf einer eleganten Couch am Fuß der Treppe Platz zu nehmen.
»Bist du sicher, dass ich nicht mitkommen soll?«
»Nein, danke, Katherine. ich schaffe es schon allein.«
Dorothy Langner raffte ihre langen Röcke hoch und eilte die Treppe hinauf.
Katherine Dee reckte den Kopf und beobachtete, wie Dorothy auf dem ersten Absatz innehielt und die Stirn gegen eine glänzende Marmorsäule presste. Dann straffte sie sich, sammelte sich, bog in den Korridor ein und verschwand in der van Dorn Detective Agency - und damit aus Katherines Blickfeld.
Joseph van Dorn warf einen Blick durch den Türspion. Der Angestellte am Empfang war ein gestandener Mann - anderenfalls hätte er am Empfang der van Dorn Agency auch nichts zu suchen gehabt. Aber er war von der weiblichen Schönheit, die ihm ihre Karte reichte, anscheinend völlig überwältigt, und van Dorn erkannte, dass in diesem Augenblick die Wild Bunch hätte hereinstürmen und sämtliche Möbel hinaustragen können, ohne dass er es bemerkt hätte.
»Mein Name ist Dorothy Langner«, sagte sie mit fester, wohlklingender stimme. »ich bin mit Mr Joseph van Dorn verabredet.«
Van Dorn betrat den Empfangsraum und begrüßte sie zuvorkommend.
»Miss Langner«, sagte er, und der Anflug eines irischen Akzents milderte den harten Chicago-slang. »Darf ich sie meiner tief empfundenen Anteilnahme versichern?«
»Vielen Dank, Mr van Dorn. ich weiß zu schätzen, dass sie mich empfangen.«
Van Dorn geleitete sie in sein Heiligtum.
Dorothy schlug sein Angebot einer Tasse Tee oder eines Glases Wasser aus und kam sofort zum eigentlichen Grund ihres Besuchs.
»Die Navy hat in einer offiziellen Stellungnahme verlauten lassen, dass sich mein Vater das Leben genommen hat. ich möchte ihre Agentur engagieren, um seinen Namen von diesem Makel reinzuwaschen.«
Van Dorn hatte sich so gründlich wie möglich auf diese heikle Unterredung vorbereitet. es gab gewichtige Gründe, an der geistigen Gesundheit ihres Vaters zu zweifeln. Aber seine zukünftige Ehefrau kannte Dorothy seit ihrer gemeinsamen Zeit am Smith College, daher fühlte er sich verpflichtet, sich die Argumente der armen Frau anzuhören.
»Ich stehe ihnen natürlich gerne zu Diensten, aber ...«
»Die Navy behauptet, dass er die Explosion, die ihn tötete, selbst verursacht habe, aber sie wollen mir nicht verraten, woher sie das wissen.«
»Ich würde nicht allzu viel dahinter vermuten«, sagte van Dorn. »Die Navy ist von Natur aus sehr verschwiegen. Was mich überrascht, ist vielmehr, dass sie sich gewöhnlich sehr umsichtig um die Belange ihrer Leute und ihrer Angehörigen kümmert.«
»Mein Vater hat von Anfang an darauf geachtet, dass die Gun Factory ein eher ziviles unternehmen und weniger ein Ableger der Navy ist«, erwiderte Dorothy Langner. »Daher ist sie so etwas wie ein rein kommerzieller Betrieb.«
»Und dennoch«, wandte van Dorn behutsam ein, »soweit ich verstanden habe, haben einige zivile Fabriken einen Teil seiner Produktion übernommen.«
»Ganz sicher nicht! vielleicht die Herstellung der vier- oder sechs-Zöller. Aber nicht den Bau der schweren Geschütze für die Großkampfschiffe, die Dreadnoughts.«
»Ich frage mich, ob dieser Wechsel ihrem Vater nicht allzu große Sorgen bereitet hat.«
»Vater war an solche Veränderungen gewöhnt«, entgegnete sie ruhig und fügte mit dem Anflug eines Lächelns hinzu: »er sagte immer: ›Die Pfeile und schleudern meines wütenden Geschicks sind die Forderungen und Einschränkungen von Kongress und lokalen Interessen.‹ er hatte einen Sinn für Humor, Mr van Dorn. er lachte gern. solche Männer begehen keinen Selbstmord.«
»Natürlich nicht«, sagte van Dorn ernst.
Das Kellogg-telefon klingelte wieder.
Gerettet, dachte van Dorn. er ging zur Wand, an der das Telefon befestigt war, nahm die Hörmuschel ab und lauschte.
»Schicken sie ihn herein.«
Zu Dorothy Langner sagte er: »ich habe Isaac Bell, meinen besten Agenten, gebeten, die Arbeit an einem wichtigen Bankraub-Fall zu unterbrechen, um die Umstände des Todes ihres Vaters zu untersuchen. er wird gleich darüber berichten.«
Die tür öffnete sich. ein Mann in einem weißen Anzug trat ein, und zwar mit sparsamen Bewegungen, wie man sie bei jemandem von seiner Größe und Statur niemals erwarten würde. er maß deutlich mehr als eins achtzig, war schlank - er wog nicht mehr als einhundertfünfundsiebzig Pfund - und musste um die dreißig Jahre alt sein. Der markante Schnurrbart, der seine Oberlippe zierte, schimmerte ebenso golden wie auch sein volles, sorgfältig frisiertes Haar. sein Gesicht hatte das robuste Aussehen eines Freiluftfanatikers, der Sonne und Wind liebt.
Seine großen Hände hingen ruhig herab. Die Finger waren lang und bis zur Makellosigkeit gepflegt, obgleich einem aufmerksameren Beobachter als der trauernden Dorothy Langner gewiss nicht entgangen wäre, dass die Knöchel seiner rechten Hand gerötet und angeschwollen waren.
»Miss Langner, darf ich sie mit meinem leitenden Ermittler, Isaac Bell, bekannt machen?«
Isaac Bell bildete sich nach einem schnellen prüfenden Blick ein erstes urteil über die schöne junge Frau. Mitte zwanzig, schätzte er ihr Alter. intelligent und selbstbeherrscht. Gezeichnet von tiefer Trauer, trotzdem außerordentlich attraktiv. sie sah ihn mit einem flehenden Ausdruck an.
Bells durchdringende blaue Augen wurden sofort sanft. Jetzt bekamen sie einen violetten Schimmer, der prüfende Blick signalisierte aufrichtiges Mitgefühl. er nahm seinen breitkrempigen Hut ab und sagte: »Ihr Verlust berührt mich zutiefst, Miss Langner«, und wischte mit einem blütenweißen Taschentuch in einer eleganten und nahezu unsichtbaren Bewegung einen Blutstropfen von seiner Hand.
»Mr Bell«, fragte sie. »Was haben sie erfahren, das den Namen meines Vaters von jedem Makel befreien kann?« Bell antwortete mit einfühlsam leiser Stimme. Dabei war er durchaus freundlich, aber zugleich auch sehr direkt. »nehmen sie es mir bitte nicht übel, aber ich muss ihnen mitteilen, dass von den Vorräten an Chemikalien im Labor tatsächlich eine nicht geringe Menge Jod fehlt.«
»Er war Ingenieur«, protestierte sie. »und er war Wissenschaftler. Mit seiner Unterschrift hat er sich jeden tag Chemikalien aus dem Lager des Labors kommen lassen.«
»Jodid in Pulverform war ein wichtiger Bestandteil des Sprengstoffs, der das raucharme Pulver in seinem Konzertflügel zur Explosion brachte. Der andere Bestandteil war Ammoniakwasser. Der Hausmeister bemerkte, dass in seinem Putzschrank eine ganze Flasche davon fehlte.«
»Die hätte praktisch jeder mitnehmen können.«
»Ja, natürlich. Aber es gibt Hinweise, dass er die Chemikalien in seinem privaten Badezimmer zusammengemixt haben muss. Da sind Flecken an seinem Handtuch, Reste von pulverförmigem Sprengstoff auf seiner Zahnbürste, ein verräterischer Bodensatz in seinem Rasierbecher.«
»Woher wissen sie das alles«, fragte sie und blinzelte tränen des Zorns weg. »Die Navy hat mich nicht mal in die Nähe seines Büros gelassen. sie haben auch meinen Anwalt abgewiesen. noch nicht einmal der Polizei wurde der Zugang zur Gun Factory gestattet.«
»Nun, ich bin durchaus hineingekommen«, sagte Bell.
Ein Sekretär, in Weste, Fliege, die Hemdsärmel hochgezogen und mit Gummibändern fixiert und mit einem Double- Action-Colt in einem Schulterhalfter, kam eilig herein. »entschuldigen sie, Mr van Dorn. Der Kommandant des Washington Navy Yard ist am Telefon und rast vor Zorn.«
»Sagen sie der Telefonvermittlung, sie sollen den Anruf auf diesen Apparat schalten. entschuldigen sie mich für einen Augenblick, Miss Langner ... van Dorn hier. Guten Tag, Commander. Wie geht es ihnen? ... Ist das ihr ernst?« van Dorn lauschte und lächelte Miss Langner zwischendurch aufmunternd zu.
»Nun, sie mögen mir verzeihen, Sir, aber eine solche allgemeine Beschreibung könnte auf die Hälfte aller männlichen Bewohner Washingtons zutreffen ... sie könnte sogar auf einen Gentleman passen, der sich soeben, während wir uns unterhalten, in meinem Büro aufhält. Aber ich versichere ihnen, dass er wirklich nicht so aussieht, als wäre er in ein Handgemenge mit den United States Marines verwickelt gewesen ... es sei denn, das Corps bringt deutlich schlechter ausgebildete Ledernacken hervor als zu meiner Zeit.«
Isaac Bell schob die lädierte Hand in die Jacketttasche.
Als Joseph van Dorn dem Anrufer erneut antwortete, geschah es mit einem milden lächeln, allerdings begleitet von einem eisigen Funkeln in den Augen, vor dem der Kommandant, wenn er es vor sich gesehen hätte, einen hastigen Rückzug eingeleitet hätte.
»Nein, sir. ich werde auf die bloße Aussage ihrer Wachleute, einen Privatdetektiv auf frischer Tat ertappt zu haben, ganz gewiss keinen meiner Angestellten zu einer Gegenüberstellung zu ihnen schicken. Der Mann in meinem Büro wurde ganz sicher nicht ertappt, wie sie es ausdrücken, da er in diesem Moment hier vor mir steht ... ich werde ihre Beschwerde an den Marineminister weiterleiten, wenn wir morgen im Cosmos Club gemeinsam zu Mittag speisen. Bitte, übermitteln sie auch Mrs Dillon meine herzlichsten Grüße.«
Van Dorn hängte die Hörmuschel an den Haken und sagte: »offenbar hat ein ziemlich großer, blonder Gentleman mit Schnurrbart einige der Wächter der Marinewerft, die versucht haben, ihn in Gewahrsam zu nehmen, niedergeschlagen. «
Bell entblößte seine gleichmäßigen schneeweißen Zähne zu einem amüsierten Grinsen. »ich denke, er hätte sich bestimmt freiwillig ergeben, wenn sie nicht versucht hätten, ihn durch die Mangel zu drehen.« er wandte sich wieder an Dorothy Langner, diesmal jedoch um einiges sanfter. »nun, Miss Langner, da gibt es etwas, das ich ihnen zeigen muss.«
Er holte eine Fotografie hervor, die noch feucht vom Entwicklungsbad war. es war eine Vergrößerung von Langners Abschiedsbrief. Bell hatte ihn mit einer 3A-Kodak-Balgenkamera aufgenommen, die seine Verlobte - sie war im Filmgeschäft tätig - ihm gegeben hatte. Bell deckte den größten Teil der Fotografie mit einer Hand ab, um Miss Langner die Lektüre des ziemlich konfusen Textes zu ersparen.
»Ist das die Handschrift ihres Vaters?«
Sie zögerte, betrachtete das Foto eingehender und nickte dann zögernd. »es sieht aus wie seine Handschrift.«
Bell beobachtete sie aufmerksam. »sie sind sich offenbar nicht sicher.«
»Sie sieht nur ein wenig ... ich weiß nicht! Ja, es ist seine Handschrift.«
»Soweit ich weiß, stand ihr Vater unter großem Druck, die Produktion zu beschleunigen. Kollegen, die ihn bewunderten, geben zu, dass er unter einer hohen Belastung gelitten habe, die er vielleicht nicht mehr ertrug.«
»Unsinn!«, widersprach sie heftig. »Mein Vater goss keine Kirchenglocken. er leitete eine Waffenfabrik. er war es, der auf das Tempo drängte. und wenn es ihm zu viel gewesen wäre, hätte ich es als erste erfahren. seit dem Tod meiner Mutter hielten wir zusammen wie Pech und Schwefel.«
»Aber das tragische an einem Selbstmord ist doch«, ergriff van Dorn das Wort, »dass das Opfer keinen anderen Ausweg sieht als eine Flucht aus dem unerträglichen. es ist immer ein einsamer Tod.«
»Er hätte sein Leben niemals auf diese Art und Weise beendet. «
»Warum nicht?«, fragte Bell.
Dorothy Langner hielt für einen Moment inne, ehe sie antwortete. Dabei wurde ihr durchaus bewusst, dass der große Detektiv ungewöhnlich attraktiv wirkte und unter seinem eleganten Äußeren eine urwüchsige Kraft zu schlummern schien. Dies war eine Mischung, die sie bei den Männern suchte, jedoch nur höchst selten antraf.
»Ich habe ihm das Klavier gekauft, damit er seiner geliebten Musik wieder frönen konnte. er liebte mich viel zu sehr, um mit Hilfe dieses Instruments aus dem Leben zu scheiden.«
Isaac Bell blickte in ihre beschwörenden silberblauen Augen, während sie ihren Standpunkt vehement vertrat. »Vater war mit seiner Arbeit viel zu glücklich, um sterben zu wollen. vor vierzig Jahren hat er damit begonnen, britische vier-Zoll-Geschütze nachzubauen. Heute stellt seine Fabrik die besten Zwölf-Zöller der Welt her. Geschütze, die auf zwanzigtausend Yards genau treffen. Das sind zehn Meilen, Mr Bell!«
Bell achtete auf jede Veränderung in ihrem Tonfall, die auf mögliche Zweifel hinweisen konnte. er suchte in ihrem Gesicht nach verräterischen Anzeichen von Unsicherheit in ihrer geradezu lyrischen Beschreibung der Arbeit des verstorbenen.
»Je größer das Geschütz, desto gewaltiger ist die Kraft, die es bändigen muss. es gibt keinen Spielraum für Irrtümer oder Fehler. Der Durchmesser darf auch nicht um einen Tausendstelmillimeter schwanken. Züge einzuarbeiten erfordert die Kunstfertigkeit eines Michelangelo; die Rohrseele mit dem Mantelrohr zu umhüllen die Präzision eines Uhrmachers. Mein Vater liebte seine Geschütze - alle der am Bau eines Linienschiffgeschützes Beteiligten lieben ihre Arbeit. ein Fachmann für Dampfantriebe wie Alasdair Mac- Donald liebt seine Turbinen. Ronnie Wheeler oben in Newport liebt seine Torpedos. Farley Kent seine immer schnelleren Schiffsrümpfe. es macht große Freunde, sich einer Sache mit Haut und Haar zu verschreiben, Mr Bell, und all seine Energie hineinzustecken. solche Männer begehen keinen Selbstmord.«
Joseph van Dorn schaltete sich abermals ein. »ich kann ihnen versichern, dass Isaac Bell seine Ermittlungen so gründlich wie irgend möglich ...«
»Aber«, unterbrach Bell den Chef der Agency, »was ist, wenn Miss Langner recht hat?«
Sein Boss starrte ihn verblüfft an.
Bell sagte: »Mit Mr van Dorns Erlaubnis werde ich weitere Ermittlungen anstellen.«
Hoffnung hellte Dorothy Langners reizendes Gesicht auf. sie wandte sich zu dem Gründer der Privatdetektei um. van Dorn spreizte die Hände. »natürlich. Isaac Bell wird sich sofort mit voller Unterstützung der Agentur darum kümmern. «
ihr Dank klang eher wie eine Forderung. »Das ist alles, worum ich sie bitten kann, Mr Bell und Mr van Dorn. Nämlich um eine kritische Würdigung sämtlicher Fakten.« Ein lächeln brachte ihr Gesicht wie ein Sonnenstrahl zum Leuchten und ließ erkennen, was für ein lebensfroher und unbeschwerter Mensch sie gewesen sein musste, ehe es zu der Tragödie gekommen war. »ist das nicht das wenigste, das ich von einer Detektei erwarten kann, deren Motto ›Wir geben nicht auf. Niemals!‹ lautet?«
»Offenbar haben sie selbst also auch Erkundigungen eingezogen ... über uns«, meinte Bell und erwiderte ihr lächeln. van Dorn geleitete sie in den Empfangsraum hinaus und wiederholte seine Beileidsbekundungen.
Isaac Bell trat ans Fenster, das zur Pennsylvania Avenue hinausging. er verfolgte, wie Dorothy mit einer schlanken rothaarigen, die ihm vorher schon im Foyer aufgefallen war, aus dem Hotel kam. neben jeder anderen Begleitung hätte man die rothaarige als Schönheit einstufen können, aber neben der Tochter des Waffenkonstrukteurs neigte man dazu, sie allenfalls als hübsch zu bezeichnen.
van Dorn kam zurück. »Was hat ihre Meinung geändert, Isaac? Die liebe dieser jungen Frau zu ihrem Vater?«
»Nein. ihre liebe zu seiner Arbeit.«
er beobachtete, wie die beiden Frauen zur Haltestelle eilten, als sich eine Straßenbahn näherte, wie sie ihre Röcke rafften und einstiegen. Dorothy Langner drehte sich nicht um. Das tat jedoch die rothaarige und schickte einen abwägenden Blick hinauf zu den Fenstern der van Dorn Agency, als wüsste sie genau, wohin sie schauen musste.
van Dorn studierte die Fotografie. »ich habe noch nie ein so scharfes Bild von einem Film gesehen. Fast genauso scharf wie von einer herkömmlichen Platte.«
»Marion hat mir eine 3A Kodak beschafft. sie passt genau in die Tasche meines Mantels. sie sollten die Kamera zur Standardausrüstung machen.«
»Nicht bei fünfundsiebzig Dollar das Stück«, meinte der knauserige van Dorn. »Unsere Leute müssen mit einer Brownie für einen Dollar auskommen. Was geht ihnen durch den Kopf, Isaac? sie machen ein sorgenvolles Gesicht.«
»Ich fürchte, ich muss die Jungs in der Buchhaltung bitten, die finanziellen Verhältnisse ihres Vaters zu überprüfen.«
»Warum das?«
»Sie haben in seinem Schreibtisch gebündeltes Geld gefunden, mehr als er jemals für sich allein hätte ausgeben können.«
»Schmiergeld?«, wetterte van Dorn. »er wurde bestochen? Kein Wunder, dass sich die Navy bedeckt hält. Langner hat im Auftrag der Regierung gearbeitet und konnte sich aussuchen, bei wem er den stahl für seine Produktion kaufte.« van Dorn schüttelte voller Abscheu den Kopf. »Der Kongress hat den Ärger vor drei Jahren sicher nicht vergessen, als sich die stahlfirmen zusammentaten und einen einheitlichen Preis für Panzerstahl festlegten. nun, das erklärt auch, weshalb sie ihm mit dem Klavier ein wenig Zerstreuung verschafft hat.«
»Es sieht so aus«, gab Isaac Bell zu, »als hätte ein an sich ganz kluger Mann etwas Dummes getan und nicht ertragen können, dass er erwischt wurde. Daher hat er den Freitod gewählt.«
»ich bin überrascht, dass sie sich bereit erklärt haben, sich weiter mit der Angelegenheit zu befassen.«
»Sie ist eine sehr reizvolle junge Lady.«
Van Dorn musterte ihn skeptisch. »sie sind verlobt, Isaac.«
Isaac Bell lächelte seinen Chef mit unschuldiger Miene an. Für jemanden, der in all diesen besonderen Dingen so weltgewandt und abgeklärt war, um bei Kriminellen als lästige Landplage verhasst zu sein, war Joe van Dorn in Herzensangelegenheiten doch bemerkenswert zimperlich. »Die Tatsache, dass ich Marion Morgan liebe, macht mich keinesfalls blind für anderweitige weibliche Schönheiten. ebenso wenig bin ich immun gegen leidenschaftliche Gefühlsäußerungen. Was ich jedoch meinte, ist, dass der Glaube der auffällig attraktiven Miss Langner an die Rechtschaffenheit ihres Vaters derart unerschütterlich ist.«
»Die meisten Mütter«, hielt van Dorn dem eindringlich entgegen, »und alle Töchter können und wollen einfach nicht wahrhaben, wenn sich ihre Söhne oder Väter in kriminelle Handlungen verstrickt haben.«
»Irgendetwas an diesem handgeschriebenen Text kam ihr seltsam vor.« »Wie sind sie überhaupt auf diesen Abschiedsbrief gestoßen? «
»Die Navy hatte keine Ahnung, wie sie weiter vorgehen sollte. Daher haben sie bis auf die Leiche alles an Ort und Stelle liegen gelassen und die Tür verriegelt, um die Cops vom Schauplatz des Geschehens fernzuhalten.«
»Wie sind sie hineingekommen?«
»es war ein altes Polhem-schloss.«
van Dorn nickte. Bell hatte ein Faible für Schlösser. »Also, es überrascht mich gar nicht, dass die Navy keine Ahnung hatte, wie sie vorgehen sollte. tatsächlich glaube ich, dass sie starr vor Angst sind. es mag ja sein, dass sich Präsident Roosevelt wild entschlossen zeigt, achtundvierzig neue Schlachtschiffe bauen zu lassen, aber es gibt zahlreiche Abgeordnete im Kongress, die genau dies mit allen Mitteln verhindern wollen.«
Bell nickte. »ich hasse es, John Scully im Stich zu lassen, aber können sie mich von dem Frye-Boys-Fall abziehen, solange ich mich mit dieser Angelegenheit befasse?«
»Im Stich gelassen zu werden ist genau das, was Detektiv Scully liebt«, knurrte van Dorn ungehalten. »Der Mann agiert für meinen Geschmack viel zu selbstständig.«
»und trotzdem ist er ein scharfsichtiger Ermittler«, verteidigte Bell seinen Kollegen.
Scully war ein Agent, der nicht gerade dafür berühmt war, die Zentrale regelmäßig über den Stand seiner jeweiligen Ermittlungen zu informieren. Zurzeit verfolgte er ein Trio Bankräuber über die Grenze von Ohio nach Pennsylvania. sie hatten sich einen Namen gemacht, indem sie nach ihren Überfällen stets eine Notiz hinterließen, die sie mit dem Blut ihrer Opfer geschrieben hatten: »Fürchtet die Frye Boys!« Die erste Bank hatten sie ein Jahr zuvor in New Jersey ausgeraubt, waren dann nach Westen geflohen, hatten weitere Banken überfallen und danach für die Dauer des Winters eine Pause eingelegt. nun markierten sie ihren Weg von Illinois nach Westen mit einer Reihe blutiger Überfälle auf Kleinstadtbanken. Gleichermaßen erfinderisch wie skrupellos benutzten sie gestohlene Automobile, um die Staatsgrenzen zu überqueren und örtliche Sheriffs in einer Staubwolke hinter sich zu lassen.
»Sie sind weiterhin für den Frye-Fall zuständig, Isaac«, erklärte van Dorn mit Nachdruck. »Bis sich der Kongress endlich entschließt, eine Art nationale Ermittlungsbehörde zu gründen und zu finanzieren, wird uns das Justizministerium weiterhin fürstlich dafür bezahlen, Kriminelle zu jagen, die die Staatsgrenzen überqueren. und ich werde nicht zulassen, dass ein Einzelgänger wie Scully die Erwartungen unserer staatlichen Auftraggeber enttäuscht.«
»Wie sie wünschen, Sir«, erwiderte Bell förmlich. »Aber sie haben Miss Langner die uneingeschränkte Unterstützung der Agentur zugesagt.«
»Na schön. ich werde Scully - nur für kurze Zeit - zwei Helfer zur Seite stellen. Aber die Leitung bleibt weiterhin in ihrer Hand, und sie sollten eigentlich nicht allzu lange brauchen, um die Echtheit des Langner'schen Abschiedsbriefes zu beweisen.«
»Kann mir ihr Freund, der Marineminister, einen Passierschein für die Werft ausstellen lassen? ich möchte mich mal mit den Marines unterhalten.«
»Worüber?« Der Boss grinste. »Etwa eine Revanche?« Bell erwiderte das Grinsen, wurde jedoch schnell wieder ernst.
»Wenn Mr Langner keinen Selbstmord begangen hat, dann muss doch jemand keine Mühen gescheut haben, ihn zu töten und in Verruf zu bringen. Die Marines halten an den Toren zur Werft Wache. sie müssen am Tag vorher jemand verdächtigen dabei beobachtet haben, wie er das Gelände verließ.«
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Blanvalet Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
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Autoren-Porträt von Clive Cussler, Justin Scott
Seit er 1973 seinen ersten Helden Dirk Pitt erfand, ist jeder Roman von Clive Cussler ein »New York Times«-Bestseller. Auch auf der deutschen SPIEGEL-Bestsellerliste ist jeder seiner Romane vertreten. 1979 gründete er die reale NUMA, um das maritime Erbe durch die Entdeckung, Erforschung und Konservierung von Schiffswracks zu bewahren. Er lebte bis zu seinem Tod im Jahr 2020 in der Wüste von Arizona und in den Bergen Colorados.Justin Scott ist ein Bestseller-Autor von Thrillern, Krimis und historischen Romanen. Er wurde für seine Krimis bereits mehrmals für den renommierten Edgar Allan Poe Preis nominiert. Er lebt mit seiner Frau Amber in Connecticut, USA. Justin Scott ist ein Bestseller-Autor von Thrillern, Krimis und historischen Romanen. Er wurde für seine Krimis bereits mehrmals für den renommierten Edgar Allan Poe Preis nominiert. Er lebt mit seiner Frau Amber in Connecticut, USA.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Clive Cussler , Justin Scott
- 2012, Deutsche Erstausgabe, 576 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Michael Kubiak
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442379644
- ISBN-13: 9783442379644
- Erscheinungsdatum: 12.09.2012
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