Isoliert
Roman
Ein unheimlich guter Roman über die Big - Brotherisierung unserer Welt, so unterhaltsam wie beängstigend.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Isoliert “
Ein unheimlich guter Roman über die Big - Brotherisierung unserer Welt, so unterhaltsam wie beängstigend.
Klappentext zu „Isoliert “
Stell dir vor, du kommst aus einem Traumurlaub, Sonne, Palmen, weißer Sand. Aber in deinem Urlaubsgebiet ist ein gefährlicher Virus aufgetreten. Für dich und zweitausend weitere Urlauber heißt das Quarantäne, 40 Tage Isolation, kein Kontakt zur Außenwelt. In deiner Wohnung werden Überwachungskameras installiert. Jeder kann einen Zugangscode bekommen. Von nun an wirst du überwacht von Millionen Augen, zum Schutze der Allgemeinheit. Von einem Tag auf den anderen gibt es eine neue Tätigkeit,"watchen". Rosalie ist 16, sie hat nie viel Fernsehen geguckt, aber schnell ist klar, wer sich jetzt nicht durch die"cases"zappt, kann nicht mehr mitreden. Das Merkwürdige ist nur, dies ist kein Fernsehen, dies ist echt. Echt? Und wenn alles nur eine gigantische Medieninszenierung ist?
Stell dir vor, du kommst aus einem Traumurlaub, Sonne, Palmen, weißer Sand. Aber in deinem Urlaubsgebiet ist ein gefährlicher Virus aufgetreten. Für dich und zweitausend weitere Urlauber heißt das Quarantäne, 40 Tage Isolation, kein Kontakt zur Außenwelt. In deiner Wohnung werden Überwachungskameras installiert. Jeder kann einen Zugangscode bekommen. Von nun an wirst du überwacht von Millionen Augen, zum Schutze der Allgemeinheit. Von einem Tag auf den anderen gibt es eine neue Tätigkeit, "watchen". Rosalie ist 16, sie hat nie viel Fernsehen geguckt, aber schnell ist klar, wer sich jetzt nicht durch die "cases" zappt, kann nicht mehr mitreden. Das Merkwürdige ist nur, dies ist kein Fernsehen, dies ist echt. Echt? Und wenn alles nur eine gigantische Medieninszenierung ist?
Lese-Probe zu „Isoliert “
Isoliert von Bettina Obrecht LESEPROBE LocoBeach, o LocoBeach
My baby went to LocoBeachTo see the sunrise, see the sunset See the golden sea. Live her dream and dream her life. To be herself, to be free. To see the birds flying in the sky.
Flying over to me.
LocoBeach, o LocoBeach
My baby went to LocoBeachShe told me on the phone She won’t be home, oh no, she won’t be home. The birds came flying over to me They told me She won’t be home.
Now I want to go to LocoBeachTo look for my baby
... mehr
See the sunrise, see the sunset See the golden sea.
Gerechter Gott / aber auch barmhertziger und gnädiger Vater / du hast deine Zorn-Hand / über nicht gahr zu weit entfernete Städte und Länder ausgestrecket / und die schädliche Plage der Pestilentz / unter sie geschicket / also daß man von ihren grossen Jammer und Hertzeleyd höret / wie der Todt zu ihren Fenstern herein gefallen / und in ihre Palläste kommen / und die angehenckte Sterbe-Drüsen / Junge und Alte verderben.
[Friedrich Wilhelm, Herzog von Mecklenburg-Schwerin] um 1700
MALTA, LOCO BEACH UND EIN VERBRANNTER NORWEGER
Ehrlich gesagt, bis vor Kurzem wusste ich noch nicht mal, wo Loco Beach liegt. Wer wusste das schon, außer den Auserwählten, die sich Ferien im Palmenparadies leisten können. Klar, gehört hab ich davon. Aber als Urlaubsort kam Loco Beach für mich bis jetzt nicht infrage. Meine Eltern gehören nicht zu denen, die ferne Strände anfliegen und sich gemütlich unter Kokospalmen legen. Die sind beruflich so oft in der Ferne unterwegs, dass sie zur Erholung einfach mal zu Hause bleiben. Und wenn sie doch mal privat reisen, dann muss es Kultur sein. Früher musste ich mit auf Kulturtrip. Durch Kirchen und Museen stolpern. Inzwischen bin ich alt genug und kann alleine losziehen.
Die letzten Sommerferien, die im Quarantänesommer, habe ich auf Malta verbracht. Als ich losflog, redete noch keiner von Loco Beach und dem Virus. Malta also. Mit Englischkurs. Auf so was bestehen meine Eltern, »wennschon«. Bloß nicht das reine Vergnügen! Ehrlich gesagt, ich hab trotzdem viel Zeit am Strand verbracht. Auf den weißen Hai gewartet, dann wäre wenigstens was los gewesen. Kam aber keiner. Im Mittelmeer gibt es welche, sagen meine Eltern. Ich glaube, den meisten Urlaubern ist das nicht klar.
Immerhin tauchte ein süßer Typ auf. Lasse. Norweger. Den hatte sein Vater auch in einen Ferienkurs gesteckt, aber er konnte eigentlich schon alles und musste deswegen noch öfter am Strand rumliegen als ich. Dabei hat er sich einen dicken Sonnenbrand eingefangen. Geredet hat er nicht viel, aber nett gelächelt. Einmal hat er mir ein Eis gekauft, einfach so. Ich hab ihn wahrscheinlich so fassungslos angestarrt wie einen weißen Hai. Jetzt hab ich seine Adresse und soll ihm schreiben. Auf Englisch. So gesehen hat sich der Englischkurs dann doch gelohnt.
Als mein Kurs zu Ende war, da waren meine Eltern schon wieder auf Achse, sodass Erich mich am Flughafen abholen musste. Erich ist Omas Lebensgefährte. Oma Helene kam nicht mit zum Flughafen. Überraschte mich nicht sonderlich. Meine Oma kriegt man schon seit Jahren kaum mehr aus dem Haus. Das darf man nicht persönlich nehmen.
Erich nahm mich zur Begrüßung in den Arm. Er macht das immer sehr vorsichtig, als hätte er Angst, dass ich ihm eine knalle. Wahrscheinlich, weil er kein richtiger Verwandter ist. Er könnte ja einer sein, der sich an kleinen Mädchen vergreift.
»Alles klar?«, fragte er, als er mich wieder losgelassen hatte. »Braun bist du. War’s denn schön?«
»Och jo. Die anderen im Kurs waren ganz nett.«
Erich konnte ich natürlich nicht gleich von Lasse erzählen. Die brandheiße Info wollte ich mir für Clarissa aufheben, meine beste Freundin. Na ja, ein Foto von ihm hatte sie schon aus Malta gekriegt, per SMS.
Erich nahm meinen Koffer.
Als wir in Richtung Tiefgarage zottelten, kam uns eine Gruppe weiß vermummter Gestalten entgegen. Die Typen trugen Schutzanzüge, Hauben und Mundschutz und rannten hektisch wie Astronauten, denen gerade ihr Raumschiff aus der Umlaufbahn fliegt, in Richtung Ankunftshalle.
»Wo wollen die denn hin?«, habe ich noch gefragt. Erich hat ganz ruhig den Koffer abgestellt und nach dem Autoschlüssel getastet.
»Keine Ahnung. Vielleicht wieder mal ein Bombenalarm. Wir sehen zu, dass wir wegkommen, bevor alles dichtgemacht wird.«
Er nahm den Koffer wieder auf. »Helene wartet mit dem Essen. Ich habe Leberknödel gemacht. Magst du doch.« »Ja.«
Ich sah mich noch mal um. Die Typen mit den Schutzanzügen, die waren wie aus dem Fernsehen. Aus den Nachrichten. Oder aus irgendeinem Film. So was wie »Im Bann der Killerviren«.
Wir wären fast live dabei gewesen, Erich und ich.
Das erste Flugzeug aus Loco Beach war gerade gelandet, kurz nach mir. Die Passagiere, die in diesem Moment ihr Handgepäck aus den Fächern über ihren Sitzen zerrten, ahnten nicht, was auf sie zukam. Dass man sie erwartete. Dass man sie zu Hause einsperren und in allen Räumen ihrer Wohnungen Kameras installieren würde. Und dass dann alle anderen sie über Fernsehen oder am Computer überwachen würden. Die konnten das nicht ahnen. So was hat es ja vorher noch nie gegeben.
Als wir zu Hause ankamen, saß Oma schon vor dem Fernseher. Und da wurde uns ziemlich schnell klar, warum die Typen mit den Schutzmasken es so eilig gehabt hatten. Das war so verrückt, dass ich sogar vergaß, gleich bei Clarissa anzurufen.
ERSTER ABEND DER QUARANTÄNE
[Ankunftshalle eines internationalen Flughafens. Ein großer Bereich ist abgesperrt, dahinter drängen sich Schaulustige und Kameramänner. Im abgesperrten Bereich haben sich Gestalten in weißen Schutzanzügen im Halbkreis aufgestellt. Die Kamera schwenkt auf die Tür zur unsichtbaren Gepäckhalle. Die Tür öffnet sich. Ein Mann in lila geblümtem Hemd und mit ausgefranstem Strohhut auf dem Kopf tritt heraus. Er zieht zwei schwere Rollenkoffer hinter sich her. Der Mann blinzelt, bleibt stehen. Von hinten kommen zwei Kinder angerannt. Das Mädchen hält ein aufblasbares Flugzeug unter dem Arm, der Junge einen bunten Plüschpapagei.]
[Das Mädchen sieht sich um.] Mädchen schmettert: Oma?
Sie wiederholt es, unsicher geworden: Oma?
[Weitere Fluggäste strömen aus der Tür. Alle halten an und starren auf die Gestalten in den Schutzanzügen. Ein junger Mann mit braunen, bis auf die Schulter fallenden Haaren beginnt zu laufen, entdeckt die Absperrungen und bleibt mit hängenden Schultern stehen. Zwei der Gestalten nähern sich den Fluggästen.]
Mann im Schutzanzug: In Ihrem Urlaubsgebiet ist ein gefährliches Virus aufgetreten. Wir müssen Sie leider in Quarantäne nehmen.
Urlauber, offensichtlich angetrunken, mit rot verbranntem Gesicht: Was soll das heißen, du Witzfigur? Ich bin nicht krank. Lass mich sofort durch.
[Er versucht, sich an dem Mann im Schutzanzug vorbeizudrängeln, wird aber vom zweiten Mann sofort am Arm gepackt.]
Urlauberin mit Sonnenbrille im Haar und dicker Umhängetasche, aus der Getränkeflaschen, Kekspackungen und Bilderbücher quellen:
Und die Kinder? Mann im Schutzanzug: Wir können niemanden durchlassen. Bitte folgen Sie uns in den Nebenraum.
2. Mann im Schutzanzug: Sie verstehen das sicher. Diese Maßnahme dient dem Schutz der Allgemeinheit.
[Eine zweite Tür öffnet sich. Die Passagiere werden von den Männern im Schutzanzug in Richtung dieser Tür gedrängt. Die Schaulustigen rücken näher an die Absperrung vor und werden von den Polizisten zurückgehalten.]
Polizist: Bleiben Sie zurück. In Ihrem eigenen Interesse würde ich nicht so nah rangehen.
»Was machen sie mit denen?«, frage ich. Ich habe mir vor Aufregung einen Fingernagel komplett runtergeknabbert. In den letzten Wochen habe ich mich mit dem Knabbern zurückgehalten, um mich im Englischkurs nicht zu blamieren.
»Quarantäne, nehme ich an«, sagt Erich. »Die müssen abgesondert werden, damit sie niemanden anstecken können.«
»Aber die sind doch gar nicht krank.«
»Man weiß es nicht. Vielleicht tragen sie die Krankheit schon mit sich herum.«
»Hoffentlich erwischen sie alle«, murmelt Oma von ihrem Sofa aus.
»Ich glaube, die können gar nicht alle erwischen. Es ist wahrscheinlich alles völlig sinnlos. So was ist nicht aufzuhalten.«
Sie schaltet mehrere Kanäle durch. Überall dieselben Bilder. Überall betroffene Nachrichtensprecher. Sorgenvolle Mienen. Männer in weißen Schutzanzügen. Durchlauftexte mit den neuesten Zahlen: Bereits eintausendvierhundertdreizehn Menschen unter Quarantäne. Allein bei uns in der Stadt sollen es dreihundertsiebzehn sein. Bereits der fünfte Tote in Loco Beach. Evakuierung der Urlaubsgebiete geht weiter.
Ob auch norwegische Urlauber in Loco Beach waren?
»Wo wollen die denn mit den Leuten hin, wenn die in Quarantäne sind?«, fragt Oma.»So viel Platz ist doch nicht im Krankenhaus.«
»Vielleicht bringen sie die in Turnhallen unter«, sagt Erich.
»Die nehmen immer Turnhallen für so was.«
»Das verwechselst du«, muffelt Oma vom Sofa her.
»Das ist nur bei Flugzeugabstürzen so. Das hier ist doch kein Flugzeugabsturz.
« Ich achte nicht auf sie. Die Turnhalle unserer Schule? Dann fiele vielleicht der Sportunterricht aus. Ich schäme mich. Wie kann ich an so kleine Vorteile denken, wenn es um große Katastrophen geht?
5. TAG DER QUARANTÄNE CASES, SCHILDKRÖTEN UND PFLEGELEICHTE ROSA HANDTÜCHER
Die haben Glück gehabt. Die sind nicht in irgendwelchen Krankenhäusern gelandet. Auch nicht in Turnhallen. Sie konnten nach Hause gehen.
Das ginge natürlich nicht ohne die Kameras, die in ihren Wohnungen installiert sind, in jedem Zimmer. Damit sie nicht abhauen und die Allgemeinheit gefährden. Und damit man beim ersten Anzeichen von Erkrankung eingreifen kann.
Jetzt ist jeder verantwortlich. Jeder kann was tun, damit es sich nicht ausbreitet. Damit es uns nicht alle erwischt. Wir sind alle gefragt. Jeder hat einen Zugangscode gekriegt und kann die Loco-Beach-Heimkehrer – es sind jetzt weit über zweitausend – persönlich bewachen. Über Internet oder übers Fernsehen. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder gezielt Zahlencodes eingeben, wenn man sich in eine bestimmte Wohnung schalten will. Oder auf Random. Dann kann man einfach laufen lassen und wird von einem Case zum anderen geschaltet. Case, das ist das englische Wort für»Fall«. Jeder, der aus Loco Beach kommt, ist ein Fall. Das klingt spannend, wie im Krimi.
Am Anfang haben praktisch alle über Random gewatcht – watchen nennt man das, die Cases beobachten –, um sich einen Überblick zu verschaffen, aber inzwischen hat halt jeder so seine Favoriten.
Ich hätte nichts gegen eine Direktschaltung nach Norwegen, gegen Kameras in Lasses Wohnung. Ich besitze nicht mal ein anständiges Foto von ihm. Nur einmal hab ich mich getraut, ihn mit dem Handy zu knipsen. Aber vor lauter Aufregung hab ich verwackelt. Ich hab das Foto trotzdem an Clarissa geschickt, weil er ja irgendwie drauf ist.
Sie wird Lasse sowieso nicht gelten lassen. Weil wir uns nicht geküsst haben. Nicht richtig, nur kurz zum Abschied, auf die Backe. Das würde Clarissa nie passieren.
Außerdem ist meine Urlaubsromanze sowieso gnadenlos im Virus-Fieber untergegangen. Seit dem ersten Schultag redet in der Klasse kaum jemand über was anderes als Loco Beach. Die ganzen eigenen Urlaubs- und Strandgeschichten sind diesmal ausgefallen. Wir tauschen Tipps aus, die besten Adressen im Netz, unter denen was abgeht. Manche der Cases sind ja langweilig. Die bleiben praktisch den ganzen Tag im Bett liegen, als wären sie schon krank. Aber manche benehmen sich auch ganz witzig, nutzen die Chance, einmal im Leben im Fernsehen zu sein, mit Riesenpublikum. Es ist wie eine große Show.
Helene, also meine Oma, ist total drauf, redet ständig von Verantwortung und Schutz der Allgemeinheit und so. Sie hebt ihren Hintern nur noch aus dem Fernsehsessel, wenn sie aufs Klo muss. Mit Absicht trinkt sie so wenig wie möglich, damit das nicht so oft vorkommt. Ihr Zimmer wirkt wie eingefroren, nichts verändert sich mehr. Bis auf das Licht. Wir haben seit Ferienende herrliches sonniges Spätsommerwetter, viel zu schön für Schule. Der Himmel ist ganz klar und knallblau. Vormittags muss Helene die Rollläden halb runterlassen, um die Gesichter auf dem Fernsehschirm erkennen zu können. Am frühen Nachmittag kann Erich die Läden hochziehen, dann ist die Sonne auf die andere Seite gewandert, und abends, pünktlich zu den Acht-Uhr-Nachrichten – auf die besteht er auch »in diesen Zeiten«, wie er es nennt –, lässt er die Läden ganz runter und dreht den Deckenfluter an.
»Sie kümmert sich eben«, sagt Erich achselzuckend, wenn ich über Oma lästere. »Sie nimmt die Sache ernst.
« Aber ich glaube, sie nimmt die Sache nur ernst, weil sie auch ihre Doku-Soaps und Talkshows so ernst nimmt.
Oma ist nicht eine, die sich wirklich kümmert.
Weil sich Oma nicht richtig kümmert, hatte ich bis vor zwei Jahren immer Kindermädchen. Meine Kindermädchen kamen aus den verschiedensten Ländern und wechselten von Jahr zu Jahr. Eins hatten sie aber gemeinsam: Sie kümmerten sich überwiegend um Oma Helene, und zwar am liebsten beim gemeinsamen Fernsehen. Ich weiß nicht mehr, wann das mit der Fernsehsucht bei Oma angefangen hat. Irgendwann zwischen Lindenstraße und Gute Zeiten, schlechte Zeiten.
Dann lernte Oma Erich kennen. Im Zug. Der blieb mal wieder auf offener Strecke stehen, Lokschaden oder so was, und die Klimaanlage fiel gleich auch noch aus. Erich lebt sehr umweltbewusst und hatte jahrzehntelang kein Auto. Aber an diesem Tag im Zug in der brütenden Hitze irgendwo zwischen den kahl gespritzten Böschungen der Vorstadt verkündete Erich allen, die zufällig im selben Abteil schwitzten, er werde sich jetzt ein Auto kaufen und zukünftig auf alle Feinstäube, Ozonwerte und Treibstoffgase der Welt pfeifen. Oma, der das Bahnfahren, vor allem mit Gepäck, auch immer lästig war, bat ihn spontan, in diesem Fall doch ihr Chauffeur zu werden. Weil sie sich gar keinen richtigen Chauffeur leisten konnte, zog Erich einige Wochen später bei uns ein.
Obwohl ich noch klein war – erst acht oder neun Jahre alt –, kann ich mich an das Getuschel in der Nachbarschaft erinnern. Nur weil Erich zehn Jahre jünger ist als Oma Helene. Meine Eltern fanden dagegen alles in Ordnung. Wer sich wie sie in der Tierwelt auskennt, der hält bei Menschen erst recht vieles für normal.
Nachdem Erich bei uns eingezogen war, mussten die Kindermädchen ihre Aufmerksamkeit wohl oder übel auf mich konzentrieren. Sie konnten nicht mehr ihre Nachmittage mit Helene vor dem Fernseher verbringen, über Telenovelas fachsimpeln. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als mich zu erziehen, und das war bestimmt langweilig. Keine hat sich jemals beklagt. Alle sind sich seit jeher darüber einig, dass ich »pflegeleicht« bin. Pflegeleicht! Knitter- und bügelfrei, möglichst noch selbstreinigend! Ich hasse dieses Wort. Seit fast sechzehn Jahren gratulieren sich meine Eltern zu ihrem pflegeleichten Kind. Sie können immer noch so leben, als hätten sie keins. Kein Kind. Sie krabbeln weiter im Urwald rum und suchen nach Kot von aussterbenden Tieren und so was.
Sogar meinen Namen verdanke ich einer ihrer Reisen. Meine Eltern waren damals auf Sizilien unterwegs. Irgendwelche Bauern hatten Schildkröten auf ihrem Land gesichtet, und meine Eltern hofften auf die Wiederentdeckung einer alten Landschildkrötenart. Na ja, die Schildkröten blieben verschwunden. Dafür kam ich. Und weil meine Eltern auf Sizilien gerade in das Stadtfest von Palermo geraten waren, das der heiligen Rosalia gewidmet ist, haben sie mich dann mit diesem altmodischen Namen beglückt. Rosalia. Noch lieber hätten sie mir bestimmt einen lateinischen Namen gegeben, wie einer Neuentdeckung aus der Tierwelt. So gesehen habe ich noch Glück gehabt. Rosalia ist schlimm genug. Immer wieder versuchen Leute, mich »Rosie« zu nennen, aber das kann ich erst recht nicht leiden. Rosie, die Pflegeleichte! Das klingt nach kuschelweich gewaschenen roséfarbenen Frotteehandtüchern! Nein, wennschon, dann heiße ich richtig Rosalia, mit rollendem R, ich habe so lange geübt, dass ich es jetzt ganz italienisch aussprechen kann.
Weil ich so pflegeleicht bin und aussterbende Tierarten so wenig Geld einbringen, komme ich seit zwei Jahren ohne Kindermädchen zurecht. Na gut, das liegt auch an Erich. Der hat sich von Anfang an um mich mit gekümmert, ohne viele Worte zu machen. Er ist wohl von Natur aus ein Kümmerer. Anders würde er Oma Helene auch nicht aushalten. Oma kriegt ihr Leben einfach nicht allein geregelt. Es ist erstaunlich, wie alt man mit dieser Strategie werden kann.
Als Erich einzog, brachte Oma es nicht fertig, die unschuldig verstoßenen Jungfrauen, fiesen Geschäftsmänner, rachelüsternen Liebhaber und Ritter im roten Schlips aus ihrem Leben zu verbannen. Erich muss sein Wohnzimmer mit ihnen teilen, und er hat sich in sein Schicksal gefügt. Er hat Oma nur dazu gekriegt, den Ton ein bisschen leiser zu drehen.
Ehrlich gesagt weiß ich nicht, warum Erich damals zu Oma Helene gezogen ist. Aber vielleicht tue ich ihr Unrecht. Sie hat etwas an sich, was an ein warmes, weiches Samtkissen erinnert. Es gibt Leute, die sind anstrengend, aber man kann sich trotzdem bei ihnen ausruhen. Vielleicht, weil sie so zuverlässig anstrengend sind.
Jedenfalls haben wir drei alles ganz gut hingekriegt, bis die Sache mit Loco Beach losging und Helene angefangen hat, die Allgemeinheit zu schützen.
Erich war anfangs auch der Meinung, es ist eine gute Idee. Es sitzen so viele Leute sinnlos zu Hause rum, ohne Arbeit, ohne Familie, hat er gesagt. Jetzt können die mal was für die Gesellschaft tun. Es wird ihr Selbstbewusstsein stärken. Unser Schuldirektor hat das in seiner Ansprache auch so ähnlich formuliert. Wir haben vorgeschlagen, er könnte uns während der Quarantäne schulfrei geben, unter der Bedingung, dass wir rund um die Uhr watchen. Aber darauf wollte er sich nicht einlassen. Er meint, es gibt genügend Arbeitslose und Rentner und Leute, die nichts Besseres vorhaben.
»Ich glaube, bei uns gegenüber, in dem gelben Haus, weißt du? Da wohnen bestimmt welche.« Clarissa wühlt mit spitzen Fingern in der Gummibärchentüte, findet endlich ein rotes und steckt es in den Mund. »Die haben die Läden unten. Seit Tagen.«
»Vielleicht sind sie verreist«, sage ich und nehme mir das nächst beste Gummibärchen. Ich bin nicht so wählerisch wie Clarissa.
»Glaub ich nicht.« Clarissa spricht undeutlich, weil sie kaut. »Es könnte sein, dass da welche wohnen.«
»Vielleicht sind sie noch im Urlaub.«
»Die Sommerferien sind doch vorbei.«
»Die haben vielleicht keine Kinder. Wenn die keine Kinder haben, fahren sie nach den Sommerferien. Erich und Helene haben …«
Clarissa unterbricht mich. »Aber wie kriegen die was zu essen, ohne dass es auffällt?« Ich zucke mit den Achseln.
In den Sondersendungen zeigen sie nur, wie die Leute ihr Essen kriegen und alles, was sie sonst so brauchen. Klopapier und Aspirin und so. Die Sicherheitsleute haben Schleusen eingerichtet, in die legen sie das Klopapier rein, und wenn sie wieder weg sind, können die Cases ihren Kram holen.
»Ich glaube, ich geh mal rüber«, sagt Clarissa träumerisch. »Ich krieg’s raus. Vielleicht ist Benni ja da drüben. « »Benni? Ach so.«
Benni ist einer der Cases. Clarissa fährt völlig auf ihn ab und versucht, keine Minute mit ihm zu verpassen. Deswegen hat sie es auch schon wieder eilig. Sie packt die restlichen Gummibärchen in ihren Rucksack. »Wir telefonieren«, ruft sie mir noch zu. »Bis dann.«
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Gerechter Gott / aber auch barmhertziger und gnädiger Vater / du hast deine Zorn-Hand / über nicht gahr zu weit entfernete Städte und Länder ausgestrecket / und die schädliche Plage der Pestilentz / unter sie geschicket / also daß man von ihren grossen Jammer und Hertzeleyd höret / wie der Todt zu ihren Fenstern herein gefallen / und in ihre Palläste kommen / und die angehenckte Sterbe-Drüsen / Junge und Alte verderben.
[Friedrich Wilhelm, Herzog von Mecklenburg-Schwerin] um 1700
MALTA, LOCO BEACH UND EIN VERBRANNTER NORWEGER
Ehrlich gesagt, bis vor Kurzem wusste ich noch nicht mal, wo Loco Beach liegt. Wer wusste das schon, außer den Auserwählten, die sich Ferien im Palmenparadies leisten können. Klar, gehört hab ich davon. Aber als Urlaubsort kam Loco Beach für mich bis jetzt nicht infrage. Meine Eltern gehören nicht zu denen, die ferne Strände anfliegen und sich gemütlich unter Kokospalmen legen. Die sind beruflich so oft in der Ferne unterwegs, dass sie zur Erholung einfach mal zu Hause bleiben. Und wenn sie doch mal privat reisen, dann muss es Kultur sein. Früher musste ich mit auf Kulturtrip. Durch Kirchen und Museen stolpern. Inzwischen bin ich alt genug und kann alleine losziehen.
Die letzten Sommerferien, die im Quarantänesommer, habe ich auf Malta verbracht. Als ich losflog, redete noch keiner von Loco Beach und dem Virus. Malta also. Mit Englischkurs. Auf so was bestehen meine Eltern, »wennschon«. Bloß nicht das reine Vergnügen! Ehrlich gesagt, ich hab trotzdem viel Zeit am Strand verbracht. Auf den weißen Hai gewartet, dann wäre wenigstens was los gewesen. Kam aber keiner. Im Mittelmeer gibt es welche, sagen meine Eltern. Ich glaube, den meisten Urlaubern ist das nicht klar.
Immerhin tauchte ein süßer Typ auf. Lasse. Norweger. Den hatte sein Vater auch in einen Ferienkurs gesteckt, aber er konnte eigentlich schon alles und musste deswegen noch öfter am Strand rumliegen als ich. Dabei hat er sich einen dicken Sonnenbrand eingefangen. Geredet hat er nicht viel, aber nett gelächelt. Einmal hat er mir ein Eis gekauft, einfach so. Ich hab ihn wahrscheinlich so fassungslos angestarrt wie einen weißen Hai. Jetzt hab ich seine Adresse und soll ihm schreiben. Auf Englisch. So gesehen hat sich der Englischkurs dann doch gelohnt.
Als mein Kurs zu Ende war, da waren meine Eltern schon wieder auf Achse, sodass Erich mich am Flughafen abholen musste. Erich ist Omas Lebensgefährte. Oma Helene kam nicht mit zum Flughafen. Überraschte mich nicht sonderlich. Meine Oma kriegt man schon seit Jahren kaum mehr aus dem Haus. Das darf man nicht persönlich nehmen.
Erich nahm mich zur Begrüßung in den Arm. Er macht das immer sehr vorsichtig, als hätte er Angst, dass ich ihm eine knalle. Wahrscheinlich, weil er kein richtiger Verwandter ist. Er könnte ja einer sein, der sich an kleinen Mädchen vergreift.
»Alles klar?«, fragte er, als er mich wieder losgelassen hatte. »Braun bist du. War’s denn schön?«
»Och jo. Die anderen im Kurs waren ganz nett.«
Erich konnte ich natürlich nicht gleich von Lasse erzählen. Die brandheiße Info wollte ich mir für Clarissa aufheben, meine beste Freundin. Na ja, ein Foto von ihm hatte sie schon aus Malta gekriegt, per SMS.
Erich nahm meinen Koffer.
Als wir in Richtung Tiefgarage zottelten, kam uns eine Gruppe weiß vermummter Gestalten entgegen. Die Typen trugen Schutzanzüge, Hauben und Mundschutz und rannten hektisch wie Astronauten, denen gerade ihr Raumschiff aus der Umlaufbahn fliegt, in Richtung Ankunftshalle.
»Wo wollen die denn hin?«, habe ich noch gefragt. Erich hat ganz ruhig den Koffer abgestellt und nach dem Autoschlüssel getastet.
»Keine Ahnung. Vielleicht wieder mal ein Bombenalarm. Wir sehen zu, dass wir wegkommen, bevor alles dichtgemacht wird.«
Er nahm den Koffer wieder auf. »Helene wartet mit dem Essen. Ich habe Leberknödel gemacht. Magst du doch.« »Ja.«
Ich sah mich noch mal um. Die Typen mit den Schutzanzügen, die waren wie aus dem Fernsehen. Aus den Nachrichten. Oder aus irgendeinem Film. So was wie »Im Bann der Killerviren«.
Wir wären fast live dabei gewesen, Erich und ich.
Das erste Flugzeug aus Loco Beach war gerade gelandet, kurz nach mir. Die Passagiere, die in diesem Moment ihr Handgepäck aus den Fächern über ihren Sitzen zerrten, ahnten nicht, was auf sie zukam. Dass man sie erwartete. Dass man sie zu Hause einsperren und in allen Räumen ihrer Wohnungen Kameras installieren würde. Und dass dann alle anderen sie über Fernsehen oder am Computer überwachen würden. Die konnten das nicht ahnen. So was hat es ja vorher noch nie gegeben.
Als wir zu Hause ankamen, saß Oma schon vor dem Fernseher. Und da wurde uns ziemlich schnell klar, warum die Typen mit den Schutzmasken es so eilig gehabt hatten. Das war so verrückt, dass ich sogar vergaß, gleich bei Clarissa anzurufen.
ERSTER ABEND DER QUARANTÄNE
[Ankunftshalle eines internationalen Flughafens. Ein großer Bereich ist abgesperrt, dahinter drängen sich Schaulustige und Kameramänner. Im abgesperrten Bereich haben sich Gestalten in weißen Schutzanzügen im Halbkreis aufgestellt. Die Kamera schwenkt auf die Tür zur unsichtbaren Gepäckhalle. Die Tür öffnet sich. Ein Mann in lila geblümtem Hemd und mit ausgefranstem Strohhut auf dem Kopf tritt heraus. Er zieht zwei schwere Rollenkoffer hinter sich her. Der Mann blinzelt, bleibt stehen. Von hinten kommen zwei Kinder angerannt. Das Mädchen hält ein aufblasbares Flugzeug unter dem Arm, der Junge einen bunten Plüschpapagei.]
[Das Mädchen sieht sich um.] Mädchen schmettert: Oma?
Sie wiederholt es, unsicher geworden: Oma?
[Weitere Fluggäste strömen aus der Tür. Alle halten an und starren auf die Gestalten in den Schutzanzügen. Ein junger Mann mit braunen, bis auf die Schulter fallenden Haaren beginnt zu laufen, entdeckt die Absperrungen und bleibt mit hängenden Schultern stehen. Zwei der Gestalten nähern sich den Fluggästen.]
Mann im Schutzanzug: In Ihrem Urlaubsgebiet ist ein gefährliches Virus aufgetreten. Wir müssen Sie leider in Quarantäne nehmen.
Urlauber, offensichtlich angetrunken, mit rot verbranntem Gesicht: Was soll das heißen, du Witzfigur? Ich bin nicht krank. Lass mich sofort durch.
[Er versucht, sich an dem Mann im Schutzanzug vorbeizudrängeln, wird aber vom zweiten Mann sofort am Arm gepackt.]
Urlauberin mit Sonnenbrille im Haar und dicker Umhängetasche, aus der Getränkeflaschen, Kekspackungen und Bilderbücher quellen:
Und die Kinder? Mann im Schutzanzug: Wir können niemanden durchlassen. Bitte folgen Sie uns in den Nebenraum.
2. Mann im Schutzanzug: Sie verstehen das sicher. Diese Maßnahme dient dem Schutz der Allgemeinheit.
[Eine zweite Tür öffnet sich. Die Passagiere werden von den Männern im Schutzanzug in Richtung dieser Tür gedrängt. Die Schaulustigen rücken näher an die Absperrung vor und werden von den Polizisten zurückgehalten.]
Polizist: Bleiben Sie zurück. In Ihrem eigenen Interesse würde ich nicht so nah rangehen.
»Was machen sie mit denen?«, frage ich. Ich habe mir vor Aufregung einen Fingernagel komplett runtergeknabbert. In den letzten Wochen habe ich mich mit dem Knabbern zurückgehalten, um mich im Englischkurs nicht zu blamieren.
»Quarantäne, nehme ich an«, sagt Erich. »Die müssen abgesondert werden, damit sie niemanden anstecken können.«
»Aber die sind doch gar nicht krank.«
»Man weiß es nicht. Vielleicht tragen sie die Krankheit schon mit sich herum.«
»Hoffentlich erwischen sie alle«, murmelt Oma von ihrem Sofa aus.
»Ich glaube, die können gar nicht alle erwischen. Es ist wahrscheinlich alles völlig sinnlos. So was ist nicht aufzuhalten.«
Sie schaltet mehrere Kanäle durch. Überall dieselben Bilder. Überall betroffene Nachrichtensprecher. Sorgenvolle Mienen. Männer in weißen Schutzanzügen. Durchlauftexte mit den neuesten Zahlen: Bereits eintausendvierhundertdreizehn Menschen unter Quarantäne. Allein bei uns in der Stadt sollen es dreihundertsiebzehn sein. Bereits der fünfte Tote in Loco Beach. Evakuierung der Urlaubsgebiete geht weiter.
Ob auch norwegische Urlauber in Loco Beach waren?
»Wo wollen die denn mit den Leuten hin, wenn die in Quarantäne sind?«, fragt Oma.»So viel Platz ist doch nicht im Krankenhaus.«
»Vielleicht bringen sie die in Turnhallen unter«, sagt Erich.
»Die nehmen immer Turnhallen für so was.«
»Das verwechselst du«, muffelt Oma vom Sofa her.
»Das ist nur bei Flugzeugabstürzen so. Das hier ist doch kein Flugzeugabsturz.
« Ich achte nicht auf sie. Die Turnhalle unserer Schule? Dann fiele vielleicht der Sportunterricht aus. Ich schäme mich. Wie kann ich an so kleine Vorteile denken, wenn es um große Katastrophen geht?
5. TAG DER QUARANTÄNE CASES, SCHILDKRÖTEN UND PFLEGELEICHTE ROSA HANDTÜCHER
Die haben Glück gehabt. Die sind nicht in irgendwelchen Krankenhäusern gelandet. Auch nicht in Turnhallen. Sie konnten nach Hause gehen.
Das ginge natürlich nicht ohne die Kameras, die in ihren Wohnungen installiert sind, in jedem Zimmer. Damit sie nicht abhauen und die Allgemeinheit gefährden. Und damit man beim ersten Anzeichen von Erkrankung eingreifen kann.
Jetzt ist jeder verantwortlich. Jeder kann was tun, damit es sich nicht ausbreitet. Damit es uns nicht alle erwischt. Wir sind alle gefragt. Jeder hat einen Zugangscode gekriegt und kann die Loco-Beach-Heimkehrer – es sind jetzt weit über zweitausend – persönlich bewachen. Über Internet oder übers Fernsehen. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder gezielt Zahlencodes eingeben, wenn man sich in eine bestimmte Wohnung schalten will. Oder auf Random. Dann kann man einfach laufen lassen und wird von einem Case zum anderen geschaltet. Case, das ist das englische Wort für»Fall«. Jeder, der aus Loco Beach kommt, ist ein Fall. Das klingt spannend, wie im Krimi.
Am Anfang haben praktisch alle über Random gewatcht – watchen nennt man das, die Cases beobachten –, um sich einen Überblick zu verschaffen, aber inzwischen hat halt jeder so seine Favoriten.
Ich hätte nichts gegen eine Direktschaltung nach Norwegen, gegen Kameras in Lasses Wohnung. Ich besitze nicht mal ein anständiges Foto von ihm. Nur einmal hab ich mich getraut, ihn mit dem Handy zu knipsen. Aber vor lauter Aufregung hab ich verwackelt. Ich hab das Foto trotzdem an Clarissa geschickt, weil er ja irgendwie drauf ist.
Sie wird Lasse sowieso nicht gelten lassen. Weil wir uns nicht geküsst haben. Nicht richtig, nur kurz zum Abschied, auf die Backe. Das würde Clarissa nie passieren.
Außerdem ist meine Urlaubsromanze sowieso gnadenlos im Virus-Fieber untergegangen. Seit dem ersten Schultag redet in der Klasse kaum jemand über was anderes als Loco Beach. Die ganzen eigenen Urlaubs- und Strandgeschichten sind diesmal ausgefallen. Wir tauschen Tipps aus, die besten Adressen im Netz, unter denen was abgeht. Manche der Cases sind ja langweilig. Die bleiben praktisch den ganzen Tag im Bett liegen, als wären sie schon krank. Aber manche benehmen sich auch ganz witzig, nutzen die Chance, einmal im Leben im Fernsehen zu sein, mit Riesenpublikum. Es ist wie eine große Show.
Helene, also meine Oma, ist total drauf, redet ständig von Verantwortung und Schutz der Allgemeinheit und so. Sie hebt ihren Hintern nur noch aus dem Fernsehsessel, wenn sie aufs Klo muss. Mit Absicht trinkt sie so wenig wie möglich, damit das nicht so oft vorkommt. Ihr Zimmer wirkt wie eingefroren, nichts verändert sich mehr. Bis auf das Licht. Wir haben seit Ferienende herrliches sonniges Spätsommerwetter, viel zu schön für Schule. Der Himmel ist ganz klar und knallblau. Vormittags muss Helene die Rollläden halb runterlassen, um die Gesichter auf dem Fernsehschirm erkennen zu können. Am frühen Nachmittag kann Erich die Läden hochziehen, dann ist die Sonne auf die andere Seite gewandert, und abends, pünktlich zu den Acht-Uhr-Nachrichten – auf die besteht er auch »in diesen Zeiten«, wie er es nennt –, lässt er die Läden ganz runter und dreht den Deckenfluter an.
»Sie kümmert sich eben«, sagt Erich achselzuckend, wenn ich über Oma lästere. »Sie nimmt die Sache ernst.
« Aber ich glaube, sie nimmt die Sache nur ernst, weil sie auch ihre Doku-Soaps und Talkshows so ernst nimmt.
Oma ist nicht eine, die sich wirklich kümmert.
Weil sich Oma nicht richtig kümmert, hatte ich bis vor zwei Jahren immer Kindermädchen. Meine Kindermädchen kamen aus den verschiedensten Ländern und wechselten von Jahr zu Jahr. Eins hatten sie aber gemeinsam: Sie kümmerten sich überwiegend um Oma Helene, und zwar am liebsten beim gemeinsamen Fernsehen. Ich weiß nicht mehr, wann das mit der Fernsehsucht bei Oma angefangen hat. Irgendwann zwischen Lindenstraße und Gute Zeiten, schlechte Zeiten.
Dann lernte Oma Erich kennen. Im Zug. Der blieb mal wieder auf offener Strecke stehen, Lokschaden oder so was, und die Klimaanlage fiel gleich auch noch aus. Erich lebt sehr umweltbewusst und hatte jahrzehntelang kein Auto. Aber an diesem Tag im Zug in der brütenden Hitze irgendwo zwischen den kahl gespritzten Böschungen der Vorstadt verkündete Erich allen, die zufällig im selben Abteil schwitzten, er werde sich jetzt ein Auto kaufen und zukünftig auf alle Feinstäube, Ozonwerte und Treibstoffgase der Welt pfeifen. Oma, der das Bahnfahren, vor allem mit Gepäck, auch immer lästig war, bat ihn spontan, in diesem Fall doch ihr Chauffeur zu werden. Weil sie sich gar keinen richtigen Chauffeur leisten konnte, zog Erich einige Wochen später bei uns ein.
Obwohl ich noch klein war – erst acht oder neun Jahre alt –, kann ich mich an das Getuschel in der Nachbarschaft erinnern. Nur weil Erich zehn Jahre jünger ist als Oma Helene. Meine Eltern fanden dagegen alles in Ordnung. Wer sich wie sie in der Tierwelt auskennt, der hält bei Menschen erst recht vieles für normal.
Nachdem Erich bei uns eingezogen war, mussten die Kindermädchen ihre Aufmerksamkeit wohl oder übel auf mich konzentrieren. Sie konnten nicht mehr ihre Nachmittage mit Helene vor dem Fernseher verbringen, über Telenovelas fachsimpeln. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als mich zu erziehen, und das war bestimmt langweilig. Keine hat sich jemals beklagt. Alle sind sich seit jeher darüber einig, dass ich »pflegeleicht« bin. Pflegeleicht! Knitter- und bügelfrei, möglichst noch selbstreinigend! Ich hasse dieses Wort. Seit fast sechzehn Jahren gratulieren sich meine Eltern zu ihrem pflegeleichten Kind. Sie können immer noch so leben, als hätten sie keins. Kein Kind. Sie krabbeln weiter im Urwald rum und suchen nach Kot von aussterbenden Tieren und so was.
Sogar meinen Namen verdanke ich einer ihrer Reisen. Meine Eltern waren damals auf Sizilien unterwegs. Irgendwelche Bauern hatten Schildkröten auf ihrem Land gesichtet, und meine Eltern hofften auf die Wiederentdeckung einer alten Landschildkrötenart. Na ja, die Schildkröten blieben verschwunden. Dafür kam ich. Und weil meine Eltern auf Sizilien gerade in das Stadtfest von Palermo geraten waren, das der heiligen Rosalia gewidmet ist, haben sie mich dann mit diesem altmodischen Namen beglückt. Rosalia. Noch lieber hätten sie mir bestimmt einen lateinischen Namen gegeben, wie einer Neuentdeckung aus der Tierwelt. So gesehen habe ich noch Glück gehabt. Rosalia ist schlimm genug. Immer wieder versuchen Leute, mich »Rosie« zu nennen, aber das kann ich erst recht nicht leiden. Rosie, die Pflegeleichte! Das klingt nach kuschelweich gewaschenen roséfarbenen Frotteehandtüchern! Nein, wennschon, dann heiße ich richtig Rosalia, mit rollendem R, ich habe so lange geübt, dass ich es jetzt ganz italienisch aussprechen kann.
Weil ich so pflegeleicht bin und aussterbende Tierarten so wenig Geld einbringen, komme ich seit zwei Jahren ohne Kindermädchen zurecht. Na gut, das liegt auch an Erich. Der hat sich von Anfang an um mich mit gekümmert, ohne viele Worte zu machen. Er ist wohl von Natur aus ein Kümmerer. Anders würde er Oma Helene auch nicht aushalten. Oma kriegt ihr Leben einfach nicht allein geregelt. Es ist erstaunlich, wie alt man mit dieser Strategie werden kann.
Als Erich einzog, brachte Oma es nicht fertig, die unschuldig verstoßenen Jungfrauen, fiesen Geschäftsmänner, rachelüsternen Liebhaber und Ritter im roten Schlips aus ihrem Leben zu verbannen. Erich muss sein Wohnzimmer mit ihnen teilen, und er hat sich in sein Schicksal gefügt. Er hat Oma nur dazu gekriegt, den Ton ein bisschen leiser zu drehen.
Ehrlich gesagt weiß ich nicht, warum Erich damals zu Oma Helene gezogen ist. Aber vielleicht tue ich ihr Unrecht. Sie hat etwas an sich, was an ein warmes, weiches Samtkissen erinnert. Es gibt Leute, die sind anstrengend, aber man kann sich trotzdem bei ihnen ausruhen. Vielleicht, weil sie so zuverlässig anstrengend sind.
Jedenfalls haben wir drei alles ganz gut hingekriegt, bis die Sache mit Loco Beach losging und Helene angefangen hat, die Allgemeinheit zu schützen.
Erich war anfangs auch der Meinung, es ist eine gute Idee. Es sitzen so viele Leute sinnlos zu Hause rum, ohne Arbeit, ohne Familie, hat er gesagt. Jetzt können die mal was für die Gesellschaft tun. Es wird ihr Selbstbewusstsein stärken. Unser Schuldirektor hat das in seiner Ansprache auch so ähnlich formuliert. Wir haben vorgeschlagen, er könnte uns während der Quarantäne schulfrei geben, unter der Bedingung, dass wir rund um die Uhr watchen. Aber darauf wollte er sich nicht einlassen. Er meint, es gibt genügend Arbeitslose und Rentner und Leute, die nichts Besseres vorhaben.
»Ich glaube, bei uns gegenüber, in dem gelben Haus, weißt du? Da wohnen bestimmt welche.« Clarissa wühlt mit spitzen Fingern in der Gummibärchentüte, findet endlich ein rotes und steckt es in den Mund. »Die haben die Läden unten. Seit Tagen.«
»Vielleicht sind sie verreist«, sage ich und nehme mir das nächst beste Gummibärchen. Ich bin nicht so wählerisch wie Clarissa.
»Glaub ich nicht.« Clarissa spricht undeutlich, weil sie kaut. »Es könnte sein, dass da welche wohnen.«
»Vielleicht sind sie noch im Urlaub.«
»Die Sommerferien sind doch vorbei.«
»Die haben vielleicht keine Kinder. Wenn die keine Kinder haben, fahren sie nach den Sommerferien. Erich und Helene haben …«
Clarissa unterbricht mich. »Aber wie kriegen die was zu essen, ohne dass es auffällt?« Ich zucke mit den Achseln.
In den Sondersendungen zeigen sie nur, wie die Leute ihr Essen kriegen und alles, was sie sonst so brauchen. Klopapier und Aspirin und so. Die Sicherheitsleute haben Schleusen eingerichtet, in die legen sie das Klopapier rein, und wenn sie wieder weg sind, können die Cases ihren Kram holen.
»Ich glaube, ich geh mal rüber«, sagt Clarissa träumerisch. »Ich krieg’s raus. Vielleicht ist Benni ja da drüben. « »Benni? Ach so.«
Benni ist einer der Cases. Clarissa fährt völlig auf ihn ab und versucht, keine Minute mit ihm zu verpassen. Deswegen hat sie es auch schon wieder eilig. Sie packt die restlichen Gummibärchen in ihren Rucksack. »Wir telefonieren«, ruft sie mir noch zu. »Bis dann.«
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Autoren-Porträt von Bettina Obrecht
Bettina Obrecht wurde 1964 in Lörrach geboren und studierte Englisch und Spanisch. Sie arbeitet als Autorin, Übersetzerin und Rundfunkredakteurin und wurde für ihre Kurzprosa und Lyrik mehrfach ausgezeichnet. Seit 1994 schreibt sie Kinder- und Jugendbücher
Bibliographische Angaben
- Autor: Bettina Obrecht
- Altersempfehlung: 14 - 17 Jahre
- 2008, 319 Seiten, Maße: 12,6 x 20,3 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Bloomsbury
- ISBN-10: 3827053331
- ISBN-13: 9783827053336
Rezension zu „Isoliert “
»Bettina Obrecht verfügt über einen scharfen Blickund die Fähigkeit, genaue, ungewöhnliche undgriffige Geschichten zu entwickeln.«
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