Jeder Mann ein Treffer
Mara will einen radikalen Neuanfang: Als ihr Mann sie wegen einer jüngeren und dünneren Frau verlässt, zieht sie nach Hamburg. Sie strandet in einer WG, wo sie
eine Biologielehrerin, ein eitler Gockel und ein verhinderter Schriftsteller mit...
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Produktinformationen zu „Jeder Mann ein Treffer “
Mara will einen radikalen Neuanfang: Als ihr Mann sie wegen einer jüngeren und dünneren Frau verlässt, zieht sie nach Hamburg. Sie strandet in einer WG, wo sie
eine Biologielehrerin, ein eitler Gockel und ein verhinderter Schriftsteller mit zweifelhafter Filmkarriere erwarten. Mit Hilfe dieses Trio Infernale stürzt sich die 44-Jährige in wilde Abenteuer und hofft insgeheim auf die große Liebe.
eine Biologielehrerin, ein eitler Gockel und ein verhinderter Schriftsteller mit zweifelhafter Filmkarriere erwarten. Mit Hilfe dieses Trio Infernale stürzt sich die 44-Jährige in wilde Abenteuer und hofft insgeheim auf die große Liebe.
Lese-Probe zu „Jeder Mann ein Treffer “
Jeder Mann ein Treffer von Tatjana KruseWas würde Uma Thurman tun?
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Männer sind wie phantastische Stöckelschuhe in der falschen Größe: Egal, wie sehr man sie liebt, was nicht geht, geht eben nicht und verursacht nur Hühneraugen, Blutblasen und Haltungsschäden. Aber natürlich ist man selbst immer die Letzte, die es merkt, lange nachdem die Fußpflegerin Alarm geschlagen hat. Was man stets für übertriebene Hysterie hielt. Bis es zu spät ist. Und man für den Rest seines irdischen Lebens mit einem Senk-Spreiz-Klumpfuß geschlagen ist. Will heißen, mit einem vernarbten Herzen.
Kurzum, ich war frisch von meinem langjährigen Partner getrennt.
Genauer gesagt, er hat sich von mir getrennt, und ich hab's nicht kommen sehen. Das Übliche, wegen einer anderen. Einer halb so alten. Dass ich voll zum Klischee wurde, ärgerte mich fast noch mehr als das Verlassenwerden an sich. Ich hatte es einfach nicht kommen sehen. Doch am meisten machte mir zu schaffen, dass dieser Mann nicht den Anstand hatte, mich wegen einer doppelt so alten Frau zu verlassen. Das hätte meiner Geschichte wenigstens ein wenig modernes Flair verliehen.
Ich gönnte mir Selbstmitleidsanfälle und Depri-Schübe im Überfluss. Dazu die drei Ks: Kinderlosigkeitspanik, Klimakteriumsblues und Kleinstadtennui. Sogar Kehrwochenverweigerung! Ein gefährlicher Cocktail. Dazu kam noch, dass ich über vierzig war und - Tusch! - auch so aussah. Trotz Anti-Aging-Creme mit Hyper-Ultra-Super-Faltenglättung aus dem Drogeriemarkt.
Wenn man als Kind Trübsal bläst, sagen die Eltern gern: » Denk an die armen kleinen, hungernden Kinder in Afrika und sei dankbar.« In der Midlife-Crisis konnte man natürlich ebenfalls an die Afrikaner denken, die immer noch schlimm hungerten und dazu auch noch Aids hatten. Aber der Gedanke war nicht mehr tröstlich und führte auch nicht zu Dankbarkeit, sondern ließ einen noch viel mehr an der Welt verzweifeln. Weil die Menschheit offenbar nichts dazulernte.
Göttin sei Dank verfügte ich jedoch über starke Überlebensgene: Bevor ich mir den Suizid gab oder, schlimmer noch, mich mit dem Status quo abfand und den Rest meines Lebens in Lethargie und allenfalls im gelegentlichen Engagement für die Blumengruppe des örtlichen Trachtenvereins verbrachte, hatte ich - beim nächtlichen Zappen und Hängenbleiben in der Arm-ab-Blut-spritz-Sequenz von Kill Bill, Volume 2 - eine Epiphanie. So wurde ich gewissermaßen auf einen Schlag von der Saula zur Paula. Und das durch eine simple Frage: Was würde Uma Thurman an meiner Stelle tun?
Sie würde nicht Rotz und Wasser heulen, oh nein, sie würde sich einen Krummsäbel, ein Samuraischwert oder wenigstens einen Gemüseschäler schnappen und tatkräftig Gerechtigkeit einfordern. Jawohl! In mir erwachte die Vision zum Leben, Kill Bill nachzustellen. In der schwäbischen Provinzvariante.
Ich sprang zwar nicht gerade von der Couch und reckte die Hände in die Höhe, aber es war schon so etwas wie ein Erweckungserlebnis. Ich würde es Uma gleichtun!
Nein, nicht bei der Umsetzung wilder Gewaltphantasien. Ich würde Rüdiger und seine Neue nicht mittig halbieren und auch nicht auf dem Wochenmarkt unserer Kleinstadt Amok laufen. Ich wollte vielmehr das Nächstbeste tun: mein altes Leben töten. Jawohl! Es massakrieren! Gesagt, getan. Am nächsten Morgen ließ ich mir beim Friseur meines Vertrauens die Haare schneiden (von der Azubine, dann kostet es nur zwölf Euro), gab einen erklecklichen Teil meiner geringen Ersparnisse für zwei (für mich gewagte) neue Kleider und ein paar hochhackige Schuhe aus, kündigte meinen ohnehin öden Job als stellvertretende Leiterin der » Frauenakademie« in der örtlichen Volkshochschule, packte meinen nigelnagelneuen knallroten Trolley und kaufte mir eine Bahnfahrkarte nach Hamburg. Im Gepäck das Buch Die 48 ultimativen Dinge, die du getan haben solltest, bevor du 48 bist.
Ich wollte noch mal völlig neu anfangen. Wozu hatte ich all die öden Kleinstadtjahre lang ein - Achtung: Neudeutsch - Scrapbook geführt, mit Bildern, die ich aus Hochglanzzeitschriften ausgeschnitten hatte. Fotos von eleganten Lofts, schicken Menschen, die Champagner tranken, Reisen an exotische Orte. Mein Traum von einem soliden Mann, einem Reihenhaus und einem Boot auf dem Bodensee war zwar noch nicht ausgeträumt. Aber er wurde upgedatet. Von nun an wollte ich von einem eleganten Mann, einer Villa und der ultimativen Atlantiküberquerung im Luxusdampfer nach New York träumen. Gewissermaßen die Version 2.0 für Fortgeschrittene. Neuer Anlauf, neues Glück!
* * *
Röchelatmung. Im Wechsel mit Keuchen und Schnaufen. Gepaart mit ziemlich undamenhaftem Schweinsgalopp. So fing mein neues Leben an.
Im Idealfall hat man am Bahnhof Stuttgart bequeme fünf Minuten zum Umsteigen, auch wenn man von Gleis 16 zu Gleis 9 muss, so zumindest die Aussage des Schalterbeamten beim Kauf der Fahrkarte. Aber wann tritt schon einmal der Idealfall ein?
Bei der Deutschen Bahn an diesem Morgen jedenfalls nicht.
Ich hatte mir in den Wochen zwischen Entschluss und Durchführung meines Plans alle Uma-Thurman-Kassenschlager, die unsere Videothek vorrätig hatte, ausgeliehen. Zur inneren Einstimmung. In einem der Batman-Filme hatte Uma Poison Ivy verkörpert, eine Öko-Terroristin, die unglaublich sexy war. Was mir ein Widerspruch in sich zu sein schien. Sexy Ökotante. So wie schwarzer Schimmel. Also, das Pferd, nicht das, was in Badezimmerfugen zu wachsen pflegt. Einen schwarzen Schimmel oder eine sexy Ökotante fand ich physikalisch nicht möglich. Nicht in diesem Universum. Umas Darstellung hatte mich dennoch tief beeindruckt, und natürlich kam für mich daraufhin nur die Bahn in Frage und nicht etwa die Mitfahrzentrale. Der Umwelt zuliebe. Wegen der Nachhaltigkeit.
Der Sprint beim Umsteigen forderte jedoch die ganze Frau.
Vielleicht hätte ich nicht all die Jahre dem Motto Sport ist Mord frönen sollen. Vielleicht wäre ich dann mit nur leicht geröteten Wangen und normaler Atmung in Wagen 5 des ICE nach Hamburg angekommen. So aber war ich binnen Sekunden, also auf Höhe von Gleis 15, nass geschwitzt, bekam keine Luft mehr und wurde nur von dem einen Gedanken getrieben: So wollte ich mein neues Leben nicht beginnen, dass ich den Anschluss verpasste. Eine Frau, ein Ziel!
Dank des Mannes, der den zweirädrigen Rollkoffer mit Teleskopgriff erfunden hat, schafften es mein Trolley und ich gerade noch rechtzeitig. War ja klar, dass so ein ICE die Länge eines Halbmarathons umfasst und dass der erste Wagen der zweiten Klasse mitnichten am Kopfende stand. Stattdessen gehörte am Vorerst-noch-Kopfbahnhof in Stuttgart der erste Wagen zur ersten Klasse, und man musste an drei Wagen plus Bordbistro vorbeitraben. Und dann hatte auch noch halb Süddeutschland beschlossen, an diesem völlig unscheinbaren Mittwoch von Stuttgart nach Hamburg fahren zu wollen. Der Zug war knallevoll. Und natürlich hatte ich keine Platzreservierung. Schwer atmend stieg ich ein, wollte angesichts der Überfüllung schon die Hoffnung auf einen Sitzplatz fahrenlassen und visualisierte, wie ich fünf Stunden lang auf meinem Trolley im Gang kampierte. Gleich im zweiten Abteil nach der Zugtoilette jedoch saß nur eine alte Dame mit Strickzeug. Ganz allein. Wieso ganz allein? Das hätte mir zu denken geben sollen ... Ich öffnete die Tür und röchelatmete hinein. » Ist ... hier ... noch ... frei?« Die Frau sah kurz von ihrem Strickzeug zu mir auf. Ende sechzig, würde ich schätzen. Hamsterbacken, die längst der Schwerkraft folgend nach unten gerutscht waren. Der spärliche Haarbewuchs dauergewellt und in einem künstlichen Sandbraun gefärbt. Ein knallbunter, mehrfarbig gestreifter Blazer zu einem graumelierten Tweedrock und hässlichen braunen Gesundheitsschuhen mit Velcro-Verschluss.
»Nur immer frisch herein, Kindchen.« Ein Lächeln begleitete diese Aufforderung nicht.
Ich schob meinen Koffer ins Abteil, während hinter mir ein hochgewachsener Geschäftsreisender im Maßanzug und mit Handy am Ohr ebenfalls eintreten wollte, kurz stockte und rasch weiterging.
»Um den ist es nicht schade«, erklärte die Endsechzigerin, ohne sich im Strickfluss unterbrechen zu lassen, während ich dem schmalen Rücken des Mannes nachschaute, der mich null wahrgenommen hatte. Also, der Mann, nicht der Rücken.
»Der hätte die ganze Zeit nur telefoniert. Aber nichts, was man gerne hört. Streit mit seiner Frau, Terminabsprachen mit seiner Geliebten oder, noch schlimmer, irgendwelche öden Bürogespräche.« Ich, die ich mir - wie so oft in letzter Zeit - unsichtbar vorkam, nickte nur. Meine Atmung normalisierte sich langsam, und mein Geruchssinn kehrte zurück.
Meine Großmutter hatte immer nach Tosca gerochen. Die Großmutter meiner Freundin nach Lavendelseife. Diese Großmutter hier - aus den winzigen Ringelsöckchen, die sie strickte, schloss ich, dass sie Großmutter war - roch nach ... mein Gott, was war das nur? Jedenfalls stank es infernalisch. Ich überlegte mir, mit welcher Ausrede ich mich aus diesem Abteil verabschieden konnte, als eine junge Mutter mit umgeschnalltem Baby vor dem Bauch und einem süßen Kleinkind an der Linken die Tür öffnete, kurz Luft holte, gekünstelt lächelte und wortlos die Tür wieder schloss.
»Gut so«, befand die Strick-Oma. » Ich hasse es, mit Kindern zu reisen. Die sind laut und quengelig und nerven.« Das war jetzt wiederum nicht so typisch großmütterlich. Irgendwie war ich immer davon ausgegangen, dass mit dem Abschluss des Klimakteriums ein » Ei, dei, dei«-Gen aktiviert wurde, das alte Frauen dazu brachte, sich gurrend über grundsätzlich jeden Kinderwagen zu beugen, ausnahmslos alle Kleinkindfrisuren zu zerzausen und allein bei der Erwähnung des Wortes »Kind« dahinzuschmelzen. Ausnahme von dieser Regel bildeten allenfalls workaholische Karrierefrauen. Ganz sicher aber nicht strickende Greisinnen mit Dauerwelle. Ich spürte erste Risse in meinem festgefügten Weltbild.
Meine Abteilnachbarin nölte aber nicht nur über Mütter und Manager. Als ein Jungmann im selbstgestrickten Norweger die Abteiltür öffnete, rief sie: » Alles besetzt! « Kaum hatte er die Tür wieder geschlossen, erklärte sie: »Den können wir hier nicht gebrauchen. Der sah missionarisch aus. Hätte uns bestimmt Werbe-Flyer für ein veganes Leben in die Hand gedrückt.« Also, diese Strickerin war alles, nur keine liebenswürdige, altersmilde Großmutter.
In diesem Moment überkam mich ein Gedanke:
Ende sechzig. Die Frau vor mir war Ende sechzig. Ja, Großmutteralter. Aber nicht meine Großmutter. Rein rechnerisch unmöglich. Allenfalls, wenn sie - wie früher in unseren Breitengraden und noch heute in abgelegenen Urwalddörfern üblich - mit zwölf zwangsverheiratet worden und gleich schwanger geworden wäre und auch ihre Erstgeborene dieses Schicksal geteilt hätte. Nein, diese Frau könnte höchstens meine Mutter sein. Was im Umkehrschluss bedeutete: Für mich lautete der nächste Halt nicht Mannheim, sondern Altersheim. Mir wurde klar, ich hatte die Hälfte meines Lebens hinter mir. Immer vorausgesetzt, dass ich das deutsche Durchschnittsalter überhaupt erreichte. Das deprimierte mich so schlagartig so sehr, dass ich mich, immer noch im Trench, einfach fallen ließ und mit leerem Blick auf den Abteilboden schaute.
Die folgenden fünf Stunden und acht Minuten Fahrt gedachte ich mich in Selbstmitleid zu suhlen. Ach was, versinken wollte ich darin, wie in Treibsand. Doch weit gefehlt.
»Mein Gott, Kindchen, was ist denn mit Ihnen los? Müssen Sie so eine Schnute ziehen? Da wird ja die Kaffeemilch sauer. Das kann ich nicht gebrauchen. Der Zugkaffee ist teuer genug.«
Hatte sie das jetzt wirklich gesagt? Ich hörte nur das Klappern der Stricknadeln. Allerdings stand tatsächlich ein Kaffeebecher aus dem Bordbistro vor ihr. Flockte die Milch wirklich aus? Ich räusperte mich.
»Mein Lebensgefährte hat mich verlassen. Ich bin alt, und der Lack ist ab. Mein Leben ist vorbei.« Ich hielt es für einen großen Triumph in der Geschichte der selbstbestimmten Frauen, dass ich das sagen konnte, ohne zu heulen, zu schniefen oder auch nur zu stocken. Mein Kinn hob sich um mindestens einen Zentimeter. Das Schicksal hatte mich arg gebeutelt, hatte mich in die Hoffnungslosigkeit katapultiert, aber ich ging hocherhobenen Kopfes unter. Eine tragische Heldin der Neuzeit. Im Film würde jetzt weinerliche Geigenmusik erklingen.
»Ach, du großer Gott, wenn sonst nichts ist ...« Die Alte tat mein Leid mit einem Lächeln ab. Ich wollte protestieren, wollte ihr klarmachen, wie schrecklich es mich getroffen hatte, wie unfair das Leben mit mir umgesprungen war, und dass sie das nicht schulterzuckend abtun dürfe. Nur weil sie im Ersten Weltkrieg Greueltaten im Schützengraben miterlebt hatte oder womit alte Menschen sonst ihre Mein-Leben-ist-aber-noch-viel-tragischer-Vergleiche gewannen. Doch da ging die Abteiltür erneut auf. » Zugestiegene, die Fahrkarten bitte.« Die junge Schaffnerin sprach's, hustete und trat einen Schritt zurück in den Gang. Die alte Frau kicherte.
Ich reichte meine Fahrkarte hinaus. » In Wagen drei sind noch Plätze frei, wenn Sie das Abteil wechseln möchten«, bot die Schaffnerin an. »Nein danke«, sagte die alte Frau. »Ich überlege es mir noch«, erwiderte ich. Die Schaffnerin schloss die Tür. Ich sah, wie sie sich draußen im Gang an einer Scheibe abstützte und mehrmals tief Luft holte.
»Eine geniale Mischung aus Zigarettenrauch und Mottenkugeln.« Die Alte klopfte grinsend auf ihre Gobelin-Handtasche im Retro-Stil und lächelte mich an. » In Verbindung mit einem Stück Münsterkäse.« Sie hob die BILD-Zeitung, die auf dem Platz neben ihr lag und unter der in der Tat ein halbausgepackter Käse zum Vorschein kam. »Diese Methode garantiert mir seit Jahren ein Abteil für mich. Das hält keiner aus.«
»Mit Ausnahme von mir.« Langsam zu Tode gestunken zu werden passte in die Mythisierung meiner Person als tragische Heldin.
»Sie gehen bestimmt auch bald. Man sagt ja immer, irgendwann gewöhne sich die Nase an schlechte Gerüche und nehme sie gar nicht mehr wahr. Aber das dauert weitaus länger, als es die meisten Menschen ertragen können.« Die Alte strickte weiter. Mein Ehrgeiz war geweckt.
Schon als Kind wuchs ich genau dann über mich hinaus, wenn irgendjemand behauptete, ich könne dieses oder jenes nicht. Meistens sollte dieser Jemand mit seiner Einschätzung zwar recht behalten, aber ich gab niemals kampflos auf und ging immerhin wild strampelnd unter. Und obwohl ich gedacht hatte, dass mir dieser Kampfgeist in den letzten Jahren abhandengekommen sei, war er offenbar noch da.
Demonstrativ zog ich meinen Trench aus und legte meinen Rucksack auf die Gepäckablage, setzte mich und verschränkte die Arme.
»Schon besser«, kommentierte die Alte. »Jetzt machen Sie auf Trotzkopf und ziehen keine Ichwill-sterben-Schnute mehr. Das gefällt mir. Frauen müssen stark sein! Knesebeck«, stellte sie sich vor. » Nennen Sie mich Doris.«
»Mara.« Ich entfaltete meine Arme.
»Mara, was soll denn das für ein Name sein?«, fragte die Knesebeck. Sie fragte es streng. Vermutlich würde ich beim nächsten Halt doch so tun, als müsste ich aussteigen. Nur zum Teil wegen des Gestanks, hauptsächlich wegen ihrer einmischenden, neugierigen, übergriffigen Art. Und natürlich hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich war auf den Namen Maria getauft, hatte Maria aber immer für altbacken und bieder gehalten und darum das »i« unter den Tisch fallen lassen. Meine Mutter hatte das albern gefunden, wohl auch als Angriff auf ihre Namenswahl, und bis zu ihrem Tod hatte sie das »i« nun gerade besonders betont. MarIa.
»Bis wohin fahren Sie denn?«, fragte ich statt einer Antwort. Ich fand mich keck. Uma Thurman hätte es genauso gehalten.
»Bis Lübeck. Also, bis Hamburg, wo ich umsteigen muss.«
Na bravo, bis zum Endbahnhof. So schnell würde ich sie also nicht los. Die alte Dame legte ihr Strickzeug zur Seite. »Ich liebe Lübecker Marzipan. Ich habe auch Verwandte dort, denen ich immer erzähle, wie gern ich sie besuche. Aber im Grunde fahre ich nur wegen des Marzipans nach Lübeck. Direkt vor Ort gekauft schmeckt es einfach besser, als wenn man es hier im Süden beim Feinkosthändler ersteht. Hier, probieren Sie.« Sie schob mir etwas Herzförmiges in rotem Glanzpapier über die Ablage zu und nahm ihr Ringelsockengestricke wieder zur Hand.
»Danke, nein.«
»Wieso nicht? Achten Sie etwa auf Ihre Figur?« Sie schaute über ihre Strickarbeit auf mein dezent hellblaues, bügelfreies, unkaputtbares Reisekleid aus Polyester. Gab es seit Twiggy eine im Westen sozialisierte Frau, die nicht auf ihre Figur achtete? Ich fand mich fett. Jede Frau f ndet sich fett, selbst eine Größe 36, ich aber hatte mir in meiner Beziehungsendetrauerphase eine satte Kleidergröße mehr angefuttert, trug jetzt Größe 42, und das war definitiv am Anschlag. Vielleicht lag es daran, dass man im Alter einen langsameren Stoffwechsel hatte, aber wenn ich das Marzipan nur ansah, spürte ich schon, wie meine Hüfte wieder einen halben Millimeter in die Breite poppte. » Natürlich achte ich auf meine Figur, man sollte sich nicht gehenlassen.« Ich schaute auf Knesebecks Blazer, aber unter dieser bunten, geruchsintensiven Monstrosität war nicht genau auszumachen, wie viel sie wog. Jedenfalls war sie keine Größe 36, und somit war meine Bemerkung tendenziell eine Frechheit. Zumal ich sie mit einem anzüglichen Augenbrauenwackeln krönte.
...
© 2012 Droemer Paperback
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, MünchenJeder Mann ein Treffer von Tatjana Kruse
Was würde Uma Thurman tun?
Männer sind wie phantastische Stöckelschuhe in der falschen Größe: Egal, wie sehr man sie liebt, was nicht geht, geht eben nicht und verursacht nur Hühneraugen, Blutblasen und Haltungsschäden. Aber natürlich ist man selbst immer die Letzte, die es merkt, lange nachdem die Fußpflegerin Alarm geschlagen hat. Was man stets für übertriebene Hysterie hielt. Bis es zu spät ist. Und man für den Rest seines irdischen Lebens mit einem Senk-Spreiz-Klumpfuß geschlagen ist. Will heißen, mit einem vernarbten Herzen.
Kurzum, ich war frisch von meinem langjährigen Partner getrennt.
Genauer gesagt, er hat sich von mir getrennt, und ich hab's nicht kommen sehen. Das Übliche, wegen einer anderen. Einer halb so alten. Dass ich voll zum Klischee wurde, ärgerte mich fast noch mehr als das Verlassenwerden an sich. Ich hatte es einfach nicht kommen sehen. Doch am meisten machte mir zu schaffen, dass dieser Mann nicht den Anstand hatte, mich wegen einer doppelt so alten Frau zu verlassen. Das hätte meiner Geschichte wenigstens ein wenig modernes Flair verliehen.
Ich gönnte mir Selbstmitleidsanfälle und Depri-Schübe im Überfluss. Dazu die drei Ks: Kinderlosigkeitspanik, Klimakteriumsblues und Kleinstadtennui. Sogar Kehrwochenverweigerung! Ein gefährlicher Cocktail. Dazu kam noch, dass ich über vierzig war und - Tusch! - auch so aussah. Trotz Anti-Aging-Creme mit Hyper-Ultra-Super-Faltenglättung aus dem Drogeriemarkt.
Wenn man als Kind Trübsal bläst, sagen die Eltern gern: » Denk an die armen kleinen, hungernden Kinder in Afrika und sei dankbar.« In der Midlife-Crisis konnte man natürlich ebenfalls an die Afrikaner denken, die immer noch schlimm hungerten und dazu auch noch Aids hatten. Aber der Gedanke war nicht mehr tröstlich und führte auch nicht zu Dankbarkeit, sondern ließ einen noch viel mehr an der Welt verzweifeln. Weil die Menschheit offenbar nichts dazulernte.
Göttin sei Dank verfügte ich jedoch über starke Überlebensgene: Bevor ich mir den Suizid gab oder, schlimmer noch, mich mit dem Status quo abfand und den Rest meines Lebens in Lethargie und allenfalls im gelegentlichen Engagement für die Blumengruppe des örtlichen Trachtenvereins verbrachte, hatte ich - beim nächtlichen Zappen und Hängenbleiben in der Arm-ab-Blut-spritz-Sequenz von Kill Bill, Volume 2 - eine Epiphanie. So wurde ich gewissermaßen auf einen Schlag von der Saula zur Paula. Und das durch eine simple Frage: Was würde Uma Thurman an meiner Stelle tun?
Sie würde nicht Rotz und Wasser heulen, oh nein, sie würde sich einen Krummsäbel, ein Samuraischwert oder wenigstens einen Gemüseschäler schnappen und tatkräftig Gerechtigkeit einfordern. Jawohl! In mir erwachte die Vision zum Leben, Kill Bill nachzustellen. In der schwäbischen Provinzvariante.
Ich sprang zwar nicht gerade von der Couch und reckte die Hände in die Höhe, aber es war schon so etwas wie ein Erweckungserlebnis. Ich würde es Uma gleichtun!
Nein, nicht bei der Umsetzung wilder Gewaltphantasien. Ich würde Rüdiger und seine Neue nicht mittig halbieren und auch nicht auf dem Wochenmarkt unserer Kleinstadt Amok laufen. Ich wollte vielmehr das Nächstbeste tun: mein altes Leben töten. Jawohl! Es massakrieren! Gesagt, getan. Am nächsten Morgen ließ ich mir beim Friseur meines Vertrauens die Haare schneiden (von der Azubine, dann kostet es nur zwölf Euro), gab einen erklecklichen Teil meiner geringen Ersparnisse für zwei (für mich gewagte) neue Kleider und ein paar hochhackige Schuhe aus, kündigte meinen ohnehin öden Job als stellvertretende Leiterin der » Frauenakademie« in der örtlichen Volkshochschule, packte meinen nigelnagelneuen knallroten Trolley und kaufte mir eine Bahnfahrkarte nach Hamburg. Im Gepäck das Buch Die 48 ultimativen Dinge, die du getan haben solltest, bevor du 48 bist.
Ich wollte noch mal völlig neu anfangen. Wozu hatte ich all die öden Kleinstadtjahre lang ein - Achtung: Neudeutsch - Scrapbook geführt, mit Bildern, die ich aus Hochglanzzeitschriften ausgeschnitten hatte. Fotos von eleganten Lofts, schicken Menschen, die Champagner tranken, Reisen an exotische Orte. Mein Traum von einem soliden Mann, einem Reihenhaus und einem Boot auf dem Bodensee war zwar noch nicht ausgeträumt. Aber er wurde upgedatet. Von nun an wollte ich von einem eleganten Mann, einer Villa und der ultimativen Atlantiküberquerung im Luxusdampfer nach New York träumen. Gewissermaßen die Version 2.0 für Fortgeschrittene. Neuer Anlauf, neues Glück!
* * *
Röchelatmung. Im Wechsel mit Keuchen und Schnaufen. Gepaart mit ziemlich undamenhaftem Schweinsgalopp. So fing mein neues Leben an.
Im Idealfall hat man am Bahnhof Stuttgart bequeme fünf Minuten zum Umsteigen, auch wenn man von Gleis 16 zu Gleis 9 muss, so zumindest die Aussage des Schalterbeamten beim Kauf der Fahrkarte. Aber wann tritt schon einmal der Idealfall ein?
Bei der Deutschen Bahn an diesem Morgen jedenfalls nicht.
Ich hatte mir in den Wochen zwischen Entschluss und Durchführung meines Plans alle Uma-Thurman-Kassenschlager, die unsere Videothek vorrätig hatte, ausgeliehen. Zur inneren Einstimmung. In einem der Batman-Filme hatte Uma Poison Ivy verkörpert, eine Öko-Terroristin, die unglaublich sexy war. Was mir ein Widerspruch in sich zu sein schien. Sexy Ökotante. So wie schwarzer Schimmel. Also, das Pferd, nicht das, was in Badezimmerfugen zu wachsen pflegt. Einen schwarzen Schimmel oder eine sexy Ökotante fand ich physikalisch nicht möglich. Nicht in diesem Universum. Umas Darstellung hatte mich dennoch tief beeindruckt, und natürlich kam für mich daraufhin nur die Bahn in Frage und nicht etwa die Mitfahrzentrale. Der Umwelt zuliebe. Wegen der Nachhaltigkeit.
Der Sprint beim Umsteigen forderte jedoch die ganze Frau.
Vielleicht hätte ich nicht all die Jahre dem Motto Sport ist Mord frönen sollen. Vielleicht wäre ich dann mit nur leicht geröteten Wangen und normaler Atmung in Wagen 5 des ICE nach Hamburg angekommen. So aber war ich binnen Sekunden, also auf Höhe von Gleis 15, nass geschwitzt, bekam keine Luft mehr und wurde nur von dem einen Gedanken getrieben: So wollte ich mein neues Leben nicht beginnen, dass ich den Anschluss verpasste. Eine Frau, ein Ziel!
Dank des Mannes, der den zweirädrigen Rollkoffer mit Teleskopgriff erfunden hat, schafften es mein Trolley und ich gerade noch rechtzeitig. War ja klar, dass so ein ICE die Länge eines Halbmarathons umfasst und dass der erste Wagen der zweiten Klasse mitnichten am Kopfende stand. Stattdessen gehörte am Vorerst-noch-Kopfbahnhof in Stuttgart der erste Wagen zur ersten Klasse, und man musste an drei Wagen plus Bordbistro vorbeitraben. Und dann hatte auch noch halb Süddeutschland beschlossen, an diesem völlig unscheinbaren Mittwoch von Stuttgart nach Hamburg fahren zu wollen. Der Zug war knallevoll. Und natürlich hatte ich keine Platzreservierung. Schwer atmend stieg ich ein, wollte angesichts der Überfüllung schon die Hoffnung auf einen Sitzplatz fahrenlassen und visualisierte, wie ich fünf Stunden lang auf meinem Trolley im Gang kampierte. Gleich im zweiten Abteil nach der Zugtoilette jedoch saß nur eine alte Dame mit Strickzeug. Ganz allein. Wieso ganz allein? Das hätte mir zu denken geben sollen ... Ich öffnete die Tür und röchelatmete hinein. » Ist ... hier ... noch ... frei?« Die Frau sah kurz von ihrem Strickzeug zu mir auf. Ende sechzig, würde ich schätzen. Hamsterbacken, die längst der Schwerkraft folgend nach unten gerutscht waren. Der spärliche Haarbewuchs dauergewellt und in einem künstlichen Sandbraun gefärbt. Ein knallbunter, mehrfarbig gestreifter Blazer zu einem graumelierten Tweedrock und hässlichen braunen Gesundheitsschuhen mit Velcro-Verschluss.
»Nur immer frisch herein, Kindchen.« Ein Lächeln begleitete diese Aufforderung nicht.
Ich schob meinen Koffer ins Abteil, während hinter mir ein hochgewachsener Geschäftsreisender im Maßanzug und mit Handy am Ohr ebenfalls eintreten wollte, kurz stockte und rasch weiterging.
»Um den ist es nicht schade«, erklärte die Endsechzigerin, ohne sich im Strickfluss unterbrechen zu lassen, während ich dem schmalen Rücken des Mannes nachschaute, der mich null wahrgenommen hatte. Also, der Mann, nicht der Rücken.
»Der hätte die ganze Zeit nur telefoniert. Aber nichts, was man gerne hört. Streit mit seiner Frau, Terminabsprachen mit seiner Geliebten oder, noch schlimmer, irgendwelche öden Bürogespräche.« Ich, die ich mir - wie so oft in letzter Zeit - unsichtbar vorkam, nickte nur. Meine Atmung normalisierte sich langsam, und mein Geruchssinn kehrte zurück.
Meine Großmutter hatte immer nach Tosca gerochen. Die Großmutter meiner Freundin nach Lavendelseife. Diese Großmutter hier - aus den winzigen Ringelsöckchen, die sie strickte, schloss ich, dass sie Großmutter war - roch nach ... mein Gott, was war das nur? Jedenfalls stank es infernalisch. Ich überlegte mir, mit welcher Ausrede ich mich aus diesem Abteil verabschieden konnte, als eine junge Mutter mit umgeschnalltem Baby vor dem Bauch und einem süßen Kleinkind an der Linken die Tür öffnete, kurz Luft holte, gekünstelt lächelte und wortlos die Tür wieder schloss.
»Gut so«, befand die Strick-Oma. » Ich hasse es, mit Kindern zu reisen. Die sind laut und quengelig und nerven.« Das war jetzt wiederum nicht so typisch großmütterlich. Irgendwie war ich immer davon ausgegangen, dass mit dem Abschluss des Klimakteriums ein » Ei, dei, dei«-Gen aktiviert wurde, das alte Frauen dazu brachte, sich gurrend über grundsätzlich jeden Kinderwagen zu beugen, ausnahmslos alle Kleinkindfrisuren zu zerzausen und allein bei der Erwähnung des Wortes »Kind« dahinzuschmelzen. Ausnahme von dieser Regel bildeten allenfalls workaholische Karrierefrauen. Ganz sicher aber nicht strickende Greisinnen mit Dauerwelle. Ich spürte erste Risse in meinem festgefügten Weltbild.
Meine Abteilnachbarin nölte aber nicht nur über Mütter und Manager. Als ein Jungmann im selbstgestrickten Norweger die Abteiltür öffnete, rief sie: » Alles besetzt! « Kaum hatte er die Tür wieder geschlossen, erklärte sie: »Den können wir hier nicht gebrauchen. Der sah missionarisch aus. Hätte uns bestimmt Werbe-Flyer für ein veganes Leben in die Hand gedrückt.« Also, diese Strickerin war alles, nur keine liebenswürdige, altersmilde Großmutter.
In diesem Moment überkam mich ein Gedanke:
Ende sechzig. Die Frau vor mir war Ende sechzig. Ja, Großmutteralter. Aber nicht meine Großmutter. Rein rechnerisch unmöglich. Allenfalls, wenn sie - wie früher in unseren Breitengraden und noch heute in abgelegenen Urwalddörfern üblich - mit zwölf zwangsverheiratet worden und gleich schwanger geworden wäre und auch ihre Erstgeborene dieses Schicksal geteilt hätte. Nein, diese Frau könnte höchstens meine Mutter sein. Was im Umkehrschluss bedeutete: Für mich lautete der nächste Halt nicht Mannheim, sondern Altersheim. Mir wurde klar, ich hatte die Hälfte meines Lebens hinter mir. Immer vorausgesetzt, dass ich das deutsche Durchschnittsalter überhaupt erreichte. Das deprimierte mich so schlagartig so sehr, dass ich mich, immer noch im Trench, einfach fallen ließ und mit leerem Blick auf den Abteilboden schaute.
Die folgenden fünf Stunden und acht Minuten Fahrt gedachte ich mich in Selbstmitleid zu suhlen. Ach was, versinken wollte ich darin, wie in Treibsand. Doch weit gefehlt.
»Mein Gott, Kindchen, was ist denn mit Ihnen los? Müssen Sie so eine Schnute ziehen? Da wird ja die Kaffeemilch sauer. Das kann ich nicht gebrauchen. Der Zugkaffee ist teuer genug.«
Hatte sie das jetzt wirklich gesagt? Ich hörte nur das Klappern der Stricknadeln. Allerdings stand tatsächlich ein Kaffeebecher aus dem Bordbistro vor ihr. Flockte die Milch wirklich aus? Ich räusperte mich.
»Mein Lebensgefährte hat mich verlassen. Ich bin alt, und der Lack ist ab. Mein Leben ist vorbei.« Ich hielt es für einen großen Triumph in der Geschichte der selbstbestimmten Frauen, dass ich das sagen konnte, ohne zu heulen, zu schniefen oder auch nur zu stocken. Mein Kinn hob sich um mindestens einen Zentimeter. Das Schicksal hatte mich arg gebeutelt, hatte mich in die Hoffnungslosigkeit katapultiert, aber ich ging hocherhobenen Kopfes unter. Eine tragische Heldin der Neuzeit. Im Film würde jetzt weinerliche Geigenmusik erklingen.
»Ach, du großer Gott, wenn sonst nichts ist ...« Die Alte tat mein Leid mit einem Lächeln ab. Ich wollte protestieren, wollte ihr klarmachen, wie schrecklich es mich getroffen hatte, wie unfair das Leben mit mir umgesprungen war, und dass sie das nicht schulterzuckend abtun dürfe. Nur weil sie im Ersten Weltkrieg Greueltaten im Schützengraben miterlebt hatte oder womit alte Menschen sonst ihre Mein-Leben-ist-aber-noch-viel-tragischer-Vergleiche gewannen. Doch da ging die Abteiltür erneut auf. » Zugestiegene, die Fahrkarten bitte.« Die junge Schaffnerin sprach's, hustete und trat einen Schritt zurück in den Gang. Die alte Frau kicherte.
Ich reichte meine Fahrkarte hinaus. » In Wagen drei sind noch Plätze frei, wenn Sie das Abteil wechseln möchten«, bot die Schaffnerin an. »Nein danke«, sagte die alte Frau. »Ich überlege es mir noch«, erwiderte ich. Die Schaffnerin schloss die Tür. Ich sah, wie sie sich draußen im Gang an einer Scheibe abstützte und mehrmals tief Luft holte.
»Eine geniale Mischung aus Zigarettenrauch und Mottenkugeln.« Die Alte klopfte grinsend auf ihre Gobelin-Handtasche im Retro-Stil und lächelte mich an. » In Verbindung mit einem Stück Münsterkäse.« Sie hob die BILD-Zeitung, die auf dem Platz neben ihr lag und unter der in der Tat ein halbausgepackter Käse zum Vorschein kam. »Diese Methode garantiert mir seit Jahren ein Abteil für mich. Das hält keiner aus.«
»Mit Ausnahme von mir.« Langsam zu Tode gestunken zu werden passte in die Mythisierung meiner Person als tragische Heldin.
»Sie gehen bestimmt auch bald. Man sagt ja immer, irgendwann gewöhne sich die Nase an schlechte Gerüche und nehme sie gar nicht mehr wahr. Aber das dauert weitaus länger, als es die meisten Menschen ertragen können.« Die Alte strickte weiter. Mein Ehrgeiz war geweckt.
Schon als Kind wuchs ich genau dann über mich hinaus, wenn irgendjemand behauptete, ich könne dieses oder jenes nicht. Meistens sollte dieser Jemand mit seiner Einschätzung zwar recht behalten, aber ich gab niemals kampflos auf und ging immerhin wild strampelnd unter. Und obwohl ich gedacht hatte, dass mir dieser Kampfgeist in den letzten Jahren abhandengekommen sei, war er offenbar noch da.
Demonstrativ zog ich meinen Trench aus und legte meinen Rucksack auf die Gepäckablage, setzte mich und verschränkte die Arme.
»Schon besser«, kommentierte die Alte. »Jetzt machen Sie auf Trotzkopf und ziehen keine Ichwill-sterben-Schnute mehr. Das gefällt mir. Frauen müssen stark sein! Knesebeck«, stellte sie sich vor. » Nennen Sie mich Doris.«
»Mara.« Ich entfaltete meine Arme.
»Mara, was soll denn das für ein Name sein?«, fragte die Knesebeck. Sie fragte es streng. Vermutlich würde ich beim nächsten Halt doch so tun, als müsste ich aussteigen. Nur zum Teil wegen des Gestanks, hauptsächlich wegen ihrer einmischenden, neugierigen, übergriffigen Art. Und natürlich hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich war auf den Namen Maria getauft, hatte Maria aber immer für altbacken und bieder gehalten und darum das »i« unter den Tisch fallen lassen. Meine Mutter hatte das albern gefunden, wohl auch als Angriff auf ihre Namenswahl, und bis zu ihrem Tod hatte sie das »i« nun gerade besonders betont. MarIa.
»Bis wohin fahren Sie denn?«, fragte ich statt einer Antwort. Ich fand mich keck. Uma Thurman hätte es genauso gehalten.
»Bis Lübeck. Also, bis Hamburg, wo ich umsteigen muss.«
Na bravo, bis zum Endbahnhof. So schnell würde ich sie also nicht los. Die alte Dame legte ihr Strickzeug zur Seite. »Ich liebe Lübecker Marzipan. Ich habe auch Verwandte dort, denen ich immer erzähle, wie gern ich sie besuche. Aber im Grunde fahre ich nur wegen des Marzipans nach Lübeck. Direkt vor Ort gekauft schmeckt es einfach besser, als wenn man es hier im Süden beim Feinkosthändler ersteht. Hier, probieren Sie.« Sie schob mir etwas Herzförmiges in rotem Glanzpapier über die Ablage zu und nahm ihr Ringelsockengestricke wieder zur Hand.
»Danke, nein.«
»Wieso nicht? Achten Sie etwa auf Ihre Figur?« Sie schaute über ihre Strickarbeit auf mein dezent hellblaues, bügelfreies, unkaputtbares Reisekleid aus Polyester. Gab es seit Twiggy eine im Westen sozialisierte Frau, die nicht auf ihre Figur achtete? Ich fand mich fett. Jede Frau f ndet sich fett, selbst eine Größe 36, ich aber hatte mir in meiner Beziehungsendetrauerphase eine satte Kleidergröße mehr angefuttert, trug jetzt Größe 42, und das war definitiv am Anschlag. Vielleicht lag es daran, dass man im Alter einen langsameren Stoffwechsel hatte, aber wenn ich das Marzipan nur ansah, spürte ich schon, wie meine Hüfte wieder einen halben Millimeter in die Breite poppte. » Natürlich achte ich auf meine Figur, man sollte sich nicht gehenlassen.« Ich schaute auf Knesebecks Blazer, aber unter dieser bunten, geruchsintensiven Monstrosität war nicht genau auszumachen, wie viel sie wog. Jedenfalls war sie keine Größe 36, und somit war meine Bemerkung tendenziell eine Frechheit. Zumal ich sie mit einem anzüglichen Augenbrauenwackeln krönte.
...
© 2012 Droemer Paperback
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Männer sind wie phantastische Stöckelschuhe in der falschen Größe: Egal, wie sehr man sie liebt, was nicht geht, geht eben nicht und verursacht nur Hühneraugen, Blutblasen und Haltungsschäden. Aber natürlich ist man selbst immer die Letzte, die es merkt, lange nachdem die Fußpflegerin Alarm geschlagen hat. Was man stets für übertriebene Hysterie hielt. Bis es zu spät ist. Und man für den Rest seines irdischen Lebens mit einem Senk-Spreiz-Klumpfuß geschlagen ist. Will heißen, mit einem vernarbten Herzen.
Kurzum, ich war frisch von meinem langjährigen Partner getrennt.
Genauer gesagt, er hat sich von mir getrennt, und ich hab's nicht kommen sehen. Das Übliche, wegen einer anderen. Einer halb so alten. Dass ich voll zum Klischee wurde, ärgerte mich fast noch mehr als das Verlassenwerden an sich. Ich hatte es einfach nicht kommen sehen. Doch am meisten machte mir zu schaffen, dass dieser Mann nicht den Anstand hatte, mich wegen einer doppelt so alten Frau zu verlassen. Das hätte meiner Geschichte wenigstens ein wenig modernes Flair verliehen.
Ich gönnte mir Selbstmitleidsanfälle und Depri-Schübe im Überfluss. Dazu die drei Ks: Kinderlosigkeitspanik, Klimakteriumsblues und Kleinstadtennui. Sogar Kehrwochenverweigerung! Ein gefährlicher Cocktail. Dazu kam noch, dass ich über vierzig war und - Tusch! - auch so aussah. Trotz Anti-Aging-Creme mit Hyper-Ultra-Super-Faltenglättung aus dem Drogeriemarkt.
Wenn man als Kind Trübsal bläst, sagen die Eltern gern: » Denk an die armen kleinen, hungernden Kinder in Afrika und sei dankbar.« In der Midlife-Crisis konnte man natürlich ebenfalls an die Afrikaner denken, die immer noch schlimm hungerten und dazu auch noch Aids hatten. Aber der Gedanke war nicht mehr tröstlich und führte auch nicht zu Dankbarkeit, sondern ließ einen noch viel mehr an der Welt verzweifeln. Weil die Menschheit offenbar nichts dazulernte.
Göttin sei Dank verfügte ich jedoch über starke Überlebensgene: Bevor ich mir den Suizid gab oder, schlimmer noch, mich mit dem Status quo abfand und den Rest meines Lebens in Lethargie und allenfalls im gelegentlichen Engagement für die Blumengruppe des örtlichen Trachtenvereins verbrachte, hatte ich - beim nächtlichen Zappen und Hängenbleiben in der Arm-ab-Blut-spritz-Sequenz von Kill Bill, Volume 2 - eine Epiphanie. So wurde ich gewissermaßen auf einen Schlag von der Saula zur Paula. Und das durch eine simple Frage: Was würde Uma Thurman an meiner Stelle tun?
Sie würde nicht Rotz und Wasser heulen, oh nein, sie würde sich einen Krummsäbel, ein Samuraischwert oder wenigstens einen Gemüseschäler schnappen und tatkräftig Gerechtigkeit einfordern. Jawohl! In mir erwachte die Vision zum Leben, Kill Bill nachzustellen. In der schwäbischen Provinzvariante.
Ich sprang zwar nicht gerade von der Couch und reckte die Hände in die Höhe, aber es war schon so etwas wie ein Erweckungserlebnis. Ich würde es Uma gleichtun!
Nein, nicht bei der Umsetzung wilder Gewaltphantasien. Ich würde Rüdiger und seine Neue nicht mittig halbieren und auch nicht auf dem Wochenmarkt unserer Kleinstadt Amok laufen. Ich wollte vielmehr das Nächstbeste tun: mein altes Leben töten. Jawohl! Es massakrieren! Gesagt, getan. Am nächsten Morgen ließ ich mir beim Friseur meines Vertrauens die Haare schneiden (von der Azubine, dann kostet es nur zwölf Euro), gab einen erklecklichen Teil meiner geringen Ersparnisse für zwei (für mich gewagte) neue Kleider und ein paar hochhackige Schuhe aus, kündigte meinen ohnehin öden Job als stellvertretende Leiterin der » Frauenakademie« in der örtlichen Volkshochschule, packte meinen nigelnagelneuen knallroten Trolley und kaufte mir eine Bahnfahrkarte nach Hamburg. Im Gepäck das Buch Die 48 ultimativen Dinge, die du getan haben solltest, bevor du 48 bist.
Ich wollte noch mal völlig neu anfangen. Wozu hatte ich all die öden Kleinstadtjahre lang ein - Achtung: Neudeutsch - Scrapbook geführt, mit Bildern, die ich aus Hochglanzzeitschriften ausgeschnitten hatte. Fotos von eleganten Lofts, schicken Menschen, die Champagner tranken, Reisen an exotische Orte. Mein Traum von einem soliden Mann, einem Reihenhaus und einem Boot auf dem Bodensee war zwar noch nicht ausgeträumt. Aber er wurde upgedatet. Von nun an wollte ich von einem eleganten Mann, einer Villa und der ultimativen Atlantiküberquerung im Luxusdampfer nach New York träumen. Gewissermaßen die Version 2.0 für Fortgeschrittene. Neuer Anlauf, neues Glück!
* * *
Röchelatmung. Im Wechsel mit Keuchen und Schnaufen. Gepaart mit ziemlich undamenhaftem Schweinsgalopp. So fing mein neues Leben an.
Im Idealfall hat man am Bahnhof Stuttgart bequeme fünf Minuten zum Umsteigen, auch wenn man von Gleis 16 zu Gleis 9 muss, so zumindest die Aussage des Schalterbeamten beim Kauf der Fahrkarte. Aber wann tritt schon einmal der Idealfall ein?
Bei der Deutschen Bahn an diesem Morgen jedenfalls nicht.
Ich hatte mir in den Wochen zwischen Entschluss und Durchführung meines Plans alle Uma-Thurman-Kassenschlager, die unsere Videothek vorrätig hatte, ausgeliehen. Zur inneren Einstimmung. In einem der Batman-Filme hatte Uma Poison Ivy verkörpert, eine Öko-Terroristin, die unglaublich sexy war. Was mir ein Widerspruch in sich zu sein schien. Sexy Ökotante. So wie schwarzer Schimmel. Also, das Pferd, nicht das, was in Badezimmerfugen zu wachsen pflegt. Einen schwarzen Schimmel oder eine sexy Ökotante fand ich physikalisch nicht möglich. Nicht in diesem Universum. Umas Darstellung hatte mich dennoch tief beeindruckt, und natürlich kam für mich daraufhin nur die Bahn in Frage und nicht etwa die Mitfahrzentrale. Der Umwelt zuliebe. Wegen der Nachhaltigkeit.
Der Sprint beim Umsteigen forderte jedoch die ganze Frau.
Vielleicht hätte ich nicht all die Jahre dem Motto Sport ist Mord frönen sollen. Vielleicht wäre ich dann mit nur leicht geröteten Wangen und normaler Atmung in Wagen 5 des ICE nach Hamburg angekommen. So aber war ich binnen Sekunden, also auf Höhe von Gleis 15, nass geschwitzt, bekam keine Luft mehr und wurde nur von dem einen Gedanken getrieben: So wollte ich mein neues Leben nicht beginnen, dass ich den Anschluss verpasste. Eine Frau, ein Ziel!
Dank des Mannes, der den zweirädrigen Rollkoffer mit Teleskopgriff erfunden hat, schafften es mein Trolley und ich gerade noch rechtzeitig. War ja klar, dass so ein ICE die Länge eines Halbmarathons umfasst und dass der erste Wagen der zweiten Klasse mitnichten am Kopfende stand. Stattdessen gehörte am Vorerst-noch-Kopfbahnhof in Stuttgart der erste Wagen zur ersten Klasse, und man musste an drei Wagen plus Bordbistro vorbeitraben. Und dann hatte auch noch halb Süddeutschland beschlossen, an diesem völlig unscheinbaren Mittwoch von Stuttgart nach Hamburg fahren zu wollen. Der Zug war knallevoll. Und natürlich hatte ich keine Platzreservierung. Schwer atmend stieg ich ein, wollte angesichts der Überfüllung schon die Hoffnung auf einen Sitzplatz fahrenlassen und visualisierte, wie ich fünf Stunden lang auf meinem Trolley im Gang kampierte. Gleich im zweiten Abteil nach der Zugtoilette jedoch saß nur eine alte Dame mit Strickzeug. Ganz allein. Wieso ganz allein? Das hätte mir zu denken geben sollen ... Ich öffnete die Tür und röchelatmete hinein. » Ist ... hier ... noch ... frei?« Die Frau sah kurz von ihrem Strickzeug zu mir auf. Ende sechzig, würde ich schätzen. Hamsterbacken, die längst der Schwerkraft folgend nach unten gerutscht waren. Der spärliche Haarbewuchs dauergewellt und in einem künstlichen Sandbraun gefärbt. Ein knallbunter, mehrfarbig gestreifter Blazer zu einem graumelierten Tweedrock und hässlichen braunen Gesundheitsschuhen mit Velcro-Verschluss.
»Nur immer frisch herein, Kindchen.« Ein Lächeln begleitete diese Aufforderung nicht.
Ich schob meinen Koffer ins Abteil, während hinter mir ein hochgewachsener Geschäftsreisender im Maßanzug und mit Handy am Ohr ebenfalls eintreten wollte, kurz stockte und rasch weiterging.
»Um den ist es nicht schade«, erklärte die Endsechzigerin, ohne sich im Strickfluss unterbrechen zu lassen, während ich dem schmalen Rücken des Mannes nachschaute, der mich null wahrgenommen hatte. Also, der Mann, nicht der Rücken.
»Der hätte die ganze Zeit nur telefoniert. Aber nichts, was man gerne hört. Streit mit seiner Frau, Terminabsprachen mit seiner Geliebten oder, noch schlimmer, irgendwelche öden Bürogespräche.« Ich, die ich mir - wie so oft in letzter Zeit - unsichtbar vorkam, nickte nur. Meine Atmung normalisierte sich langsam, und mein Geruchssinn kehrte zurück.
Meine Großmutter hatte immer nach Tosca gerochen. Die Großmutter meiner Freundin nach Lavendelseife. Diese Großmutter hier - aus den winzigen Ringelsöckchen, die sie strickte, schloss ich, dass sie Großmutter war - roch nach ... mein Gott, was war das nur? Jedenfalls stank es infernalisch. Ich überlegte mir, mit welcher Ausrede ich mich aus diesem Abteil verabschieden konnte, als eine junge Mutter mit umgeschnalltem Baby vor dem Bauch und einem süßen Kleinkind an der Linken die Tür öffnete, kurz Luft holte, gekünstelt lächelte und wortlos die Tür wieder schloss.
»Gut so«, befand die Strick-Oma. » Ich hasse es, mit Kindern zu reisen. Die sind laut und quengelig und nerven.« Das war jetzt wiederum nicht so typisch großmütterlich. Irgendwie war ich immer davon ausgegangen, dass mit dem Abschluss des Klimakteriums ein » Ei, dei, dei«-Gen aktiviert wurde, das alte Frauen dazu brachte, sich gurrend über grundsätzlich jeden Kinderwagen zu beugen, ausnahmslos alle Kleinkindfrisuren zu zerzausen und allein bei der Erwähnung des Wortes »Kind« dahinzuschmelzen. Ausnahme von dieser Regel bildeten allenfalls workaholische Karrierefrauen. Ganz sicher aber nicht strickende Greisinnen mit Dauerwelle. Ich spürte erste Risse in meinem festgefügten Weltbild.
Meine Abteilnachbarin nölte aber nicht nur über Mütter und Manager. Als ein Jungmann im selbstgestrickten Norweger die Abteiltür öffnete, rief sie: » Alles besetzt! « Kaum hatte er die Tür wieder geschlossen, erklärte sie: »Den können wir hier nicht gebrauchen. Der sah missionarisch aus. Hätte uns bestimmt Werbe-Flyer für ein veganes Leben in die Hand gedrückt.« Also, diese Strickerin war alles, nur keine liebenswürdige, altersmilde Großmutter.
In diesem Moment überkam mich ein Gedanke:
Ende sechzig. Die Frau vor mir war Ende sechzig. Ja, Großmutteralter. Aber nicht meine Großmutter. Rein rechnerisch unmöglich. Allenfalls, wenn sie - wie früher in unseren Breitengraden und noch heute in abgelegenen Urwalddörfern üblich - mit zwölf zwangsverheiratet worden und gleich schwanger geworden wäre und auch ihre Erstgeborene dieses Schicksal geteilt hätte. Nein, diese Frau könnte höchstens meine Mutter sein. Was im Umkehrschluss bedeutete: Für mich lautete der nächste Halt nicht Mannheim, sondern Altersheim. Mir wurde klar, ich hatte die Hälfte meines Lebens hinter mir. Immer vorausgesetzt, dass ich das deutsche Durchschnittsalter überhaupt erreichte. Das deprimierte mich so schlagartig so sehr, dass ich mich, immer noch im Trench, einfach fallen ließ und mit leerem Blick auf den Abteilboden schaute.
Die folgenden fünf Stunden und acht Minuten Fahrt gedachte ich mich in Selbstmitleid zu suhlen. Ach was, versinken wollte ich darin, wie in Treibsand. Doch weit gefehlt.
»Mein Gott, Kindchen, was ist denn mit Ihnen los? Müssen Sie so eine Schnute ziehen? Da wird ja die Kaffeemilch sauer. Das kann ich nicht gebrauchen. Der Zugkaffee ist teuer genug.«
Hatte sie das jetzt wirklich gesagt? Ich hörte nur das Klappern der Stricknadeln. Allerdings stand tatsächlich ein Kaffeebecher aus dem Bordbistro vor ihr. Flockte die Milch wirklich aus? Ich räusperte mich.
»Mein Lebensgefährte hat mich verlassen. Ich bin alt, und der Lack ist ab. Mein Leben ist vorbei.« Ich hielt es für einen großen Triumph in der Geschichte der selbstbestimmten Frauen, dass ich das sagen konnte, ohne zu heulen, zu schniefen oder auch nur zu stocken. Mein Kinn hob sich um mindestens einen Zentimeter. Das Schicksal hatte mich arg gebeutelt, hatte mich in die Hoffnungslosigkeit katapultiert, aber ich ging hocherhobenen Kopfes unter. Eine tragische Heldin der Neuzeit. Im Film würde jetzt weinerliche Geigenmusik erklingen.
»Ach, du großer Gott, wenn sonst nichts ist ...« Die Alte tat mein Leid mit einem Lächeln ab. Ich wollte protestieren, wollte ihr klarmachen, wie schrecklich es mich getroffen hatte, wie unfair das Leben mit mir umgesprungen war, und dass sie das nicht schulterzuckend abtun dürfe. Nur weil sie im Ersten Weltkrieg Greueltaten im Schützengraben miterlebt hatte oder womit alte Menschen sonst ihre Mein-Leben-ist-aber-noch-viel-tragischer-Vergleiche gewannen. Doch da ging die Abteiltür erneut auf. » Zugestiegene, die Fahrkarten bitte.« Die junge Schaffnerin sprach's, hustete und trat einen Schritt zurück in den Gang. Die alte Frau kicherte.
Ich reichte meine Fahrkarte hinaus. » In Wagen drei sind noch Plätze frei, wenn Sie das Abteil wechseln möchten«, bot die Schaffnerin an. »Nein danke«, sagte die alte Frau. »Ich überlege es mir noch«, erwiderte ich. Die Schaffnerin schloss die Tür. Ich sah, wie sie sich draußen im Gang an einer Scheibe abstützte und mehrmals tief Luft holte.
»Eine geniale Mischung aus Zigarettenrauch und Mottenkugeln.« Die Alte klopfte grinsend auf ihre Gobelin-Handtasche im Retro-Stil und lächelte mich an. » In Verbindung mit einem Stück Münsterkäse.« Sie hob die BILD-Zeitung, die auf dem Platz neben ihr lag und unter der in der Tat ein halbausgepackter Käse zum Vorschein kam. »Diese Methode garantiert mir seit Jahren ein Abteil für mich. Das hält keiner aus.«
»Mit Ausnahme von mir.« Langsam zu Tode gestunken zu werden passte in die Mythisierung meiner Person als tragische Heldin.
»Sie gehen bestimmt auch bald. Man sagt ja immer, irgendwann gewöhne sich die Nase an schlechte Gerüche und nehme sie gar nicht mehr wahr. Aber das dauert weitaus länger, als es die meisten Menschen ertragen können.« Die Alte strickte weiter. Mein Ehrgeiz war geweckt.
Schon als Kind wuchs ich genau dann über mich hinaus, wenn irgendjemand behauptete, ich könne dieses oder jenes nicht. Meistens sollte dieser Jemand mit seiner Einschätzung zwar recht behalten, aber ich gab niemals kampflos auf und ging immerhin wild strampelnd unter. Und obwohl ich gedacht hatte, dass mir dieser Kampfgeist in den letzten Jahren abhandengekommen sei, war er offenbar noch da.
Demonstrativ zog ich meinen Trench aus und legte meinen Rucksack auf die Gepäckablage, setzte mich und verschränkte die Arme.
»Schon besser«, kommentierte die Alte. »Jetzt machen Sie auf Trotzkopf und ziehen keine Ichwill-sterben-Schnute mehr. Das gefällt mir. Frauen müssen stark sein! Knesebeck«, stellte sie sich vor. » Nennen Sie mich Doris.«
»Mara.« Ich entfaltete meine Arme.
»Mara, was soll denn das für ein Name sein?«, fragte die Knesebeck. Sie fragte es streng. Vermutlich würde ich beim nächsten Halt doch so tun, als müsste ich aussteigen. Nur zum Teil wegen des Gestanks, hauptsächlich wegen ihrer einmischenden, neugierigen, übergriffigen Art. Und natürlich hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich war auf den Namen Maria getauft, hatte Maria aber immer für altbacken und bieder gehalten und darum das »i« unter den Tisch fallen lassen. Meine Mutter hatte das albern gefunden, wohl auch als Angriff auf ihre Namenswahl, und bis zu ihrem Tod hatte sie das »i« nun gerade besonders betont. MarIa.
»Bis wohin fahren Sie denn?«, fragte ich statt einer Antwort. Ich fand mich keck. Uma Thurman hätte es genauso gehalten.
»Bis Lübeck. Also, bis Hamburg, wo ich umsteigen muss.«
Na bravo, bis zum Endbahnhof. So schnell würde ich sie also nicht los. Die alte Dame legte ihr Strickzeug zur Seite. »Ich liebe Lübecker Marzipan. Ich habe auch Verwandte dort, denen ich immer erzähle, wie gern ich sie besuche. Aber im Grunde fahre ich nur wegen des Marzipans nach Lübeck. Direkt vor Ort gekauft schmeckt es einfach besser, als wenn man es hier im Süden beim Feinkosthändler ersteht. Hier, probieren Sie.« Sie schob mir etwas Herzförmiges in rotem Glanzpapier über die Ablage zu und nahm ihr Ringelsockengestricke wieder zur Hand.
»Danke, nein.«
»Wieso nicht? Achten Sie etwa auf Ihre Figur?« Sie schaute über ihre Strickarbeit auf mein dezent hellblaues, bügelfreies, unkaputtbares Reisekleid aus Polyester. Gab es seit Twiggy eine im Westen sozialisierte Frau, die nicht auf ihre Figur achtete? Ich fand mich fett. Jede Frau f ndet sich fett, selbst eine Größe 36, ich aber hatte mir in meiner Beziehungsendetrauerphase eine satte Kleidergröße mehr angefuttert, trug jetzt Größe 42, und das war definitiv am Anschlag. Vielleicht lag es daran, dass man im Alter einen langsameren Stoffwechsel hatte, aber wenn ich das Marzipan nur ansah, spürte ich schon, wie meine Hüfte wieder einen halben Millimeter in die Breite poppte. » Natürlich achte ich auf meine Figur, man sollte sich nicht gehenlassen.« Ich schaute auf Knesebecks Blazer, aber unter dieser bunten, geruchsintensiven Monstrosität war nicht genau auszumachen, wie viel sie wog. Jedenfalls war sie keine Größe 36, und somit war meine Bemerkung tendenziell eine Frechheit. Zumal ich sie mit einem anzüglichen Augenbrauenwackeln krönte.
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© 2012 Droemer Paperback
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, MünchenJeder Mann ein Treffer von Tatjana Kruse
Was würde Uma Thurman tun?
Männer sind wie phantastische Stöckelschuhe in der falschen Größe: Egal, wie sehr man sie liebt, was nicht geht, geht eben nicht und verursacht nur Hühneraugen, Blutblasen und Haltungsschäden. Aber natürlich ist man selbst immer die Letzte, die es merkt, lange nachdem die Fußpflegerin Alarm geschlagen hat. Was man stets für übertriebene Hysterie hielt. Bis es zu spät ist. Und man für den Rest seines irdischen Lebens mit einem Senk-Spreiz-Klumpfuß geschlagen ist. Will heißen, mit einem vernarbten Herzen.
Kurzum, ich war frisch von meinem langjährigen Partner getrennt.
Genauer gesagt, er hat sich von mir getrennt, und ich hab's nicht kommen sehen. Das Übliche, wegen einer anderen. Einer halb so alten. Dass ich voll zum Klischee wurde, ärgerte mich fast noch mehr als das Verlassenwerden an sich. Ich hatte es einfach nicht kommen sehen. Doch am meisten machte mir zu schaffen, dass dieser Mann nicht den Anstand hatte, mich wegen einer doppelt so alten Frau zu verlassen. Das hätte meiner Geschichte wenigstens ein wenig modernes Flair verliehen.
Ich gönnte mir Selbstmitleidsanfälle und Depri-Schübe im Überfluss. Dazu die drei Ks: Kinderlosigkeitspanik, Klimakteriumsblues und Kleinstadtennui. Sogar Kehrwochenverweigerung! Ein gefährlicher Cocktail. Dazu kam noch, dass ich über vierzig war und - Tusch! - auch so aussah. Trotz Anti-Aging-Creme mit Hyper-Ultra-Super-Faltenglättung aus dem Drogeriemarkt.
Wenn man als Kind Trübsal bläst, sagen die Eltern gern: » Denk an die armen kleinen, hungernden Kinder in Afrika und sei dankbar.« In der Midlife-Crisis konnte man natürlich ebenfalls an die Afrikaner denken, die immer noch schlimm hungerten und dazu auch noch Aids hatten. Aber der Gedanke war nicht mehr tröstlich und führte auch nicht zu Dankbarkeit, sondern ließ einen noch viel mehr an der Welt verzweifeln. Weil die Menschheit offenbar nichts dazulernte.
Göttin sei Dank verfügte ich jedoch über starke Überlebensgene: Bevor ich mir den Suizid gab oder, schlimmer noch, mich mit dem Status quo abfand und den Rest meines Lebens in Lethargie und allenfalls im gelegentlichen Engagement für die Blumengruppe des örtlichen Trachtenvereins verbrachte, hatte ich - beim nächtlichen Zappen und Hängenbleiben in der Arm-ab-Blut-spritz-Sequenz von Kill Bill, Volume 2 - eine Epiphanie. So wurde ich gewissermaßen auf einen Schlag von der Saula zur Paula. Und das durch eine simple Frage: Was würde Uma Thurman an meiner Stelle tun?
Sie würde nicht Rotz und Wasser heulen, oh nein, sie würde sich einen Krummsäbel, ein Samuraischwert oder wenigstens einen Gemüseschäler schnappen und tatkräftig Gerechtigkeit einfordern. Jawohl! In mir erwachte die Vision zum Leben, Kill Bill nachzustellen. In der schwäbischen Provinzvariante.
Ich sprang zwar nicht gerade von der Couch und reckte die Hände in die Höhe, aber es war schon so etwas wie ein Erweckungserlebnis. Ich würde es Uma gleichtun!
Nein, nicht bei der Umsetzung wilder Gewaltphantasien. Ich würde Rüdiger und seine Neue nicht mittig halbieren und auch nicht auf dem Wochenmarkt unserer Kleinstadt Amok laufen. Ich wollte vielmehr das Nächstbeste tun: mein altes Leben töten. Jawohl! Es massakrieren! Gesagt, getan. Am nächsten Morgen ließ ich mir beim Friseur meines Vertrauens die Haare schneiden (von der Azubine, dann kostet es nur zwölf Euro), gab einen erklecklichen Teil meiner geringen Ersparnisse für zwei (für mich gewagte) neue Kleider und ein paar hochhackige Schuhe aus, kündigte meinen ohnehin öden Job als stellvertretende Leiterin der » Frauenakademie« in der örtlichen Volkshochschule, packte meinen nigelnagelneuen knallroten Trolley und kaufte mir eine Bahnfahrkarte nach Hamburg. Im Gepäck das Buch Die 48 ultimativen Dinge, die du getan haben solltest, bevor du 48 bist.
Ich wollte noch mal völlig neu anfangen. Wozu hatte ich all die öden Kleinstadtjahre lang ein - Achtung: Neudeutsch - Scrapbook geführt, mit Bildern, die ich aus Hochglanzzeitschriften ausgeschnitten hatte. Fotos von eleganten Lofts, schicken Menschen, die Champagner tranken, Reisen an exotische Orte. Mein Traum von einem soliden Mann, einem Reihenhaus und einem Boot auf dem Bodensee war zwar noch nicht ausgeträumt. Aber er wurde upgedatet. Von nun an wollte ich von einem eleganten Mann, einer Villa und der ultimativen Atlantiküberquerung im Luxusdampfer nach New York träumen. Gewissermaßen die Version 2.0 für Fortgeschrittene. Neuer Anlauf, neues Glück!
* * *
Röchelatmung. Im Wechsel mit Keuchen und Schnaufen. Gepaart mit ziemlich undamenhaftem Schweinsgalopp. So fing mein neues Leben an.
Im Idealfall hat man am Bahnhof Stuttgart bequeme fünf Minuten zum Umsteigen, auch wenn man von Gleis 16 zu Gleis 9 muss, so zumindest die Aussage des Schalterbeamten beim Kauf der Fahrkarte. Aber wann tritt schon einmal der Idealfall ein?
Bei der Deutschen Bahn an diesem Morgen jedenfalls nicht.
Ich hatte mir in den Wochen zwischen Entschluss und Durchführung meines Plans alle Uma-Thurman-Kassenschlager, die unsere Videothek vorrätig hatte, ausgeliehen. Zur inneren Einstimmung. In einem der Batman-Filme hatte Uma Poison Ivy verkörpert, eine Öko-Terroristin, die unglaublich sexy war. Was mir ein Widerspruch in sich zu sein schien. Sexy Ökotante. So wie schwarzer Schimmel. Also, das Pferd, nicht das, was in Badezimmerfugen zu wachsen pflegt. Einen schwarzen Schimmel oder eine sexy Ökotante fand ich physikalisch nicht möglich. Nicht in diesem Universum. Umas Darstellung hatte mich dennoch tief beeindruckt, und natürlich kam für mich daraufhin nur die Bahn in Frage und nicht etwa die Mitfahrzentrale. Der Umwelt zuliebe. Wegen der Nachhaltigkeit.
Der Sprint beim Umsteigen forderte jedoch die ganze Frau.
Vielleicht hätte ich nicht all die Jahre dem Motto Sport ist Mord frönen sollen. Vielleicht wäre ich dann mit nur leicht geröteten Wangen und normaler Atmung in Wagen 5 des ICE nach Hamburg angekommen. So aber war ich binnen Sekunden, also auf Höhe von Gleis 15, nass geschwitzt, bekam keine Luft mehr und wurde nur von dem einen Gedanken getrieben: So wollte ich mein neues Leben nicht beginnen, dass ich den Anschluss verpasste. Eine Frau, ein Ziel!
Dank des Mannes, der den zweirädrigen Rollkoffer mit Teleskopgriff erfunden hat, schafften es mein Trolley und ich gerade noch rechtzeitig. War ja klar, dass so ein ICE die Länge eines Halbmarathons umfasst und dass der erste Wagen der zweiten Klasse mitnichten am Kopfende stand. Stattdessen gehörte am Vorerst-noch-Kopfbahnhof in Stuttgart der erste Wagen zur ersten Klasse, und man musste an drei Wagen plus Bordbistro vorbeitraben. Und dann hatte auch noch halb Süddeutschland beschlossen, an diesem völlig unscheinbaren Mittwoch von Stuttgart nach Hamburg fahren zu wollen. Der Zug war knallevoll. Und natürlich hatte ich keine Platzreservierung. Schwer atmend stieg ich ein, wollte angesichts der Überfüllung schon die Hoffnung auf einen Sitzplatz fahrenlassen und visualisierte, wie ich fünf Stunden lang auf meinem Trolley im Gang kampierte. Gleich im zweiten Abteil nach der Zugtoilette jedoch saß nur eine alte Dame mit Strickzeug. Ganz allein. Wieso ganz allein? Das hätte mir zu denken geben sollen ... Ich öffnete die Tür und röchelatmete hinein. » Ist ... hier ... noch ... frei?« Die Frau sah kurz von ihrem Strickzeug zu mir auf. Ende sechzig, würde ich schätzen. Hamsterbacken, die längst der Schwerkraft folgend nach unten gerutscht waren. Der spärliche Haarbewuchs dauergewellt und in einem künstlichen Sandbraun gefärbt. Ein knallbunter, mehrfarbig gestreifter Blazer zu einem graumelierten Tweedrock und hässlichen braunen Gesundheitsschuhen mit Velcro-Verschluss.
»Nur immer frisch herein, Kindchen.« Ein Lächeln begleitete diese Aufforderung nicht.
Ich schob meinen Koffer ins Abteil, während hinter mir ein hochgewachsener Geschäftsreisender im Maßanzug und mit Handy am Ohr ebenfalls eintreten wollte, kurz stockte und rasch weiterging.
»Um den ist es nicht schade«, erklärte die Endsechzigerin, ohne sich im Strickfluss unterbrechen zu lassen, während ich dem schmalen Rücken des Mannes nachschaute, der mich null wahrgenommen hatte. Also, der Mann, nicht der Rücken.
»Der hätte die ganze Zeit nur telefoniert. Aber nichts, was man gerne hört. Streit mit seiner Frau, Terminabsprachen mit seiner Geliebten oder, noch schlimmer, irgendwelche öden Bürogespräche.« Ich, die ich mir - wie so oft in letzter Zeit - unsichtbar vorkam, nickte nur. Meine Atmung normalisierte sich langsam, und mein Geruchssinn kehrte zurück.
Meine Großmutter hatte immer nach Tosca gerochen. Die Großmutter meiner Freundin nach Lavendelseife. Diese Großmutter hier - aus den winzigen Ringelsöckchen, die sie strickte, schloss ich, dass sie Großmutter war - roch nach ... mein Gott, was war das nur? Jedenfalls stank es infernalisch. Ich überlegte mir, mit welcher Ausrede ich mich aus diesem Abteil verabschieden konnte, als eine junge Mutter mit umgeschnalltem Baby vor dem Bauch und einem süßen Kleinkind an der Linken die Tür öffnete, kurz Luft holte, gekünstelt lächelte und wortlos die Tür wieder schloss.
»Gut so«, befand die Strick-Oma. » Ich hasse es, mit Kindern zu reisen. Die sind laut und quengelig und nerven.« Das war jetzt wiederum nicht so typisch großmütterlich. Irgendwie war ich immer davon ausgegangen, dass mit dem Abschluss des Klimakteriums ein » Ei, dei, dei«-Gen aktiviert wurde, das alte Frauen dazu brachte, sich gurrend über grundsätzlich jeden Kinderwagen zu beugen, ausnahmslos alle Kleinkindfrisuren zu zerzausen und allein bei der Erwähnung des Wortes »Kind« dahinzuschmelzen. Ausnahme von dieser Regel bildeten allenfalls workaholische Karrierefrauen. Ganz sicher aber nicht strickende Greisinnen mit Dauerwelle. Ich spürte erste Risse in meinem festgefügten Weltbild.
Meine Abteilnachbarin nölte aber nicht nur über Mütter und Manager. Als ein Jungmann im selbstgestrickten Norweger die Abteiltür öffnete, rief sie: » Alles besetzt! « Kaum hatte er die Tür wieder geschlossen, erklärte sie: »Den können wir hier nicht gebrauchen. Der sah missionarisch aus. Hätte uns bestimmt Werbe-Flyer für ein veganes Leben in die Hand gedrückt.« Also, diese Strickerin war alles, nur keine liebenswürdige, altersmilde Großmutter.
In diesem Moment überkam mich ein Gedanke:
Ende sechzig. Die Frau vor mir war Ende sechzig. Ja, Großmutteralter. Aber nicht meine Großmutter. Rein rechnerisch unmöglich. Allenfalls, wenn sie - wie früher in unseren Breitengraden und noch heute in abgelegenen Urwalddörfern üblich - mit zwölf zwangsverheiratet worden und gleich schwanger geworden wäre und auch ihre Erstgeborene dieses Schicksal geteilt hätte. Nein, diese Frau könnte höchstens meine Mutter sein. Was im Umkehrschluss bedeutete: Für mich lautete der nächste Halt nicht Mannheim, sondern Altersheim. Mir wurde klar, ich hatte die Hälfte meines Lebens hinter mir. Immer vorausgesetzt, dass ich das deutsche Durchschnittsalter überhaupt erreichte. Das deprimierte mich so schlagartig so sehr, dass ich mich, immer noch im Trench, einfach fallen ließ und mit leerem Blick auf den Abteilboden schaute.
Die folgenden fünf Stunden und acht Minuten Fahrt gedachte ich mich in Selbstmitleid zu suhlen. Ach was, versinken wollte ich darin, wie in Treibsand. Doch weit gefehlt.
»Mein Gott, Kindchen, was ist denn mit Ihnen los? Müssen Sie so eine Schnute ziehen? Da wird ja die Kaffeemilch sauer. Das kann ich nicht gebrauchen. Der Zugkaffee ist teuer genug.«
Hatte sie das jetzt wirklich gesagt? Ich hörte nur das Klappern der Stricknadeln. Allerdings stand tatsächlich ein Kaffeebecher aus dem Bordbistro vor ihr. Flockte die Milch wirklich aus? Ich räusperte mich.
»Mein Lebensgefährte hat mich verlassen. Ich bin alt, und der Lack ist ab. Mein Leben ist vorbei.« Ich hielt es für einen großen Triumph in der Geschichte der selbstbestimmten Frauen, dass ich das sagen konnte, ohne zu heulen, zu schniefen oder auch nur zu stocken. Mein Kinn hob sich um mindestens einen Zentimeter. Das Schicksal hatte mich arg gebeutelt, hatte mich in die Hoffnungslosigkeit katapultiert, aber ich ging hocherhobenen Kopfes unter. Eine tragische Heldin der Neuzeit. Im Film würde jetzt weinerliche Geigenmusik erklingen.
»Ach, du großer Gott, wenn sonst nichts ist ...« Die Alte tat mein Leid mit einem Lächeln ab. Ich wollte protestieren, wollte ihr klarmachen, wie schrecklich es mich getroffen hatte, wie unfair das Leben mit mir umgesprungen war, und dass sie das nicht schulterzuckend abtun dürfe. Nur weil sie im Ersten Weltkrieg Greueltaten im Schützengraben miterlebt hatte oder womit alte Menschen sonst ihre Mein-Leben-ist-aber-noch-viel-tragischer-Vergleiche gewannen. Doch da ging die Abteiltür erneut auf. » Zugestiegene, die Fahrkarten bitte.« Die junge Schaffnerin sprach's, hustete und trat einen Schritt zurück in den Gang. Die alte Frau kicherte.
Ich reichte meine Fahrkarte hinaus. » In Wagen drei sind noch Plätze frei, wenn Sie das Abteil wechseln möchten«, bot die Schaffnerin an. »Nein danke«, sagte die alte Frau. »Ich überlege es mir noch«, erwiderte ich. Die Schaffnerin schloss die Tür. Ich sah, wie sie sich draußen im Gang an einer Scheibe abstützte und mehrmals tief Luft holte.
»Eine geniale Mischung aus Zigarettenrauch und Mottenkugeln.« Die Alte klopfte grinsend auf ihre Gobelin-Handtasche im Retro-Stil und lächelte mich an. » In Verbindung mit einem Stück Münsterkäse.« Sie hob die BILD-Zeitung, die auf dem Platz neben ihr lag und unter der in der Tat ein halbausgepackter Käse zum Vorschein kam. »Diese Methode garantiert mir seit Jahren ein Abteil für mich. Das hält keiner aus.«
»Mit Ausnahme von mir.« Langsam zu Tode gestunken zu werden passte in die Mythisierung meiner Person als tragische Heldin.
»Sie gehen bestimmt auch bald. Man sagt ja immer, irgendwann gewöhne sich die Nase an schlechte Gerüche und nehme sie gar nicht mehr wahr. Aber das dauert weitaus länger, als es die meisten Menschen ertragen können.« Die Alte strickte weiter. Mein Ehrgeiz war geweckt.
Schon als Kind wuchs ich genau dann über mich hinaus, wenn irgendjemand behauptete, ich könne dieses oder jenes nicht. Meistens sollte dieser Jemand mit seiner Einschätzung zwar recht behalten, aber ich gab niemals kampflos auf und ging immerhin wild strampelnd unter. Und obwohl ich gedacht hatte, dass mir dieser Kampfgeist in den letzten Jahren abhandengekommen sei, war er offenbar noch da.
Demonstrativ zog ich meinen Trench aus und legte meinen Rucksack auf die Gepäckablage, setzte mich und verschränkte die Arme.
»Schon besser«, kommentierte die Alte. »Jetzt machen Sie auf Trotzkopf und ziehen keine Ichwill-sterben-Schnute mehr. Das gefällt mir. Frauen müssen stark sein! Knesebeck«, stellte sie sich vor. » Nennen Sie mich Doris.«
»Mara.« Ich entfaltete meine Arme.
»Mara, was soll denn das für ein Name sein?«, fragte die Knesebeck. Sie fragte es streng. Vermutlich würde ich beim nächsten Halt doch so tun, als müsste ich aussteigen. Nur zum Teil wegen des Gestanks, hauptsächlich wegen ihrer einmischenden, neugierigen, übergriffigen Art. Und natürlich hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich war auf den Namen Maria getauft, hatte Maria aber immer für altbacken und bieder gehalten und darum das »i« unter den Tisch fallen lassen. Meine Mutter hatte das albern gefunden, wohl auch als Angriff auf ihre Namenswahl, und bis zu ihrem Tod hatte sie das »i« nun gerade besonders betont. MarIa.
»Bis wohin fahren Sie denn?«, fragte ich statt einer Antwort. Ich fand mich keck. Uma Thurman hätte es genauso gehalten.
»Bis Lübeck. Also, bis Hamburg, wo ich umsteigen muss.«
Na bravo, bis zum Endbahnhof. So schnell würde ich sie also nicht los. Die alte Dame legte ihr Strickzeug zur Seite. »Ich liebe Lübecker Marzipan. Ich habe auch Verwandte dort, denen ich immer erzähle, wie gern ich sie besuche. Aber im Grunde fahre ich nur wegen des Marzipans nach Lübeck. Direkt vor Ort gekauft schmeckt es einfach besser, als wenn man es hier im Süden beim Feinkosthändler ersteht. Hier, probieren Sie.« Sie schob mir etwas Herzförmiges in rotem Glanzpapier über die Ablage zu und nahm ihr Ringelsockengestricke wieder zur Hand.
»Danke, nein.«
»Wieso nicht? Achten Sie etwa auf Ihre Figur?« Sie schaute über ihre Strickarbeit auf mein dezent hellblaues, bügelfreies, unkaputtbares Reisekleid aus Polyester. Gab es seit Twiggy eine im Westen sozialisierte Frau, die nicht auf ihre Figur achtete? Ich fand mich fett. Jede Frau f ndet sich fett, selbst eine Größe 36, ich aber hatte mir in meiner Beziehungsendetrauerphase eine satte Kleidergröße mehr angefuttert, trug jetzt Größe 42, und das war definitiv am Anschlag. Vielleicht lag es daran, dass man im Alter einen langsameren Stoffwechsel hatte, aber wenn ich das Marzipan nur ansah, spürte ich schon, wie meine Hüfte wieder einen halben Millimeter in die Breite poppte. » Natürlich achte ich auf meine Figur, man sollte sich nicht gehenlassen.« Ich schaute auf Knesebecks Blazer, aber unter dieser bunten, geruchsintensiven Monstrosität war nicht genau auszumachen, wie viel sie wog. Jedenfalls war sie keine Größe 36, und somit war meine Bemerkung tendenziell eine Frechheit. Zumal ich sie mit einem anzüglichen Augenbrauenwackeln krönte.
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Autoren-Porträt von Tatjana Kruse
Tatjana Kruse, Jg. 1960, ist in Schwäbisch Hall aufgewachsen, wo sie heute, nach einigen Jahren in Stuttgart, wieder lebt. Seit 1995 veröffentlicht sie Kriminalgeschichten, Romane und Sachbücher und arbeitet außerdem als Literaturübersetzerin. Tatjana Kruse ist Mitglied bei den 'Sisters in Crime' und im 'Syndikat'.
Bibliographische Angaben
- Autor: Tatjana Kruse
- 2012, 281 Seiten, Maße: 12,5 x 20,5 cm, Klappenbroschur, Deutsch
- ISBN-10:
- ISBN-13: 4250968801508
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