Todesmut / Jo Beckett Bd.4
Thriller
Es sollte für die 21-jährige Autumn ein spezielles Geburtstagsgeschenk werden: Ihr Vater hat für sie und ihre Freunde ein Reality-Game arrangiert! Doch ein Mitwirkender hat andere Pläne und bald gibt es einen Toten. Als Forensikerin Jo...
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Produktinformationen zu „Todesmut / Jo Beckett Bd.4 “
Es sollte für die 21-jährige Autumn ein spezielles Geburtstagsgeschenk werden: Ihr Vater hat für sie und ihre Freunde ein Reality-Game arrangiert! Doch ein Mitwirkender hat andere Pläne und bald gibt es einen Toten. Als Forensikerin Jo Beckett im Camp eintrifft, bietet sich ein Bild des Grauens.
Klappentext zu „Todesmut / Jo Beckett Bd.4 “
Lauf um dein Leben!Zu ihrem 21. Geburtstag wünscht sich Autumn etwas ganz Besonderes. Ihr Vater, der keine Kosten scheut, um seine Tochter glücklich zu machen, wird diesem Wunsch gerecht. Sie wird mit ihren Freunden an einem spektakulären Reality-Game teilnehmen. Autumn ist außer sich vor Freude. Was sie nicht weiß: Ihr Vater hat einen Ranger engagiert, der für eine Überraschung sorgen soll. Doch dieser Ranger hat ganz andere Pläne. Als ein Teilnehmer zu Tode kommt, bittet man Jo Beckett um Hilfe. Im Camp angekommen, bietet sich ihr ein Bild des Grauens.
Lese-Probe zu „Todesmut / Jo Beckett Bd.4 “
Todesmut von Meg GardinerAus dem Amerikanischen von Friedrich Mader
1
Wie eine Vogelscheuche auf Strohbeinen stolperte die junge Börsenmaklerin zwischen den Bäumen hervor. Ihr Anzug war schlammverschmiert, ihre Bluse zerrissen, ihr seidiges dunkles Haar mit Kiefernnadeln verfilzt. Direkt vor Autumn Reinigers BMW lief sie auf die Straße.
Autumn stieg auf die Bremse. »O Mann!«
Die Maklerin warf ihr einen raschen Seitenblick zu, ohne jedoch ihr Tempo zu verlangsamen. Mit einem Arm umklammerte sie eine zerschrammte Schließkassette. Den anderen Arm hielt sie an die Brust gedrückt. Für Autumn sah es aus, als hätte sie sich das Handgelenk gebrochen.
Offenbar war sie hier richtig. Fun City.
Die Maklerin lief über die Straße zur Auffahrt von Peter Reinigers palastartigem Domizil. Sie war die Letzte, die aus dem Eukalyptushain am Rand des Residio auftauchte. Die anderen drängten sich bereits in der Auffahrt. Neben ihnen saß Reiniger persönlich auf der Heckklappe eines Mercedes- Geländewagens.
Autumn stieg aus. Sie hatte kaum einen Schritt auf ihn zu gemacht, als Reiniger sie mit einem Wink aufforderte, an Ort und Stelle zu bleiben.
Wankend kam die Maklerin zum Stehen. Nakamura - ja, so hieß sie. Autumn erkannte sie aus einem der Hochglanzprospekte ihres Vaters wieder. Schwer atmend sackte die Frau auf die Knie und stellte die Schließkassette ab. Erst nach mehreren langen Sekunden hob sie den Blick zu Reiniger.
... mehr
Ihr Schweigen ließ Autumn erschauern. Offenbar konnte Nakamura nur mit Mühe ihre Schmerzen und Gefühle im Zaum halten. Doch sie hatte sich nicht unterkriegen lassen - es war ein bewegender Moment. Sie kniete in der Auffahrt, das schwarze Haar fiel ihr ins Gesicht, und sie schaute Peter Reiniger in die Augen. Umständlich fummelte sie mit der unverletzten Hand die Schließkassette auf. Darin glitzerten Hunderte von Edelsteinen wie Tränen.
»Ich hab gewonnen«, sagte sie.
Plötzlich wurde es gespenstisch still. Vogelgesang, das Rascheln des Windes in den Bäumen, der Verkehr bergab Richtung Meer - alles verebbte.
Reiniger erhob sich von der Heckklappe. »Und?«
Sie wühlte in den Steinen und griff sich eine Handvoll. »Ich kaufe mein Team frei.«
Die um den Geländewagen versammelten Leute brachen in lauten Jubel aus. Nakamura ließ die Steine - Spieldiamanten aus geschliffenem Zirkonia - zurück in die Kassette rieseln.
Reiniger zog sie nach oben. »Alles in Ordnung?«
Sie schwankte, aber sie lächelte. »Sie schulden mir eine Gehaltserhöhung.«
Ein Sanitäter trabte heran. »Zeigen Sie mir mal den Arm.«
Ihre Kollegen scharten sich um sie. Grinsend klatschte Autumn Beifall. Die Frau war wirklich zäh. Vom Dach des Mercedes fing ein Kameramann mit weitem Schwenk die ausgelassene Szene ein.
Und ... Schnitt. Dazu die Musik aus Die Stunde des Siegers. Die Hände in den Jeanstaschen vergraben, schlenderte Autumn auf ihren Dad zu.
Aber der Spielleiter war zuerst bei Reiniger. »Wir bearbeiten den Film und brennen für jeden eine Kopie.«
Reiniger nickte. »Das lassen wir auf der Vorstandssitzung laufen.«
Der Spielleiter, ein Schwarzer mit der drahtigen Fitness eines Sportlers, tränkte einen Mulltupfer mit Desinfektionsmittel und reichte ihn Reiniger. »Zum Saubermachen.«
Saubermachen war die Spezialität von Edge Adventures. Zumindest im übertragenen Sinn. Reiniger schob den Ärmel seines Sweatshirts hoch. Am Ellbogen hatte er mehrere tiefe Schrammen. Autumn hatte den Eindruck, dass dieses Kidnapping- Szenario heftiger verlaufen war als gewöhnlich.
Sie nahm ihm den Mulltupfer aus der Hand und drückte ihn sachte auf die Schrammen. »Furchtbar.«
»Realistisch«, erwiderte er. »Schreien gehört zum Spiel.«
Vor allem bei den teamgeistfördernden Wochenenden, die für Reiniger Capital veranstaltet wurden.
»So finde ich raus, was meine Leute draufhaben«, fügte er hinzu.
Autumn kannte das alles schon von ihrem Vater. Das Hantieren mit Hedgefonds konnte stressig sein, und Edge Adventures half den Wertpapierhändlern zu erkennen, was in ihnen steckte. Stehvermögen. Mumm. Inzwischen drängten sich seine Mitarbeiter mit Bierflaschen in der Hand um eine Kühlbox, erschöpft und stolz. Zwei von ihnen hatten die Schließkassette gepackt und schütteten Nakamura die falschen Diamanten über den Kopf, ähnlich wie bei einem siegreichen Footballtrainer, der mit dem Inhalt eines Eiskübels begossen wurde.
Edge Adventures verkaufte nicht nur Nervenkitzel, es zeigte seinen Kunden den Weg zum Licht.
Edge schuf urbane Rollenspiele mit Szenarien, die die Kunden in eine fiktive Halbwelt aus Verbrechen und Befreiung entführt. Das Unternehmen warf die Menschen ins kalte Wasser.
Edge bot Entführungen, Verfolgungen durch Kopfgeldjäger und sogar eine Nacht in einem verschlossenen Leichenschauhaus - in jedem Fall die Chance, den eigenen Dämonen die Stirn zu bieten und Fantasien von Kriminalität und Gefahr auszuleben. Heute hatte Edge Peter Reinigers Team im Zentrum von San Francisco im Rahmen eines Entführungsszenarios überfallen.
Der Spielleiter Coates taxierte Reinigers Ellbogen. »Halb so wild.«
»Keine Angst, ich werde schon keinen Nachlass verlangen.«
Autumn bemerkte, wie ein besorgter Ausdruck über Coates' Gesicht huschte. Und er wird dich auch nicht verklagen.
»Alles in Ordnung«, meinte Reiniger. »Hat Spaß gemacht, auch wenn es ziemlich schräg war, wie meine Tochter sagen würde.«
Autumn verdrehte die Augen.
Coates klopfte Reiniger auf den Rücken. »Wir freuen uns immer über einen Auftrag von Ihnen.«
»Aber ich muss noch mal mit Ihnen reden wegen des Zusammenstoßes mit der Polizei. Wir treffen uns in fünf Minuten drinnen.«
Stirnrunzelnd ging Coates zu den Mitarbeitern von Edge, um ihnen beim Einladen ihrer Gerätschaften in den Geländewagen zu helfen: Seile, Leuchtpistolen und gemein aussehende falsche Schusswaffen.
Reiniger wandte sich seiner Tochter zu. »Du kommst eine halbe Stunde zu spät.«
»Mein Auto funktioniert nicht richtig. Auf dem Armaturenbrett leuchtet ein Licht.«
»Was für ein Licht?«
»Das, wo man sieht, dass es Zeit für einen neuen Wagen ist.«
»Du meinst die Wartungsanzeige?«
Lachend stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. »Nur ein Witz, Dad.«
»Na klar.«
Autumn hatte noch einen Monat bis zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag. Großer Geburtstag. Da dürfen auch die Geschenke entsprechend ausfallen.
Mit dem Kinn wies sie zur Auffahrt. »Warum wolltest du eigentlich, dass ich beim großen Finale dabei bin?«
»Damit du mal siehst, wie das läuft.«
»Wie das läuft? Ihr spielt hier Ocean's Eleven. Und Zeig mir deine Phobien.« Sie zog eine Augenbraue hoch. »Brauchst es gar nicht abstreiten.«
»Ich streite es nicht ab.«
»Aber du wolltest, dass ich am Spielfeldrand stehe. Damit ich Beifall klatsche?« Sie verschränkte die Arme. »Oder damit ich euch Pflaster auf die Wehwehchen klebe?«
Mit gekrümmtem Zeigefinger winkte er sie ins Haus. Drinnen schwebte seidig das Sonnenlicht. Vom Wohnzimmer aus ging der Blick über die Terrasse hinaus auf Monterey- Kiefern und das blaue Wasser der Bucht.
»Streck die Hand aus«, sagte Reiniger.
Kribbelnde Vorfreude stieg in ihr auf. Wurde aber auch Zeit. Sie hielt ihm die Hand hin. Reiniger klatschte ihr einen schweren Umschlag hinein. Unsicher schaute sie ihren Vater an.
»Mach ihn auf.«
Autumn riss das Kuvert auf. Sie fand ein Blatt Papier mit einem roten Stempel darauf: VERTRAULICH.
Von: Edge Adventures
An: Autumn Reiniger
Betreff: Ihre Aufgabe
»Willkommen im Club der Erwachsenen«, erklärte er.
»Du hast ein Spiel für mich gekauft?« Autumn las den Text.
OUTLAW ist ein urbanes Reality-Szenario, das Ihnen und Ihren engsten Freunden eine Vielfalt von Rollen bietet. Boss eines Verbrechersyndikats, Kopfgeldjäger, entflohener Sträfling. Die Mitarbeiter von Edge übernehmen weitere Rollen und koordinieren das Szenario.
»Ein dreitägiges Wochenende für sechs Leute.« Reiniger lächelte. »Eine Gangsterspritztour.«
Ihre Verwirrung löste sich auf. Luxusausgabe. Outlaw. Flucht aus dem Gefängnis. »Wahnsinn. Kriegen wir auch ein Schnellboot?«
»Wenn du eins willst.«
Hubschrauberrettung. »Dad, ist das dein Ernst?«
Den Verbrecherboss zur Strecke bringen. Oder als Verbrecherboss dem langen Arm des Gesetzes entrinnen.
»Und alles total relaxed, okay? Keine Motivation für Teamgeist. Kein Finde den Helden in dir.« Ihre Stimme wurde scharf. »Kein Stell dich deinen Dämonen. Nur Spaß. Und fünf Sterne. Versprochen?«
Er deutete auf das Hauptquartier ihres Verbrechersyndikats: das Mandarin Oriental Hotel. »Alles Gute zum Geburtstag. «
Sie warf ihm die Arme um den Hals und küsste ihn auf die Wange.
Während ihn Autumn noch umschlang, röhrte eine Corvette in die Auffahrt. Reiniger tätschelte ihr den Rücken. »Na los.«
Es war ihr Freund. Lächelnd wie eine Katze, die gerade eine Maus in die Enge getrieben hat, lief sie hinaus.
Stell dich deinen Dämonen.
Mit Phobien kannte sich seine Tochter aus. Schade, dass Shopping nicht dazu gehörte.
Autumn war bezaubernd: wach, klug, einnehmend. Und so hübsch, mit den schweren braunen Locken einer viktorianischen Aristokratin. Er hatte es nie fertiggebracht, ihr einen Wunsch abzuschlagen. Sie wickelte ihn immer wieder ein. Auch diese Unerbittlichkeit war eine Eigenschaft, die er an ihr bewunderte. Warum dann dieses nagende Unbehagen, wenn er ihrem Drängen nachgab?
Weil er sie verwöhnt hatte, um sie nach der Scheidung von ihrer Mutter über den Schmerz hinwegzutrösten. Und erst recht nach dem Tod ihrer Mutter. Er hatte sie mit Geschenken überhäuft. Und was hatte er damit erreicht? Sie wollte nur noch mehr.
Autumn hatte ihren BMW. Sie hatte ein Apartment in der Stadt, das er ihr gekauft hatte. Sie hatte einen Studienplatz an der University of San Francisco, die er großzügig mit Spenden bedachte. Allerdings empfand sie die Kurse dort als störend für ihre Termine im Sonnenstudio.
Keine Motivation für Teamgeist. Kein Finde den Helden in dir.
Doch ihm kam es gerade darauf an, dass sie das Heldenhafte an sich entdeckte.
An die Grenze zu gehen und den stärksten eigenen Ängsten ins Auge zu blicken - das war entscheidend für die innere Entwicklung. Und Edge bot eine echte Klauen-und-Zähne- Erfahrung, wie sie im Amerika des einundzwanzigsten Jahrhunderts nur noch selten zu finden war. Ein Gefühl wahrer, tiefer Lebendigkeit. In der heutigen Ära kam dieses Eintauchen in eine Welt voller Abenteuer den Initiationsriten primitiver Zeitalter am nächsten.
Er musste tief dafür in die Tasche greifen, aber die Sache war es wert.
Schon seit Jahren bettelte Autumn, bei einem Edge-Szenario mitmachen zu dürfen. Aber Reiniger wollte ihr nicht den begehrten Grusel ermöglichen. Er wollte sie wachrütteln. Denn sie hatte seltsame Ängste, die sie als Waffen benutzte, um ihn zu manipulieren, wenn sie sich in ihrem Anspruchs- denken bedroht sah. Es war höchste Zeit, diese Ängste zu vertreiben.
Coates klopfte an die offene Tür. »Sie wollten mich was wegen der Polizei fragen?«
Reiniger winkte ihn herein. »Ja. Warum sind die genau im falschen Moment aufgekreuzt?«
Coates hatte früher bei der Polizei von Oakland gearbeitet. Er war Mr. Law-and-Order und vergaß nie, vor einem geplanten Rollenspiel die Behörden zu verständigen. Wenn ein Kunde auf offener Straße verschleppt werden sollte, mussten die Cops wissen, dass das in Wirklichkeit keine Entführung war, sondern eine Party.
Aber heute gleich zu Beginn hatte die Polizei von San Francisco durch ihr Eingreifen das Szenario fast zum Entgleisen gebracht. Als Nakamura zum Kleinbus gezerrt wurde, war ein Streifenwagen mit blitzendem Blaulicht herangerauscht.
Coates schüttelte den Kopf. »Reiner Zufall. Man kann niemanden von der Straße holen, ohne gesehen zu werden.« Wachsam musterte er Reiniger. »Ich hab die Sache hingebogen. Sie sind abgezogen.«
»Der Streifenwagen ist dreißig Sekunden nach Beginn der Entführung eingetroffen. Fast als wären sie alarmiert worden.«
Coates erstarrte. »Von Edge? Ausgeschlossen. Wir haben keinen Grund, ein Szenario zu kippen.« Sein Blick zuckte nach draußen zu Reinigers Team.
»Von denen war es keiner.« Reiniger schüttelte den Kopf. »Die wussten nicht mal, wann die Entführung steigt.«
»Dann war es eben niemand. Zufall, wie gesagt.«
Reiniger war nicht überzeugt, ließ die Sache aber auf sich beruhen. »Ich wollte Sie noch was anderes fragen.« Vorsichtig vergewisserte er sich, dass seine Tochter außer Hörweite war. »Ich möchte Autumns Geburtstagsszenario noch ein wenig ausbauen. Es muss mehr sein als eine Party.«
»Sollen wir die Intensität des Spiels steigern?«
»Das würde ihr guttun.«
Coates überlegte. »Wir könnten der Sache einen zusätzlichen Dreh geben. Hat sie ein Problem, an dem sie Ihrer Meinung nach arbeiten sollte?«
Reiniger wollte, dass Autumn den Wert von Teamgeist begriff. Aber weil sie so dickköpfig war, musste man ihr Angst machen, damit sie diesen Schritt vollzog. »Ja, da gibt es was.«
Ein großer roter Alarmschalter. Ein Knopfdruck genügte, und man löste einen Kindheitsekel aus, der sich zu einem störrischen Grauen entwickelt hatte.
»Sie kennen doch diese Leute, die Clowns hassen.«
»Eine gar nicht so seltene Kindheitsangst.«
»Autumn hasst Cowboys.«
»Von so was hab ich noch nie gehört«, erwiderte Coates.
»Geht auf ein Erlebnis zurück, als sie klein war. Ein Typ bei einer Party hat ihr einen Schreck eingejagt.«
»Zum Glück ist eine Cowboyphobie im modernen Leben keine ernste Beeinträchtigung.«
»Aber es ist albern, und sie hat einen richtigen Popanz daraus gemacht. Sie nennt ihn den Bösen Cowboy.«
Reiniger hatte den Mann damals nur flüchtig gesehen: ein Mitarbeiter bei einer Party, korpulent und schwitzend in Stiefeln und Stetson. Er hatte dafür gesorgt, dass ungezogene Kinder auf dem Parkplatz nicht vor die Autos liefen.
Und das war offenbar der Ursprung von Autumns Abscheu. Der Mann hatte sie in scharfem Ton ausgeschimpft, das hatte sie beschämt und verschreckt. Und seit zwölf Jahren jammerte sie über diesen Vorfall, zumeist in denkbar heiklen Momenten. Der Böse Cowboy hatte ihr Angst eingejagt. Unartige Kinder wurden bestraft, hatte er gedroht. Leichtsinnige Kinder wurden vom Auto überfahren und getötet. Er war unheimlich. Warum wollte Dad das einfach nicht ernst nehmen?
Natürlich verstand Reiniger die unterschwellige Botschaft: Ich brauche deine Aufmerksamkeit, Daddy. Du musst mir jeden Wunsch von den Augen ablesen.
»Der Typ war ein ehemaliger Rodeoreiter. Massiger Bursche mit einem gesteppten Schriftzug auf dem Hemd: ›Red Rattler‹.«
»Und er war angezogen wie bei einem Rodeo?«
»Es war eine Party zum 4. Juli. Die Bediensteten waren alle amerikanisch maskiert«, antwortete Reiniger. »Worauf ich rauswill, ist: Wenn Autumn an diesem Wochenende dem Bösen Cowboy entgegentreten und ihn besiegen kann, wäre das das Sahnehäubchen für ihren Geburtstag.«
»Red Rattler, war das ein Rodeoprofi? Haben Sie seinen Namen?«
»Spielt keine Rolle, ob Sie ihn auftreiben. Auf den Kerl an sich kommt es nicht an, nur auf den schwarzen Mann, den sie in ihrer Fantasie aus ihm gemacht hat.«
»Also auf das, wofür der Böse Cowboy steht«, fügte Coates hinzu.
»So ist es.«
»Psychodrama.«
Genau damit wollte Reiniger Schluss machen, ein für alle Mal. »Vielleicht kann sich einer von den Spielleitern entsprechend verkleiden.«
In diesem Augenblick trat Autumn angeregt mit ihrem Freund plaudernd ins Wohnzimmer.
Coates nickte Reiniger zu. »Sie können sich auf mich verlassen. « Dann verließ er den Raum.
Dustin Cameron, glattwanging und übereifrig, streckte die Hand aus. »Guten Tag, Sir.«
»Hat Autumn es schon erzählt?«
Sie wirkte zugleich überschäumend und berechnend. »Eine Gangsterspritztour. Ich werde die Königin der Unterwelt spielen. « Sie legte Dustin den Arm um die Taille. »Und du bist der Drogenfahnder, der mir auf den Fersen ist.«
»Ich möchte eine Riesenknarre«, meinte Dustin.
Dustin machte Krafttraining und trug die teure Sonnenbrille im offenen Kragen seines Poloshirts. Seine beruflichen Ambitionen hingegen waren eher unklar. Aber Dustins Vater war Lobbyist in Washington. Der Junge kam aus einer Familie mit Macht und Ansehen. Das reichte.
Und er konnte mit Autumn in der Welt herumreisen. Reiniger hoffte, dass sie nicht schon bald die Nase von ihm voll hatte. Dustin musste als Held aus dem Rollenspielwochenende hervorgehen. Reiniger wollte Coates darum bitten, die Sache entsprechend zu arrangieren.
Autumn drückte den jungen Mann an sich. »Das wird ein knallhartes Spiel. Gottverdammt knallhart.«
»Autumn«, mahnte Reiniger.
Sie lachte. »Ich passe mich doch nur an meine Rolle an. Eine Rolle, die du dir ausgedacht hast.«
Reinigers Telefon klingelte. Er machte einen Schritt zur Seite.
»Dad ...«
Er hob die Hand, um sie abzuwehren. »In Asien öffnen gleich die Börsen.« Er nahm das Gespräch entgegen.
Kurz darauf zog Autumn Dustin durch die französische Tür hinaus auf die Terrasse. Sie schien zu schmollen. Reiniger verließ das Zimmer und schloss hinter sich die Tür.
In einem Wäldchen weiter unten am Hügel stellte Dane Haugen sein Leicafernglas scharf. Der Lasermesser gab die Entfernung zu Reinigers Terrasse mit hundertzweiundzwanzig Metern an. Im dunstigen Sonnenlicht schimmerte Autumn Reiniger hell und ahnungslos wie ein Stück Glas.
»Fotos«, sagte Haugen.
Sabine Jurgens hob ihre Nikon und machte ein Dutzend Schnappschüsse von Autumn und dem jungen Mann, der sie befummelte. »Meine Güte, dieser Mr. Cameron ist ja das fleischgewordene Testosteron.«
»Was reden sie?«
Neben Haugen richtete Von Nordlinger ein Parabolmikrofon auf die Terrasse und justierte seine Ohrhörer. »Sie reden über das Spiel. Sie hat gerade die Einladung bekommen.«
»Nimm das Gespräch auf«, befahl Haugen.
Von drückte auf einen Knopf und lauschte mit konzentrierter Miene. Die Ohrhörer spannten sich über seinem kürbisgroßen Kopf.
Haugen beobachtete Autumn. »Passt ihre Beschreibung des Szenarios zu den Daten, die Sabine vom Edge-Computer geholt hat?«
Von nickte. »Gefängnisausbruch ... Schnellboot ... sechs Teilnehmer. Autumn überlegt gerade, wen sie einladen soll.«
Sabine schoss weitere Fotos. Ihre Miene war streng, das rote Haar kurz geschnitten wie bei einem Jungen. Sie hatte nichts Weiches an sich, ihre Bewegungen waren kalt und flüssig. Haugen fand sie hinreißend wie einen Zitteraal: glatt, verschlagen, zielstrebig.
Beim Eindringen in das Computersystem von Edge war sie auf das für Mitte Oktober gebuchte Szenario OUTLAW - Autumn Reiniger gestoßen. Doch dieser Hack lag schon vierundzwanzig Stunden zurück.
»Du musst heute Nacht noch mal ins Edge-System«, sagte Haugen. »Ich brauche mehr Einzelheiten: der Ausgangspunkt des Rollenspiels, der Zeitplan, die Ausrüstung der Edge-Leute.«
Sie senkte die Nikon. »Coates gibt nicht alle Notizen in den Computer ein.«
»Ich kann das Büro durchsuchen«, warf Von ein.
Haugen nahm die Sonnenbrille ab und funkelte Von an. Von kratzte sich die Nase und wich leicht zurück.
Noch immer starrte Haugen ihn an. »Wir hinterlassen keine Spuren. Wir machen nichts, wodurch Edge auf uns aufmerksam werden könnte.«
Von senkte den Blick zum Boden. »Vergiss, dass ich es vorgeschlagen habe.«
»Bestimmt nicht«, entgegnete Haugen.
Aber Sabine hatte recht. Manchmal änderte Coates ein Szenario spontan ab. Deswegen hatte Haugen das Edge-Team beim heutigen Kidnappingspiel beschattet. Er wollte wissen, ob sie sich ans Drehbuch hielten. Und vor allem, ob sich auch die Polizei daran hielt, wenn sie herausgefordert wurde.
Dank Sabine hatte er gewusst, wo und wann die Edge- Leute Reinigers Firmenteam überfallen würden. Als Terry Coates Punkt zwölf anrollte, beobachtete Haugen das Ganze aus einem Café auf der anderen Straßenseite. Die Polizei hatte er zu diesem Zeitpunkt schon verständigt.
Die Reaktionszeit des San Francisco Police Department auf die Notrufmeldung einer Entführung mit vorgehaltener Waffe: drei Minuten und zweiundvierzig Sekunden.
Benötigte Zeit, um die Beamten davon zu überzeugen, dass es ein Spiel war: vier volle Minuten. Nachdem sich die Uniformierten vergewissert hatten, dass Edge eine Übung zur Förderung des Teamgeists veranstaltete und dass die Polizei vorab informiert worden war, fuhren sie davon.
Ausgezeichnet.
Haugen schwenkte das Fernglas und beobachtete die Mitarbeiter von Reiniger Capital in der Auffahrt, die ihr Abenteuer feierten. Mittendrin Terry Coates, athletisch, routiniert, selbstgefällig. Dann kam Peter Reiniger nach draußen und wurde von seinen Jüngern umringt. Bestimmt machten sie ihm Komplimente.
Haugen senkte das Fernglas. »Ist dir überhaupt klar, wer Peter Reiniger ist?«
»Er ist reicher als Gott«, antwortete Von.
»Er ist der Angelpunkt. Der Punkt, wo wir den Hebel ansetzen können. Und dank seiner Tochter wird er flexibel sein.« Haugen kostete das Wort aus.
»Also schnappen wir uns die Kleine.« Von konnte es anscheinend gar nicht mehr erwarten.
Wie eine Verheißung hing das würzige Salzaroma in der Luft. Haugen setzte das Fernglas wieder an, um einen letzten Blick auf Autumn zu werfen. »Alles Gute zum Geburtstag, Prinzessin. Überraschung, Überraschung.«
2
Mittwoch, 10. Oktober
»Soll das ein Witz sein? Wie viel kostet das?«
Der Typ am Schalter blickte nicht einmal auf. »Vierundzwanzig Dollar für die erste Stunde, zwölf fünfzig für jede Stunde danach.«
Evan Delaney konnte es nicht fassen. Fürs Parken? Vielleicht sollte sie lieber den Schlagbaum rammen und aus der Garage fliehen, statt zu blechen. Danach konnte sie, weil das Parken auf den Straßen von San Francisco ein Kampf auf Leben und Tod war, mit dem Mustang einfach den Berg hinunterfahren, sich in die Bucht stürzen und zu ihrem Termin schwimmen.
Das Auto hinter ihr hupte.
»Na schön.« Resigniert gab sie nach. »Soll ich die Brieftasche öffnen, oder wollen Sie es mir gleich aus den Adern saugen?«
Sie konnte nur hoffen, dass sich das Treffen mit Jo Beckett lohnte.
Die Story, die Evan recherchierte, war groß, seltsam und voller Löcher. Der Versuch, sich einen vollen Überblick zu verschaffen, war frustrierend - aber das war für sie als freie Journalistin nichts Neues. Und nicht der Grund, weshalb sie sich mit einer forensischen Psychiaterin unterhalten wollte. Nein, Jo Beckett hatte sie angerufen. Denn Dr. Beckett untersuchte ebenfalls den Tod des Rechtsanwalts Phelps Wylie.
Phelps Wylie hatte Antiquitäten gesammelt und Anzüge bei Hugo Boss gekauft. Er war klein und kahlköpfig, hatte den Mund einer Kröte und wässrige Augen. Wenn sie sein Foto sah, musste Evan immer an einen Frosch denken.
Er war tot in einer verlassenen Goldmine in den Sierras entdeckt worden.
An einem Samstagmorgen im April war Wylie aus San Francisco verschwunden. Erst Monate später wurden seine Überreste dreihundert Kilometer entfernt begraben unter Schutt in der Mine gefunden. Die Leiche war so stark verwest, dass sich die Todesursache nicht mehr feststellen ließ.
Im örtlichen Sheriff's Office vermutete man, dass er beim Wandern von einer Sturzflut überrascht und in den Tod gerissen worden war. Entweder das, oder er war bei seinem Spaziergang im Hochland alkoholisiert und fiel beim Erkunden der Mine in den Schacht. Möglicherweise hatte er sich auch absichtlich hineingeworfen. Jedenfalls war es ein mitternächtlicher Kopfsprung ins Nirwana, dessen Gründe und Umstände niemand kannte.
Einen derart mysteriösen Todesfall eines Mitglieds der Anwaltskammer hatte es schon seit dem Verschwinden des Strafverteidigers im Mordprozess gegen die Manson Family nicht mehr gegeben. Evan sollte für die Zeitschrift California Lawyer einen großen Beitrag darüber schreiben.
Aber bisher war die Story immer noch Stückwerk. Sie kam sich vor, als würde sie mit einem Stock ein totgefahrenes Tier anstupsen, um es zum Tanzen zu bewegen. Und dann rief aus heiterem Himmel Dr. Jo Beckett an und bat um ein Treffen.
Das war der Grund, warum Evan in der Nähe von Fisherman's Wharf parkte und zu Fuß zu einem Café marschierte.
Das Java Jones dampfte nur so vor Leben. Die junge Bar- frau besaß einen silbernen Nasenring, die nervöse Energie eines Rennpferds und Locken in der Farbe des Kaffees, den sie braute. Auf ihrem Namensschild stand TINA. Auf der Stereoanlage lief Bad Dogs and Bullets.
Evan trat zum Tresen. »Klingt ja wie ein Tingeltangelrequiem. «
»Möchten Sie was Starkes und Großes zu dem Song?«
»Und was Heißes. Muss einem Bär das Fell abziehen und auf einem Pferd eine gute Figur machen können.«
Tina lächelte. »Großer Americano?«
Mit einer Windbö öffnete sich die Tür, und eine Frau rauschte herein: Anfang dreißig, Caffè-Americano-Locken, dezent fit unter leger schicker Kleidung. Sie winkte der Bar- frau zu und ließ den Blick durchs Lokal schweifen.
Man konnte sie nicht als elfenhaft bezeichnen, dafür wirkte sie zu nüchtern. Ihr Gesichtsausdruck war liebenswürdig, aber zurückhaltend. Vielleicht analysierte sie ja einfach nur die Kunden.
Das musste die Psychologin sein.
»Jo?«
»Hallo, Evan.« Die Frau streckte die Hand aus. »Danke fürs Kommen.«
Evan wies mit dem Kinn auf die Barfrau. »Seid ihr Schwestern? «
Ein Lächeln spielte um Jos Lippen. »Ja, aber du musst bloß einen Monat lang diesen Kaffee trinken, dann siehst du genauso aus wie wir.«
Sie bestellte einen mehrfachen Espresso; er ließ förmlich die Tasse vibrieren. Evan musterte sie verstohlen. Das war also die Leichendurchleuchterin.
Jo sah aus wie die typische Kalifornierin: Doc Martens und Mickey-Mouse-Uhr, dazu der Hauch eines mehrere Generationen alten ostasiatischen Erbes. Um den Hals trug sie ein koptisches Kreuz. Das Funkeln in ihren Augen wirkte zugleich einnehmend und scharfsinnig.
Evan hätte geschworen, dass neunzig Prozent der Leute auf den Begriff forensische Psychiaterin verschlossen und scheu reagierten, weil sie sich Sorgen machten, ob Jo sie vielleicht auf Ticks und Zwänge taxierte. Ihr ging es schließlich genauso.
Jo begleitete sie zu einem Fenstertisch. »Ich führe eine psychologische Autopsie zu Phelps Wylie durch. Seine Kanzlei hat mich gebeten, seinen Geisteszustand zu untersuchen und seine Todesursache festzustellen.«
»Und wie läuft es?«
»Es ist einfach frustrierend.« Sie ließ sich nieder. »Wylies Leben widerspricht allen Vermutungen der Sheriffs über seinen Tod. Er ist nicht regelmäßig gewandert. War nicht scharf auf die Berge. Gold mochte er zwar, aber nur in Form von Barren, mit denen seine Mandanten gehandelt haben. Auch auf Alkohol hat er gestanden, allerdings in Sektflöten in der Oper.«
»Ein Bear Grylls war er jedenfalls nicht«, warf Evan ein.
»Garantiert nicht. Weißt du, wie eine psychologische Autopsie funktioniert?«
»Man nimmt sich die Psyche eines Opfers vor, um rauszufinden, wie es gestorben ist.«
»Ja, und zwar bei ungeklärten Sterbefällen. Das heißt, wenn Polizei und Gerichtsmedizin nicht feststellen können, ob es sich um eine natürliche Todesursache, Unfall, Suizid oder Mord handelt. Wenn sie in eine Sackgasse geraten, rufen sie mich an, damit ich den Geisteszustand des Opfers bewerte «, erklärte Jo. »Ich bin sozusagen die letzte Zuflucht.«
»Und ich bin deine.«
Etwas Gequältes trat in Jos Miene. »Ja, das trifft die Sache so ziemlich.«
Evan schwieg. Ihre Scheu legte sich, da sie in Jos Gesicht die gleichen bösen Vorahnungen las, die sie selbst empfand. »Diese Untersuchung geht dir irgendwie unter die Haut, oder?«
»Ja, wie eine Zecke. Erzähl mir was über Wylie. Hintergrund, Erkenntnisse, irgendwelche Hinweise auf Persönlichkeit und Beweggründe, alles, was mir hilft, den Ablauf seiner letzten vierundzwanzig Stunden zu rekonstruieren.«
»Hatte er in der Vergangenheit psychische Probleme?«
»Überhaupt nichts.«
»Glaubst du an eine natürliche Todesursache bei ihm?«
»Du meinst, dass er beim Blumenpflücken tot umgefallen und in eine Flutrinne gestürzt ist und dann zufällig von einem Wolkenbruch in die Mine gespült wurde?« Jos Ton war bissig.
Evan verkniff sich ein Grinsen. »Glaubst du, dass Wylie ermordet wurde?«
»Möglicherweise. Und du?«
»Ich würde fast darauf wetten. Der Mann war sozusagen ein junger Raubfisch auf dem Weg zur Spitze der legalen Nahrungskette. Hat sich Feinde gemacht. Und seine Freunde sagen, dass er vor seinem Verschwinden irgendwie nachdenklich und zerstreut war. Einige Male ist auch das Wort nervös gefallen.«
Jo nickte. »Und dann noch das Auto.«
Kurz nach Wylies Verschwinden war sein Mercedes an der mexikanischen Grenze aufgetaucht - ausgeräumt, verlassen, alle Fingerabdrücke weggewischt.
»Die Goldmine befindet sich in einem abgelegenen Teil des Stanislaus National Forest. Vielleicht hat der Autodieb auf einer verlassenen Forststraße den leeren Mercedes entdeckt und hat beschlossen, eine achthundert Kilometer weite Spazierfahrt zu machen. Aber ich hab da meine Zweifel.«
Evan hakte nach. »Wenn du Wylies Geisteszustand feststellen kannst, beweist das dann, wie er gestorben ist?«
»Nicht unbedingt. Ich hab keine Kristallkugel, die Mord oder Unfall anzeigt. Leute, die meinen, ich hätte eine Art Wünschelrute für den Tod, muss ich leider enttäuschen.«
»Immerhin hast du mit deiner psychologischen Autopsie den Fall Tasia McFarland geklärt.«
Jo warf ihr einen scharfen Blick zu. »Am Ende dieses Falls wurde mein Liebster fast erschossen, und die Medien sind über mich hergefallen wie die Heuschrecken. Ich muss dich also warnen: Im Umgang mit der Presse bin ich auf der Hut.«
Evan riss die Augen auf. »Auf der Hut? Du hast dir mit diesem Monster vom Blondinensender eine richtige Straßenschlacht geliefert. Und du hast sie zur Strecke gebracht, live im Fernsehen. Eigentlich müsste ich jetzt Konfetti streuen.«
Jo lachte.
»Und wenn du so misstrauisch gegen die Presse bist, warum hast du mich dann angerufen?«
»Du warst früher selbst Anwältin. Wahrscheinlich hast du einen ganz anderen Zugang zu dem Fall als ich. Außerdem bist du angeblich eine ehrliche Haut.« Ein Schatten huschte über Jos Augen.
Und ich weiß, warum Sie in Schwierigkeiten geraten sind, Ms. Delaney. Wusste Jo tatsächlich, warum ihr dieser Fall so an die Nieren ging? Auch Evans Vater war verschwunden. Sie hatte ihn zwar gefunden, doch danach waren die Fixpunkte ihres Lebens in einem Kessel der Trauer verdampft. Evans ganzer Körper versteifte sich. »Wer hat dir meinen Namen genannt?«
»Es ist doch kein Geheimnis, dass du an dieser Story arbeitest. «
Sie spürte ein Kribbeln an der Schädelbasis. »Trotzdem, wer hat dich an mich verwiesen?«
»Meine Quellen sind vertraulich. Genauso wie bei dir.«
»Verstehe.«
Jo musterte sie kühl.
Beruhig dich. Evan trommelte mit den Fingernägeln auf den Tisch. »Na schön.«
Nachdem sie sich noch einen Moment gegenseitig taxiert hatten, holten sie beide gleichzeitig Notizblöcke, Stifte und Aufnahmegeräte heraus.
Jo machte den Anfang. »Hast du die Polizeiberichte schon gesehen?«
»Nur den von Tuolumne County. Den aus San Francisco nicht.«
»Okay. Am Freitag vor seinem Verschwinden hat Wylie den ganzen Tag gearbeitet. Nichts Ungewöhnliches bei seinen E-Mails und Anrufen. Sein letzter Anruf um sechs Uhr galt einem Mandanten. Er hat nicht erwähnt, dass er zum Wandern in die Sierra Nevada wollte. Am Samstagmorgen ist er von zu Hause mit seinem Mercedes weggefahren. Vom Auto aus hat er mit seiner Mutter telefoniert und gesagt, dass er auf dem Weg ins Büro ist. Danach hat niemand mehr was von ihm gehört.«
Irgendwas an dem zeitlichen Ablauf nagte an Evan, aber sie bekam es nicht zu fassen. »Hast du mit seinen Mandanten gesprochen?«
Jos Miene wurde bewusst neutral.
»Ist das vertraulich?«, fragte Evan.
»Absolut. Aber das betrifft nicht die Liste von Wylies Mandanten. Nichts hält dich davon ab, sie zu befragen.«
»Hast du eine Kopie?«
Jo reichte ihr eine Mappe.
Evan lächelte. »Okay, ich tausche.« Aus ihrem Rucksack holte sie Landkarten und Fotos des unwegsamen Geländes in der Nähe der verlassenen Goldmine. Sie gab Jo einen Schnappschuss.
Jo schien überrascht. »Satellitenfotos?«
»Sind zwei Tage vor Wylies Verschwinden entstanden.«
»Unglaublich, diese Auflösung.«
Evan reichte ihr noch ein Bild. »Gleiche Stelle vom selben Satelliten aufgenommen, aber in diesem Monat.«
Jo erstarrte. »Woher hast du das?«
»Verwandte mit den richtigen Passwörtern. Siehst du, was ich sehe?«
Jo betrachtete die Bilder. »Die Flutrinne. Auf der neueren Aufnahme ist sie viel tiefer.«
Evan entrollte eine Karte des US Geological Survey. »Warst du schon mal dort oben?«
In Jos Sachlichkeit mischte sich Unruhe. »Ich hab mir nächste Woche Zeit eingeplant, um hinzufahren.« Sie vertiefte sich in die Karte. »Diesen Teil der Sierras kenne ich. Das Gelände ist brutal. Schau dir die Topografie an.« Sie fuhr eine Reihe eng beieinanderliegender Höhenveränderungen nach. »Wald, Granitschluchten, Steilwände. Bei schweren Regenfällen können Sturzfluten zu einem echten Problem werden. Falls Wylie tatsächlich eine Wanderung gemacht hat, kann es durchaus sein, dass er vom Wasser mitgerissen worden ist. Weißt du, ich kenne Kalifornier, die es sogar für sicher halten, nach einem Wolkenbruch am Russian River zu campen.«
»Ich komme aus der Mojave-Wüste. Ich kenne Leute, die gemeint haben, man kann einfach über einen vierzig Zentimeter hoch überschwemmten Highway fahren«, antwortete Evan. »Was denkst du?«
»Die Fotos vom Sheriff's Office zeigen nicht die Schwierigkeit des Geländes. Und ...«
Evan hob die Augenbraue. »Der zeitliche Ablauf?«
Jo setzte sich gerade auf. »Ich muss so schnell wie möglich dorthin. Deine Satellitenfotos deuten nämlich darauf hin, dass die Sturzflut erst nach Wylies Verschwinden eingetreten ist.«
»Genau.«
Um sie herum klirrten Kaffeetassen und Besteck. Jos intensiver Gesichtsausdruck war wie ein Spiegel für Evans Stimmung. Sie spürte ein Gewicht, hörte ein untergründiges Fauchen. Drohendes Unheil lag in der Luft.
Jo sprach weiter. »Die Frage ist, was hat Wylie in diese Mine getrieben? Oder wer?«
Evans nagendes Gefühl, etwas übersehen zu haben, verstärkte sich. »Du sagst, am Tag vor seinem Verschwinden hat Wylie zuletzt von der Kanzlei aus mit jemandem telefoniert.«
»Ja.«
»Und was ist mit dem Mann, der seinen Hund ausgeführt hat?«
Am Abend vor seinem Verschwinden hatte Wylie nach seiner Post gesehen. Dabei war er seinem Nachbarn begegnet und hatte kurz mit ihm geredet.
»Ich hab mit ihm gesprochen. Er hat nichts von einem Telefonat mit Wylie erzählt.«
»Nein. Aber er hat gehört, wie Wylie einen Anruf entgegengenommen hat. Wann hast du mit ihm gesprochen?«
»Vor zwei Wochen.«
Evan erschauerte. »Ich habe gestern mit ihm geredet. Er sagt, dass sie eine Minute geplaudert haben, dann hat Wylies Telefon geklingelt. Wylie hat sich entschuldigt und ist rangegangen. «
Jo wirkte konsterniert. »Um wie viel Uhr war das?«
»Acht.«
»Wylie hat einen Anruf auf seinem Handy erhalten?«
»Ja«, bestätigte Evan.
Jos Augen wurden schmal. »In Wylies Mobiltelefondaten tauchen nach halb sechs keine Anrufe mehr auf.«
Auf einmal waren beide ganz angespannt.
»Also hatte er ein zweites Handy«, konstatierte Jo.
»Kann gar nicht anders sein.«
»Wahnsinn.« Jo schien zugleich gereizt und aufgeregt. »Hat der Nachbar was von dem Telefongespräch mitbekommen? «
»Nur ein paar Worte. Wylie hat was von Laufen erwähnt. Und von Tour oder so.«
In Jos Augen funkelte es. »Das zweite Handy. Hat Wylie es für Sex benutzt oder für krumme Geschäfte?«
»Das prüfe ich nach. Aber wenn dieses geheimnisvolle Telefon nicht in den Aufzeichnungen auftaucht, dann ist es entweder ein Prepaid-Handy oder auf einen anderen Namen eingetragen. Wenn wir nicht die Nummer oder das Telefon selbst auftreiben, finden wir auch nicht raus, wer ihn angerufen hat.«
Jo wandte sich erneut den Fotos zu. »Was hat der Nachbar gehört? Was hat Wylie genau gesagt?«
Evan sah in ihren Notizen nach. »Wylie hat erwähnt, dass sie ›laufen‹. Und ›Tour‹.«
Jo tippte auf die Bilder, die gewaltige Granitkeile zeigten.
»Vielleicht ein Zufall. Aber möglicherweise hat er von den Bergen geredet.« Sie stand auf. »Ich muss meinen Zeitplan ändern. Die Fahrt rauf in die Sierras kann nicht mehr warten.« Sie streckte die Hand aus. »Danke für die Informationen.«
»Wir sollten uns gegenseitig auf dem Laufenden halten. In achtundvierzig Stunden?«
»Verlass dich drauf.« Jos Lächeln war alles andere als neutral. Es war hungrig.
»Ausgezeichnet. Und wer hat dir nun meinen Namen gegeben? «
Das Lächeln wurde geheimnisvoll. »Ich ruf dich in achtundvierzig Stunden an.« Jo steuerte Richtung Ausgang und warf ihrer Schwester eine Kusshand zu.
Evan holte tief Luft. Sie hatte ein mulmiges Gefühl.
Wer hatte Jo den Kontakt zu ihr vermittelt?
Die Tür öffnete sich, und der Wind schien wispernd seinen Namen hereinzutragen.
Aber sie hatte ihm nichts von ihrem großen Artikel erzählt. Ganz einfach deshalb, weil sie überhaupt nicht mit ihm redete - obwohl er der Mann war, der sie besser kannte als jeder andere. Er war der Mann, den sie liebte - und den sie in dem emotionalen Trauma nach dem Tod ihres Vaters verloren hatte. Der Mann, dem sie nicht gegenübertreten konnte, der Mann, dem sie die Ehe versprochen hatte.
Sie schlang sich den Rucksack über den Rücken und verließ das Café.
Fast am Gipfel des Russian Hill sprang Jo aus dem Cablecar. Die Schienen dröhnten vom Getriebe und den unterirdischen Leitungen, ein helles Klirren, in dem das Summen ihrer Nerven widerhallte. Im Park auf der gegenüberliegenden Straßenseite von ihrem Haus prallte ein Basketball gegen das Korbbrett und senkte sich ins Netz. Sophie Quintana fing den Ball auf und bemerkte Jo.
Hüpfend winkte sie ihr zu. »Jo, du spielst in Dads Team.«
Die Hände in die Hüften gestemmt, stand Gabe unter dem Korb und schnaufte durch. »Das war ja ein schnelles Treffen.«
Jo trabte aufs Feld. »Hab mich beeilt, damit ich dir die Bälle zuspielen kann.«
Gut sah er aus im Licht der Oktobersonne. Durchtrainiert, lächelnd, überschäumend vor Energie.
»Wieso blitzen deine Augen so?«, fragte er.
Sophie wandte sich um und griff an, zehn Jahre alt und voller Vertrauen, die Erwachsenen mit ihrer Wendigkeit übertrumpfen zu können. Ihr silbrig blonder Pferdeschwanz wippte in der Brise. Ihre Wangen leuchteten. Ihr Lächeln, so stellte Jo erleichtert fest, war unbeschwert.
Sie umspielte Jo und versuchte einen Korbleger. Der Wurf traf den Rand.
Jo fing den Abpraller auf. »Der Besuch bei deinen Cousins ist doch dieses Wochenende?«
Die Kleine nickte. »Am Freitag.«
»Du brütest wohl einen Plan aus«, meinte Gabe.
Jo warf ihm den Ball zu. »Ich fahre in die Sierras.«
»Und da brauchst du einen Rettungsspringer als Begleiter? «
Plötzlich drang von hinten ein Pfeifen an ihr Ohr.
Auf der anderen Seite des Spielfelds hob ein Mann die Hände und rief Time-out. »Schön, dass du nicht mehr aussiehst, als hätte man dir einen gebrauchten Tag angedreht.« Seine Worte galten Jo. »Das Treffen ist also gut verlaufen?«
Sie entschuldigte sich und ging zu ihm hinüber. »Du hattest recht. Das Gespräch mit Evan hat mir wirklich weitergeholfen. «
Jesse Blackburns Lächeln war kurz und scharf wie ein Schnitt. »Freut mich.«
Seine Jeans hatte ein Loch am Knie. Das T-Shirt, auf dem FIND YOURSELF IN PARADISE stand, hing ihm lose um die Schwimmerschultern. Und in seinen blauen Augen brannten Fragen.
Jo gab ihm die Antworten. »Ja, sie wollte wissen, wer mir ihren Namen genannt hat. Und nein, ich hab ihr nicht verraten, dass du es warst.«
Er drehte den Rollstuhl und sauste auf sie zu. »Danke.«
»Aber, Jesse, sie weiß, dass du schon mal vor Gericht die Klingen mit Phelps Wylie gekreuzt hast. Natürlich hat sie einen Verdacht. Sie kann mühelos rausfinden, dass wir zur selben Zeit an der Universität in Los Angeles studiert haben. Und dass du gerade in San Francisco bist, um vor dem Berufungsgericht aufzutreten.«
Eine Strömung schien an ihm zu zerren. Er und Evan hatten einer gemeinsamen Zukunft entgegengeblickt - und waren dann in einem Strudel schlimmer Ereignisse versunken. Er war überzeugt, dass er ihn verursacht hatte, und sah keine Möglichkeit, sich aus den Tiefen freizuschwimmen. Und jetzt hatte Jo Zeit mit Evan verbracht, im Gegensatz zu ihm. In sein Gesicht trat ein gequälter Ausdruck.
Er musste mit vielen Schmerzen zurechtkommen und hatte viele andere überlebt. Auch diesen würde er überstehen. Doch nur zu überleben war eine Verschwendung. Evan war wie ein Streichholz für ihn, da war sich Jo sicher. Zusammen konnten sie Funken sprühen und Berge versetzen. Dass sie diese Verbindung verloren hatten, zerriss ihnen beiden das Herz.
»Auch wenn mich Evan wieder fragt, werde ich es ihr nicht verraten«, erklärte Jo. »Aber du solltest es ihr sagen.«
Er wandte den Blick zu den Sonnenstrahlen, die über das blaue Wasser in der Bucht tanzten. »Noch nicht.«
»Was willst du denn mit deinem Zögern erreichen?«
Er schob sich zum Zaun, der den Park umgrenzte, hakte sich oben mit den Armen ein und starrte hinüber nach Alcatraz.
Jo lehnte sich neben ihn. Nach einer Weile sagte sie: »Ich hab mich nie bei dir dafür bedankt, dass du zu Daniels Beerdigung gekommen bist.«
Überrascht wandte er sich zu ihr um. »Dafür musst du dich doch nicht bedanken.«
»Du bist an dem Tag fast fünfhundert Kilometer weit gefahren. Das verbindet mich mit dir.«
»Das war wirklich das Wenigste, was ich tun konnte.« Er hielt inne. »Willst du mich mit deiner Bemerkung daran erinnern, dass niemand unbegrenzt Zeit hat?«
»Du kennst die Erfahrung, wenn sich das Leben plötzlich völlig verändert. Auch das verbindet mich mit dir.«
Jo war in jungen Jahren zur Witwe geworden. Es war so schnell gegangen wie das Ausblasen einer Kerze. Sie wusste, wie es war, angestarrt zu werden. Wie es war, die Frau zu sein, die ... Die Frau, die alles verloren hatte. Die Fähigkeit zum Gehen. Ihren Geliebten. Die gemeinsame Zukunft mit ihm. Jesses Freundschaft und die Tatsache, dass er verstand, was sie durchgemacht hatte, bedeuteten ihr sehr viel.
Wieder spähte er hinaus aufs Wasser. »Die Wunde sitzt tief.«
»Wann hast du dich je von Wunden aufhalten lassen? Weißt du nicht mehr, was du mal zu mir gesagt hast?«
Er lächelte schmallippig. »Wenn man eine Situation nicht ändern und sich nicht daraus befreien kann, hilft nur die Flucht nach vorn. Das ist eine Tatsache des Lebens.«
»Diese Aussage hab ich mir praktisch auf den Hintern tätowiert. Danke für die Bestätigung, dass der Wortlaut stimmt.«
Sein Lächeln wurde breiter. »Auf jeden Fall werdet ihr euch gut verstehen, du und Evan.« Glucksend schüttelte er den Kopf.
Von hinten meldete sich Gabe. »Hey, Leute, ich brauche Verstärkung in der Verteidigung. Sophie spielt mich total an die Wand.«
Sie strebten zurück aufs Basketballfeld. Sophie ließ den Ball hüpfen und umtänzelte ihren Vater. Ihr Kichern klang silbrig hell.
»Ich kann mich auch noch an die zweite Hälfte deiner Äußerung erinnern«, sagte Jo.
»Entscheidend ist, dass man keine Angst hat. Auch wenn man weiß, was kommt.«
Sie drückte Jesses Schulter. »Vergiss das nicht.«
3
Freitag, 12. Oktober
Limousine traf die Sache nicht annähernd. Es war eine echte Wahnsinnskiste, mit der sie auf der Interstate 101 nach Süden düsten: ein schwarzer Stretch-Hummer, dessen Seiten ungelogen mit Flammen bemalt waren. Als wäre Autumn tatsächlich die Königin eines billig protzigen Drogensyndikats, unterwegs in ihrem Monsterschlitten. Sie schmiegte sich in die bequeme Polsterbank und schaute zu, wie San Francisco vorüberzog.
Dustin nahm eine Flasche Champagner aus dem Minikühlschrank des Hummer. »Zeit für einen Toast auf das Geburtstagskind. «
Lark Sobieski schüttelte den Kopf. »Keine gute Idee. Wir müssen wach bleiben.«
Larks schwarzes Punkhaar fiel ihr über ein Auge und verdeckte fast die ganze Brille. Auf dem Babyspeck über dem Bund ihrer Jeans prangte ein Uroboros-Tattoo. Rot und prachtvoll hob sich die Schlange, die sich in den eigenen Schwanz biss, von ihrer braunen Haut ab.
Dustin wickelte die Goldfolie vom Korken. »Du musst vielleicht wach bleiben. Aber so machen es eben die Narcotraficantes unten in Juarez.«
Grinsend schüttelte er die Flasche, bis der Korken knallte. Er prallte von der Kopfstütze des Fahrersitzes zurück.
Lark duckte sich. »Pass doch auf.«
Der Fahrer schielte in den Rückspiegel. »Vorsicht, Kumpel.«
Dustin lachte. »Die Kiste gehört mir nicht. Wenn was kaputtgeht, muss Edge Adventures blechen.«
Er setzte die überschäumende Flasche an die Lippen. Champagner strömte ihm übers Kinn. Er wischte ihn weg und beäugte kritisch das Etikett: VEUVE CLICQUOT.
»Nicht halb so gut wie das Zeug, das mein Dad auf seinem Boot serviert. Aber Colt Forty-five-Bier gab's bei Edge nicht.« Er hob die Stimme, damit ihn der Fahrer verstand. »Müssen wir eben mit dem hier klarkommen.« Er streckte die Flasche seinem Mitbewohner hin.
Noah Holloway hob abwehrend die Hände. »Ich arbeite für die Regierung. Kein Alkohol im Dienst.«
Noah hatte ein sonniges Lächeln und eine gelassene Art. Von der anderen Seite der Limousine aus bewunderte Lark sein zerzaustes Haar und seine unkomplizierte Surferruhe. Anscheinend fiel ihr gar nicht auf, dass alle sehen konnten, wie rot ihre Wangen anliefen.
Peyton Mackie schnappte sich die Flasche. »Ich trinke auch im Dienst. Verdeckte Ermittler müssen in Übung bleiben, damit sie bei den saufenden Gangstern nicht aus der Rolle fallen.« Sie kippte den Kopf nach hinten und genehmigte sich einen Riesenschluck.
Lachend wischte sie sich mit dem Handrücken über die Lippen. »Und weil wir gerade von Strafverfolgern reden ...« Sie hob die Hand wie eine Waffe, zwei Finger als Lauf, der Daumen gereckt. »Ich hab dich im Visier, Reiniger.«
»Leck mich, Bulle«, antwortete Autumn.
Peytons blondes Haar glitt über ihre Schulter. Sie trug eine himbeerfarbene Velours-Jogginghose von Juicy Couture und ein pinkfarbenes Camisole. Als FBI-Beamtin machte sie eher eine lächerliche Figur.
Autumn schnippte mit den Fingern. »Sobieski. Agent Pretty Pink erledigen.«
Lark zielte mit dem Arm auf Peyton, als wäre er ein Scharfschützengewehr. »Peng. Dein Kopf ist weg, Bulle.«
Schielend schrumpfte Peyton zusammen und ließ die Zunge heraushängen. Lark blies sich auf die Finger.
Autumn strich mit den Händen über den roten Samt der Polsterbank. Die Limousine war eine echte Überraschung, ein echter Fünf-Sterne-Kracher. Es hatte an der Tür geklingelt, und sie hatte aufgemacht.
Vor ihrer Schwelle stand ein Mann mit Sonnenbrille und einer Baseballmütze von Edge Adventures. »Ich bin der Spielleiter. Das Szenario hat begonnen, die Uhr läuft.«
Verwirrt schaute sie ihn an. »Wir haben doch noch eine Stunde, um zum Treffpunkt zu fahren.«
»Nein. Ihr Vater schickt mich.«
Sie spürte ein Kribbeln im Bauch. Ihr Dad hatte Edge angewiesen, sie abzuholen, weil er nicht sicher war, ob sie pünktlich zum Rollenspiel auftauchte. Jetzt saß der Spielleiter Kyle am Steuer des Wagens und beäugte sie und ihre Freunde durch die Sonnenbrille.
Peyton packte die Champagnerflasche und robbte auf der Bank hinüber zu Cody Grier. Sie kringelte sich um ihn. »Willst du auch?«
Entgeistert riss Grier die Augen auf. »Die Flasche? Willst du mich bestechen, damit ich das Syndikat verrate?«
Um seiner Position als Autumns Consigliere gerecht zu werden, war Grier in Mafiosoverkleidung erschienen. Er rückte den Strohhut zurecht und zog Peyton an sich.
Lark fixierte weiterhin Noah, bis sie plötzlich Autumns Blick spürte. Sie wandte sich zum Fenster und rückte die Brille zurecht. »Man muss den Feind immer im Auge behalten.«
»Gut. Dann sag mir, ob uns jemand verfolgt.« Neben dem Highway bemerkte Autumn wucherndes Unkraut und verwahrloste Holzhäuser, die schief aneinanderlehnten. Ihr Magen zog sich zusammen. »Das meine ich ernst.«
Lark machte ein komisches Gesicht. »Was hast du denn?«
Autumn deutete auf verrostete Mülltonnen und kaputte Autos am Hang. »Von wegen fünf Sterne.«
Ich möchte ins Mandarin Oriental. Edge hatte mehrere Zimmer am Ende eines Korridors reserviert, um das Gipfeltreffen eines Syndikats nachzuempfinden. Auf einmal wollte sie nicht am Ende eines Korridors festsitzen. Ohne Fluchtmöglichkeit.
»Autumn?«, fragte Lark.
»Hast du in den letzten zwei Wochen nicht auch das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden?«
»Von wem denn?«
»Von jemandem, der sich schnell entfernt, wenn ich zum Fenster rausschaue. Oder sich auf dem Campus hinter einen Baum zurückzieht, wenn ich vorbeikomme.« Autumn wartete, ob ihre Freundin Ähnliches zu berichten hatte. Vergeblich. »Ach, nicht so wichtig.«
Lark starrte sie zweifelnd an. »Ist das dein Ernst?«
»Vielleicht sind es die Leute von Edge, die die Lage erkunden. Die machen nämlich Recherchen zu all ihren Kunden.«
»Sie spionieren sie aus?«
»Sie legen Dossiers an.« Sie wies mit dem Kinn auf den Fahrer und senkte die Stimme. »Der weiß wahrscheinlich alles über uns. Hast du nicht auch so ein Gefühl? Dass er ... uns schon mal gesehen hat?«
Lark beobachtete Kyle, der die Spur wechselte. »Für mich wirkt er einfach wie jemand, der uns pünktlich zum Treffpunkt bringen will.«
»Okay.«
Larks Mundwinkel zuckten nach unten. »Autumn, alles in Ordnung?«
»Schon gut, vergiss es.«
Autumn verschränkte die Arme vor der Brust. Dustin und Peyton ließen den Champagner kreisen. Grier tippte eine SMS - hoffentlich nicht an seinen Drogendealer. So eine Komplikation konnten sie an diesem Wochenende wirklich nicht gebrauchen. Noah beobachtete Lark aus dem Augenwinkel.
Ihr Vater war der Meinung, dass sie und ihre Freunde nicht einmal in der Lage waren, nach einer Fahrt durch die Stadt pünktlich zu einem Treffen zu erscheinen. Also hatte er sie zusammentreiben lassen wie Schafe. Der Knoten in ihrem Magen wurde härter.
Sie fragte sich, was Dad den Leuten von Edge Adventures über sie erzählt hatte.
Am Jachthafen Emery Cove ging Terry Coates seine Checkliste durch. Sein Bruder und andere Spielleiter bereiteten das Schnellboot vor. Treibstoff. Schwimmwesten. Verbandskasten. Abgehakt. Anruf beim SFPD, um die Beamten auf den Beginn des Rollenspiels hinzuweisen. Abgehakt.
»Sieht gut aus«, sagte Coates.
Über das sonnenglitzernde Wasser zog eine starke Brise. Hinter der Bucht ergossen sich Häuser über die Hänge, die weiß wie Kreide im Herbstlicht glänzten. Coates genoss die Aussicht.
Copyright © 2012 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München
Ihr Schweigen ließ Autumn erschauern. Offenbar konnte Nakamura nur mit Mühe ihre Schmerzen und Gefühle im Zaum halten. Doch sie hatte sich nicht unterkriegen lassen - es war ein bewegender Moment. Sie kniete in der Auffahrt, das schwarze Haar fiel ihr ins Gesicht, und sie schaute Peter Reiniger in die Augen. Umständlich fummelte sie mit der unverletzten Hand die Schließkassette auf. Darin glitzerten Hunderte von Edelsteinen wie Tränen.
»Ich hab gewonnen«, sagte sie.
Plötzlich wurde es gespenstisch still. Vogelgesang, das Rascheln des Windes in den Bäumen, der Verkehr bergab Richtung Meer - alles verebbte.
Reiniger erhob sich von der Heckklappe. »Und?«
Sie wühlte in den Steinen und griff sich eine Handvoll. »Ich kaufe mein Team frei.«
Die um den Geländewagen versammelten Leute brachen in lauten Jubel aus. Nakamura ließ die Steine - Spieldiamanten aus geschliffenem Zirkonia - zurück in die Kassette rieseln.
Reiniger zog sie nach oben. »Alles in Ordnung?«
Sie schwankte, aber sie lächelte. »Sie schulden mir eine Gehaltserhöhung.«
Ein Sanitäter trabte heran. »Zeigen Sie mir mal den Arm.«
Ihre Kollegen scharten sich um sie. Grinsend klatschte Autumn Beifall. Die Frau war wirklich zäh. Vom Dach des Mercedes fing ein Kameramann mit weitem Schwenk die ausgelassene Szene ein.
Und ... Schnitt. Dazu die Musik aus Die Stunde des Siegers. Die Hände in den Jeanstaschen vergraben, schlenderte Autumn auf ihren Dad zu.
Aber der Spielleiter war zuerst bei Reiniger. »Wir bearbeiten den Film und brennen für jeden eine Kopie.«
Reiniger nickte. »Das lassen wir auf der Vorstandssitzung laufen.«
Der Spielleiter, ein Schwarzer mit der drahtigen Fitness eines Sportlers, tränkte einen Mulltupfer mit Desinfektionsmittel und reichte ihn Reiniger. »Zum Saubermachen.«
Saubermachen war die Spezialität von Edge Adventures. Zumindest im übertragenen Sinn. Reiniger schob den Ärmel seines Sweatshirts hoch. Am Ellbogen hatte er mehrere tiefe Schrammen. Autumn hatte den Eindruck, dass dieses Kidnapping- Szenario heftiger verlaufen war als gewöhnlich.
Sie nahm ihm den Mulltupfer aus der Hand und drückte ihn sachte auf die Schrammen. »Furchtbar.«
»Realistisch«, erwiderte er. »Schreien gehört zum Spiel.«
Vor allem bei den teamgeistfördernden Wochenenden, die für Reiniger Capital veranstaltet wurden.
»So finde ich raus, was meine Leute draufhaben«, fügte er hinzu.
Autumn kannte das alles schon von ihrem Vater. Das Hantieren mit Hedgefonds konnte stressig sein, und Edge Adventures half den Wertpapierhändlern zu erkennen, was in ihnen steckte. Stehvermögen. Mumm. Inzwischen drängten sich seine Mitarbeiter mit Bierflaschen in der Hand um eine Kühlbox, erschöpft und stolz. Zwei von ihnen hatten die Schließkassette gepackt und schütteten Nakamura die falschen Diamanten über den Kopf, ähnlich wie bei einem siegreichen Footballtrainer, der mit dem Inhalt eines Eiskübels begossen wurde.
Edge Adventures verkaufte nicht nur Nervenkitzel, es zeigte seinen Kunden den Weg zum Licht.
Edge schuf urbane Rollenspiele mit Szenarien, die die Kunden in eine fiktive Halbwelt aus Verbrechen und Befreiung entführt. Das Unternehmen warf die Menschen ins kalte Wasser.
Edge bot Entführungen, Verfolgungen durch Kopfgeldjäger und sogar eine Nacht in einem verschlossenen Leichenschauhaus - in jedem Fall die Chance, den eigenen Dämonen die Stirn zu bieten und Fantasien von Kriminalität und Gefahr auszuleben. Heute hatte Edge Peter Reinigers Team im Zentrum von San Francisco im Rahmen eines Entführungsszenarios überfallen.
Der Spielleiter Coates taxierte Reinigers Ellbogen. »Halb so wild.«
»Keine Angst, ich werde schon keinen Nachlass verlangen.«
Autumn bemerkte, wie ein besorgter Ausdruck über Coates' Gesicht huschte. Und er wird dich auch nicht verklagen.
»Alles in Ordnung«, meinte Reiniger. »Hat Spaß gemacht, auch wenn es ziemlich schräg war, wie meine Tochter sagen würde.«
Autumn verdrehte die Augen.
Coates klopfte Reiniger auf den Rücken. »Wir freuen uns immer über einen Auftrag von Ihnen.«
»Aber ich muss noch mal mit Ihnen reden wegen des Zusammenstoßes mit der Polizei. Wir treffen uns in fünf Minuten drinnen.«
Stirnrunzelnd ging Coates zu den Mitarbeitern von Edge, um ihnen beim Einladen ihrer Gerätschaften in den Geländewagen zu helfen: Seile, Leuchtpistolen und gemein aussehende falsche Schusswaffen.
Reiniger wandte sich seiner Tochter zu. »Du kommst eine halbe Stunde zu spät.«
»Mein Auto funktioniert nicht richtig. Auf dem Armaturenbrett leuchtet ein Licht.«
»Was für ein Licht?«
»Das, wo man sieht, dass es Zeit für einen neuen Wagen ist.«
»Du meinst die Wartungsanzeige?«
Lachend stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. »Nur ein Witz, Dad.«
»Na klar.«
Autumn hatte noch einen Monat bis zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag. Großer Geburtstag. Da dürfen auch die Geschenke entsprechend ausfallen.
Mit dem Kinn wies sie zur Auffahrt. »Warum wolltest du eigentlich, dass ich beim großen Finale dabei bin?«
»Damit du mal siehst, wie das läuft.«
»Wie das läuft? Ihr spielt hier Ocean's Eleven. Und Zeig mir deine Phobien.« Sie zog eine Augenbraue hoch. »Brauchst es gar nicht abstreiten.«
»Ich streite es nicht ab.«
»Aber du wolltest, dass ich am Spielfeldrand stehe. Damit ich Beifall klatsche?« Sie verschränkte die Arme. »Oder damit ich euch Pflaster auf die Wehwehchen klebe?«
Mit gekrümmtem Zeigefinger winkte er sie ins Haus. Drinnen schwebte seidig das Sonnenlicht. Vom Wohnzimmer aus ging der Blick über die Terrasse hinaus auf Monterey- Kiefern und das blaue Wasser der Bucht.
»Streck die Hand aus«, sagte Reiniger.
Kribbelnde Vorfreude stieg in ihr auf. Wurde aber auch Zeit. Sie hielt ihm die Hand hin. Reiniger klatschte ihr einen schweren Umschlag hinein. Unsicher schaute sie ihren Vater an.
»Mach ihn auf.«
Autumn riss das Kuvert auf. Sie fand ein Blatt Papier mit einem roten Stempel darauf: VERTRAULICH.
Von: Edge Adventures
An: Autumn Reiniger
Betreff: Ihre Aufgabe
»Willkommen im Club der Erwachsenen«, erklärte er.
»Du hast ein Spiel für mich gekauft?« Autumn las den Text.
OUTLAW ist ein urbanes Reality-Szenario, das Ihnen und Ihren engsten Freunden eine Vielfalt von Rollen bietet. Boss eines Verbrechersyndikats, Kopfgeldjäger, entflohener Sträfling. Die Mitarbeiter von Edge übernehmen weitere Rollen und koordinieren das Szenario.
»Ein dreitägiges Wochenende für sechs Leute.« Reiniger lächelte. »Eine Gangsterspritztour.«
Ihre Verwirrung löste sich auf. Luxusausgabe. Outlaw. Flucht aus dem Gefängnis. »Wahnsinn. Kriegen wir auch ein Schnellboot?«
»Wenn du eins willst.«
Hubschrauberrettung. »Dad, ist das dein Ernst?«
Den Verbrecherboss zur Strecke bringen. Oder als Verbrecherboss dem langen Arm des Gesetzes entrinnen.
»Und alles total relaxed, okay? Keine Motivation für Teamgeist. Kein Finde den Helden in dir.« Ihre Stimme wurde scharf. »Kein Stell dich deinen Dämonen. Nur Spaß. Und fünf Sterne. Versprochen?«
Er deutete auf das Hauptquartier ihres Verbrechersyndikats: das Mandarin Oriental Hotel. »Alles Gute zum Geburtstag. «
Sie warf ihm die Arme um den Hals und küsste ihn auf die Wange.
Während ihn Autumn noch umschlang, röhrte eine Corvette in die Auffahrt. Reiniger tätschelte ihr den Rücken. »Na los.«
Es war ihr Freund. Lächelnd wie eine Katze, die gerade eine Maus in die Enge getrieben hat, lief sie hinaus.
Stell dich deinen Dämonen.
Mit Phobien kannte sich seine Tochter aus. Schade, dass Shopping nicht dazu gehörte.
Autumn war bezaubernd: wach, klug, einnehmend. Und so hübsch, mit den schweren braunen Locken einer viktorianischen Aristokratin. Er hatte es nie fertiggebracht, ihr einen Wunsch abzuschlagen. Sie wickelte ihn immer wieder ein. Auch diese Unerbittlichkeit war eine Eigenschaft, die er an ihr bewunderte. Warum dann dieses nagende Unbehagen, wenn er ihrem Drängen nachgab?
Weil er sie verwöhnt hatte, um sie nach der Scheidung von ihrer Mutter über den Schmerz hinwegzutrösten. Und erst recht nach dem Tod ihrer Mutter. Er hatte sie mit Geschenken überhäuft. Und was hatte er damit erreicht? Sie wollte nur noch mehr.
Autumn hatte ihren BMW. Sie hatte ein Apartment in der Stadt, das er ihr gekauft hatte. Sie hatte einen Studienplatz an der University of San Francisco, die er großzügig mit Spenden bedachte. Allerdings empfand sie die Kurse dort als störend für ihre Termine im Sonnenstudio.
Keine Motivation für Teamgeist. Kein Finde den Helden in dir.
Doch ihm kam es gerade darauf an, dass sie das Heldenhafte an sich entdeckte.
An die Grenze zu gehen und den stärksten eigenen Ängsten ins Auge zu blicken - das war entscheidend für die innere Entwicklung. Und Edge bot eine echte Klauen-und-Zähne- Erfahrung, wie sie im Amerika des einundzwanzigsten Jahrhunderts nur noch selten zu finden war. Ein Gefühl wahrer, tiefer Lebendigkeit. In der heutigen Ära kam dieses Eintauchen in eine Welt voller Abenteuer den Initiationsriten primitiver Zeitalter am nächsten.
Er musste tief dafür in die Tasche greifen, aber die Sache war es wert.
Schon seit Jahren bettelte Autumn, bei einem Edge-Szenario mitmachen zu dürfen. Aber Reiniger wollte ihr nicht den begehrten Grusel ermöglichen. Er wollte sie wachrütteln. Denn sie hatte seltsame Ängste, die sie als Waffen benutzte, um ihn zu manipulieren, wenn sie sich in ihrem Anspruchs- denken bedroht sah. Es war höchste Zeit, diese Ängste zu vertreiben.
Coates klopfte an die offene Tür. »Sie wollten mich was wegen der Polizei fragen?«
Reiniger winkte ihn herein. »Ja. Warum sind die genau im falschen Moment aufgekreuzt?«
Coates hatte früher bei der Polizei von Oakland gearbeitet. Er war Mr. Law-and-Order und vergaß nie, vor einem geplanten Rollenspiel die Behörden zu verständigen. Wenn ein Kunde auf offener Straße verschleppt werden sollte, mussten die Cops wissen, dass das in Wirklichkeit keine Entführung war, sondern eine Party.
Aber heute gleich zu Beginn hatte die Polizei von San Francisco durch ihr Eingreifen das Szenario fast zum Entgleisen gebracht. Als Nakamura zum Kleinbus gezerrt wurde, war ein Streifenwagen mit blitzendem Blaulicht herangerauscht.
Coates schüttelte den Kopf. »Reiner Zufall. Man kann niemanden von der Straße holen, ohne gesehen zu werden.« Wachsam musterte er Reiniger. »Ich hab die Sache hingebogen. Sie sind abgezogen.«
»Der Streifenwagen ist dreißig Sekunden nach Beginn der Entführung eingetroffen. Fast als wären sie alarmiert worden.«
Coates erstarrte. »Von Edge? Ausgeschlossen. Wir haben keinen Grund, ein Szenario zu kippen.« Sein Blick zuckte nach draußen zu Reinigers Team.
»Von denen war es keiner.« Reiniger schüttelte den Kopf. »Die wussten nicht mal, wann die Entführung steigt.«
»Dann war es eben niemand. Zufall, wie gesagt.«
Reiniger war nicht überzeugt, ließ die Sache aber auf sich beruhen. »Ich wollte Sie noch was anderes fragen.« Vorsichtig vergewisserte er sich, dass seine Tochter außer Hörweite war. »Ich möchte Autumns Geburtstagsszenario noch ein wenig ausbauen. Es muss mehr sein als eine Party.«
»Sollen wir die Intensität des Spiels steigern?«
»Das würde ihr guttun.«
Coates überlegte. »Wir könnten der Sache einen zusätzlichen Dreh geben. Hat sie ein Problem, an dem sie Ihrer Meinung nach arbeiten sollte?«
Reiniger wollte, dass Autumn den Wert von Teamgeist begriff. Aber weil sie so dickköpfig war, musste man ihr Angst machen, damit sie diesen Schritt vollzog. »Ja, da gibt es was.«
Ein großer roter Alarmschalter. Ein Knopfdruck genügte, und man löste einen Kindheitsekel aus, der sich zu einem störrischen Grauen entwickelt hatte.
»Sie kennen doch diese Leute, die Clowns hassen.«
»Eine gar nicht so seltene Kindheitsangst.«
»Autumn hasst Cowboys.«
»Von so was hab ich noch nie gehört«, erwiderte Coates.
»Geht auf ein Erlebnis zurück, als sie klein war. Ein Typ bei einer Party hat ihr einen Schreck eingejagt.«
»Zum Glück ist eine Cowboyphobie im modernen Leben keine ernste Beeinträchtigung.«
»Aber es ist albern, und sie hat einen richtigen Popanz daraus gemacht. Sie nennt ihn den Bösen Cowboy.«
Reiniger hatte den Mann damals nur flüchtig gesehen: ein Mitarbeiter bei einer Party, korpulent und schwitzend in Stiefeln und Stetson. Er hatte dafür gesorgt, dass ungezogene Kinder auf dem Parkplatz nicht vor die Autos liefen.
Und das war offenbar der Ursprung von Autumns Abscheu. Der Mann hatte sie in scharfem Ton ausgeschimpft, das hatte sie beschämt und verschreckt. Und seit zwölf Jahren jammerte sie über diesen Vorfall, zumeist in denkbar heiklen Momenten. Der Böse Cowboy hatte ihr Angst eingejagt. Unartige Kinder wurden bestraft, hatte er gedroht. Leichtsinnige Kinder wurden vom Auto überfahren und getötet. Er war unheimlich. Warum wollte Dad das einfach nicht ernst nehmen?
Natürlich verstand Reiniger die unterschwellige Botschaft: Ich brauche deine Aufmerksamkeit, Daddy. Du musst mir jeden Wunsch von den Augen ablesen.
»Der Typ war ein ehemaliger Rodeoreiter. Massiger Bursche mit einem gesteppten Schriftzug auf dem Hemd: ›Red Rattler‹.«
»Und er war angezogen wie bei einem Rodeo?«
»Es war eine Party zum 4. Juli. Die Bediensteten waren alle amerikanisch maskiert«, antwortete Reiniger. »Worauf ich rauswill, ist: Wenn Autumn an diesem Wochenende dem Bösen Cowboy entgegentreten und ihn besiegen kann, wäre das das Sahnehäubchen für ihren Geburtstag.«
»Red Rattler, war das ein Rodeoprofi? Haben Sie seinen Namen?«
»Spielt keine Rolle, ob Sie ihn auftreiben. Auf den Kerl an sich kommt es nicht an, nur auf den schwarzen Mann, den sie in ihrer Fantasie aus ihm gemacht hat.«
»Also auf das, wofür der Böse Cowboy steht«, fügte Coates hinzu.
»So ist es.«
»Psychodrama.«
Genau damit wollte Reiniger Schluss machen, ein für alle Mal. »Vielleicht kann sich einer von den Spielleitern entsprechend verkleiden.«
In diesem Augenblick trat Autumn angeregt mit ihrem Freund plaudernd ins Wohnzimmer.
Coates nickte Reiniger zu. »Sie können sich auf mich verlassen. « Dann verließ er den Raum.
Dustin Cameron, glattwanging und übereifrig, streckte die Hand aus. »Guten Tag, Sir.«
»Hat Autumn es schon erzählt?«
Sie wirkte zugleich überschäumend und berechnend. »Eine Gangsterspritztour. Ich werde die Königin der Unterwelt spielen. « Sie legte Dustin den Arm um die Taille. »Und du bist der Drogenfahnder, der mir auf den Fersen ist.«
»Ich möchte eine Riesenknarre«, meinte Dustin.
Dustin machte Krafttraining und trug die teure Sonnenbrille im offenen Kragen seines Poloshirts. Seine beruflichen Ambitionen hingegen waren eher unklar. Aber Dustins Vater war Lobbyist in Washington. Der Junge kam aus einer Familie mit Macht und Ansehen. Das reichte.
Und er konnte mit Autumn in der Welt herumreisen. Reiniger hoffte, dass sie nicht schon bald die Nase von ihm voll hatte. Dustin musste als Held aus dem Rollenspielwochenende hervorgehen. Reiniger wollte Coates darum bitten, die Sache entsprechend zu arrangieren.
Autumn drückte den jungen Mann an sich. »Das wird ein knallhartes Spiel. Gottverdammt knallhart.«
»Autumn«, mahnte Reiniger.
Sie lachte. »Ich passe mich doch nur an meine Rolle an. Eine Rolle, die du dir ausgedacht hast.«
Reinigers Telefon klingelte. Er machte einen Schritt zur Seite.
»Dad ...«
Er hob die Hand, um sie abzuwehren. »In Asien öffnen gleich die Börsen.« Er nahm das Gespräch entgegen.
Kurz darauf zog Autumn Dustin durch die französische Tür hinaus auf die Terrasse. Sie schien zu schmollen. Reiniger verließ das Zimmer und schloss hinter sich die Tür.
In einem Wäldchen weiter unten am Hügel stellte Dane Haugen sein Leicafernglas scharf. Der Lasermesser gab die Entfernung zu Reinigers Terrasse mit hundertzweiundzwanzig Metern an. Im dunstigen Sonnenlicht schimmerte Autumn Reiniger hell und ahnungslos wie ein Stück Glas.
»Fotos«, sagte Haugen.
Sabine Jurgens hob ihre Nikon und machte ein Dutzend Schnappschüsse von Autumn und dem jungen Mann, der sie befummelte. »Meine Güte, dieser Mr. Cameron ist ja das fleischgewordene Testosteron.«
»Was reden sie?«
Neben Haugen richtete Von Nordlinger ein Parabolmikrofon auf die Terrasse und justierte seine Ohrhörer. »Sie reden über das Spiel. Sie hat gerade die Einladung bekommen.«
»Nimm das Gespräch auf«, befahl Haugen.
Von drückte auf einen Knopf und lauschte mit konzentrierter Miene. Die Ohrhörer spannten sich über seinem kürbisgroßen Kopf.
Haugen beobachtete Autumn. »Passt ihre Beschreibung des Szenarios zu den Daten, die Sabine vom Edge-Computer geholt hat?«
Von nickte. »Gefängnisausbruch ... Schnellboot ... sechs Teilnehmer. Autumn überlegt gerade, wen sie einladen soll.«
Sabine schoss weitere Fotos. Ihre Miene war streng, das rote Haar kurz geschnitten wie bei einem Jungen. Sie hatte nichts Weiches an sich, ihre Bewegungen waren kalt und flüssig. Haugen fand sie hinreißend wie einen Zitteraal: glatt, verschlagen, zielstrebig.
Beim Eindringen in das Computersystem von Edge war sie auf das für Mitte Oktober gebuchte Szenario OUTLAW - Autumn Reiniger gestoßen. Doch dieser Hack lag schon vierundzwanzig Stunden zurück.
»Du musst heute Nacht noch mal ins Edge-System«, sagte Haugen. »Ich brauche mehr Einzelheiten: der Ausgangspunkt des Rollenspiels, der Zeitplan, die Ausrüstung der Edge-Leute.«
Sie senkte die Nikon. »Coates gibt nicht alle Notizen in den Computer ein.«
»Ich kann das Büro durchsuchen«, warf Von ein.
Haugen nahm die Sonnenbrille ab und funkelte Von an. Von kratzte sich die Nase und wich leicht zurück.
Noch immer starrte Haugen ihn an. »Wir hinterlassen keine Spuren. Wir machen nichts, wodurch Edge auf uns aufmerksam werden könnte.«
Von senkte den Blick zum Boden. »Vergiss, dass ich es vorgeschlagen habe.«
»Bestimmt nicht«, entgegnete Haugen.
Aber Sabine hatte recht. Manchmal änderte Coates ein Szenario spontan ab. Deswegen hatte Haugen das Edge-Team beim heutigen Kidnappingspiel beschattet. Er wollte wissen, ob sie sich ans Drehbuch hielten. Und vor allem, ob sich auch die Polizei daran hielt, wenn sie herausgefordert wurde.
Dank Sabine hatte er gewusst, wo und wann die Edge- Leute Reinigers Firmenteam überfallen würden. Als Terry Coates Punkt zwölf anrollte, beobachtete Haugen das Ganze aus einem Café auf der anderen Straßenseite. Die Polizei hatte er zu diesem Zeitpunkt schon verständigt.
Die Reaktionszeit des San Francisco Police Department auf die Notrufmeldung einer Entführung mit vorgehaltener Waffe: drei Minuten und zweiundvierzig Sekunden.
Benötigte Zeit, um die Beamten davon zu überzeugen, dass es ein Spiel war: vier volle Minuten. Nachdem sich die Uniformierten vergewissert hatten, dass Edge eine Übung zur Förderung des Teamgeists veranstaltete und dass die Polizei vorab informiert worden war, fuhren sie davon.
Ausgezeichnet.
Haugen schwenkte das Fernglas und beobachtete die Mitarbeiter von Reiniger Capital in der Auffahrt, die ihr Abenteuer feierten. Mittendrin Terry Coates, athletisch, routiniert, selbstgefällig. Dann kam Peter Reiniger nach draußen und wurde von seinen Jüngern umringt. Bestimmt machten sie ihm Komplimente.
Haugen senkte das Fernglas. »Ist dir überhaupt klar, wer Peter Reiniger ist?«
»Er ist reicher als Gott«, antwortete Von.
»Er ist der Angelpunkt. Der Punkt, wo wir den Hebel ansetzen können. Und dank seiner Tochter wird er flexibel sein.« Haugen kostete das Wort aus.
»Also schnappen wir uns die Kleine.« Von konnte es anscheinend gar nicht mehr erwarten.
Wie eine Verheißung hing das würzige Salzaroma in der Luft. Haugen setzte das Fernglas wieder an, um einen letzten Blick auf Autumn zu werfen. »Alles Gute zum Geburtstag, Prinzessin. Überraschung, Überraschung.«
2
Mittwoch, 10. Oktober
»Soll das ein Witz sein? Wie viel kostet das?«
Der Typ am Schalter blickte nicht einmal auf. »Vierundzwanzig Dollar für die erste Stunde, zwölf fünfzig für jede Stunde danach.«
Evan Delaney konnte es nicht fassen. Fürs Parken? Vielleicht sollte sie lieber den Schlagbaum rammen und aus der Garage fliehen, statt zu blechen. Danach konnte sie, weil das Parken auf den Straßen von San Francisco ein Kampf auf Leben und Tod war, mit dem Mustang einfach den Berg hinunterfahren, sich in die Bucht stürzen und zu ihrem Termin schwimmen.
Das Auto hinter ihr hupte.
»Na schön.« Resigniert gab sie nach. »Soll ich die Brieftasche öffnen, oder wollen Sie es mir gleich aus den Adern saugen?«
Sie konnte nur hoffen, dass sich das Treffen mit Jo Beckett lohnte.
Die Story, die Evan recherchierte, war groß, seltsam und voller Löcher. Der Versuch, sich einen vollen Überblick zu verschaffen, war frustrierend - aber das war für sie als freie Journalistin nichts Neues. Und nicht der Grund, weshalb sie sich mit einer forensischen Psychiaterin unterhalten wollte. Nein, Jo Beckett hatte sie angerufen. Denn Dr. Beckett untersuchte ebenfalls den Tod des Rechtsanwalts Phelps Wylie.
Phelps Wylie hatte Antiquitäten gesammelt und Anzüge bei Hugo Boss gekauft. Er war klein und kahlköpfig, hatte den Mund einer Kröte und wässrige Augen. Wenn sie sein Foto sah, musste Evan immer an einen Frosch denken.
Er war tot in einer verlassenen Goldmine in den Sierras entdeckt worden.
An einem Samstagmorgen im April war Wylie aus San Francisco verschwunden. Erst Monate später wurden seine Überreste dreihundert Kilometer entfernt begraben unter Schutt in der Mine gefunden. Die Leiche war so stark verwest, dass sich die Todesursache nicht mehr feststellen ließ.
Im örtlichen Sheriff's Office vermutete man, dass er beim Wandern von einer Sturzflut überrascht und in den Tod gerissen worden war. Entweder das, oder er war bei seinem Spaziergang im Hochland alkoholisiert und fiel beim Erkunden der Mine in den Schacht. Möglicherweise hatte er sich auch absichtlich hineingeworfen. Jedenfalls war es ein mitternächtlicher Kopfsprung ins Nirwana, dessen Gründe und Umstände niemand kannte.
Einen derart mysteriösen Todesfall eines Mitglieds der Anwaltskammer hatte es schon seit dem Verschwinden des Strafverteidigers im Mordprozess gegen die Manson Family nicht mehr gegeben. Evan sollte für die Zeitschrift California Lawyer einen großen Beitrag darüber schreiben.
Aber bisher war die Story immer noch Stückwerk. Sie kam sich vor, als würde sie mit einem Stock ein totgefahrenes Tier anstupsen, um es zum Tanzen zu bewegen. Und dann rief aus heiterem Himmel Dr. Jo Beckett an und bat um ein Treffen.
Das war der Grund, warum Evan in der Nähe von Fisherman's Wharf parkte und zu Fuß zu einem Café marschierte.
Das Java Jones dampfte nur so vor Leben. Die junge Bar- frau besaß einen silbernen Nasenring, die nervöse Energie eines Rennpferds und Locken in der Farbe des Kaffees, den sie braute. Auf ihrem Namensschild stand TINA. Auf der Stereoanlage lief Bad Dogs and Bullets.
Evan trat zum Tresen. »Klingt ja wie ein Tingeltangelrequiem. «
»Möchten Sie was Starkes und Großes zu dem Song?«
»Und was Heißes. Muss einem Bär das Fell abziehen und auf einem Pferd eine gute Figur machen können.«
Tina lächelte. »Großer Americano?«
Mit einer Windbö öffnete sich die Tür, und eine Frau rauschte herein: Anfang dreißig, Caffè-Americano-Locken, dezent fit unter leger schicker Kleidung. Sie winkte der Bar- frau zu und ließ den Blick durchs Lokal schweifen.
Man konnte sie nicht als elfenhaft bezeichnen, dafür wirkte sie zu nüchtern. Ihr Gesichtsausdruck war liebenswürdig, aber zurückhaltend. Vielleicht analysierte sie ja einfach nur die Kunden.
Das musste die Psychologin sein.
»Jo?«
»Hallo, Evan.« Die Frau streckte die Hand aus. »Danke fürs Kommen.«
Evan wies mit dem Kinn auf die Barfrau. »Seid ihr Schwestern? «
Ein Lächeln spielte um Jos Lippen. »Ja, aber du musst bloß einen Monat lang diesen Kaffee trinken, dann siehst du genauso aus wie wir.«
Sie bestellte einen mehrfachen Espresso; er ließ förmlich die Tasse vibrieren. Evan musterte sie verstohlen. Das war also die Leichendurchleuchterin.
Jo sah aus wie die typische Kalifornierin: Doc Martens und Mickey-Mouse-Uhr, dazu der Hauch eines mehrere Generationen alten ostasiatischen Erbes. Um den Hals trug sie ein koptisches Kreuz. Das Funkeln in ihren Augen wirkte zugleich einnehmend und scharfsinnig.
Evan hätte geschworen, dass neunzig Prozent der Leute auf den Begriff forensische Psychiaterin verschlossen und scheu reagierten, weil sie sich Sorgen machten, ob Jo sie vielleicht auf Ticks und Zwänge taxierte. Ihr ging es schließlich genauso.
Jo begleitete sie zu einem Fenstertisch. »Ich führe eine psychologische Autopsie zu Phelps Wylie durch. Seine Kanzlei hat mich gebeten, seinen Geisteszustand zu untersuchen und seine Todesursache festzustellen.«
»Und wie läuft es?«
»Es ist einfach frustrierend.« Sie ließ sich nieder. »Wylies Leben widerspricht allen Vermutungen der Sheriffs über seinen Tod. Er ist nicht regelmäßig gewandert. War nicht scharf auf die Berge. Gold mochte er zwar, aber nur in Form von Barren, mit denen seine Mandanten gehandelt haben. Auch auf Alkohol hat er gestanden, allerdings in Sektflöten in der Oper.«
»Ein Bear Grylls war er jedenfalls nicht«, warf Evan ein.
»Garantiert nicht. Weißt du, wie eine psychologische Autopsie funktioniert?«
»Man nimmt sich die Psyche eines Opfers vor, um rauszufinden, wie es gestorben ist.«
»Ja, und zwar bei ungeklärten Sterbefällen. Das heißt, wenn Polizei und Gerichtsmedizin nicht feststellen können, ob es sich um eine natürliche Todesursache, Unfall, Suizid oder Mord handelt. Wenn sie in eine Sackgasse geraten, rufen sie mich an, damit ich den Geisteszustand des Opfers bewerte «, erklärte Jo. »Ich bin sozusagen die letzte Zuflucht.«
»Und ich bin deine.«
Etwas Gequältes trat in Jos Miene. »Ja, das trifft die Sache so ziemlich.«
Evan schwieg. Ihre Scheu legte sich, da sie in Jos Gesicht die gleichen bösen Vorahnungen las, die sie selbst empfand. »Diese Untersuchung geht dir irgendwie unter die Haut, oder?«
»Ja, wie eine Zecke. Erzähl mir was über Wylie. Hintergrund, Erkenntnisse, irgendwelche Hinweise auf Persönlichkeit und Beweggründe, alles, was mir hilft, den Ablauf seiner letzten vierundzwanzig Stunden zu rekonstruieren.«
»Hatte er in der Vergangenheit psychische Probleme?«
»Überhaupt nichts.«
»Glaubst du an eine natürliche Todesursache bei ihm?«
»Du meinst, dass er beim Blumenpflücken tot umgefallen und in eine Flutrinne gestürzt ist und dann zufällig von einem Wolkenbruch in die Mine gespült wurde?« Jos Ton war bissig.
Evan verkniff sich ein Grinsen. »Glaubst du, dass Wylie ermordet wurde?«
»Möglicherweise. Und du?«
»Ich würde fast darauf wetten. Der Mann war sozusagen ein junger Raubfisch auf dem Weg zur Spitze der legalen Nahrungskette. Hat sich Feinde gemacht. Und seine Freunde sagen, dass er vor seinem Verschwinden irgendwie nachdenklich und zerstreut war. Einige Male ist auch das Wort nervös gefallen.«
Jo nickte. »Und dann noch das Auto.«
Kurz nach Wylies Verschwinden war sein Mercedes an der mexikanischen Grenze aufgetaucht - ausgeräumt, verlassen, alle Fingerabdrücke weggewischt.
»Die Goldmine befindet sich in einem abgelegenen Teil des Stanislaus National Forest. Vielleicht hat der Autodieb auf einer verlassenen Forststraße den leeren Mercedes entdeckt und hat beschlossen, eine achthundert Kilometer weite Spazierfahrt zu machen. Aber ich hab da meine Zweifel.«
Evan hakte nach. »Wenn du Wylies Geisteszustand feststellen kannst, beweist das dann, wie er gestorben ist?«
»Nicht unbedingt. Ich hab keine Kristallkugel, die Mord oder Unfall anzeigt. Leute, die meinen, ich hätte eine Art Wünschelrute für den Tod, muss ich leider enttäuschen.«
»Immerhin hast du mit deiner psychologischen Autopsie den Fall Tasia McFarland geklärt.«
Jo warf ihr einen scharfen Blick zu. »Am Ende dieses Falls wurde mein Liebster fast erschossen, und die Medien sind über mich hergefallen wie die Heuschrecken. Ich muss dich also warnen: Im Umgang mit der Presse bin ich auf der Hut.«
Evan riss die Augen auf. »Auf der Hut? Du hast dir mit diesem Monster vom Blondinensender eine richtige Straßenschlacht geliefert. Und du hast sie zur Strecke gebracht, live im Fernsehen. Eigentlich müsste ich jetzt Konfetti streuen.«
Jo lachte.
»Und wenn du so misstrauisch gegen die Presse bist, warum hast du mich dann angerufen?«
»Du warst früher selbst Anwältin. Wahrscheinlich hast du einen ganz anderen Zugang zu dem Fall als ich. Außerdem bist du angeblich eine ehrliche Haut.« Ein Schatten huschte über Jos Augen.
Und ich weiß, warum Sie in Schwierigkeiten geraten sind, Ms. Delaney. Wusste Jo tatsächlich, warum ihr dieser Fall so an die Nieren ging? Auch Evans Vater war verschwunden. Sie hatte ihn zwar gefunden, doch danach waren die Fixpunkte ihres Lebens in einem Kessel der Trauer verdampft. Evans ganzer Körper versteifte sich. »Wer hat dir meinen Namen genannt?«
»Es ist doch kein Geheimnis, dass du an dieser Story arbeitest. «
Sie spürte ein Kribbeln an der Schädelbasis. »Trotzdem, wer hat dich an mich verwiesen?«
»Meine Quellen sind vertraulich. Genauso wie bei dir.«
»Verstehe.«
Jo musterte sie kühl.
Beruhig dich. Evan trommelte mit den Fingernägeln auf den Tisch. »Na schön.«
Nachdem sie sich noch einen Moment gegenseitig taxiert hatten, holten sie beide gleichzeitig Notizblöcke, Stifte und Aufnahmegeräte heraus.
Jo machte den Anfang. »Hast du die Polizeiberichte schon gesehen?«
»Nur den von Tuolumne County. Den aus San Francisco nicht.«
»Okay. Am Freitag vor seinem Verschwinden hat Wylie den ganzen Tag gearbeitet. Nichts Ungewöhnliches bei seinen E-Mails und Anrufen. Sein letzter Anruf um sechs Uhr galt einem Mandanten. Er hat nicht erwähnt, dass er zum Wandern in die Sierra Nevada wollte. Am Samstagmorgen ist er von zu Hause mit seinem Mercedes weggefahren. Vom Auto aus hat er mit seiner Mutter telefoniert und gesagt, dass er auf dem Weg ins Büro ist. Danach hat niemand mehr was von ihm gehört.«
Irgendwas an dem zeitlichen Ablauf nagte an Evan, aber sie bekam es nicht zu fassen. »Hast du mit seinen Mandanten gesprochen?«
Jos Miene wurde bewusst neutral.
»Ist das vertraulich?«, fragte Evan.
»Absolut. Aber das betrifft nicht die Liste von Wylies Mandanten. Nichts hält dich davon ab, sie zu befragen.«
»Hast du eine Kopie?«
Jo reichte ihr eine Mappe.
Evan lächelte. »Okay, ich tausche.« Aus ihrem Rucksack holte sie Landkarten und Fotos des unwegsamen Geländes in der Nähe der verlassenen Goldmine. Sie gab Jo einen Schnappschuss.
Jo schien überrascht. »Satellitenfotos?«
»Sind zwei Tage vor Wylies Verschwinden entstanden.«
»Unglaublich, diese Auflösung.«
Evan reichte ihr noch ein Bild. »Gleiche Stelle vom selben Satelliten aufgenommen, aber in diesem Monat.«
Jo erstarrte. »Woher hast du das?«
»Verwandte mit den richtigen Passwörtern. Siehst du, was ich sehe?«
Jo betrachtete die Bilder. »Die Flutrinne. Auf der neueren Aufnahme ist sie viel tiefer.«
Evan entrollte eine Karte des US Geological Survey. »Warst du schon mal dort oben?«
In Jos Sachlichkeit mischte sich Unruhe. »Ich hab mir nächste Woche Zeit eingeplant, um hinzufahren.« Sie vertiefte sich in die Karte. »Diesen Teil der Sierras kenne ich. Das Gelände ist brutal. Schau dir die Topografie an.« Sie fuhr eine Reihe eng beieinanderliegender Höhenveränderungen nach. »Wald, Granitschluchten, Steilwände. Bei schweren Regenfällen können Sturzfluten zu einem echten Problem werden. Falls Wylie tatsächlich eine Wanderung gemacht hat, kann es durchaus sein, dass er vom Wasser mitgerissen worden ist. Weißt du, ich kenne Kalifornier, die es sogar für sicher halten, nach einem Wolkenbruch am Russian River zu campen.«
»Ich komme aus der Mojave-Wüste. Ich kenne Leute, die gemeint haben, man kann einfach über einen vierzig Zentimeter hoch überschwemmten Highway fahren«, antwortete Evan. »Was denkst du?«
»Die Fotos vom Sheriff's Office zeigen nicht die Schwierigkeit des Geländes. Und ...«
Evan hob die Augenbraue. »Der zeitliche Ablauf?«
Jo setzte sich gerade auf. »Ich muss so schnell wie möglich dorthin. Deine Satellitenfotos deuten nämlich darauf hin, dass die Sturzflut erst nach Wylies Verschwinden eingetreten ist.«
»Genau.«
Um sie herum klirrten Kaffeetassen und Besteck. Jos intensiver Gesichtsausdruck war wie ein Spiegel für Evans Stimmung. Sie spürte ein Gewicht, hörte ein untergründiges Fauchen. Drohendes Unheil lag in der Luft.
Jo sprach weiter. »Die Frage ist, was hat Wylie in diese Mine getrieben? Oder wer?«
Evans nagendes Gefühl, etwas übersehen zu haben, verstärkte sich. »Du sagst, am Tag vor seinem Verschwinden hat Wylie zuletzt von der Kanzlei aus mit jemandem telefoniert.«
»Ja.«
»Und was ist mit dem Mann, der seinen Hund ausgeführt hat?«
Am Abend vor seinem Verschwinden hatte Wylie nach seiner Post gesehen. Dabei war er seinem Nachbarn begegnet und hatte kurz mit ihm geredet.
»Ich hab mit ihm gesprochen. Er hat nichts von einem Telefonat mit Wylie erzählt.«
»Nein. Aber er hat gehört, wie Wylie einen Anruf entgegengenommen hat. Wann hast du mit ihm gesprochen?«
»Vor zwei Wochen.«
Evan erschauerte. »Ich habe gestern mit ihm geredet. Er sagt, dass sie eine Minute geplaudert haben, dann hat Wylies Telefon geklingelt. Wylie hat sich entschuldigt und ist rangegangen. «
Jo wirkte konsterniert. »Um wie viel Uhr war das?«
»Acht.«
»Wylie hat einen Anruf auf seinem Handy erhalten?«
»Ja«, bestätigte Evan.
Jos Augen wurden schmal. »In Wylies Mobiltelefondaten tauchen nach halb sechs keine Anrufe mehr auf.«
Auf einmal waren beide ganz angespannt.
»Also hatte er ein zweites Handy«, konstatierte Jo.
»Kann gar nicht anders sein.«
»Wahnsinn.« Jo schien zugleich gereizt und aufgeregt. »Hat der Nachbar was von dem Telefongespräch mitbekommen? «
»Nur ein paar Worte. Wylie hat was von Laufen erwähnt. Und von Tour oder so.«
In Jos Augen funkelte es. »Das zweite Handy. Hat Wylie es für Sex benutzt oder für krumme Geschäfte?«
»Das prüfe ich nach. Aber wenn dieses geheimnisvolle Telefon nicht in den Aufzeichnungen auftaucht, dann ist es entweder ein Prepaid-Handy oder auf einen anderen Namen eingetragen. Wenn wir nicht die Nummer oder das Telefon selbst auftreiben, finden wir auch nicht raus, wer ihn angerufen hat.«
Jo wandte sich erneut den Fotos zu. »Was hat der Nachbar gehört? Was hat Wylie genau gesagt?«
Evan sah in ihren Notizen nach. »Wylie hat erwähnt, dass sie ›laufen‹. Und ›Tour‹.«
Jo tippte auf die Bilder, die gewaltige Granitkeile zeigten.
»Vielleicht ein Zufall. Aber möglicherweise hat er von den Bergen geredet.« Sie stand auf. »Ich muss meinen Zeitplan ändern. Die Fahrt rauf in die Sierras kann nicht mehr warten.« Sie streckte die Hand aus. »Danke für die Informationen.«
»Wir sollten uns gegenseitig auf dem Laufenden halten. In achtundvierzig Stunden?«
»Verlass dich drauf.« Jos Lächeln war alles andere als neutral. Es war hungrig.
»Ausgezeichnet. Und wer hat dir nun meinen Namen gegeben? «
Das Lächeln wurde geheimnisvoll. »Ich ruf dich in achtundvierzig Stunden an.« Jo steuerte Richtung Ausgang und warf ihrer Schwester eine Kusshand zu.
Evan holte tief Luft. Sie hatte ein mulmiges Gefühl.
Wer hatte Jo den Kontakt zu ihr vermittelt?
Die Tür öffnete sich, und der Wind schien wispernd seinen Namen hereinzutragen.
Aber sie hatte ihm nichts von ihrem großen Artikel erzählt. Ganz einfach deshalb, weil sie überhaupt nicht mit ihm redete - obwohl er der Mann war, der sie besser kannte als jeder andere. Er war der Mann, den sie liebte - und den sie in dem emotionalen Trauma nach dem Tod ihres Vaters verloren hatte. Der Mann, dem sie nicht gegenübertreten konnte, der Mann, dem sie die Ehe versprochen hatte.
Sie schlang sich den Rucksack über den Rücken und verließ das Café.
Fast am Gipfel des Russian Hill sprang Jo aus dem Cablecar. Die Schienen dröhnten vom Getriebe und den unterirdischen Leitungen, ein helles Klirren, in dem das Summen ihrer Nerven widerhallte. Im Park auf der gegenüberliegenden Straßenseite von ihrem Haus prallte ein Basketball gegen das Korbbrett und senkte sich ins Netz. Sophie Quintana fing den Ball auf und bemerkte Jo.
Hüpfend winkte sie ihr zu. »Jo, du spielst in Dads Team.«
Die Hände in die Hüften gestemmt, stand Gabe unter dem Korb und schnaufte durch. »Das war ja ein schnelles Treffen.«
Jo trabte aufs Feld. »Hab mich beeilt, damit ich dir die Bälle zuspielen kann.«
Gut sah er aus im Licht der Oktobersonne. Durchtrainiert, lächelnd, überschäumend vor Energie.
»Wieso blitzen deine Augen so?«, fragte er.
Sophie wandte sich um und griff an, zehn Jahre alt und voller Vertrauen, die Erwachsenen mit ihrer Wendigkeit übertrumpfen zu können. Ihr silbrig blonder Pferdeschwanz wippte in der Brise. Ihre Wangen leuchteten. Ihr Lächeln, so stellte Jo erleichtert fest, war unbeschwert.
Sie umspielte Jo und versuchte einen Korbleger. Der Wurf traf den Rand.
Jo fing den Abpraller auf. »Der Besuch bei deinen Cousins ist doch dieses Wochenende?«
Die Kleine nickte. »Am Freitag.«
»Du brütest wohl einen Plan aus«, meinte Gabe.
Jo warf ihm den Ball zu. »Ich fahre in die Sierras.«
»Und da brauchst du einen Rettungsspringer als Begleiter? «
Plötzlich drang von hinten ein Pfeifen an ihr Ohr.
Auf der anderen Seite des Spielfelds hob ein Mann die Hände und rief Time-out. »Schön, dass du nicht mehr aussiehst, als hätte man dir einen gebrauchten Tag angedreht.« Seine Worte galten Jo. »Das Treffen ist also gut verlaufen?«
Sie entschuldigte sich und ging zu ihm hinüber. »Du hattest recht. Das Gespräch mit Evan hat mir wirklich weitergeholfen. «
Jesse Blackburns Lächeln war kurz und scharf wie ein Schnitt. »Freut mich.«
Seine Jeans hatte ein Loch am Knie. Das T-Shirt, auf dem FIND YOURSELF IN PARADISE stand, hing ihm lose um die Schwimmerschultern. Und in seinen blauen Augen brannten Fragen.
Jo gab ihm die Antworten. »Ja, sie wollte wissen, wer mir ihren Namen genannt hat. Und nein, ich hab ihr nicht verraten, dass du es warst.«
Er drehte den Rollstuhl und sauste auf sie zu. »Danke.«
»Aber, Jesse, sie weiß, dass du schon mal vor Gericht die Klingen mit Phelps Wylie gekreuzt hast. Natürlich hat sie einen Verdacht. Sie kann mühelos rausfinden, dass wir zur selben Zeit an der Universität in Los Angeles studiert haben. Und dass du gerade in San Francisco bist, um vor dem Berufungsgericht aufzutreten.«
Eine Strömung schien an ihm zu zerren. Er und Evan hatten einer gemeinsamen Zukunft entgegengeblickt - und waren dann in einem Strudel schlimmer Ereignisse versunken. Er war überzeugt, dass er ihn verursacht hatte, und sah keine Möglichkeit, sich aus den Tiefen freizuschwimmen. Und jetzt hatte Jo Zeit mit Evan verbracht, im Gegensatz zu ihm. In sein Gesicht trat ein gequälter Ausdruck.
Er musste mit vielen Schmerzen zurechtkommen und hatte viele andere überlebt. Auch diesen würde er überstehen. Doch nur zu überleben war eine Verschwendung. Evan war wie ein Streichholz für ihn, da war sich Jo sicher. Zusammen konnten sie Funken sprühen und Berge versetzen. Dass sie diese Verbindung verloren hatten, zerriss ihnen beiden das Herz.
»Auch wenn mich Evan wieder fragt, werde ich es ihr nicht verraten«, erklärte Jo. »Aber du solltest es ihr sagen.«
Er wandte den Blick zu den Sonnenstrahlen, die über das blaue Wasser in der Bucht tanzten. »Noch nicht.«
»Was willst du denn mit deinem Zögern erreichen?«
Er schob sich zum Zaun, der den Park umgrenzte, hakte sich oben mit den Armen ein und starrte hinüber nach Alcatraz.
Jo lehnte sich neben ihn. Nach einer Weile sagte sie: »Ich hab mich nie bei dir dafür bedankt, dass du zu Daniels Beerdigung gekommen bist.«
Überrascht wandte er sich zu ihr um. »Dafür musst du dich doch nicht bedanken.«
»Du bist an dem Tag fast fünfhundert Kilometer weit gefahren. Das verbindet mich mit dir.«
»Das war wirklich das Wenigste, was ich tun konnte.« Er hielt inne. »Willst du mich mit deiner Bemerkung daran erinnern, dass niemand unbegrenzt Zeit hat?«
»Du kennst die Erfahrung, wenn sich das Leben plötzlich völlig verändert. Auch das verbindet mich mit dir.«
Jo war in jungen Jahren zur Witwe geworden. Es war so schnell gegangen wie das Ausblasen einer Kerze. Sie wusste, wie es war, angestarrt zu werden. Wie es war, die Frau zu sein, die ... Die Frau, die alles verloren hatte. Die Fähigkeit zum Gehen. Ihren Geliebten. Die gemeinsame Zukunft mit ihm. Jesses Freundschaft und die Tatsache, dass er verstand, was sie durchgemacht hatte, bedeuteten ihr sehr viel.
Wieder spähte er hinaus aufs Wasser. »Die Wunde sitzt tief.«
»Wann hast du dich je von Wunden aufhalten lassen? Weißt du nicht mehr, was du mal zu mir gesagt hast?«
Er lächelte schmallippig. »Wenn man eine Situation nicht ändern und sich nicht daraus befreien kann, hilft nur die Flucht nach vorn. Das ist eine Tatsache des Lebens.«
»Diese Aussage hab ich mir praktisch auf den Hintern tätowiert. Danke für die Bestätigung, dass der Wortlaut stimmt.«
Sein Lächeln wurde breiter. »Auf jeden Fall werdet ihr euch gut verstehen, du und Evan.« Glucksend schüttelte er den Kopf.
Von hinten meldete sich Gabe. »Hey, Leute, ich brauche Verstärkung in der Verteidigung. Sophie spielt mich total an die Wand.«
Sie strebten zurück aufs Basketballfeld. Sophie ließ den Ball hüpfen und umtänzelte ihren Vater. Ihr Kichern klang silbrig hell.
»Ich kann mich auch noch an die zweite Hälfte deiner Äußerung erinnern«, sagte Jo.
»Entscheidend ist, dass man keine Angst hat. Auch wenn man weiß, was kommt.«
Sie drückte Jesses Schulter. »Vergiss das nicht.«
3
Freitag, 12. Oktober
Limousine traf die Sache nicht annähernd. Es war eine echte Wahnsinnskiste, mit der sie auf der Interstate 101 nach Süden düsten: ein schwarzer Stretch-Hummer, dessen Seiten ungelogen mit Flammen bemalt waren. Als wäre Autumn tatsächlich die Königin eines billig protzigen Drogensyndikats, unterwegs in ihrem Monsterschlitten. Sie schmiegte sich in die bequeme Polsterbank und schaute zu, wie San Francisco vorüberzog.
Dustin nahm eine Flasche Champagner aus dem Minikühlschrank des Hummer. »Zeit für einen Toast auf das Geburtstagskind. «
Lark Sobieski schüttelte den Kopf. »Keine gute Idee. Wir müssen wach bleiben.«
Larks schwarzes Punkhaar fiel ihr über ein Auge und verdeckte fast die ganze Brille. Auf dem Babyspeck über dem Bund ihrer Jeans prangte ein Uroboros-Tattoo. Rot und prachtvoll hob sich die Schlange, die sich in den eigenen Schwanz biss, von ihrer braunen Haut ab.
Dustin wickelte die Goldfolie vom Korken. »Du musst vielleicht wach bleiben. Aber so machen es eben die Narcotraficantes unten in Juarez.«
Grinsend schüttelte er die Flasche, bis der Korken knallte. Er prallte von der Kopfstütze des Fahrersitzes zurück.
Lark duckte sich. »Pass doch auf.«
Der Fahrer schielte in den Rückspiegel. »Vorsicht, Kumpel.«
Dustin lachte. »Die Kiste gehört mir nicht. Wenn was kaputtgeht, muss Edge Adventures blechen.«
Er setzte die überschäumende Flasche an die Lippen. Champagner strömte ihm übers Kinn. Er wischte ihn weg und beäugte kritisch das Etikett: VEUVE CLICQUOT.
»Nicht halb so gut wie das Zeug, das mein Dad auf seinem Boot serviert. Aber Colt Forty-five-Bier gab's bei Edge nicht.« Er hob die Stimme, damit ihn der Fahrer verstand. »Müssen wir eben mit dem hier klarkommen.« Er streckte die Flasche seinem Mitbewohner hin.
Noah Holloway hob abwehrend die Hände. »Ich arbeite für die Regierung. Kein Alkohol im Dienst.«
Noah hatte ein sonniges Lächeln und eine gelassene Art. Von der anderen Seite der Limousine aus bewunderte Lark sein zerzaustes Haar und seine unkomplizierte Surferruhe. Anscheinend fiel ihr gar nicht auf, dass alle sehen konnten, wie rot ihre Wangen anliefen.
Peyton Mackie schnappte sich die Flasche. »Ich trinke auch im Dienst. Verdeckte Ermittler müssen in Übung bleiben, damit sie bei den saufenden Gangstern nicht aus der Rolle fallen.« Sie kippte den Kopf nach hinten und genehmigte sich einen Riesenschluck.
Lachend wischte sie sich mit dem Handrücken über die Lippen. »Und weil wir gerade von Strafverfolgern reden ...« Sie hob die Hand wie eine Waffe, zwei Finger als Lauf, der Daumen gereckt. »Ich hab dich im Visier, Reiniger.«
»Leck mich, Bulle«, antwortete Autumn.
Peytons blondes Haar glitt über ihre Schulter. Sie trug eine himbeerfarbene Velours-Jogginghose von Juicy Couture und ein pinkfarbenes Camisole. Als FBI-Beamtin machte sie eher eine lächerliche Figur.
Autumn schnippte mit den Fingern. »Sobieski. Agent Pretty Pink erledigen.«
Lark zielte mit dem Arm auf Peyton, als wäre er ein Scharfschützengewehr. »Peng. Dein Kopf ist weg, Bulle.«
Schielend schrumpfte Peyton zusammen und ließ die Zunge heraushängen. Lark blies sich auf die Finger.
Autumn strich mit den Händen über den roten Samt der Polsterbank. Die Limousine war eine echte Überraschung, ein echter Fünf-Sterne-Kracher. Es hatte an der Tür geklingelt, und sie hatte aufgemacht.
Vor ihrer Schwelle stand ein Mann mit Sonnenbrille und einer Baseballmütze von Edge Adventures. »Ich bin der Spielleiter. Das Szenario hat begonnen, die Uhr läuft.«
Verwirrt schaute sie ihn an. »Wir haben doch noch eine Stunde, um zum Treffpunkt zu fahren.«
»Nein. Ihr Vater schickt mich.«
Sie spürte ein Kribbeln im Bauch. Ihr Dad hatte Edge angewiesen, sie abzuholen, weil er nicht sicher war, ob sie pünktlich zum Rollenspiel auftauchte. Jetzt saß der Spielleiter Kyle am Steuer des Wagens und beäugte sie und ihre Freunde durch die Sonnenbrille.
Peyton packte die Champagnerflasche und robbte auf der Bank hinüber zu Cody Grier. Sie kringelte sich um ihn. »Willst du auch?«
Entgeistert riss Grier die Augen auf. »Die Flasche? Willst du mich bestechen, damit ich das Syndikat verrate?«
Um seiner Position als Autumns Consigliere gerecht zu werden, war Grier in Mafiosoverkleidung erschienen. Er rückte den Strohhut zurecht und zog Peyton an sich.
Lark fixierte weiterhin Noah, bis sie plötzlich Autumns Blick spürte. Sie wandte sich zum Fenster und rückte die Brille zurecht. »Man muss den Feind immer im Auge behalten.«
»Gut. Dann sag mir, ob uns jemand verfolgt.« Neben dem Highway bemerkte Autumn wucherndes Unkraut und verwahrloste Holzhäuser, die schief aneinanderlehnten. Ihr Magen zog sich zusammen. »Das meine ich ernst.«
Lark machte ein komisches Gesicht. »Was hast du denn?«
Autumn deutete auf verrostete Mülltonnen und kaputte Autos am Hang. »Von wegen fünf Sterne.«
Ich möchte ins Mandarin Oriental. Edge hatte mehrere Zimmer am Ende eines Korridors reserviert, um das Gipfeltreffen eines Syndikats nachzuempfinden. Auf einmal wollte sie nicht am Ende eines Korridors festsitzen. Ohne Fluchtmöglichkeit.
»Autumn?«, fragte Lark.
»Hast du in den letzten zwei Wochen nicht auch das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden?«
»Von wem denn?«
»Von jemandem, der sich schnell entfernt, wenn ich zum Fenster rausschaue. Oder sich auf dem Campus hinter einen Baum zurückzieht, wenn ich vorbeikomme.« Autumn wartete, ob ihre Freundin Ähnliches zu berichten hatte. Vergeblich. »Ach, nicht so wichtig.«
Lark starrte sie zweifelnd an. »Ist das dein Ernst?«
»Vielleicht sind es die Leute von Edge, die die Lage erkunden. Die machen nämlich Recherchen zu all ihren Kunden.«
»Sie spionieren sie aus?«
»Sie legen Dossiers an.« Sie wies mit dem Kinn auf den Fahrer und senkte die Stimme. »Der weiß wahrscheinlich alles über uns. Hast du nicht auch so ein Gefühl? Dass er ... uns schon mal gesehen hat?«
Lark beobachtete Kyle, der die Spur wechselte. »Für mich wirkt er einfach wie jemand, der uns pünktlich zum Treffpunkt bringen will.«
»Okay.«
Larks Mundwinkel zuckten nach unten. »Autumn, alles in Ordnung?«
»Schon gut, vergiss es.«
Autumn verschränkte die Arme vor der Brust. Dustin und Peyton ließen den Champagner kreisen. Grier tippte eine SMS - hoffentlich nicht an seinen Drogendealer. So eine Komplikation konnten sie an diesem Wochenende wirklich nicht gebrauchen. Noah beobachtete Lark aus dem Augenwinkel.
Ihr Vater war der Meinung, dass sie und ihre Freunde nicht einmal in der Lage waren, nach einer Fahrt durch die Stadt pünktlich zu einem Treffen zu erscheinen. Also hatte er sie zusammentreiben lassen wie Schafe. Der Knoten in ihrem Magen wurde härter.
Sie fragte sich, was Dad den Leuten von Edge Adventures über sie erzählt hatte.
Am Jachthafen Emery Cove ging Terry Coates seine Checkliste durch. Sein Bruder und andere Spielleiter bereiteten das Schnellboot vor. Treibstoff. Schwimmwesten. Verbandskasten. Abgehakt. Anruf beim SFPD, um die Beamten auf den Beginn des Rollenspiels hinzuweisen. Abgehakt.
»Sieht gut aus«, sagte Coates.
Über das sonnenglitzernde Wasser zog eine starke Brise. Hinter der Bucht ergossen sich Häuser über die Hänge, die weiß wie Kreide im Herbstlicht glänzten. Coates genoss die Aussicht.
Copyright © 2012 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München
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Autoren-Porträt von Meg Gardiner
Gardiner, MegMeg Gardiner wuchs mit drei Geschwistern im kalifornischen Santa Barbara auf. Nach dem Abschluss des Jurastudiums praktizierte sie zunächst als Anwältin, bevor sie ihren Beruf aufgab und nach England übersiedelte. Dort begann sie zu schreiben und veröffentlichte im Jahr 2002 ihr Romandebüt. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren drei Kindern nahe London.
Bibliographische Angaben
- Autor: Meg Gardiner
- 2013, 464 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Mader, Friedrich
- Übersetzer: Friedrich Mader
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453410319
- ISBN-13: 9783453410312
- Erscheinungsdatum: 10.06.2013
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