Das Chalet der Erinnerungen
Von London über Paris nach New York: Tony Judt hat die Schauplätze seines Lebens in einer einzigartigen Autobiographie festgehalten. Ans Krankenbett gefesselt, reiste er im Kopf noch einmal an Orte in den USA und Europa und verwandelte seine Erlebnisse in...
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Klappentext zu „Das Chalet der Erinnerungen “
Von London über Paris nach New York: Tony Judt hat die Schauplätze seines Lebens in einer einzigartigen Autobiographie festgehalten. Ans Krankenbett gefesselt, reiste er im Kopf noch einmal an Orte in den USA und Europa und verwandelte seine Erlebnisse in kleine Essays. In wenigen Sätzen kann der Historiker die Atmosphäre im London der ersten Nachkriegsjahre beschwören, genau erinnert er sich daran, wie ein Fremdenführer im München der 60er Jahre noch nichts von Dachau wissen wollte. Dieses Buch ist das Vermächtnis eines einzigartigen Intellektuellen, der wie kaum ein anderer unsere jüngste Vergangenheit und Geschichte beobachtet und reflektiert hat.
Lese-Probe zu „Das Chalet der Erinnerungen “
Das Chalet der Erinnerungen von Tony JudtÜbersetzt aus dem Englischen von Matthias Fienbork
Die grünen Busse
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In den späten Fünfzigern fuhr ich ein paar Jahre lang mit dem Green-Line-Bus zur Schule. Die Green Line, die Regionalverbindungen weit über die Londoner Stadtgrenzen hinaus anbot, war Teil der öffentlichen Verkehrsbetriebe. Eine typische Strecke begann irgendwo im Umland und endete in einer Grafschaft auf der anderen Seite von London. Die Linie 718 etwa, die ich benutzte, verband Windsor im Südwesten mit Harlow im Nordosten, auf halbem Weg zwischen London und Cambridge.
Für diese grünen Busse waren verschiedene Dinge charakteristisch. Sie waren natürlich grün, nicht nur außen, sondern auch innen. Es waren meist Eindecker, im Unterschied zu den bekannten roten Doppeldeckern, und sie hatten pneumatische Falttüren, die sich mit einem Zischen schlossen. Das gab ihnen etwas Gemütliches, man fühlte sich aufgehoben und sicher, während der Zustieg bei den roten Doppeldeckern offen war, so dass man jederzeit aufspringen konnte. Und weil sie so weite Entfernungen zurücklegten - eine durchschnittliche Strecke der Green Line dauerte drei Stunden -, hielten die Busse nicht an den meisten normalen Haltestellen, sondern nur an ausgewählten Umsteigepunkten und waren daher, obwohl sie nicht schneller als andere Londoner Busse fuhren, eine »Expressverbindung«, für die man auch etwas mehr bezahlen musste.
Farbe und Name waren nicht zufällig. Die grünen Busse verwiesen auf ein altes Element der Londoner Stadtplanung: Die Endhaltestellen befanden sich in dem »grünen Gürtel«, der in den zwanziger und dreißiger Jahren rings um die Metropole angelegt worden war - ein frühes Beispiel von Umweltschutz und zugleich öffentliches Freizeit- und Erholungsangebot. Dieses offene Gelände (Parkanlagen, Wiesen, Wälder, ungenutzte Ackerflächen, Heide), ehemals Besitz von Krone, Staat oder Kirche, war in seinem ursprünglichen Zustand belassen worden, um die ländliche Natur vor dem unaufhaltsam expandierenden Moloch Großstadt zu schützen. Trotz der rasanten Stadtentwicklung in der Zwischenkriegszeit und der hässlichen Wohnungsbauprojekte der fünfziger Jahre blieb Groß-London mehr oder weniger auf das Gebiet innerhalb dieses grünen Gürtels beschränkt, der stellenweise nur ein paar Kilometer breit war. Stadt und Land waren aber deutlich voneinander getrennt, und die umliegenden Ortschaften konnten ihre Identität bewahren. Die grünen Busse spiegelten daher in ihrem Namen, in ihren Routen und den zurückgelegten Entfernungen die weitgehend gelungenen Aspirationen einer Generation von Stadtplanern.
Von alledem hatte ich natürlich keine Ahnung, aber instinktiv habe ich es wohl verstanden. Wir, schienen diese Busse zu sagen, sind Motor und Inkarnation einer bestimmten Idee von London. Wir fangen beispielsweise in Windsor an oder in Stevenage oder Gravesend oder East Grinsted, fahren quer durch London (die meisten grünen Busse passierten Victoria Station, Marble Arch oder beide) und enden in Harlow, Guildford oder Watford. Während die roten Doppeldecker im Londoner Stadtgebiet unterwegs sind und die Passagiere dabei ab- und aufspringen können, durchqueren wir die Stadt und registrieren ihre erstaunlich große Ausdehnung, unterstreichen aber in unserer Streckenführung ihre natürlichen Grenzen. Um diese Grenzen kennenzulernen, bin ich, einfach so, manchmal von Endhaltestelle zu Endhaltestelle gefahren, wo mich die Wälder, Hügel und Felder des Umlands begrüßten. Die Besatzung - jeder Bus hatte einen Fahrer und einen Schaffner - schien dieses vermeintlich sinnlose Unterfangen mit Wohlwollen zu betrachten. Sie wurden nicht viel besser bezahlt als die Fahrer und Schaffner der roten Busse - überhaupt verdienten die Beschäftigten der Londoner Verkehrsbetriebe damals nicht viel. Als ich meine ersten Ausflüge unternahm, hatten diese Leute gerade einen langen, erbitterten Streik hinter sich. Aber in den grünen Bussen war immer eine besondere Atmosphäre. Die Besatzung hatte mehr Zeit für Gespräche miteinander und mit den Passagieren. Weil die Türen während der Fahrt geschlossen blieben, war es ruhiger im Innern. Und die Routen waren über weite Strecken so schön, dass der Bus - obwohl die Sitze nicht viel anders waren als in den roten Bussen - irgendwie komfortabler wirkte. Fahrer und Schaffner, so zumindest mein Eindruck, schienen stolz auf ihr Fahrzeug zu sein und wirkten auch entspannter als ihre Kollegen von den Doppeldeckern.
Der Schaffner, der etwas weniger Geld verdiente als der Fahrer, war meistens ein junger Mann (Schaffnerinnen gab es kaum). Er hatte die Aufgabe, Fahrscheine zu verkaufen und ganz allgemein für Ordnung zu sorgen; da es in den ländlichen Gegenden oft nur wenige Haltestellen gab und nur selten jemand zustieg, war er nicht übermäßig ausgelastet. In der Praxis sah das so aus, dass er dem Fahrer Gesellschaft leistete. Der Fahrer in seinem abgetrennten Abteil war Bestandteil des Busses und den Passagieren auf der jeweiligen Strecke oft namentlich bekannt. Von einer Einsamkeit des Langstreckenchauffeurs konnte bei den grünen Bussen keine Rede sein. Auf einem anderen Blatt stand die Klassenfrage. Weil die grünen Busse mehr kosteten und nicht nur innerstädtische Passagiere beförderten, sondern auch Bewohner des Umlands, wurden sie wahrscheinlich von einer sozialen Schicht frequentiert, die nicht zu den typischen Fahrgästen der damaligen Zeit gehörte. Die meisten Leute, die in den fünfziger Jahren mit den roten Bussen zur Arbeit fuhren, konnten sich kein Auto leisten, aber viele Passagiere der grünen Busse waren imstande, später auf das Auto auszuweichen. Während Fahrer, Schaffner und Passagiere auf den innerstädtischen Linien oft der gleichen sozialen Schicht entstammten, gehörten die Green-Line-Pendler eher der Mittelschicht an. Das führte dazu, dass in den Bussen meist jene Höflichkeit herrschte, die für die englische Gesellschaft insgesamt noch typisch war. Es ging auch ruhiger zu. Der Stolz der Besatzungen - sie verbrachten mehr Zeit in ihrem Fahrzeug und mussten kaum damit rechnen, kurzfristig für andere Strecken eingeteilt zu werden, zumal die Fahrer die langen und komplizierten Routen erst lernen mussten - entschädigte ein wenig für diese sozialen Hierarchien. Das Ergebnis war, dass in diesen Bussen alle zufrieden waren oder zumindest diesen Eindruck erzeugten. Schon als Elfjähriger fand ich, dass der Bus vertrauenerweckend roch, fast wie eine Bücherei oder eine alte Buchhandlung, nicht wie ein Verkehrsmittel. Diese erstaunliche Assoziation stützte sich wohl auf die wenigen öffentlichen Orte, die ich mit Stille und nicht mit Lärm und Hektik verband.
Bis in die sechziger Jahre fuhr ich mit den grünen Bussen, vor allem spätabends (der letzte Green-Line-Bus verließ das Depot gegen 22 Uhr), wenn ich von zionistischen Jugendtreffen oder einer Verabredung mit einer Freundin heimfuhr. Die Busse waren abends meistens pünktlich (anders als die roten Busse fuhren sie nach Fahrplan). Wenn man zu spät an der Haltestelle erschien, hatte man Pech gehabt. Dann musste ich auf dem kalten Bahnsteig lange auf den Regionalzug warten, der nachts nur selten verkehrte, und hatte außerdem einen langweiligen und tristen Heimweg vom Bahnhof der Southern Railway vor mir. Ich war daher immer froh, wenn ich den grünen Bus erwischte, er ersparte einem die kühle Nacht und versprach eine sichere, warme Heimfahrt.
Die heutigen Busse der Green Line sind nur noch ein Abklatsch ihrer selbst. Sie werden inzwischen von Arriva betrieben, dem schlimmsten der Privatunternehmen, die in England unglaublich teure Zug- und Busverbindungen anbieten. Von seltenen Ausnahmen abgesehen, umfahren die Busse die Londoner Innenstadt und bedienen statt dessen die neuen Referenzpunkte der britischen Topographie - den Flughafen Heathrow, Legoland usw. Die Farbe der Busse ist willkürlich gewählt und steht in keinerlei Bezug zu ihrer Funktion. Das Grün ist mit Pastelltönen und anderen Farbschattierungen gesprenkelt - ein ungewollter Hinweis darauf, dass weder die Busse noch der Service irgendeinen integrierten oder öffentlichen Zweck erfüllen. Schaffner gibt es schon lange nicht mehr, und die Fahrer, abgeschirmt hinter einem Fenster, aber verantwortlich für das Kassieren der Fahrgelder, unterhalten nur noch kommerzielle Beziehungen zu den Fahrgästen. Keine Route führt mehr quer durch London; diejenigen Busse, die überhaupt die Innenstadt erreichen, machen auf halbem Weg kehrt und fahren zu ihrem Ausgangspunkt zurück - als wollten sie den Leuten klarmachen, dass dies nur ein beliebiger Busservice von A nach B ist, der nicht die Aufgabe hat, einen Begriff von der bemerkenswerten Größe und Vielfalt der Metropole zu vermitteln, geschweige denn von dem immer weiter zurückgedrängten grünen Umland. Wie so vieles im heutigen England verweisen die Busse der Green Line - wie ein alter Grenzstein, moosbewachsen und vernachlässigt - auf eine Vergangenheit, deren Ansprüche und Erfahrungen längst begraben sind.
© Carl Hanser Verlag, München
In den späten Fünfzigern fuhr ich ein paar Jahre lang mit dem Green-Line-Bus zur Schule. Die Green Line, die Regionalverbindungen weit über die Londoner Stadtgrenzen hinaus anbot, war Teil der öffentlichen Verkehrsbetriebe. Eine typische Strecke begann irgendwo im Umland und endete in einer Grafschaft auf der anderen Seite von London. Die Linie 718 etwa, die ich benutzte, verband Windsor im Südwesten mit Harlow im Nordosten, auf halbem Weg zwischen London und Cambridge.
Für diese grünen Busse waren verschiedene Dinge charakteristisch. Sie waren natürlich grün, nicht nur außen, sondern auch innen. Es waren meist Eindecker, im Unterschied zu den bekannten roten Doppeldeckern, und sie hatten pneumatische Falttüren, die sich mit einem Zischen schlossen. Das gab ihnen etwas Gemütliches, man fühlte sich aufgehoben und sicher, während der Zustieg bei den roten Doppeldeckern offen war, so dass man jederzeit aufspringen konnte. Und weil sie so weite Entfernungen zurücklegten - eine durchschnittliche Strecke der Green Line dauerte drei Stunden -, hielten die Busse nicht an den meisten normalen Haltestellen, sondern nur an ausgewählten Umsteigepunkten und waren daher, obwohl sie nicht schneller als andere Londoner Busse fuhren, eine »Expressverbindung«, für die man auch etwas mehr bezahlen musste.
Farbe und Name waren nicht zufällig. Die grünen Busse verwiesen auf ein altes Element der Londoner Stadtplanung: Die Endhaltestellen befanden sich in dem »grünen Gürtel«, der in den zwanziger und dreißiger Jahren rings um die Metropole angelegt worden war - ein frühes Beispiel von Umweltschutz und zugleich öffentliches Freizeit- und Erholungsangebot. Dieses offene Gelände (Parkanlagen, Wiesen, Wälder, ungenutzte Ackerflächen, Heide), ehemals Besitz von Krone, Staat oder Kirche, war in seinem ursprünglichen Zustand belassen worden, um die ländliche Natur vor dem unaufhaltsam expandierenden Moloch Großstadt zu schützen. Trotz der rasanten Stadtentwicklung in der Zwischenkriegszeit und der hässlichen Wohnungsbauprojekte der fünfziger Jahre blieb Groß-London mehr oder weniger auf das Gebiet innerhalb dieses grünen Gürtels beschränkt, der stellenweise nur ein paar Kilometer breit war. Stadt und Land waren aber deutlich voneinander getrennt, und die umliegenden Ortschaften konnten ihre Identität bewahren. Die grünen Busse spiegelten daher in ihrem Namen, in ihren Routen und den zurückgelegten Entfernungen die weitgehend gelungenen Aspirationen einer Generation von Stadtplanern.
Von alledem hatte ich natürlich keine Ahnung, aber instinktiv habe ich es wohl verstanden. Wir, schienen diese Busse zu sagen, sind Motor und Inkarnation einer bestimmten Idee von London. Wir fangen beispielsweise in Windsor an oder in Stevenage oder Gravesend oder East Grinsted, fahren quer durch London (die meisten grünen Busse passierten Victoria Station, Marble Arch oder beide) und enden in Harlow, Guildford oder Watford. Während die roten Doppeldecker im Londoner Stadtgebiet unterwegs sind und die Passagiere dabei ab- und aufspringen können, durchqueren wir die Stadt und registrieren ihre erstaunlich große Ausdehnung, unterstreichen aber in unserer Streckenführung ihre natürlichen Grenzen. Um diese Grenzen kennenzulernen, bin ich, einfach so, manchmal von Endhaltestelle zu Endhaltestelle gefahren, wo mich die Wälder, Hügel und Felder des Umlands begrüßten. Die Besatzung - jeder Bus hatte einen Fahrer und einen Schaffner - schien dieses vermeintlich sinnlose Unterfangen mit Wohlwollen zu betrachten. Sie wurden nicht viel besser bezahlt als die Fahrer und Schaffner der roten Busse - überhaupt verdienten die Beschäftigten der Londoner Verkehrsbetriebe damals nicht viel. Als ich meine ersten Ausflüge unternahm, hatten diese Leute gerade einen langen, erbitterten Streik hinter sich. Aber in den grünen Bussen war immer eine besondere Atmosphäre. Die Besatzung hatte mehr Zeit für Gespräche miteinander und mit den Passagieren. Weil die Türen während der Fahrt geschlossen blieben, war es ruhiger im Innern. Und die Routen waren über weite Strecken so schön, dass der Bus - obwohl die Sitze nicht viel anders waren als in den roten Bussen - irgendwie komfortabler wirkte. Fahrer und Schaffner, so zumindest mein Eindruck, schienen stolz auf ihr Fahrzeug zu sein und wirkten auch entspannter als ihre Kollegen von den Doppeldeckern.
Der Schaffner, der etwas weniger Geld verdiente als der Fahrer, war meistens ein junger Mann (Schaffnerinnen gab es kaum). Er hatte die Aufgabe, Fahrscheine zu verkaufen und ganz allgemein für Ordnung zu sorgen; da es in den ländlichen Gegenden oft nur wenige Haltestellen gab und nur selten jemand zustieg, war er nicht übermäßig ausgelastet. In der Praxis sah das so aus, dass er dem Fahrer Gesellschaft leistete. Der Fahrer in seinem abgetrennten Abteil war Bestandteil des Busses und den Passagieren auf der jeweiligen Strecke oft namentlich bekannt. Von einer Einsamkeit des Langstreckenchauffeurs konnte bei den grünen Bussen keine Rede sein. Auf einem anderen Blatt stand die Klassenfrage. Weil die grünen Busse mehr kosteten und nicht nur innerstädtische Passagiere beförderten, sondern auch Bewohner des Umlands, wurden sie wahrscheinlich von einer sozialen Schicht frequentiert, die nicht zu den typischen Fahrgästen der damaligen Zeit gehörte. Die meisten Leute, die in den fünfziger Jahren mit den roten Bussen zur Arbeit fuhren, konnten sich kein Auto leisten, aber viele Passagiere der grünen Busse waren imstande, später auf das Auto auszuweichen. Während Fahrer, Schaffner und Passagiere auf den innerstädtischen Linien oft der gleichen sozialen Schicht entstammten, gehörten die Green-Line-Pendler eher der Mittelschicht an. Das führte dazu, dass in den Bussen meist jene Höflichkeit herrschte, die für die englische Gesellschaft insgesamt noch typisch war. Es ging auch ruhiger zu. Der Stolz der Besatzungen - sie verbrachten mehr Zeit in ihrem Fahrzeug und mussten kaum damit rechnen, kurzfristig für andere Strecken eingeteilt zu werden, zumal die Fahrer die langen und komplizierten Routen erst lernen mussten - entschädigte ein wenig für diese sozialen Hierarchien. Das Ergebnis war, dass in diesen Bussen alle zufrieden waren oder zumindest diesen Eindruck erzeugten. Schon als Elfjähriger fand ich, dass der Bus vertrauenerweckend roch, fast wie eine Bücherei oder eine alte Buchhandlung, nicht wie ein Verkehrsmittel. Diese erstaunliche Assoziation stützte sich wohl auf die wenigen öffentlichen Orte, die ich mit Stille und nicht mit Lärm und Hektik verband.
Bis in die sechziger Jahre fuhr ich mit den grünen Bussen, vor allem spätabends (der letzte Green-Line-Bus verließ das Depot gegen 22 Uhr), wenn ich von zionistischen Jugendtreffen oder einer Verabredung mit einer Freundin heimfuhr. Die Busse waren abends meistens pünktlich (anders als die roten Busse fuhren sie nach Fahrplan). Wenn man zu spät an der Haltestelle erschien, hatte man Pech gehabt. Dann musste ich auf dem kalten Bahnsteig lange auf den Regionalzug warten, der nachts nur selten verkehrte, und hatte außerdem einen langweiligen und tristen Heimweg vom Bahnhof der Southern Railway vor mir. Ich war daher immer froh, wenn ich den grünen Bus erwischte, er ersparte einem die kühle Nacht und versprach eine sichere, warme Heimfahrt.
Die heutigen Busse der Green Line sind nur noch ein Abklatsch ihrer selbst. Sie werden inzwischen von Arriva betrieben, dem schlimmsten der Privatunternehmen, die in England unglaublich teure Zug- und Busverbindungen anbieten. Von seltenen Ausnahmen abgesehen, umfahren die Busse die Londoner Innenstadt und bedienen statt dessen die neuen Referenzpunkte der britischen Topographie - den Flughafen Heathrow, Legoland usw. Die Farbe der Busse ist willkürlich gewählt und steht in keinerlei Bezug zu ihrer Funktion. Das Grün ist mit Pastelltönen und anderen Farbschattierungen gesprenkelt - ein ungewollter Hinweis darauf, dass weder die Busse noch der Service irgendeinen integrierten oder öffentlichen Zweck erfüllen. Schaffner gibt es schon lange nicht mehr, und die Fahrer, abgeschirmt hinter einem Fenster, aber verantwortlich für das Kassieren der Fahrgelder, unterhalten nur noch kommerzielle Beziehungen zu den Fahrgästen. Keine Route führt mehr quer durch London; diejenigen Busse, die überhaupt die Innenstadt erreichen, machen auf halbem Weg kehrt und fahren zu ihrem Ausgangspunkt zurück - als wollten sie den Leuten klarmachen, dass dies nur ein beliebiger Busservice von A nach B ist, der nicht die Aufgabe hat, einen Begriff von der bemerkenswerten Größe und Vielfalt der Metropole zu vermitteln, geschweige denn von dem immer weiter zurückgedrängten grünen Umland. Wie so vieles im heutigen England verweisen die Busse der Green Line - wie ein alter Grenzstein, moosbewachsen und vernachlässigt - auf eine Vergangenheit, deren Ansprüche und Erfahrungen längst begraben sind.
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Autoren-Porträt von Tony Judt
Tony Judt (1948-2010) studierte in Cambridge und Paris und lehrte in Cambridge, Oxford und Berkeley. Seit 1995 war er Erich-Maria-Remarque-Professor für Europäische Studien in New York. Judt war Mitglied der Royal Historical Society, der American Academy of Arts and Sciences und der John Simon Guggenheim Memorial Foundation. Im Carl Hanser Verlag erschienen:Große Illusion Europa (1996), Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart (2006), Das vergessene 20. Jahrhundert (2010), Dem Land geht es schlecht (2011), Das Chalet der Erinnerungen (2012) Nachdenken über das 20. Jahrhundert (mit Timothy Snyder, 2013).Matthias Fienbork, geboren 1947, hat Musik und Islamwissenschaft studiert. Er übersetzte u.a. Bücher von Eric Ambler, W. Somerset Maugham, Michael Frayn, Amos Elon, Barack Obama und Tony Judt. Er lebt in Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Tony Judt
- 2012, 224 Seiten, Maße: 13,3 x 21,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung:Fienbork, Matthias
- Übersetzer: Matthias Fienbork
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446238158
- ISBN-13: 9783446238152
- Erscheinungsdatum: 06.02.2012
Rezension zu „Das Chalet der Erinnerungen “
"Tony Judt verkörpert den Geist der Kritik: Ohne defätistisch zu sein oder einer nostalgischen Verklärung der Vergangenheit aufzusitzen, benennt er Schwächen in unserer Gesellschaft. Eine Rückbesinnung auf intellektuelle Tugenden dieser Art ist überfällig." Maike Albath, Deutschlandradio Kultur, 27.02.12"Ein heiteres und tröstliches Buch mit autobiografischen Vignetten. Ein persönliches Buch über die europäische Nachkriegszeit." Ina Boesch, NZZ am Sonntag, 26.02.12
"Erfahrene Vielfalt prägt die Erinnerungen dieses großen Historikers." Wolf Lepenies, Die Welt, 17.03.12
"Eine große Autobiographie in berührenden Miniaturen" Matthias Weichelt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.04.12
"Mit Stolz und Bewunderung, aber auch mit Trauer und Beschämung müssen wir feststellen, welch einzigartiger, geisteskühner Zeitgenosse dieser Weggefährte war." Oliver vom Hove, Wiener Zeitung, 21.04.12
"...ein künftiger Klassiker der Memoirenliteratur." Günter Kaindlstorfer, ORF Kontext, 06.12
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