Kälps Himmelfahrt
Roman
Es ist nicht leicht, in der Höhe unterzugehen Von der Anhöhe beobachtete Kälp, wie die Einsatzfahrzeuge Richtung Attensach fuhren: In einem verschneiten Bergdorf geschieht ein merkwürdiger Totschlag: Kälp, der Tierarzt, kennt die Wahrheit, glaubt aber, das...
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Produktinformationen zu „Kälps Himmelfahrt “
Es ist nicht leicht, in der Höhe unterzugehen Von der Anhöhe beobachtete Kälp, wie die Einsatzfahrzeuge Richtung Attensach fuhren: In einem verschneiten Bergdorf geschieht ein merkwürdiger Totschlag: Kälp, der Tierarzt, kennt die Wahrheit, glaubt aber, das Geheimnis für sich behalten, den Täter heraushalten zu können.Kälp steht solide im Leben, hat Haus und Hof in der Höhe, er könnte Una, seine beste Freundin, enger an sich binden, wenn er nur wollte. Aber Kälp hält Distanz, zu den Menschen generell. Der, der ihm am nächsten stand, sein Bruder, ist tot. Sein Bruder, der die Frauen faszinierte, der alles besaß, was Kälp herbeisehnt - Leichtigkeit und Tiefe in einer Person. Kälp ist nicht leicht, Fröhlichkeit liegt ihm nicht. Geselligkeit schreckt ihn ab. Wie unsicher Kälp in Sachen Liebe ist, erkennt er, als eine Fremde im Ort auftaucht: Birgit, die unberechenbare Geschäftsfrau mit der rauchigen Stimme, die mit ihrer Tochter Ferien im Schnee macht, um ihr Leben neu zu sortieren. In ihrer herrischen Art empfindet Kälp sie als unangenehm und bedrohlich, dennoch tappt er heillos in ihre Liebesfalle. Sie will eine Urlaubsaffäre, er sucht den siebten Himmel. Kälp macht sich zum Idioten, weiß es und macht trotzdem weiter. Man zieht Kälp für den Totschlag zur Verantwortung. Die Gefängniszelle wird seine Zuflucht vor Birgit, der Prozess soll Ausflucht und Rettung vor der Liebe bringen. Eigentlich will Kälp untergehen, aber er stellt fest, in der Höhe ist das gar nicht so leicht.
Klappentext zu „Kälps Himmelfahrt “
Es ist nicht leicht, in der Höhe unterzugehenVon der Anhöhe beobachtete Kälp, wie die Einsatzfahrzeuge Richtung Attensach fuhren: In einem verschneiten Bergdorf geschieht ein merkwürdiger Totschlag: Kälp, der Tierarzt, kennt die Wahrheit, glaubt aber, das Geheimnis für sich behalten, den Täter heraushalten zu können.
Kälp steht solide im Leben, hat Haus und Hof in der Höhe, er könnte Una, seine beste Freundin, enger an sich binden, wenn er nur wollte. Aber Kälp hält Distanz, zu den Menschen generell. Der, der ihm am nächsten stand, sein Bruder, ist tot. Sein Bruder, der die Frauen faszinierte, der alles besaß, was Kälp herbeisehnt - Leichtigkeit und Tiefe in einer Person. Kälp ist nicht leicht, Fröhlichkeit liegt ihm nicht. Geselligkeit schreckt ihn ab. Wie unsicher Kälp in Sachen Liebe ist, erkennt er, als eine Fremde im Ort auftaucht: Birgit, die unberechenbare Geschäftsfrau mit der rauchigen Stimme, die mit ihrer Tochter Ferien im Schnee macht, um ihr Leben neu zu sortieren. In ihrer herrischen Art empfindet Kälp sie als unangenehm und bedrohlich, dennoch tappt er heillos in ihre Liebesfalle. Sie will eine Urlaubsaffäre, er sucht den siebten Himmel. Kälp macht sich zum Idioten, weiß es und macht trotzdem weiter. Man zieht Kälp für den Totschlag zur Verantwortung. Die Gefängniszelle wird seine Zuflucht vor Birgit, der Prozess soll Ausflucht und Rettung vor der Liebe bringen. Eigentlich will Kälp untergehen, aber er stellt fest, in der Höhe ist das gar nicht so leicht.
"Wallner hat nicht nur die Hauptfigur, sonder auch Handlungsort- und zeit akkurat konstruiert, ohne dabei den Stereotypen zu verfallen, zu denen eine winterliche Schwarzwaldgeschichte verleiten könnte." -- Spiegel Online
'Sorgsam beschreibt er Landschaft und Menschenschlag und erzählt auch diesmal eine richtig gute Geschichte.' -- NDR Kultur / Neue Bücher
"Das überzeugende Psychogramm eines Eigenbrötlers (...) ein stilles, nachdenkliches Buch." -- Nürnberger Zeitung
'Sorgsam beschreibt er Landschaft und Menschenschlag und erzählt auch diesmal eine richtig gute Geschichte.' -- NDR Kultur / Neue Bücher
"Das überzeugende Psychogramm eines Eigenbrötlers (...) ein stilles, nachdenkliches Buch." -- Nürnberger Zeitung
Lese-Probe zu „Kälps Himmelfahrt “
Von der Anhöhe beobachtete Kälp, wie die Einsatzfahrzeuge Richtung Attensach fuhren, zuerst die Feuerwehr, später die Ambulanz und wenig später die Polizei. Kälp schloss den Anorak, das Blinken der blauen Lichter versammelte sich unten, andere Autos blieben stehen. Er verließ die Anhöhe in die entgegengesetzte Richtung, lief an der Längsfront des Hofes entlang und erwartete das Anspringen der Außenbeleuchtung, die sein Nachbar mit einem Sensor gekoppelt hatte. Stattdessen bemerkte Kälp eine Bewegung in der Finsternis, zwei Schritte auf überfrorenem Asphalt, das Aufleuchten von Glut. Der Mensch, der da rauchte, musste schwarz gekleidet sein, da Kälp selbst in der Nähe des glimmenden Punktes keine Person ausmachen konnte. Er grüßte in die Dunkelheit, eine tiefe Frauenstimme antwortete.Kälp kannte den Unterschied, ob eine weibliche Stimme von Natur aus tief oder von Natur aus höher, durch das Rauchen aber tief und heiser geworden war. Diese Stimme hatte etwas Herrisches, eine Härte und Bestimmtheit. Auch wenn er in der Frau die Mieterin der Ferienwohnung vermutete, gab es für Kälp keinen Grund stehenzubleiben.
Was da passiert sei, fragte sie.
Er habe, genau wie sie, nur die Feuerwehr und die Polizei vorbeifahren sehen, mehr wisse er nicht. Sie blies den Rauch hörbar aus, und da Kälp nicht anhielt und sie nicht in seine Richtung ging, entfernten sie sich wieder voneinander. Er erreichte den Waldrand, wo man bei Schneelage selbst nachts genug sah, um spazieren zu gehen. Kälp musste laufen, gegen den Wind, in den Wald. Er hatte gerade einen Mann zu Tode stürzen sehen.
Am nächsten Morgen fütterte Kälp die Tiere. Der Doppelhof, den er mit dem Bauern teilte, war lang gestreckt, die Bewohner der einen Seite brauchten von den Bewohnern der anderen Seite, also auch von den Feriengästen, keine Notiz zu nehmen. Außer im Sommer, wenn die Kinder die unsichtbare Grundgrenze zwischen Kälp und dem Bauern missachteten und auf Kälps Grundstück einfielen.
Die Frau in der
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Ferienwohnung sei nicht übel, sagte der Bauer, der Kälp im Stall besuchte. Eine gute Figur - dazu schnalzte er mit der Zunge -, ihr Gesicht sei allerdings ungewöhnlich. Kälp erkundigte sich, ob das eine Nichtraucherwohnung sei. Nicht deshalb rauche die Frau im Freien, sondern weil sie ein Kind habe, antwortete der Bauer, eine Tochter, neun, höchstens zehn Jahre alt.
Danach redeten sie über den nächtlichen Vorfall in Attensach. Er habe Absperrbänder vor Nurbrechts Haus gesehen, sagte der Bauer, rund um die Schreinerei sei alles abgeriegelt, wegen der Spurensuche, nehme er an. Letzte Nacht sei Westwind gewesen, entgegnete Kälp; bei Westwind würde der Schnee jede Spur binnen Minuten verwehen. Der Bauer half ihm, den Trog mit den Gemüseabfällen zum Schweinekoben zu tragen, gemeinsam kippten sie ihn vor den Säuen aus.
Kälp begann seine Hausbesuche im benachbarten Hirschhuth, wo er eine Ziege behandelte. Er gab ihr eine Spritze, deren Verabreichung die Geiß, durch die Lungenentzündung geschwächt, regungslos hinnahm. Ihr rechtes Auge hatte einen milchigen Schleier. Wahrscheinlich habe sie sich beim Fressen einen Dorn ins Auge gerammt, sagte Kälp, das heile von selbst, oder sie werde das Auge verlieren.
Er fuhr nach Attensach zurück, wo die alte Behringer eine Erklärung für den plötzlichen Tod ihres Mastschweines wollte; das Weihnachtsschwein hätte in drei Tagen gemetzgert werden sollen. Die Bottiche standen bereit, die Wurstmaschine war gesäubert worden, die Behringer hatte bereits die Räucherkammer befeuert. Abends habe es noch gefressen, sagte sie, am Morgen sei es im Koben gelegen, alle viere von sich gestreckt. Während Kälp das Schwein untersuchte, hörte er Sägen und Hämmern über dem Stall und erfuhr, dass der Schwager sich für ein paar Tage frei genommen habe, um die Scheuneneinfahrt zu erneuern. Die Bohlen seien so dünn gefahren, dass sie fürchteten, mit dem Traktor einzubrechen. Seit wann die Arbeit in Gang sei? Das ganze Wochenende, antwortete die Behringer. Kälp sah der unglücklichen Frau ins Gesicht und erklärte, Schweine hätten eine sensible Natur, je fetter, desto sensibler. Er nehme an, das Schwein sei dem Stress, hervorgerufen durch den Lärm über seinem Stall, zum Opfer gefallen.
Darauf absolvierte Kälp seinen Impfturnus; die Pferde bekamen die zweite Auffrischungsimpfung. Auf jedem Hof war der Todesfall von Attensach das Gesprächsthema. Hatte es am Morgen noch Gerüchte gegeben, Nurbrecht habe schwerverletzt überlebt, war es jetzt sicher: Nurbrecht war tot. Der Pferdezüchter wollte die Thailänderin, Nurbrechts Frau, bereits in Schwarz gesehen haben. Kälp wurde als Mediziner nach seiner Meinung befragt.
Schneewind kam auf, die Schatten verfärbten sich violett. Er fuhr heim und wollte auf dem Küchensofa ausruhen, bevor er zur Milchbäuerin musste. Dabei schlief er ungewöhnlich tief ein, träumte von einem Kampf und einer Verabredung, die nicht eingehalten wurde. Als er erwachte, umfingen ihn Angst und Düsternis. Er rief die Milchbäuerin an, sie sagte, die Kuh sei wohlauf und werde wahrscheinlich erst im Laufe der Nacht kalben. Kälp versicherte, er sei telefonisch erreichbar. Er ließ sämtliche anderen Fälle unerledigt, griff zu den Skiern, warf die Bretter in den Schnee, schnallte an und machte sich auf und davon.
Mit weit ausholenden Stöcken glitt er auf die Schlucht hinter Attensach zu, umfuhr dabei Nurbrechts Land, da er weder der Polizei noch der Thailänderin begegnen wollte. Kälp erinnerte sich an die Zeit nach Nurbrechts Scheidung, lange bevor die Thailänderin zu ihm gekommen war, als er sich sonntags am Fenster auf die Lauer gelegt und Wanderer, Biker und Skifahrer beim Aufstieg zum Benediktinerkloster daran gehindert hatte, den bequemeren Weg über sein Grundstück zu nehmen. Eine junge Mutter, auf Sommerfrische in Attensach, hatte mit ihrem Kinderwagen ahnungslos die Nurbrechtsche Grenze überrollt, war vom verbitterten Grundbesitzer gestellt und zum Ausweichen in die Schlucht gezwungen worden und beim Abstieg samt Kinderwagen beinahe zu Tode gestürzt.
Im Pflug verminderte Kälp das Tempo auf der vereisten Abfahrt, stürzte trotzdem, verlor seine Mütze, ohne es zu merken, und erreichte die Sohle der Schlucht. Er war durstig und wollte trinken, aber das Wildwasser war zugefroren, unter dem Eispanzer schoss es dahin. Er begann den Aufstieg; in kleinen Sprüngen, vorgebeugt, angehockt rannte er auf Skiern den Steilhang hoch, so schnell, so stetig, dass er die Schwerkraft mit Schwung überlistete. Sonst, wenn er zum Kloster wollte, half ihm der Rausch des Bergauflaufens, die Gedanken zu vertreiben, heute forcierte das Hinaufrennen die Gedanken. Die Morgenmette fiel ihm ein, mit der die Benediktiner der Mahnung des Herrn gehorchten zu wachen, damit der Herr sie nicht schlafend fände, die Psalmen, Responsorien und Cantica, bevor die Mette mit der Verlesung des Tagesevangeliums ausklang. Lesung und Gesang, dachte Kälp, wodurch die Brüder sich sammelten und zur Kontemplation fanden, wie der Wildbach seine Kraft aus der Sammlung sämtlicher Quellen erhielt, die von der Höhe herabströmten.
Auf dem Grat schnitt der Wind wie mit Messern. Kälps Unterhemd, das Hemd und die Trainingshose waren nass geschwitzt, nur der Skianzug schützte ihn vor dem Frieren. Als er die Ohren gegen den Sturm bedecken wollte, bemerkte er, dass die Mütze fehlte. Der Traktorweg war nicht zu erkennen, die meterhohe Verwehung ebnete alles ein. Kälp folgte der Felsformation ins Gebirge. Jetzt sackte er mit den Skiern ein, jetzt sank ihm der Stock weg, jetzt rutschte er auf der Eisplatte gefährlich an den Abbruch heran. Dazu der Wind, der ihn blind machte. Bei der Rückkehr werde ich abschnallen müssen, dachte er, die Abfahrt auf Skiern wäre halsbrecherisch. Wie ein Kamin verengte sich der Pfad. Hinter der nächsten Biegung, der nächsten Felsnase erwartete er das Kloster; aber was im Sommer ein angenehmer Aufstieg war, forderte nach Wintereinbruch zähe Ausdauer.
Wie jedes Mal war Kälp ernüchtert, als er, oben angelangt, den Parkplatz und die geräumte Straße erreichte, die von der Attensacher Seite in bequemen Serpentinen zu den Benediktinern hochführte. Der Glockenturm war eingerüstet, der Riss setzte sich vom Turm in die Nordwand fort. Die Mönche hatten die Renovierungsarbeit wegen der Witterung eingestellt, die Glocken aus dem Turm genommen und in ein Metallgerüst neben das Refektorium gehängt.
Kälp fand Daniel, den Subprior, in der Destille. In dem warmen, alkoholgeschwängerten Raum stellte er sich hinter ihn und beobachtete seine Handgriffe. Die gebauchten Flaschen trugen die Aufschrift Monopolsprit, die kleineren waren bereits für den Verkauf etikettiert. Der Subprior sagte, er freue sich auf den neuen Geist. Er habe eine Methode entwickelt, mit der er den Alkoholgehalt in den Früchten erhöhen und den Aromaverlust mindern könne; die diesjährige Maische sei besonders geschmackvoll. Er habe gerade eine Mixtur aus Wacholderbeeren, Wermut und Salbei in Gärung, die er mit geschmacksarmem Wodka überdestilliere, wovon er sich einen ausgezeichneten Geist verspreche. Kälp erinnerte den Subprior an den ersten improvisierten Laden des Klosters, wo zwar die gesamte Likörproduktion, im Ganzen aber nur einige hundert Flaschen abgesetzt worden seien. Seit der Fotoreportage in der Wochenendbeilage einer großen Zeitung habe das Stift eine eigene Poststelle zur Erledigung der Internetbestellungen einrichten müssen, sagte Daniel, vor Kurzem sei die erste Lieferung in die Volksrepublik China gegangen. Wir sind nur eine kleine Abtei, aber wir erzeugen einen großen Geist.
Kälp glaubte, sein Zustand sei in den vergangenen Minuten unbemerkt geblieben, Daniel aber schenkte ihm eine Kostprobe ein und fragte, was er auf dem Herzen habe. Der Hocker und der Schemel dienten ihnen als Beichtstuhl, Kälp saß zu Füßen des Subpriors. Er habe neulich über das frühe Mönchstum gelesen, begann Kälp vorsichtig. Ihn fasziniere die Vorstellung, dass die ersten christlichen Anachoreten des Lebenswandels ihrer Zeit, der Unordnung, des Handels, des Verkehrschaos in den Städten überdrüssig gewesen seien und sich deshalb in die Wüste zurückgezogen hätten.
In Ägypten hätten sie nicht weit zu laufen brauchen, um in die Wüste zu kommen, sagte der Subprior.
Kälp wünschte sich, Daniel in die ganze schreckliche Angelegenheit einzuweihen, wusste aber nicht, wie er beginnen sollte, und sagte stattdessen, er fühle sich vom Geist mönchischen Lebens angezogen. Der Ausdruck Mönch, der ja vom griechischen monos abstamme, die Begriffe allein, einzeln, abgeschieden würden in ihm eine Sehnsucht nach Ausschließlichkeit, nach dem Ausschließbaren wecken.
Daniel musterte Kälp überrascht. Das unterscheide ihn, sagte er, von seinem Bruder, der Theologe und zugleich Genussmensch gewesen sei, der das Mönchsleben gekannt, sich aber in der Welt bestens zu behaupten gewusst habe, der in dem Spannungsfeld zwischen Theologie und sich verströmender Lebensfreude erblüht sei.
Mein Bruder hat seinen Platz im Leben immer gekannt, antwortete Kälp. Er wollte nicht über den Bruder reden, sondern über das Unglück, das ihn in den Schnee getrieben hatte, in die Höhe, ins Kloster. Eine Mönchslaufbahn mit Postulantenzeit und Novizentum komme für ihn altersbedingt nicht mehr in Frage, doch gebe es innerhalb des Stiftes feste Angestellte, die den Brüdern zur Hand gingen; hier sehe Kälp eine sinnvolle Aufgabe für sich.
Der Subprior ermunterte ihn zu trinken. So wie Kälps berühmter Bruder gewusst habe, welchen Preis er für seine Lebensführung eines Tages bezahlen würde, wisse Kälp in seiner Seele, dass es weder Einkehr noch inneren Frieden bedeute, die Welt auszuschließen. Das Kloster sei keine Trutzburg, wo Kälp sich dem Weltekel und der Depression hingeben könne, mönchische Abgeschiedenheit habe nichts mit Verweigerung zu tun. Unter den Stiftsbrüdern dürfe Kälp keinen einzigen Fall von verkappter Lebensuntauglichkeit vermuten. Außerdem sei er einer von nur vier Veterinären im Landkreis, nicht die Tiere des Stiftes seien seine Aufgabe, sondern die Tiere der Region. Um ihre paar Hühner, Ziegen und Pferde könnten sich die Brüder gut selbst kümmern.
Kälp war über die Zurückweisung unglücklich. In seiner Vorstellung hatte er bereits alles Bedrängende hinter sich gelassen, eine Kutte übergestreift und war in eine der Gästezellen gezogen. Da er sein Herz jedoch immer noch nicht erleichtert hatte, bat er um Abnahme der wirklichen Beichte in der Stiftskapelle.
Er könne das Filtrieren des Reinigungsbrandes jetzt unmöglich unterbrechen, bedauerte Daniel, Kälps Sünden müssten leider noch warten. Ob er denn die lächerliche Existenz eines Ziereremiten führen wolle, versuchte Daniel ihn aufzuheitern, wie es sie im achtzehnten Jahrhundert gegeben habe. Damals hätten malerische Einsiedeleien zum Bestand höfischer Parks gehört, so wie Gehege mit exotischen Tieren. Die Ziereremiten seien von der Gesindeverwaltung auf sieben Jahre angestellt worden, man habe sie mit einer Bibel, einem Betschemel und einer Fußmatte ausgestattet; sie hätten eine Kamelottrobe tragen müssen und sich Haar, Bart und Fingernägel nicht schneiden dürfen. Zur Abtötung des Fleisches seien sie mit asketischer Literatur versorgt worden, trotzdem habe man nicht wenige bald entlassen, weil man sie heimlich im Wirtshaus angetroffen habe.
Kälp spürte, dass Daniel abschweifte, um ihn die Beichte vergessen zu lassen. Als er die Destille verließ, fühlte er sich vom Stiftsgeist dermaßen beschwingt, dass er die Skier anschnallte und die halsbrecherische Abfahrt wagte.
Neben der vom Wind schräg gelegten Eberesche schaute er ins Land. Die Bedeckung war dichter geworden, in der Dämmerung würde Neuschnee fallen. Auf dem letzten Kilometer überlegte Kälp, ob er zuerst die Tiere versorgen und danach essen oder ob er zuerst essen sollte, damit die Tiere seine Unruhe nicht spürten. Er beschloss, mit den Tieren zu essen.
In der Küche schnitt Kälp klein, was er sonst ungeschnitten auf den Tisch gebracht hätte, dazu altes Brot und die Gemüsereste vom Vortag. Mit dem großen Topf ging er in den Stall. Er genoss die Wärme, die von den Tieren ausging, und erinnerte sich, wie ernüchtert die Nachbarn gewesen waren, als sie ihre Viehwirtschaft aus Altersgründen aufgegeben und von einem Tag auf den andern die steigenden Heizkosten zu spüren bekommen hatten. Er schüttete den Hühnern Mais in die Rinne und nahm fünf Eier aus den Nestern. Er mistete bei den Rindern aus und legte ihnen Heu vor. Aus dem großen Sack kippte er den Schafen Mischfutter in die Plastikschüssel und gab frisch geschnittene Kirschzweige dazu. Er öffnete die Gitter der Häsinnen und fütterte sie mit Salat. Seinen Topf auf dem Schoß, hockte er sich zu den Schweinen. Sie drängten sich fressend an den Verschlag und versetzten ihm immer mal einen Stoß, wenn sie gegen die Bretter prallten. Kälp hatte die große Stallbeleuchtung ausgeschaltet, im Schein einer Glühbirne aß er Kohlrabi, Weißbrot und Schwarzwurst. Nur das Schaben der Hasenzähne war zu hören, das Schnauben der Rinder, mit dem sie das Heu vor dem nächsten Büschel prüften, das polternde Fressen der Säue.
Kälp spürte den Eintritt des Kindes, bevor er es sah. Die Tür klappte so sacht, als habe die Katze sie bewegt; die Schritte gehörten nicht zur Katze. Das Kind trug einen grünen Anorak, an den Füßen Hausschuhe. Kälp fürchtete, es würde Ärger geben, wenn er das Mädchen mit Hausschuhen in den Kot treten ließ. Es setzte seine Füße langsam und konzentriert; helles Haar stand unter der Kapuze hervor, das Gesicht war im Schatten. Wieso die Wurst schwarz sei? Das Kind legte die Stirn an die Latten des Verschlags und betrachtete die Schafe, die nicht mehr fraßen, sondern schlafend beisammenstanden. Ihre Hörner klickten gegeneinander.
Die Wurst sei aus gestocktem Blut, antwortete Kälp. Wessen Blut? Schweineblut. Von deinen Schweinen? Nein, aus dem Supermarkt. Wieso die Hörner der Schafe dreimal eingedreht seien? Sie seien sehr alt, zwei wahre Urgroßmütter. Das Mädchen fragte nach den Namen der Hasen. Sie hätten keine, antwortete er. Wahrscheinlich weil sie zum Essen bestimmt seien, sagte das Mädchen, setzte sich ins Stroh und redete einfach weiter, es sei falsch, Tiere zu töten, sie hätten eine Seele wie die Menschen, sie empfänden Angst und Panik wie die Menschen, das Mädchen habe einen Aufsatz darüber geschrieben. Seine Tiere seien zu alt, sie taugten nicht mehr zum Essen. Kälp mochte seine Mahlzeit in Anwesenheit des Kindes nicht fortsetzen, die Vesper mit den Tieren war ihm verleidet. Ein Rest Schwarzwurst lag auf seinem Schoß.
Die Frau rief nach dem Kind, ohne dass Kälp den Namen verstanden hätte.
Ferienwohnung, sie suchte das Kind in der Scheune. Beim Aufstehen drehte sich das Mädchen zuerst um, kniete in die Vierfüßlerposition und stützte sich mit den Händen an den Oberschenkeln empor. Grußlos lief es aus dem Stall. Kälp hörte die beiden in der Scheune reden; die Frau schimpfte über die Scheiße an den Hausschuhen. Die Hörner der Schafe machten das leise Geräusch.
Kälp hob das Telefon erst beim fünften Läuten ab. Una fragte, ob er mit ihr zu Abend essen wolle. Er habe schon mit den Tieren gegessen. Dann solle er zum Nachtisch kommen. Kälp sagte zu, da er schon das letzte und vorletzte Mal eine Ausflucht erfunden hatte, nicht zu Una zu gehen. Selbst nach so vielen Jahren war sie für ihn immer noch die Verlobte seines Bruders.
Bald nachdem Kälp die Bauernhofhälfte gekauft und in Attensach als Tierarzt angefangen hatte, war ihm Una aufgefallen. Sie betrieb die Kindertagesstätte und leitete die Gemeindemusik, er war fremd gewesen, Una hatte das eine vertraute Gesicht dargestellt, das man für einen Neubeginn braucht. Er hatte sich in sie verliebt. Verliebt eigentlich nicht, er hatte sie begehrt. Auch das traf es nicht, er hatte sich in ihrer Nähe wohlgefühlt. Nicht aus Mangel an Gelegenheit hatte er nichts unternommen, sondern weil ihm der schwebende, hoffnungsvolle Zustand so schön vorgekommen war. Er hatte von Una zu träumen verstanden und so lange von Una geträumt, bis sein Bruder zu einem Zwischenstopp in Attensach aufgetaucht war, Una entdeckt und sie in einer einzigen Nacht erobert hatte.
Kälp hatte sich darauf in der Rolle des hoffnungslos Sehnenden eingerichtet, sich niemals als Konkurrent seines Bruders gesehen, gegen den er in Bezug auf Frauen ohnehin nichts ausgerichtet hätte. Zwei Jahre hatte Kälp die vor Glück berstende Una und ihre Anstrengungen beobachtet, seinem Bruder die Aufenthalte unvergesslich zu machen. Kälp hatte miterlebt, wie der Bruder sich immer weiter von Una zurückzog, je mehr sie für ihn unternahm, dass sie ihm zwar die Verlobung abgerungen, er sich durch das Verlöbnis aber von Una entfernt und wieder anderen Frauen zugewandt hatte. Während Kälp ohne Zögern die ihm von Una angebotene Rolle des Trösters übernommen hatte, während er lange Abende bei ihr verbracht und auf ihre Bitte davon erzählt hatte, wie sein Bruder als Kind war, hatte er ein Nachlassen seines Begehrens gespürt. Je stärker sich Una für den Bruder demütigte, desto deutlicher verlor Kälp das Interesse an ihr. Er hatte die starke Una geliebt; die kriechende, nach der Liebe des Bruders winselnde stieß ihn ab.
Bald darauf war der Bruder in den Tropen gestorben, nach Hause transportiert und auf dem Stiftsfriedhof beigesetzt worden. Una hatte sich in dieser Zeit in seine trauernde Witwe verwandelt und war in dieser Rolle aufgeblüht, da es nun keiner Frau mehr möglich war, ihn ihr wegzunehmen. In der Pflege des Gedenkens an den Bruder hatten Una und Kälp sich einander wieder genähert und waren die besten Freunde geworden, ohne dass er sich ein zweites Mal verliebt hätte.
Er war auf dem Weg zu Una, als sein Telefon läutete. Die Milchbäuerin sagte, die Wehen hätten eingesetzt, die Kuh werde in Kürze kalben. Kälp informierte Una, dass aus dem Nachtisch nichts würde, sie bat ihn, bei der Geburt dabei sein zu dürfen. Kälps Hof lag am Fuß der Anhöhe, Unas Haus inmitten des Weilers, den man vor kurzem Attensach eingemeindet hatte. Kälp holte seine Tasche und erwartete Una vor der Hoftür.
Die Entbindung stellte sich als schwierig heraus, da die Nabelschnur um den Kopf des Kalbes geschlungen war. Eine Weile sah es so aus, als könne Kälp nur Kuh oder Kalb retten. Er musste die Operation von der Flanke her durchführen, schnitt das Rind einen halben Meter lang auf, griff hinein und versuchte, das Kalb im Mutterleib von der Nabelschnur zu befreien. Während er mit beiden Armen bis zu den Schultern in dem Körper steckte, wandte die Kuh den Kopf und sah ihn an. Er redete mit ihr, beruhigte sie, dass sie ein gesundes Junges kriegen werde, und redete so lange weiter, bis das Kalb endlich im Stroh lag. Das Kleine kam auf die Knie, knickte ein, stand aber schließlich auf eigenen Beinen. Die Milchbäuerin klopfte Kälp erleichtert auf die Schulter und rieb das Kalb trocken. Er vernähte die Wunde mit einer dicken Nadel, das Fell mit einer feineren: Sollte die Kuh eingehen, würde die Milchbäuerin wenigstens die Haut verkaufen können.
Nach der glücklich verlaufenen Geburt sprachen die Milchbäuerin, ihr Großvater und Una über Nurbrechts Tod. Es müsse eine heftige Auseinandersetzung gegeben haben, sagte der Großvater, während der Nurbrecht die Kellertreppe hinuntergestürzt sei und sich das Genick gebrochen habe. Mit gebrochenem Genick habe er noch ein paar Minuten überlebt. Ob es schon einen Verdacht gebe, mit wem Nurbrecht Streit gehabt hätte, fragte Una. Viele, zu viele kämen da in Frage, antwortete die Milchbäuerin. Sie hätten Nurbrecht doch alle gekannt, er habe sich mit den wenigsten verstanden, sei wegen jeder Kleinigkeit in Wut geraten, habe aber immer den anderen die Schuld gegeben. Geld müsse der Grund für den Streit gewesen sein, sagte der Altbauer, viele hätten Schulden bei Nurbrecht, ständig habe er sich beklagt, dass die Leute so kleckernd bezahlen würden. Wegen ein paar Schulden werfe man doch niemanden die Kellertreppe hinunter, sagte Una, sie glaube vielmehr an ein Unglück, ein schreckliches Missgeschick.
Kälp erneuerte den Faden und sah Una dabei an. Sie hatte kühle, graugrüne Augen, die für ihn jedoch eine wunderbare Wärme ausstrahlten.
Wenn es bloß ein Unglück gewesen sei, könne sich der Mann doch zu erkennen geben, widersprach der Altbauer. Una nickte, ein Mann, es müsse ein Mann gewesen sein, eine Frau hätte nicht die Kraft gehabt, den schweren und starken Schreiner die Treppe hinunterzustürzen. So oder so sei die Erbfolge unbestreitbar, sagte der Altbauer. Durch Nurbrechts Tod gehe die größte Schreinerei der Gegend in den Besitz der Thailänderin über, die nicht das Geringste von dem Handwerk verstehe. Una widersprach und erinnerte daran, dass die Thailänderin in Attensach eine Schreinerlehre begonnen habe. Zuerst habe man sie an der Hobelmaschine gesehen, später habe Nurbrecht sich mit ihr in der Öffentlichkeit gezeigt, erst als seine Freundin, dann als seine Frau. Durch dieses Zeitmanöver habe er davon ablenken wollen, dass er die Thailänderin in einem Internet-Katalog ausgesucht und bestellt habe. Wenn die Thailänderin allerdings in den nächtlichen Streit verstrickt gewesen sei, sagte die Milchbäuerin, wenn sie also Mitschuld an Nurbrechts Tod trage, scheide sie als Erbin aus.
Die Thailänderin sei den ganzen Abend über bei ihr gewesen, antwortete Una zur Überraschung aller; sie hätten die Zukunft ihres ungeborenen Kindes besprochen. Dass die Thailänderin schwanger war, wisse mittlerweile jeder; Nurbrecht sei ja vor Stolz fast geplatzt, in seinem Alter noch so etwas zustande gebracht zu haben.
Dann bekämen sie also eine thailändische Schreinerin in Attensach, scherzte der Altbauer, und bald darauf einen Halbasiaten als Kronprinzen.
Man darf Manfred nicht vergessen, sagte Kälp.
Una legte ihm die Hand auf den blutigen Unterarm, das sehe ihm ähnlich, an den ungeliebten Buben zu denken. Ungeliebt oder nicht, in der Erbfolge stehe der kleine Manfred vor dem Kind der Thailänderin. Kälp wusch sich unter dem Schlauch, trocknete die Hände und packte seine Tasche zusammen. Ob er denn als Einziger nicht wisse, dass Nurbrecht nach seiner Heirat ein neues Testament gemacht habe, fragte die Milchbäuerin. Die Thailänderin bekomme alles, Nurbrechts frühere Frau, die ihm davongelaufen sei, dagegen nichts, und ihrer beider Sohn Manfred nur ein Pflichtteil. Kälp lehnte den angebotenen Schnaps ab, an Unas Seite trat er ins Freie. Der Mond stand prächtig über den Ebereschen.
Die Mieterin der Ferienwohnung kam ihnen von der Anhöhe entgegen, das Kind stapfte in einiger Entfernung durch den tiefen Schnee. Sie trafen sich unter der Straßenbeleuchtung. Die Frau trug eine knapp sitzende schwarze Daunenjacke, Jeans und Fellstiefel; sie wirkte braun gebrannt, als habe sie bereits einen längeren Ferienaufenthalt hinter sich. Kälp vermutete, das Ledrige ihrer Haut komme vom Rauchen. Sie wollte wissen, ob Kälp ihr Nachbar, der Tierarzt, sei, und fragte, ob Tabea ihn im Stall gestört habe. Una antwortete an Kälps Stelle, bei Ferien auf dem Bauernhof sei der Besuch der Tiere im Preis inbegriffen. Wieso die Vermieter keine eigenen Tiere hielten, fragte die Frau. Sie hätten die Viehwirtschaft seit dem Ruhestand aufgegeben, daher müssten Kälps Tiere als ländliche Attraktion herhalten.
Während Una redete, wandte Kälp den Blick nicht von der Mieterin; ihm fielen ihre dick umrandeten, überproportioniert großen Augen auf. Sie seien unterwegs, um Möhren zu kaufen, sagte sie, Tabea wolle unbedingt die Schafe füttern. Der Supermarkt habe nur bis sieben Uhr auf, antwortete Kälp, da müssten sie sich beeilen. Una sagte, ihr sei kalt, und hakte sich unter. Arm in Arm liefen sie auf die Anhöhe zu. Als er sich noch einmal umdrehte, sah er die Silhouette der Frau, vor der sich gerade die Schiebetür des Supermarkts öffnete.
Seit wann Una mit der Thailänderin auf so gutem Fuß stehe, fragte Kälp unterwegs. Die Frau sei einsam, antwortete Una, trotz ihrer Ehe mit Nurbrecht sei sie bis heute einsam geblieben, eine Fremde in Attensach, fremd durch ihre Herkunft, fremd auch durch die merkwürdige Art, wie es sie hierher verschlagen habe. Man müsse sich das vorstellen, Linh, so ihr Name, sei zunächst in die Datei dieses Frauenumschlagplatzes, dieser Frauenverkaufsstelle aufgenommen worden. Solche Firmen würden ihr kriminelles Geschäft hinter dem Begriff Eheanbahnung verstecken, in Wirklichkeit sei es die zeitgemäße, also internetgestützte Form des Frauenhandels, die Sklaverei des einundzwanzigsten Jahrhunderts.
Da Una beim Gehen immer langsamer wurde, trat Kälp hinter sie, stemmte die Arme in ihren Rücken und schob sie den Hügel hinauf. Sie möge sich erinnern, wie einsam und verbittert Nurbrecht nach der Scheidung gewesen sei, erwiderte er, wie einsam er schon in den Monaten davor gewesen sei, als ihn die Frau von heute auf morgen verlassen habe, bereits die zweite Frau, die Nurbrecht davonlief. Dazu habe sie den dreijährigen Manfred zurückgelassen. Dass Männer Frau und Kind im Stich ließen, um zu einer Jüngeren zu gehen, sei ja nichts Neues, dass aber eine Frau ein kleines Kind zurückließ und erwartete, der verlassene Mann werde sich darum kümmern, sei ein in Attensach einmaliger Fall gewesen, in der ganzen Region sei so etwas noch nie vorgekommen. Dass Nurbrecht nach Monaten der Wut und Verzweiflung schließlich ein neues, stabileres Glück gesucht habe, sei verständlich, sagte Kälp und geriet zunehmend außer Atem.
Una ließ sich schwer gegen seine Hände sinken und genoss es, die Anhöhe hochgeschoben zu werden.
Danach redeten sie über den nächtlichen Vorfall in Attensach. Er habe Absperrbänder vor Nurbrechts Haus gesehen, sagte der Bauer, rund um die Schreinerei sei alles abgeriegelt, wegen der Spurensuche, nehme er an. Letzte Nacht sei Westwind gewesen, entgegnete Kälp; bei Westwind würde der Schnee jede Spur binnen Minuten verwehen. Der Bauer half ihm, den Trog mit den Gemüseabfällen zum Schweinekoben zu tragen, gemeinsam kippten sie ihn vor den Säuen aus.
Kälp begann seine Hausbesuche im benachbarten Hirschhuth, wo er eine Ziege behandelte. Er gab ihr eine Spritze, deren Verabreichung die Geiß, durch die Lungenentzündung geschwächt, regungslos hinnahm. Ihr rechtes Auge hatte einen milchigen Schleier. Wahrscheinlich habe sie sich beim Fressen einen Dorn ins Auge gerammt, sagte Kälp, das heile von selbst, oder sie werde das Auge verlieren.
Er fuhr nach Attensach zurück, wo die alte Behringer eine Erklärung für den plötzlichen Tod ihres Mastschweines wollte; das Weihnachtsschwein hätte in drei Tagen gemetzgert werden sollen. Die Bottiche standen bereit, die Wurstmaschine war gesäubert worden, die Behringer hatte bereits die Räucherkammer befeuert. Abends habe es noch gefressen, sagte sie, am Morgen sei es im Koben gelegen, alle viere von sich gestreckt. Während Kälp das Schwein untersuchte, hörte er Sägen und Hämmern über dem Stall und erfuhr, dass der Schwager sich für ein paar Tage frei genommen habe, um die Scheuneneinfahrt zu erneuern. Die Bohlen seien so dünn gefahren, dass sie fürchteten, mit dem Traktor einzubrechen. Seit wann die Arbeit in Gang sei? Das ganze Wochenende, antwortete die Behringer. Kälp sah der unglücklichen Frau ins Gesicht und erklärte, Schweine hätten eine sensible Natur, je fetter, desto sensibler. Er nehme an, das Schwein sei dem Stress, hervorgerufen durch den Lärm über seinem Stall, zum Opfer gefallen.
Darauf absolvierte Kälp seinen Impfturnus; die Pferde bekamen die zweite Auffrischungsimpfung. Auf jedem Hof war der Todesfall von Attensach das Gesprächsthema. Hatte es am Morgen noch Gerüchte gegeben, Nurbrecht habe schwerverletzt überlebt, war es jetzt sicher: Nurbrecht war tot. Der Pferdezüchter wollte die Thailänderin, Nurbrechts Frau, bereits in Schwarz gesehen haben. Kälp wurde als Mediziner nach seiner Meinung befragt.
Schneewind kam auf, die Schatten verfärbten sich violett. Er fuhr heim und wollte auf dem Küchensofa ausruhen, bevor er zur Milchbäuerin musste. Dabei schlief er ungewöhnlich tief ein, träumte von einem Kampf und einer Verabredung, die nicht eingehalten wurde. Als er erwachte, umfingen ihn Angst und Düsternis. Er rief die Milchbäuerin an, sie sagte, die Kuh sei wohlauf und werde wahrscheinlich erst im Laufe der Nacht kalben. Kälp versicherte, er sei telefonisch erreichbar. Er ließ sämtliche anderen Fälle unerledigt, griff zu den Skiern, warf die Bretter in den Schnee, schnallte an und machte sich auf und davon.
Mit weit ausholenden Stöcken glitt er auf die Schlucht hinter Attensach zu, umfuhr dabei Nurbrechts Land, da er weder der Polizei noch der Thailänderin begegnen wollte. Kälp erinnerte sich an die Zeit nach Nurbrechts Scheidung, lange bevor die Thailänderin zu ihm gekommen war, als er sich sonntags am Fenster auf die Lauer gelegt und Wanderer, Biker und Skifahrer beim Aufstieg zum Benediktinerkloster daran gehindert hatte, den bequemeren Weg über sein Grundstück zu nehmen. Eine junge Mutter, auf Sommerfrische in Attensach, hatte mit ihrem Kinderwagen ahnungslos die Nurbrechtsche Grenze überrollt, war vom verbitterten Grundbesitzer gestellt und zum Ausweichen in die Schlucht gezwungen worden und beim Abstieg samt Kinderwagen beinahe zu Tode gestürzt.
Im Pflug verminderte Kälp das Tempo auf der vereisten Abfahrt, stürzte trotzdem, verlor seine Mütze, ohne es zu merken, und erreichte die Sohle der Schlucht. Er war durstig und wollte trinken, aber das Wildwasser war zugefroren, unter dem Eispanzer schoss es dahin. Er begann den Aufstieg; in kleinen Sprüngen, vorgebeugt, angehockt rannte er auf Skiern den Steilhang hoch, so schnell, so stetig, dass er die Schwerkraft mit Schwung überlistete. Sonst, wenn er zum Kloster wollte, half ihm der Rausch des Bergauflaufens, die Gedanken zu vertreiben, heute forcierte das Hinaufrennen die Gedanken. Die Morgenmette fiel ihm ein, mit der die Benediktiner der Mahnung des Herrn gehorchten zu wachen, damit der Herr sie nicht schlafend fände, die Psalmen, Responsorien und Cantica, bevor die Mette mit der Verlesung des Tagesevangeliums ausklang. Lesung und Gesang, dachte Kälp, wodurch die Brüder sich sammelten und zur Kontemplation fanden, wie der Wildbach seine Kraft aus der Sammlung sämtlicher Quellen erhielt, die von der Höhe herabströmten.
Auf dem Grat schnitt der Wind wie mit Messern. Kälps Unterhemd, das Hemd und die Trainingshose waren nass geschwitzt, nur der Skianzug schützte ihn vor dem Frieren. Als er die Ohren gegen den Sturm bedecken wollte, bemerkte er, dass die Mütze fehlte. Der Traktorweg war nicht zu erkennen, die meterhohe Verwehung ebnete alles ein. Kälp folgte der Felsformation ins Gebirge. Jetzt sackte er mit den Skiern ein, jetzt sank ihm der Stock weg, jetzt rutschte er auf der Eisplatte gefährlich an den Abbruch heran. Dazu der Wind, der ihn blind machte. Bei der Rückkehr werde ich abschnallen müssen, dachte er, die Abfahrt auf Skiern wäre halsbrecherisch. Wie ein Kamin verengte sich der Pfad. Hinter der nächsten Biegung, der nächsten Felsnase erwartete er das Kloster; aber was im Sommer ein angenehmer Aufstieg war, forderte nach Wintereinbruch zähe Ausdauer.
Wie jedes Mal war Kälp ernüchtert, als er, oben angelangt, den Parkplatz und die geräumte Straße erreichte, die von der Attensacher Seite in bequemen Serpentinen zu den Benediktinern hochführte. Der Glockenturm war eingerüstet, der Riss setzte sich vom Turm in die Nordwand fort. Die Mönche hatten die Renovierungsarbeit wegen der Witterung eingestellt, die Glocken aus dem Turm genommen und in ein Metallgerüst neben das Refektorium gehängt.
Kälp fand Daniel, den Subprior, in der Destille. In dem warmen, alkoholgeschwängerten Raum stellte er sich hinter ihn und beobachtete seine Handgriffe. Die gebauchten Flaschen trugen die Aufschrift Monopolsprit, die kleineren waren bereits für den Verkauf etikettiert. Der Subprior sagte, er freue sich auf den neuen Geist. Er habe eine Methode entwickelt, mit der er den Alkoholgehalt in den Früchten erhöhen und den Aromaverlust mindern könne; die diesjährige Maische sei besonders geschmackvoll. Er habe gerade eine Mixtur aus Wacholderbeeren, Wermut und Salbei in Gärung, die er mit geschmacksarmem Wodka überdestilliere, wovon er sich einen ausgezeichneten Geist verspreche. Kälp erinnerte den Subprior an den ersten improvisierten Laden des Klosters, wo zwar die gesamte Likörproduktion, im Ganzen aber nur einige hundert Flaschen abgesetzt worden seien. Seit der Fotoreportage in der Wochenendbeilage einer großen Zeitung habe das Stift eine eigene Poststelle zur Erledigung der Internetbestellungen einrichten müssen, sagte Daniel, vor Kurzem sei die erste Lieferung in die Volksrepublik China gegangen. Wir sind nur eine kleine Abtei, aber wir erzeugen einen großen Geist.
Kälp glaubte, sein Zustand sei in den vergangenen Minuten unbemerkt geblieben, Daniel aber schenkte ihm eine Kostprobe ein und fragte, was er auf dem Herzen habe. Der Hocker und der Schemel dienten ihnen als Beichtstuhl, Kälp saß zu Füßen des Subpriors. Er habe neulich über das frühe Mönchstum gelesen, begann Kälp vorsichtig. Ihn fasziniere die Vorstellung, dass die ersten christlichen Anachoreten des Lebenswandels ihrer Zeit, der Unordnung, des Handels, des Verkehrschaos in den Städten überdrüssig gewesen seien und sich deshalb in die Wüste zurückgezogen hätten.
In Ägypten hätten sie nicht weit zu laufen brauchen, um in die Wüste zu kommen, sagte der Subprior.
Kälp wünschte sich, Daniel in die ganze schreckliche Angelegenheit einzuweihen, wusste aber nicht, wie er beginnen sollte, und sagte stattdessen, er fühle sich vom Geist mönchischen Lebens angezogen. Der Ausdruck Mönch, der ja vom griechischen monos abstamme, die Begriffe allein, einzeln, abgeschieden würden in ihm eine Sehnsucht nach Ausschließlichkeit, nach dem Ausschließbaren wecken.
Daniel musterte Kälp überrascht. Das unterscheide ihn, sagte er, von seinem Bruder, der Theologe und zugleich Genussmensch gewesen sei, der das Mönchsleben gekannt, sich aber in der Welt bestens zu behaupten gewusst habe, der in dem Spannungsfeld zwischen Theologie und sich verströmender Lebensfreude erblüht sei.
Mein Bruder hat seinen Platz im Leben immer gekannt, antwortete Kälp. Er wollte nicht über den Bruder reden, sondern über das Unglück, das ihn in den Schnee getrieben hatte, in die Höhe, ins Kloster. Eine Mönchslaufbahn mit Postulantenzeit und Novizentum komme für ihn altersbedingt nicht mehr in Frage, doch gebe es innerhalb des Stiftes feste Angestellte, die den Brüdern zur Hand gingen; hier sehe Kälp eine sinnvolle Aufgabe für sich.
Der Subprior ermunterte ihn zu trinken. So wie Kälps berühmter Bruder gewusst habe, welchen Preis er für seine Lebensführung eines Tages bezahlen würde, wisse Kälp in seiner Seele, dass es weder Einkehr noch inneren Frieden bedeute, die Welt auszuschließen. Das Kloster sei keine Trutzburg, wo Kälp sich dem Weltekel und der Depression hingeben könne, mönchische Abgeschiedenheit habe nichts mit Verweigerung zu tun. Unter den Stiftsbrüdern dürfe Kälp keinen einzigen Fall von verkappter Lebensuntauglichkeit vermuten. Außerdem sei er einer von nur vier Veterinären im Landkreis, nicht die Tiere des Stiftes seien seine Aufgabe, sondern die Tiere der Region. Um ihre paar Hühner, Ziegen und Pferde könnten sich die Brüder gut selbst kümmern.
Kälp war über die Zurückweisung unglücklich. In seiner Vorstellung hatte er bereits alles Bedrängende hinter sich gelassen, eine Kutte übergestreift und war in eine der Gästezellen gezogen. Da er sein Herz jedoch immer noch nicht erleichtert hatte, bat er um Abnahme der wirklichen Beichte in der Stiftskapelle.
Er könne das Filtrieren des Reinigungsbrandes jetzt unmöglich unterbrechen, bedauerte Daniel, Kälps Sünden müssten leider noch warten. Ob er denn die lächerliche Existenz eines Ziereremiten führen wolle, versuchte Daniel ihn aufzuheitern, wie es sie im achtzehnten Jahrhundert gegeben habe. Damals hätten malerische Einsiedeleien zum Bestand höfischer Parks gehört, so wie Gehege mit exotischen Tieren. Die Ziereremiten seien von der Gesindeverwaltung auf sieben Jahre angestellt worden, man habe sie mit einer Bibel, einem Betschemel und einer Fußmatte ausgestattet; sie hätten eine Kamelottrobe tragen müssen und sich Haar, Bart und Fingernägel nicht schneiden dürfen. Zur Abtötung des Fleisches seien sie mit asketischer Literatur versorgt worden, trotzdem habe man nicht wenige bald entlassen, weil man sie heimlich im Wirtshaus angetroffen habe.
Kälp spürte, dass Daniel abschweifte, um ihn die Beichte vergessen zu lassen. Als er die Destille verließ, fühlte er sich vom Stiftsgeist dermaßen beschwingt, dass er die Skier anschnallte und die halsbrecherische Abfahrt wagte.
Neben der vom Wind schräg gelegten Eberesche schaute er ins Land. Die Bedeckung war dichter geworden, in der Dämmerung würde Neuschnee fallen. Auf dem letzten Kilometer überlegte Kälp, ob er zuerst die Tiere versorgen und danach essen oder ob er zuerst essen sollte, damit die Tiere seine Unruhe nicht spürten. Er beschloss, mit den Tieren zu essen.
In der Küche schnitt Kälp klein, was er sonst ungeschnitten auf den Tisch gebracht hätte, dazu altes Brot und die Gemüsereste vom Vortag. Mit dem großen Topf ging er in den Stall. Er genoss die Wärme, die von den Tieren ausging, und erinnerte sich, wie ernüchtert die Nachbarn gewesen waren, als sie ihre Viehwirtschaft aus Altersgründen aufgegeben und von einem Tag auf den andern die steigenden Heizkosten zu spüren bekommen hatten. Er schüttete den Hühnern Mais in die Rinne und nahm fünf Eier aus den Nestern. Er mistete bei den Rindern aus und legte ihnen Heu vor. Aus dem großen Sack kippte er den Schafen Mischfutter in die Plastikschüssel und gab frisch geschnittene Kirschzweige dazu. Er öffnete die Gitter der Häsinnen und fütterte sie mit Salat. Seinen Topf auf dem Schoß, hockte er sich zu den Schweinen. Sie drängten sich fressend an den Verschlag und versetzten ihm immer mal einen Stoß, wenn sie gegen die Bretter prallten. Kälp hatte die große Stallbeleuchtung ausgeschaltet, im Schein einer Glühbirne aß er Kohlrabi, Weißbrot und Schwarzwurst. Nur das Schaben der Hasenzähne war zu hören, das Schnauben der Rinder, mit dem sie das Heu vor dem nächsten Büschel prüften, das polternde Fressen der Säue.
Kälp spürte den Eintritt des Kindes, bevor er es sah. Die Tür klappte so sacht, als habe die Katze sie bewegt; die Schritte gehörten nicht zur Katze. Das Kind trug einen grünen Anorak, an den Füßen Hausschuhe. Kälp fürchtete, es würde Ärger geben, wenn er das Mädchen mit Hausschuhen in den Kot treten ließ. Es setzte seine Füße langsam und konzentriert; helles Haar stand unter der Kapuze hervor, das Gesicht war im Schatten. Wieso die Wurst schwarz sei? Das Kind legte die Stirn an die Latten des Verschlags und betrachtete die Schafe, die nicht mehr fraßen, sondern schlafend beisammenstanden. Ihre Hörner klickten gegeneinander.
Die Wurst sei aus gestocktem Blut, antwortete Kälp. Wessen Blut? Schweineblut. Von deinen Schweinen? Nein, aus dem Supermarkt. Wieso die Hörner der Schafe dreimal eingedreht seien? Sie seien sehr alt, zwei wahre Urgroßmütter. Das Mädchen fragte nach den Namen der Hasen. Sie hätten keine, antwortete er. Wahrscheinlich weil sie zum Essen bestimmt seien, sagte das Mädchen, setzte sich ins Stroh und redete einfach weiter, es sei falsch, Tiere zu töten, sie hätten eine Seele wie die Menschen, sie empfänden Angst und Panik wie die Menschen, das Mädchen habe einen Aufsatz darüber geschrieben. Seine Tiere seien zu alt, sie taugten nicht mehr zum Essen. Kälp mochte seine Mahlzeit in Anwesenheit des Kindes nicht fortsetzen, die Vesper mit den Tieren war ihm verleidet. Ein Rest Schwarzwurst lag auf seinem Schoß.
Die Frau rief nach dem Kind, ohne dass Kälp den Namen verstanden hätte.
Ferienwohnung, sie suchte das Kind in der Scheune. Beim Aufstehen drehte sich das Mädchen zuerst um, kniete in die Vierfüßlerposition und stützte sich mit den Händen an den Oberschenkeln empor. Grußlos lief es aus dem Stall. Kälp hörte die beiden in der Scheune reden; die Frau schimpfte über die Scheiße an den Hausschuhen. Die Hörner der Schafe machten das leise Geräusch.
Kälp hob das Telefon erst beim fünften Läuten ab. Una fragte, ob er mit ihr zu Abend essen wolle. Er habe schon mit den Tieren gegessen. Dann solle er zum Nachtisch kommen. Kälp sagte zu, da er schon das letzte und vorletzte Mal eine Ausflucht erfunden hatte, nicht zu Una zu gehen. Selbst nach so vielen Jahren war sie für ihn immer noch die Verlobte seines Bruders.
Bald nachdem Kälp die Bauernhofhälfte gekauft und in Attensach als Tierarzt angefangen hatte, war ihm Una aufgefallen. Sie betrieb die Kindertagesstätte und leitete die Gemeindemusik, er war fremd gewesen, Una hatte das eine vertraute Gesicht dargestellt, das man für einen Neubeginn braucht. Er hatte sich in sie verliebt. Verliebt eigentlich nicht, er hatte sie begehrt. Auch das traf es nicht, er hatte sich in ihrer Nähe wohlgefühlt. Nicht aus Mangel an Gelegenheit hatte er nichts unternommen, sondern weil ihm der schwebende, hoffnungsvolle Zustand so schön vorgekommen war. Er hatte von Una zu träumen verstanden und so lange von Una geträumt, bis sein Bruder zu einem Zwischenstopp in Attensach aufgetaucht war, Una entdeckt und sie in einer einzigen Nacht erobert hatte.
Kälp hatte sich darauf in der Rolle des hoffnungslos Sehnenden eingerichtet, sich niemals als Konkurrent seines Bruders gesehen, gegen den er in Bezug auf Frauen ohnehin nichts ausgerichtet hätte. Zwei Jahre hatte Kälp die vor Glück berstende Una und ihre Anstrengungen beobachtet, seinem Bruder die Aufenthalte unvergesslich zu machen. Kälp hatte miterlebt, wie der Bruder sich immer weiter von Una zurückzog, je mehr sie für ihn unternahm, dass sie ihm zwar die Verlobung abgerungen, er sich durch das Verlöbnis aber von Una entfernt und wieder anderen Frauen zugewandt hatte. Während Kälp ohne Zögern die ihm von Una angebotene Rolle des Trösters übernommen hatte, während er lange Abende bei ihr verbracht und auf ihre Bitte davon erzählt hatte, wie sein Bruder als Kind war, hatte er ein Nachlassen seines Begehrens gespürt. Je stärker sich Una für den Bruder demütigte, desto deutlicher verlor Kälp das Interesse an ihr. Er hatte die starke Una geliebt; die kriechende, nach der Liebe des Bruders winselnde stieß ihn ab.
Bald darauf war der Bruder in den Tropen gestorben, nach Hause transportiert und auf dem Stiftsfriedhof beigesetzt worden. Una hatte sich in dieser Zeit in seine trauernde Witwe verwandelt und war in dieser Rolle aufgeblüht, da es nun keiner Frau mehr möglich war, ihn ihr wegzunehmen. In der Pflege des Gedenkens an den Bruder hatten Una und Kälp sich einander wieder genähert und waren die besten Freunde geworden, ohne dass er sich ein zweites Mal verliebt hätte.
Er war auf dem Weg zu Una, als sein Telefon läutete. Die Milchbäuerin sagte, die Wehen hätten eingesetzt, die Kuh werde in Kürze kalben. Kälp informierte Una, dass aus dem Nachtisch nichts würde, sie bat ihn, bei der Geburt dabei sein zu dürfen. Kälps Hof lag am Fuß der Anhöhe, Unas Haus inmitten des Weilers, den man vor kurzem Attensach eingemeindet hatte. Kälp holte seine Tasche und erwartete Una vor der Hoftür.
Die Entbindung stellte sich als schwierig heraus, da die Nabelschnur um den Kopf des Kalbes geschlungen war. Eine Weile sah es so aus, als könne Kälp nur Kuh oder Kalb retten. Er musste die Operation von der Flanke her durchführen, schnitt das Rind einen halben Meter lang auf, griff hinein und versuchte, das Kalb im Mutterleib von der Nabelschnur zu befreien. Während er mit beiden Armen bis zu den Schultern in dem Körper steckte, wandte die Kuh den Kopf und sah ihn an. Er redete mit ihr, beruhigte sie, dass sie ein gesundes Junges kriegen werde, und redete so lange weiter, bis das Kalb endlich im Stroh lag. Das Kleine kam auf die Knie, knickte ein, stand aber schließlich auf eigenen Beinen. Die Milchbäuerin klopfte Kälp erleichtert auf die Schulter und rieb das Kalb trocken. Er vernähte die Wunde mit einer dicken Nadel, das Fell mit einer feineren: Sollte die Kuh eingehen, würde die Milchbäuerin wenigstens die Haut verkaufen können.
Nach der glücklich verlaufenen Geburt sprachen die Milchbäuerin, ihr Großvater und Una über Nurbrechts Tod. Es müsse eine heftige Auseinandersetzung gegeben haben, sagte der Großvater, während der Nurbrecht die Kellertreppe hinuntergestürzt sei und sich das Genick gebrochen habe. Mit gebrochenem Genick habe er noch ein paar Minuten überlebt. Ob es schon einen Verdacht gebe, mit wem Nurbrecht Streit gehabt hätte, fragte Una. Viele, zu viele kämen da in Frage, antwortete die Milchbäuerin. Sie hätten Nurbrecht doch alle gekannt, er habe sich mit den wenigsten verstanden, sei wegen jeder Kleinigkeit in Wut geraten, habe aber immer den anderen die Schuld gegeben. Geld müsse der Grund für den Streit gewesen sein, sagte der Altbauer, viele hätten Schulden bei Nurbrecht, ständig habe er sich beklagt, dass die Leute so kleckernd bezahlen würden. Wegen ein paar Schulden werfe man doch niemanden die Kellertreppe hinunter, sagte Una, sie glaube vielmehr an ein Unglück, ein schreckliches Missgeschick.
Kälp erneuerte den Faden und sah Una dabei an. Sie hatte kühle, graugrüne Augen, die für ihn jedoch eine wunderbare Wärme ausstrahlten.
Wenn es bloß ein Unglück gewesen sei, könne sich der Mann doch zu erkennen geben, widersprach der Altbauer. Una nickte, ein Mann, es müsse ein Mann gewesen sein, eine Frau hätte nicht die Kraft gehabt, den schweren und starken Schreiner die Treppe hinunterzustürzen. So oder so sei die Erbfolge unbestreitbar, sagte der Altbauer. Durch Nurbrechts Tod gehe die größte Schreinerei der Gegend in den Besitz der Thailänderin über, die nicht das Geringste von dem Handwerk verstehe. Una widersprach und erinnerte daran, dass die Thailänderin in Attensach eine Schreinerlehre begonnen habe. Zuerst habe man sie an der Hobelmaschine gesehen, später habe Nurbrecht sich mit ihr in der Öffentlichkeit gezeigt, erst als seine Freundin, dann als seine Frau. Durch dieses Zeitmanöver habe er davon ablenken wollen, dass er die Thailänderin in einem Internet-Katalog ausgesucht und bestellt habe. Wenn die Thailänderin allerdings in den nächtlichen Streit verstrickt gewesen sei, sagte die Milchbäuerin, wenn sie also Mitschuld an Nurbrechts Tod trage, scheide sie als Erbin aus.
Die Thailänderin sei den ganzen Abend über bei ihr gewesen, antwortete Una zur Überraschung aller; sie hätten die Zukunft ihres ungeborenen Kindes besprochen. Dass die Thailänderin schwanger war, wisse mittlerweile jeder; Nurbrecht sei ja vor Stolz fast geplatzt, in seinem Alter noch so etwas zustande gebracht zu haben.
Dann bekämen sie also eine thailändische Schreinerin in Attensach, scherzte der Altbauer, und bald darauf einen Halbasiaten als Kronprinzen.
Man darf Manfred nicht vergessen, sagte Kälp.
Una legte ihm die Hand auf den blutigen Unterarm, das sehe ihm ähnlich, an den ungeliebten Buben zu denken. Ungeliebt oder nicht, in der Erbfolge stehe der kleine Manfred vor dem Kind der Thailänderin. Kälp wusch sich unter dem Schlauch, trocknete die Hände und packte seine Tasche zusammen. Ob er denn als Einziger nicht wisse, dass Nurbrecht nach seiner Heirat ein neues Testament gemacht habe, fragte die Milchbäuerin. Die Thailänderin bekomme alles, Nurbrechts frühere Frau, die ihm davongelaufen sei, dagegen nichts, und ihrer beider Sohn Manfred nur ein Pflichtteil. Kälp lehnte den angebotenen Schnaps ab, an Unas Seite trat er ins Freie. Der Mond stand prächtig über den Ebereschen.
Die Mieterin der Ferienwohnung kam ihnen von der Anhöhe entgegen, das Kind stapfte in einiger Entfernung durch den tiefen Schnee. Sie trafen sich unter der Straßenbeleuchtung. Die Frau trug eine knapp sitzende schwarze Daunenjacke, Jeans und Fellstiefel; sie wirkte braun gebrannt, als habe sie bereits einen längeren Ferienaufenthalt hinter sich. Kälp vermutete, das Ledrige ihrer Haut komme vom Rauchen. Sie wollte wissen, ob Kälp ihr Nachbar, der Tierarzt, sei, und fragte, ob Tabea ihn im Stall gestört habe. Una antwortete an Kälps Stelle, bei Ferien auf dem Bauernhof sei der Besuch der Tiere im Preis inbegriffen. Wieso die Vermieter keine eigenen Tiere hielten, fragte die Frau. Sie hätten die Viehwirtschaft seit dem Ruhestand aufgegeben, daher müssten Kälps Tiere als ländliche Attraktion herhalten.
Während Una redete, wandte Kälp den Blick nicht von der Mieterin; ihm fielen ihre dick umrandeten, überproportioniert großen Augen auf. Sie seien unterwegs, um Möhren zu kaufen, sagte sie, Tabea wolle unbedingt die Schafe füttern. Der Supermarkt habe nur bis sieben Uhr auf, antwortete Kälp, da müssten sie sich beeilen. Una sagte, ihr sei kalt, und hakte sich unter. Arm in Arm liefen sie auf die Anhöhe zu. Als er sich noch einmal umdrehte, sah er die Silhouette der Frau, vor der sich gerade die Schiebetür des Supermarkts öffnete.
Seit wann Una mit der Thailänderin auf so gutem Fuß stehe, fragte Kälp unterwegs. Die Frau sei einsam, antwortete Una, trotz ihrer Ehe mit Nurbrecht sei sie bis heute einsam geblieben, eine Fremde in Attensach, fremd durch ihre Herkunft, fremd auch durch die merkwürdige Art, wie es sie hierher verschlagen habe. Man müsse sich das vorstellen, Linh, so ihr Name, sei zunächst in die Datei dieses Frauenumschlagplatzes, dieser Frauenverkaufsstelle aufgenommen worden. Solche Firmen würden ihr kriminelles Geschäft hinter dem Begriff Eheanbahnung verstecken, in Wirklichkeit sei es die zeitgemäße, also internetgestützte Form des Frauenhandels, die Sklaverei des einundzwanzigsten Jahrhunderts.
Da Una beim Gehen immer langsamer wurde, trat Kälp hinter sie, stemmte die Arme in ihren Rücken und schob sie den Hügel hinauf. Sie möge sich erinnern, wie einsam und verbittert Nurbrecht nach der Scheidung gewesen sei, erwiderte er, wie einsam er schon in den Monaten davor gewesen sei, als ihn die Frau von heute auf morgen verlassen habe, bereits die zweite Frau, die Nurbrecht davonlief. Dazu habe sie den dreijährigen Manfred zurückgelassen. Dass Männer Frau und Kind im Stich ließen, um zu einer Jüngeren zu gehen, sei ja nichts Neues, dass aber eine Frau ein kleines Kind zurückließ und erwartete, der verlassene Mann werde sich darum kümmern, sei ein in Attensach einmaliger Fall gewesen, in der ganzen Region sei so etwas noch nie vorgekommen. Dass Nurbrecht nach Monaten der Wut und Verzweiflung schließlich ein neues, stabileres Glück gesucht habe, sei verständlich, sagte Kälp und geriet zunehmend außer Atem.
Una ließ sich schwer gegen seine Hände sinken und genoss es, die Anhöhe hochgeschoben zu werden.
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Autoren-Porträt von Michael Wallner
Michael Wallner, geboren 1958 in Graz, war Schauspieler am Wiener Burgtheater und am Schillertheater in Berlin. Arbeit als Opern und Schauspielregisseur, u. a. in Hamburg, Wien, Bern und Düsseldorf. Romanveröffentlichungen. Auszeichnung mit dem Literaturpreis der Stadt Wetzlar. Der Autor lebt als freier Schriftsteller in Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Michael Wallner
- 2011, 223 Seiten, Maße: 14,4 x 22,3 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Luchterhand Literaturverlag
- ISBN-10: 3630873057
- ISBN-13: 9783630873053
Rezension zu „Kälps Himmelfahrt “
"Sorgsam beschreibt er Landschaft und Menschenschlag und erzählt auch diesmal eine richtig gute Geschichte". NDR Kultur / Neue Bücher
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