Karfunkelstadt - Die Kathedrale der Ratten
Mithilfe des magischen Edelsteins ist es Adrian und Jo gelungen, in ihre Welt zurückzukehren. Doch durch ein Missgeschick steckt Henny noch immer in der Vergangenheit fest. Um sie zu retten, bleibt Adrian und Jo nichts anderes übrig, als ein...
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Produktinformationen zu „Karfunkelstadt - Die Kathedrale der Ratten “
Mithilfe des magischen Edelsteins ist es Adrian und Jo gelungen, in ihre Welt zurückzukehren. Doch durch ein Missgeschick steckt Henny noch immer in der Vergangenheit fest. Um sie zu retten, bleibt Adrian und Jo nichts anderes übrig, als ein zweites Mal in die geheimnisvolle Karfunkelstadt zu reisen. Dort angekommen, werden die Freunde in ein schauriges Abenteuer verwickelt. Unzählige Ratten bevölkern die Straßen, und der Bau einer gigantischen Kathedrale hält die ganze Stadt in Aufruhr ...
Klappentext zu „Karfunkelstadt - Die Kathedrale der Ratten “
Mithilfe des magischen Edelsteins ist es Adrian und Jo gelungen, in ihre Welt zurückzukehren. Doch durch ein Missgeschick steckt Henny noch immer in der Vergangenheit fest. Um sie zu retten, bleibt Adrian und Jo nichts anderes übrig, als ein zweites Mal in die geheimnisvolle Karfunkelstadt zu reisen. Dort angekommen, werden die Freunde in ein schauriges Abenteuer verwickelt. Unzählige Ratten bevölkern die Straßen, und der Bau einer gigantischen Kathedrale hält die ganze Stadt in Aufruhr
Lese-Probe zu „Karfunkelstadt - Die Kathedrale der Ratten “
Karfunkelstadt – Die Kathedrale der Ratten von Thomas EndlDer Mann, der schon vor Langem seinen Namen vergessen hatte, trat in den Dom. Hinter den hohen Fenstern erlosch ein letzter Sonnenstrahl. Der weite Kirchenraum versank in mattes Dunkel.
Unter einem Marienbild flackerten Kerzen. Als der Mann an ihnen vorüberging, warfen sie seinen Schatten zuckend an die nächste mächtige Säule. Jeder Schritt schien den Mann Mühe zu kosten. Man hätte meinen können, ein Greis schleppe sich durch das linke Seitenschiff nach vorne. Doch sein Haar war voll und braun. Die Falten hatten nichts von der Würde des Alters, sondern zeugten von Schmerz, Anstrengung, Verzweiflung.
Er trug ein zerschlissenes Gewand, das einmal ein Priesterrock gewesen sein mochte. Die rechte Hand presste er an sein Herz. Mit der linken hielt er den Griff eines Vogelkäfigs umfasst.
Seine schlurfenden Schritte und das leise Quietschen des Griffes hallten in der Kirche nach, außerdem das Fiepen der Mäuse, die den Käfig bevölkerten.
Der Mann kam nur langsam voran. Umso hurtiger huschte sein Blick über Wände und Säulen, Beichtstühle und Seitenkapellen. Den kunstvoll geschnitzten Figuren schenkte er mehr Aufmerksamkeit als allem anderen. Doch keiner der Engel und Heiligen schien ihn zufriedenzustellen.
Er war fast schon am Altarraum angekommen, als er ächzend innehielt.
Von einem Wandsockel blickte eine Statue auf ihn herab – ein Wanderer, der sein wallendes Gewand schwungvoll anhob, sodass man eine entzündete Wunde auf einem Oberschenkel erkennen konnte. Der Mann setzte den Käfig ab. Dann streckte er seine linke Hand zögernd der Figur entgegen.
„Dein Todestag“, murmelte der Mann, „wieder einmal.“
Tränen rannen ihm über die Wangen. Zitternd näherten sich seine Fingerspitzen den Füßen des Wanderers,
... mehr
berührten sie.
Das Knacken, mit dem sich die Statue aus ihrer Verankerung löste, konnte man kaum hören. Doch als sie von ihrem Sockel kippte und zu Boden stürzte, warfen die Wände des Domes den Lärm tausendfach zurück.
Die Statue brach in der Mitte entzwei und blieb auf dem kalten Stein liegen.
Aus der Sakristei eilte der Dompfarrer herbei, um zu sehen, was geschehen war. Er stolperte über eine fette Ratte mit blutverschmierter Schnauze. Bei den ersten Worten des Mannes, der seinen Namen schon vor Langem vergessen hatte, blieb ihm der Mund vor Staunen offen. Das war das Letzte, was er wahrnahm.
Den Tumult im Vogelkäfig bekam er nicht mehr mit. Als die Mäuse einen Neuankömmling ihres gleichen begrüßten, entkam eine Maus mit schneeweißem Fell.
Sie rannte nur umso schneller, als ihr eine unerbittliche Stimme hinterherschrie: „Bleib da! Verdammt! Ich bin dein Herr!“
Stein für Stein erhebet sich Herzenspein gen Himmel. In ihrem Schatten wächst nichts Gutes.
Oda saß in der Falle.
Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Wie hatte sie nur glauben können, dass es so einfach war, sich in einem fremden Jahrhundert zurechtzufinden?
Sie erschrak, als Frau Gilliot die Treppe hinunter zur Apotheke eilte und ihr über die Schulter hinweg zurief: „Henny, beeil dich, in fünf Minuten müssen wir los. Steckst du dir bitte selbst das Brot in den
Toaster?“
Was, um Himmels willen, sollte sie tun? Ratlos sah Oda Hennys Mutter hinterher. Sie konnte ja kaum erklären: „Werte Frau Gilliot, ich bin nicht Henny, sondern Oda, Oda Haunstein. Ich sehe Ihrer Tochter nur sehr ähnlich, denn ich bin eine von Hennys Vorfahrinnen. Ich komme aus dem Jahr 1899, wo dummerweise gerade Ihre Tochter festsitzt. Ich gehöre zwar wie sie in die Wohnung über der Schwanenapotheke, aber nicht in dieses Jahrhundert. Und deshalb habe ich wirklich nicht die geringste Ahnung, was ich nun mit dem Brot machen soll.“
Aber Hennys Mutter war längst nach unten verschwunden, und so saß Oda alleine am Frühstückstisch in der Küche und grübelte.
Dort stand also dieses Gerät mit Schlitzen, und daneben lagen, in raschelnde Folie verpackt, blasse Brotscheiben. Nun gut, man musste die Scheiben offen bar in die Schlitze schieben, was Oda schließlich tat – ohne zu ahnen, wofür das gut sein sollte. Aber es gab hier allerhand Maschinen, die Verblüffendes vollbrachten. Warum sollte dieser Toaster nicht auch etwas Erfreuliches mit dem Brot anstellen?
Oda starrte auf das Gerät, um ja nichts zu verpassen. „Was wird das?“, wurde sie von einer Männerstimme aufgeschreckt. Hennys Vater, dem die Krawatte lose um den Hals baumelte, suchte Odas Blick. „Meditierst du über Sein und Werden des Weißbrotes, bevor du den Hebel nach unten schiebst und zum Toasten schreitest?“
„Bitte?“, gab Oda irritiert zurück.
„Henny, du kannst dein Brot auch ungetoastet essen, falls du das hipper findest, oder wie auch immer du es ausdrücken würdest. Aber mach hinne!“ Als Oda zögerte, nahm er die beiden Brote aus dem Toaster und legte sie Oda auf den Teller.
„Bist du so weit, Henny? Wir müssen!“, rief im gleichen Moment Frau Gilliot von unten. „Wir kommen sonst zu spät. Du weißt, Herr Breuer wartet nicht mit dem Ausritt.“
Oda sackte das Herz in die Hose. Sie sollte antworten, wagte es aber nicht.
„Henny, nun mach doch!“ Hennys Mutter war inzwischen wieder oben und steckte den Kopf in die Küche. „Wieso sitzt du hier herum? Was ist denn heute mit dir los?“
Oda wich ihrem Blick aus.
„Ist dir nicht gut?“ Hennys Mutter streckte die Hand nach ihr aus. Oh Gott, Oda war sich mit einem Mal überhaupt nicht mehr sicher, ob der Plan funktionieren würde. Ließ sich Hennys Mutter wirklich etwas vormachen? War es nicht eine völlig irrsinnige Idee gewesen, so zu tun, als sei sie Henny?
Stattdessen brachte Oda nur hervor: „Keine Sorge, alles ist famos!“ Dann rannte sie an Hennys Mutter vorbei aus dem Zimmer, aus dem Haus, auf die Straße.
Dort musste sie niemandem etwas vorspielen. Sie würde sich die Stadt anschauen und in Ruhe überlegen, wie es weitergehen sollte.
Reifen quietschten.
Oda erschrak beinahe zu Tode. Eines der Gefährte, die sie hier Auto nannten, hätte sie beinahe erfasst. Der Fahrer stieg aus und schimpfte wie ein Rohrspatz. Hennys Mutter stürzte aus der Apotheke und schrie ihn an: „Wie können Sie derart rücksichtslos fahren? Hier leben Kinder!“ Und Oda rief sie hinterher: „Henny, komm zurück! Was soll das denn?“
Aber Oda lief und lief.
Sich zurechtzufinden, war schwieriger als gedacht. Ganze Straßenverläufe hatten sich seit 1899 verändert. Das alte Wetzbach war übersichtlicher gewesen als das jetzige – und voller Flaneure. Aber hier schlenderte niemand. Alle eilten durch die Gassen, als ob der Teufel hinter ihnen her wäre. Und immer wieder diese Autos. Lärmend rollten sie über das Pflaster. Noch lauter knatterten die motorisierten Zweiräder vorbei. Passanten redeten vor sich hin. Waren sie nicht bei Trost? Oder hatte das mit den Stöpseln zu tun, die sie im Ohr trugen? Aus geöffneten Ladentüren drang Musik mit stampfendem Rhythmus.
Laut und grell war dieses Jahrhundert. Überall wurde für irgendwelche Produkte Reklame gemacht. So große Plakate hatte Oda noch nie gesehen. Eines nahm die komplette Fassade eines Hauses ein. Oda stutzte. Nicht nur wegen des Übermaßes der Werbung, sondern auch wegen ihres Inhaltes: Cola! – Ohne künstliche Aromen stand unter dem Abbild einer Flasche, die Oda vertraut vorkam.
Cola, das war doch jene Medizin gegen Müdigkeit und Kopfschmerz, die Odas Mutter seit dem Sommer 1899 in der Apotheke verkaufte. Sündhaft teuer war dieses Gebräu aus Amerika gewesen, weshalb Odas Mutter nur wenige Flaschen bestellt hatte. Und jetzt, gut hundert Jahre später, wurde es zu einem offenbar höchst günstigen Preis überall verkauft! Wie es schien, hielt dieses Wundermittel, was es versprach.
Obwohl ihr die Brause nicht schmeckte, fand Oda es beruhigend, dass es immer noch Dinge gab, die sie aus ihrer Welt kannte.
Da setzte auf einmal ein Dröhnen ein, das immer lauter wurde. Wie eine monströse Hummel erschien am Himmel ein Luftgefährt. Aber es war kein Zeppelin und keiner jener Gleitflieger, die Oda auf Bildern von tollkühnen Flugpionieren gesehen hatte. Über dem schweren Maschinenkörper schwirrte etwas. Es schien einen Kreis in die Luft zu zeichnen.
Der Krach übertönte die Stimmen auf der Straße, die Musik aus den Geschäften, die rumpelnden Autos und die knatternden Motoren der Zweiräder. Er war nicht zum Aushalten!
Oda hielt sich die Ohren zu und rannte kopflos durch die Gassen. Der Pferdeschwanz, zu dem sie ihre blonden Haare nach Hennys Vorbild gebunden hatte, löste sich auf. Strähnen fielen ihr ins Gesicht. Wie blind stolperte sie über das Pflaster.
Plötzlich vernahm sie ein markerschütterndes Geheul. Ein kastenförmiges Auto schoss direkt auf sie zu. Rote Streifen leuchteten auf weißem Lack. Auf dem Dach rotierte ein blaues Licht.
Oda sprang gerade noch rechtzeitig zur Seite, und das Auto raste an ihr vorbei. Ihr war zum Heulen zumute. Ihren Ausflug in die Zukunft hatte sie sich wirklich anders vorgestellt. Aber nun musste sie zugeben: Diese Welt überforderte sie. Sie wollte nach Hause. Augenblicklich. Keine Stunde länger hielt sie es hier aus!
Verzweifelt irrte sie durch die Altstadt, aber dann – landete sie ausgerechnet am Fuße der Steilen Gasse. Wenn das kein Wink des Schicksals war! Oda atmete tief durch und erklomm den Weg nach oben, bis sie vor dem Schaufenster der Brut stand, einem Gothic-Laden, wie Adrian ihr erklärt hatte. Hinter der Scheibe konnte sie jede Menge schwarzer Kleidung ausmachen, außerdem Armbänder mit
Stacheln und Totenkopfmasken.
Das passte zu diesem Haus. Oda kannte den Laden nur als Credit-Institut Hoyer. Ihr Onkel Adam verlieh dort Ende des 19. Jahrhunderts Geld an Leute, die sich in einer Notlage befanden – wie Oda und ihre Mutter, nachdem ihr Vater gestorben war. Seitdem setzte Hoyer sie unter Druck. Es war nicht absehbar, wie sie das Geliehene zurückzahlen sollten …
Nein, von diesem Haus ging nichts Gutes aus, selbst wenn im Schaufenster neben all den dunklen Dingen ein Karfunkelstein verführerisch glänzte. Die Sonnenstrahlen brachen sich in ihm und ließen sein tiefes Rot leuchten. Glut- und blutvoll war er, man konnte beinahe spüren, wie viel Leben in ihm steckte. Umso schwärzer wirkte die Silhouette des alten Wetzbach, die im Zentrum des Steins zu sehen war. Sie zeigte Odas Heimat, aus der sie gemeinsam mit Jo und Adrian geflüchtet war, weil dort dunkle Legenden zum Leben erwachten.
Dabei war alles ein Versehen gewesen! Sie hatte ihre Welt doch nicht freiwillig verlassen, und nur mit der Hilfe dieses edlen Steins würde Oda wieder zurückkehren können.
Am liebsten wäre Oda sofort in den Laden getreten und hätte einfach nach dem Stein gegriffen. Doch das war nichts als Wunschdenken. Die Realität sah anders aus, denn in diesem Moment tauchte hinter dem Karfunkelstein ein misstrauisches Gesicht auf. Unter einer schwarzen Lederkappe blickte ein Paar wässrig blauer Augen Oda argwöhnisch an. Dicke Augen brauen zogen sich kritisch zusammen. Schweiß rann unter der Kappe hervor. Der Kappen-Mann verzog seinen Mund zu einem spöttischen Grinsen, schüttelte kaum merklich den Kopf und nahm den Stein aus der Auslage. Oda war entsetzt, ihr schwanden fast die Sinne.
Ohne den Stein war sie verloren!
© 2009 Schneiderbuch verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
Das Knacken, mit dem sich die Statue aus ihrer Verankerung löste, konnte man kaum hören. Doch als sie von ihrem Sockel kippte und zu Boden stürzte, warfen die Wände des Domes den Lärm tausendfach zurück.
Die Statue brach in der Mitte entzwei und blieb auf dem kalten Stein liegen.
Aus der Sakristei eilte der Dompfarrer herbei, um zu sehen, was geschehen war. Er stolperte über eine fette Ratte mit blutverschmierter Schnauze. Bei den ersten Worten des Mannes, der seinen Namen schon vor Langem vergessen hatte, blieb ihm der Mund vor Staunen offen. Das war das Letzte, was er wahrnahm.
Den Tumult im Vogelkäfig bekam er nicht mehr mit. Als die Mäuse einen Neuankömmling ihres gleichen begrüßten, entkam eine Maus mit schneeweißem Fell.
Sie rannte nur umso schneller, als ihr eine unerbittliche Stimme hinterherschrie: „Bleib da! Verdammt! Ich bin dein Herr!“
Stein für Stein erhebet sich Herzenspein gen Himmel. In ihrem Schatten wächst nichts Gutes.
Oda saß in der Falle.
Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Wie hatte sie nur glauben können, dass es so einfach war, sich in einem fremden Jahrhundert zurechtzufinden?
Sie erschrak, als Frau Gilliot die Treppe hinunter zur Apotheke eilte und ihr über die Schulter hinweg zurief: „Henny, beeil dich, in fünf Minuten müssen wir los. Steckst du dir bitte selbst das Brot in den
Toaster?“
Was, um Himmels willen, sollte sie tun? Ratlos sah Oda Hennys Mutter hinterher. Sie konnte ja kaum erklären: „Werte Frau Gilliot, ich bin nicht Henny, sondern Oda, Oda Haunstein. Ich sehe Ihrer Tochter nur sehr ähnlich, denn ich bin eine von Hennys Vorfahrinnen. Ich komme aus dem Jahr 1899, wo dummerweise gerade Ihre Tochter festsitzt. Ich gehöre zwar wie sie in die Wohnung über der Schwanenapotheke, aber nicht in dieses Jahrhundert. Und deshalb habe ich wirklich nicht die geringste Ahnung, was ich nun mit dem Brot machen soll.“
Aber Hennys Mutter war längst nach unten verschwunden, und so saß Oda alleine am Frühstückstisch in der Küche und grübelte.
Dort stand also dieses Gerät mit Schlitzen, und daneben lagen, in raschelnde Folie verpackt, blasse Brotscheiben. Nun gut, man musste die Scheiben offen bar in die Schlitze schieben, was Oda schließlich tat – ohne zu ahnen, wofür das gut sein sollte. Aber es gab hier allerhand Maschinen, die Verblüffendes vollbrachten. Warum sollte dieser Toaster nicht auch etwas Erfreuliches mit dem Brot anstellen?
Oda starrte auf das Gerät, um ja nichts zu verpassen. „Was wird das?“, wurde sie von einer Männerstimme aufgeschreckt. Hennys Vater, dem die Krawatte lose um den Hals baumelte, suchte Odas Blick. „Meditierst du über Sein und Werden des Weißbrotes, bevor du den Hebel nach unten schiebst und zum Toasten schreitest?“
„Bitte?“, gab Oda irritiert zurück.
„Henny, du kannst dein Brot auch ungetoastet essen, falls du das hipper findest, oder wie auch immer du es ausdrücken würdest. Aber mach hinne!“ Als Oda zögerte, nahm er die beiden Brote aus dem Toaster und legte sie Oda auf den Teller.
„Bist du so weit, Henny? Wir müssen!“, rief im gleichen Moment Frau Gilliot von unten. „Wir kommen sonst zu spät. Du weißt, Herr Breuer wartet nicht mit dem Ausritt.“
Oda sackte das Herz in die Hose. Sie sollte antworten, wagte es aber nicht.
„Henny, nun mach doch!“ Hennys Mutter war inzwischen wieder oben und steckte den Kopf in die Küche. „Wieso sitzt du hier herum? Was ist denn heute mit dir los?“
Oda wich ihrem Blick aus.
„Ist dir nicht gut?“ Hennys Mutter streckte die Hand nach ihr aus. Oh Gott, Oda war sich mit einem Mal überhaupt nicht mehr sicher, ob der Plan funktionieren würde. Ließ sich Hennys Mutter wirklich etwas vormachen? War es nicht eine völlig irrsinnige Idee gewesen, so zu tun, als sei sie Henny?
Stattdessen brachte Oda nur hervor: „Keine Sorge, alles ist famos!“ Dann rannte sie an Hennys Mutter vorbei aus dem Zimmer, aus dem Haus, auf die Straße.
Dort musste sie niemandem etwas vorspielen. Sie würde sich die Stadt anschauen und in Ruhe überlegen, wie es weitergehen sollte.
Reifen quietschten.
Oda erschrak beinahe zu Tode. Eines der Gefährte, die sie hier Auto nannten, hätte sie beinahe erfasst. Der Fahrer stieg aus und schimpfte wie ein Rohrspatz. Hennys Mutter stürzte aus der Apotheke und schrie ihn an: „Wie können Sie derart rücksichtslos fahren? Hier leben Kinder!“ Und Oda rief sie hinterher: „Henny, komm zurück! Was soll das denn?“
Aber Oda lief und lief.
Sich zurechtzufinden, war schwieriger als gedacht. Ganze Straßenverläufe hatten sich seit 1899 verändert. Das alte Wetzbach war übersichtlicher gewesen als das jetzige – und voller Flaneure. Aber hier schlenderte niemand. Alle eilten durch die Gassen, als ob der Teufel hinter ihnen her wäre. Und immer wieder diese Autos. Lärmend rollten sie über das Pflaster. Noch lauter knatterten die motorisierten Zweiräder vorbei. Passanten redeten vor sich hin. Waren sie nicht bei Trost? Oder hatte das mit den Stöpseln zu tun, die sie im Ohr trugen? Aus geöffneten Ladentüren drang Musik mit stampfendem Rhythmus.
Laut und grell war dieses Jahrhundert. Überall wurde für irgendwelche Produkte Reklame gemacht. So große Plakate hatte Oda noch nie gesehen. Eines nahm die komplette Fassade eines Hauses ein. Oda stutzte. Nicht nur wegen des Übermaßes der Werbung, sondern auch wegen ihres Inhaltes: Cola! – Ohne künstliche Aromen stand unter dem Abbild einer Flasche, die Oda vertraut vorkam.
Cola, das war doch jene Medizin gegen Müdigkeit und Kopfschmerz, die Odas Mutter seit dem Sommer 1899 in der Apotheke verkaufte. Sündhaft teuer war dieses Gebräu aus Amerika gewesen, weshalb Odas Mutter nur wenige Flaschen bestellt hatte. Und jetzt, gut hundert Jahre später, wurde es zu einem offenbar höchst günstigen Preis überall verkauft! Wie es schien, hielt dieses Wundermittel, was es versprach.
Obwohl ihr die Brause nicht schmeckte, fand Oda es beruhigend, dass es immer noch Dinge gab, die sie aus ihrer Welt kannte.
Da setzte auf einmal ein Dröhnen ein, das immer lauter wurde. Wie eine monströse Hummel erschien am Himmel ein Luftgefährt. Aber es war kein Zeppelin und keiner jener Gleitflieger, die Oda auf Bildern von tollkühnen Flugpionieren gesehen hatte. Über dem schweren Maschinenkörper schwirrte etwas. Es schien einen Kreis in die Luft zu zeichnen.
Der Krach übertönte die Stimmen auf der Straße, die Musik aus den Geschäften, die rumpelnden Autos und die knatternden Motoren der Zweiräder. Er war nicht zum Aushalten!
Oda hielt sich die Ohren zu und rannte kopflos durch die Gassen. Der Pferdeschwanz, zu dem sie ihre blonden Haare nach Hennys Vorbild gebunden hatte, löste sich auf. Strähnen fielen ihr ins Gesicht. Wie blind stolperte sie über das Pflaster.
Plötzlich vernahm sie ein markerschütterndes Geheul. Ein kastenförmiges Auto schoss direkt auf sie zu. Rote Streifen leuchteten auf weißem Lack. Auf dem Dach rotierte ein blaues Licht.
Oda sprang gerade noch rechtzeitig zur Seite, und das Auto raste an ihr vorbei. Ihr war zum Heulen zumute. Ihren Ausflug in die Zukunft hatte sie sich wirklich anders vorgestellt. Aber nun musste sie zugeben: Diese Welt überforderte sie. Sie wollte nach Hause. Augenblicklich. Keine Stunde länger hielt sie es hier aus!
Verzweifelt irrte sie durch die Altstadt, aber dann – landete sie ausgerechnet am Fuße der Steilen Gasse. Wenn das kein Wink des Schicksals war! Oda atmete tief durch und erklomm den Weg nach oben, bis sie vor dem Schaufenster der Brut stand, einem Gothic-Laden, wie Adrian ihr erklärt hatte. Hinter der Scheibe konnte sie jede Menge schwarzer Kleidung ausmachen, außerdem Armbänder mit
Stacheln und Totenkopfmasken.
Das passte zu diesem Haus. Oda kannte den Laden nur als Credit-Institut Hoyer. Ihr Onkel Adam verlieh dort Ende des 19. Jahrhunderts Geld an Leute, die sich in einer Notlage befanden – wie Oda und ihre Mutter, nachdem ihr Vater gestorben war. Seitdem setzte Hoyer sie unter Druck. Es war nicht absehbar, wie sie das Geliehene zurückzahlen sollten …
Nein, von diesem Haus ging nichts Gutes aus, selbst wenn im Schaufenster neben all den dunklen Dingen ein Karfunkelstein verführerisch glänzte. Die Sonnenstrahlen brachen sich in ihm und ließen sein tiefes Rot leuchten. Glut- und blutvoll war er, man konnte beinahe spüren, wie viel Leben in ihm steckte. Umso schwärzer wirkte die Silhouette des alten Wetzbach, die im Zentrum des Steins zu sehen war. Sie zeigte Odas Heimat, aus der sie gemeinsam mit Jo und Adrian geflüchtet war, weil dort dunkle Legenden zum Leben erwachten.
Dabei war alles ein Versehen gewesen! Sie hatte ihre Welt doch nicht freiwillig verlassen, und nur mit der Hilfe dieses edlen Steins würde Oda wieder zurückkehren können.
Am liebsten wäre Oda sofort in den Laden getreten und hätte einfach nach dem Stein gegriffen. Doch das war nichts als Wunschdenken. Die Realität sah anders aus, denn in diesem Moment tauchte hinter dem Karfunkelstein ein misstrauisches Gesicht auf. Unter einer schwarzen Lederkappe blickte ein Paar wässrig blauer Augen Oda argwöhnisch an. Dicke Augen brauen zogen sich kritisch zusammen. Schweiß rann unter der Kappe hervor. Der Kappen-Mann verzog seinen Mund zu einem spöttischen Grinsen, schüttelte kaum merklich den Kopf und nahm den Stein aus der Auslage. Oda war entsetzt, ihr schwanden fast die Sinne.
Ohne den Stein war sie verloren!
© 2009 Schneiderbuch verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
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Autoren-Porträt von Thomas Endl
Thomas Endl, geb. 964 in Eichstätt, ist als freiberuflicher Regisseur u.a. für den Bayerischen Rundfunk tätig und hat mit Klaus Reichold ein Fernsehporträt über Ludwig I., den Großvater des Märchenkönigs, gedreht. Der Germanist ist außerdem Kinder- und Geschenkbuchautor.
Bibliographische Angaben
- Autor: Thomas Endl
- Altersempfehlung: 10 - 12 Jahre
- 2009, 156 Seiten, Maße: 12,5 x 18,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Schneiderbuch
- ISBN-10: 3505125407
- ISBN-13: 9783505125409
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