Keine Kunst
Roman
Nach dem Buch über den Tod der Mutter ist Keine Kunst das Buch über die wieder zum Leben erweckte Mutter, deren Sprache die Sprache des Fußballs ist - und der Sohn in dieser Erzählung (ist das Peter Esterházy?) existiert und schreibt in dieser Muttersprache.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Keine Kunst “
Nach dem Buch über den Tod der Mutter ist Keine Kunst das Buch über die wieder zum Leben erweckte Mutter, deren Sprache die Sprache des Fußballs ist - und der Sohn in dieser Erzählung (ist das Peter Esterházy?) existiert und schreibt in dieser Muttersprache.
Klappentext zu „Keine Kunst “
Als ich beschloss, die Geschichte meiner Mutter zu schreiben, über ihre verblüffende, auf jeden Fall aber ungewöhnliche Beziehung zum Fußball, wusste ich nicht, dass auch ich eine neue Geschichte haben würde." 1985 hatte Esterházy auf anrührende Weise in den Hilfsverben des Herzens vom Sterben seiner Mutter erzählt. Jetzt erweckt er sie wieder zum Leben. Fast jeden Tag sieht er sie, während er diese Erzählung schreibt, sie essen zu Mittag, reden. Und er erfährt neue Geschichten - über die fünfziger Jahre, über die Fußball- Wundermannschaft" von Bern, ihre Freundschaft mit den Fußballgöttern Hidekuti und Puskás, der ihr den Hof machte und dem es 1951 gelang, die Familie vor der Deportation zu bewahren. Fußball ist ihr ganzes Leben, die Welt setzte sich im Kopf meiner Mutter aus den Vierecken des Fußballplatzes zusammen." Auf diesem Spielfeld lässt der Ich-Erzähler die uns bekannten Figuren aus seiner Familiengeschichte, Vater, Mutter, die Geschwister, auflaufen, aber in neuer Formation. Der Vater bekommt eine neue Geschichte, die Gnade des frühen Todes, der Sohn eine Liebesgeschichte, die vor 45 Jahren begann und deren düstere Schatten ihn noch heute verfolgen. Und wenn die Mutter ihm am Schluss den Text ihrer Todesanzeige diktiert hat, verlässt die Sprache das Spielfeld. Es bleibt, um im Bild zu bleiben, ein wunderbares neues Viereck, dieses Buch: eine Hommage an die Mutter, die im Herzen des Erzählers für ewig weiterlebt.
'Als ich beschloss, die Geschichte meiner Mutter zu schreiben, über ihre verblüffende, auf jeden Fall aber ungewöhnliche Beziehung zum Fußball, wusste ich nicht, dass auch ich eine neue Geschichte haben würde.' 1985 hatte Esterházy auf anrührende Weise in den Hilfsverben des Herzens vom Sterben seiner Mutter erzählt. Jetzt erweckt er sie wieder zum Leben. Fast jeden Tag sieht er sie, während er diese Erzählung schreibt, sie essen zu Mittag, reden. Und er erfährt neue Geschichten - über die fünfziger Jahre, über die Fußball-'Wundermannschaft' von Bern, ihre Freundschaft mit den Fußballgöttern Hidekuti und Puskás, der ihr den Hof machte und dem es 1951 gelang, die Familie vor der Deportation zu bewahren. 'Fußball ist ihr ganzes Leben, die Welt setzte sich im Kopf meiner Mutter aus den Vierecken des Fußballplatzes zusammen.' Auf diesem Spielfeld lässt der Ich-Erzähler die uns bekannten Figuren aus seiner Familiengeschichte, Vater, Mutter, die Geschwister, auflaufen, aber in neuer Formation. Der Vater bekommt eine neue Geschichte, die Gnade des frühen Todes, der Sohn eine Liebesgeschichte, die vor 45 Jahren begann und deren düstere Schatten ihn noch heute verfolgen. Und wenn die Mutter ihm am Schluss den Text ihrer Todesanzeige diktiert hat, verlässt die Sprache das Spielfeld. Es bleibt, um im Bild zu bleiben, ein wunderbares neues Viereck, dieses Buch: eine Hommage an die Mutter, die im Herzen des Erzählers für ewig weiterlebt.
Lese-Probe zu „Keine Kunst “
PÉTER ESTERHÁZY KEINE KUNST Roman Aus dem Ungarischen von Terézia Mora
Erstes Kapitel
DICHTUNG UND WAHRHEIT
Im Spital
Der Mutter und des Sohnes! Nicht das war es, was mich weckte, denn ich schlief nicht, bei diesem Satz schreckte ich hoch, bei diesem schreckensschreigleichen Ausruf, diesem Aufschrei, der gleichzeitig siegestrunken und resigniert klang, fordernd, oder zumindest beharrend und zugleich selbstlos, wie ein wahres Stoßgebet. Die Stimme kannte ich gut.
Ich lag im Bett, in Kissen, wie der Dichter sagt, und doch martialisch, lag wie mit einer Schusswunde danieder. Mehrfach schon habe ich darüber nachgesonnen, wieso in der sogenannten zeitgenössischen ungarischen Prosa so schwer eine Szene vorstellbar ist, in der jemand niedergeschossen wird. Natürlich, wenn schon einer niedergeschossen wird, dann keinesfalls der Ich-Erzähler! Obwohl, er könnte sich davon erholen, dann kann er erzählen, soviel er lustig ist … Er würde im Krankenhaus liegen, wie ich, würde nicht ganz verstehen, wo er ist und wieso, ebenso wie ich, die Beruhigungs- und schmerzstillenden Mittel sind noch nicht abgebaut, der einzige sichere Punkt scheint der in der Tür stehende (sich unterhaltende?, streitende?) Polizeiermittler zu sein.
... mehr
Allmählich hätte ich auch entsprechende Erfahrungen mit Schießereien. Angeblich kämpften in den neunziger Jahren die ukrainische und die albanische Mafia in Budapest oder um Budapest. Ich selbst habe auch eine Schießerei aus Richtung Szentendrei-Straße mit angehört. Ich erfuhr erst am nächsten Tag aus der Zeitung, dass es sich um eine Schießerei gehandelt hatte, am Abend zuvor dachte ich noch, es wäre wieder so eine neureiche Party in der Nachbarschaft, ein privates Feuerwerk, aber vergeblich beäugte ich gereizt den schwarzen Himmel, er blieb ein schwarzer Himmel, was ich schadenfroh registrierte. Später kehrte Ruhe ein, die Albaner haben gewonnen, glaube ich. Was heißt, dass wir jetzt also albanische Mafiosi haben. Was ich auch nicht so richtig verstehe, ist, wieso man diese Mafia aus dem Ausland beschaffen muss. Was können die Albaner, das wir nicht können? Wenn wir die Ukrainer als Russen betrachten, und die wiederum als Kommunisten, ist es leicht, alles erdenklich Böse von ihnen anzunehmen. Aber dass das Volk von Bartók und Puskás nicht in der Lage sein soll, aus eigener Kraft wenigstens eine kleinere Mafia aufzustellen, das kommt mir doch recht merkwürdig vor. Oder auch wir haben eine, sie ist nur bescheiden und hat sich schon in die europäischen Strukturen integriert … Obwohl, warum haben sich die Albaner nicht uns angeschlossen? Puskás könnte man sich sogar leicht mit einer viehisch großen Magnum vorstellen … Ich glaube, meine Mutter war die Einzige, die ihn mit Ferenc ansprach (und nicht mit Öcsi). Bartók ist schon eine härtere Nuss. Aber es wäre eine schlechte Idee, obwohl auf den ersten Blick auf der Hand liegend, ihm irgendeine elegante Damenpistole zuzuordnen. Man müsste nachschauen, ob es darunter ein trotz aller Feinheit wuchtiges Stück gibt, oder eher noch eines, das wie ein wildes Tier ist: sieht wie ein Schmuckstück aus, aber der Kommissar könnte lange erzählen von zersprengten Schädeln, durchschlagenen Brustkörben. Ein Zug könnte da durchfahren, ach was, fahren!, sausen, meine Herren, ein Tunnel durch den Brustkorb!
Ich sehe nicht ein, wieso ein so talentiertes Volk keine eigene Mafia haben sollte. Es ist genug Leidenschaft vorhanden, genug Leiden und genug Korruption … Denn umsonst sind die Finnen erfindungsreich, haben ein hohes Bruttoinlandsprodukt, sie sind nicht korrupt genug. Übrigens stand ich eine Zeit lang häufig mit dem Auto an jener roten Ampel am Fuße des Rosenbergs, wo man den dort wartenden angesagten Geschäftsmann erschossen hatte. Am 11. Februar 1998 um 17 Uhr 44 hielt ein alter Mitsubishi neben ihm, ein etwa zwanzig Jahre alter junger Mann stieg mit ruhigen, zielgerichteten Bewegungen, wie ein Wassermonteur, auf der Beifahrerseite aus, dem Beruf nach ein gedungener Mörder, warf die Tür hinter sich zu, ging um den Mitsubishi herum und eröffnete aus nächster Nähe das Feuer aus seiner Maschinenpistole vom Typ Agram-2000 mit Schalldämpfer, er gab mindestens dreißig Schüsse auf Kopf und Hals des Opfers ab, das vergebens gewohnheitsmäßig eine Pistole dabeihatte – hier könnte endlich meine Lieblingswaffe, die 38er Smith and Wesson, auftauchen –, der Geschäftsmann hatte nicht einmal Zeit, die Hand schützend vor sich zu halten, und obwohl es heißt, er sei in jeder Minute des Tages misstrauisch gewesen und habe, das gehörte zu seiner Dienstpflicht, seine Todfeinde gut gekannt, in der abendlichen Rushhour wird er sich in Sicherheit gewähnt haben, denn er hatte noch nicht einmal seine Leibwächter dabei. Mittlerweile war der Mitsubishi losgefahren, noch nicht bei Grün, aber kaum mehr bei Rot, und der junge Mann verschwand im abendlichen Trubel, in Richtung jenes Buchladens, den auch ich aufzusuchen pflege.
Sie haben eine reiche Auswahl an ungarischer Literatur von jenseits der Grenzen. Die ungarischen Autoren zum Beispiel, die im ehemaligen Jugoslawien leben, wissen mehr übers Töten als wir im Mutterland, denn sie hatten ihre Nato-Bombardierung, und überhaupt, die ganzen Balkankriege. Ich bin ein Friedenskind. Natürlich ist das Blödsinn, in Friedenszeiten wird vielleicht mehr getötet, zum persönlichen Gebrauch jedenfalls, als im Krieg. Oder nehmen wir Pulp fiction. Überhaupt die Filme. So leicht, so selbstverständlich fliegen, spritzen dort die Gehirne durch die Gegend, explodieren blutig, mit einem Gusto, als handelte es sich um eine der immer häufiger vorkommenden gastro-touristischen Fernsehserien (Motto: Genieße und reise oder Die Welt als Antipasto).
Ich schloss die Augen. Von der Operation, davon, dass sie mir ins Fleisch geschnitten, mich zerlegt hatten – das wunderbare Leben eines zerlegten Huhns –, dass sie mich tranchiert hatten, war ich müde geworden, oder eher: Mein Körper war müde geworden, ich hatte zum Beispiel das Gefühl, wenn ich auch nur eine falsche Bewegung machte, bekäme ich sofort einen Krampf im Bein, ich hatte meine linke Wade in Verdacht, als wäre sie der wunde Punkt, der schwächliche Damm, über den die schäumende Welle des Schmerzes peitscht, wenngleich die Wade eher anhand meiner Erinnerungen zu ihrer prominenten Rolle kam, sie war es, die öfter einen Krampf zu bekommen pflegte. Eine falsche Bewegung: Das war es, was mich eher bedrückte, weniger das zu erwartende »plötzliche und unerwartete (schmerzliche) Zusammenziehen« der Muskeln, dass ich nicht einmal eine Idee von diesem »Falsch« hatte, ich musste also alles als falsch annehmen, jede mögliche Bewegung. Deswegen bewegte ich mich nicht, erschrocken, steif lag ich da und wusste, dass das ein Fehler (falsch) war.
Dieser Fehler hing dunkel über mir, das katholischschuldbewusste Bedrängtsein eines Lebens im Zustande ständigen Fehlens; die Tatsache jedoch, dass die Müdigkeit so eindeutig an den Körper gebunden war, erfüllte mich mit einer kaum begründbaren Heiterkeit. Grinsend öffnete ich die Augen. Ich hatte ein Einzelzimmer bekommen, das war gut, sperrte mich aber auch von allen weg. Von Zeit zu Zeit drangen geheimnisvolle Laute vom Flur herein. Sowie ein klar heraushörbares Frauenlachen, als stünde sie direkt neben mir, jene Lachende; das war am störendsten. Am aufwühlendsten. Meine Mutter stand in der Tür, nicht drinnen, nicht draußen, Schwester Emma stand bei ihr, mir war, als unterhielten sie sich. Schwester Emma war streng, unfreundlich, und ich vertraute ihr sehr. Aus irgendeinem Grund schien sie schlecht von mir zu denken, aber sie verbarg es, auch sie aus beruflichen Gründen.
Heute werden die Fäden gezogen, sagte sie eines Morgens. Draußen schneite es, in so großen Flocken wie in den Märchen. Wann?
Mit einem Mal, antwortete sie und sah mich an, als wäre sie überrascht davon, was sie gesagt hatte. Einstmals pflegten die Kellner zu fragen, auf wie viele Brote sich der Verzehr belaufen habe. Woraufhin mein Vater, als er noch sprechen konnte, jedes Mal, wie in einem bösartigen Witz, antwortete: auf einige. Das habe ich an anderer Stelle bereits geschrieben, macht nichts, das war es, was mir von diesem »mit einem Mal« in den Sinn kam, und ich war der Schwester dankbar dafür.
Wird es wehtun?
Nur wie Sex. Ich sah ihrem verschlossenen Gesicht an, sollte ich mir jetzt irgendeine Zweideutigkeit erlauben, wird sie mich ohrfeigen, oder mich, nicht wahr, erschießen, auf jeden Fall wird sie Vergeltung üben. Auf jeden Fall wird es Ärger geben.
Meine Mutter erlaubte sich – immer noch, also für immer –, ihren gelben Turban anzulegen, ihn zu tragen. Jenes Stück, das unmittelbar anzeigt, dass sie eine vornehme Dame ist. Obwohl sie nicht mehr die vornehme Dame spielte, sie spielte, sie spielt – glaube ich – nichts mehr, sie ist schon zu sehr eine alte Frau, schließlich ist sie beinahe neunzig; dennoch, sie war nicht nur eine alte Frau mit unglaublichen Energien und einem wilden gelben Hut, sondern zeigte auch an, dass diese alte Frau, aller Wahrscheinlichkeit nach, eine vornehme Frau gewesen war. Von Zeit zu Zeit vielleicht eine Dame. Dass es eine Zeit gab – ich weiß: eine heimliche Zeit –, zu der sie als Dame gegolten hatte … tja, bei wem? Die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in Osteuropa spielte den Damen nicht in die Hand, und meine Mutter bedauerte das gar nicht so sehr. Aber sie hat immer vermuten lassen – in jener heimlichen, nicht offiziellen Zeit –, dass sie, unter anderem, auch das war, eine Dame, sie galt als Dame: bei sich selbst.
Die Basis des Huts bildete eine Form aus Filz (Nachttopf, würde der fühllose ungarische Mann sagen), darauf wurde die Turbanartigkeit montiert. Meine Mutter hatte ihn in der Kígyó-Straße gekauft, in der Innenstadt, bei Bozsik. Cucu Bozsik, das andere (oder, wie meine Mutter sagt beziehungsweise kreischend verbessert: dritte!) Genie der Wunderelf, eröffnete, nachdem er seine Laufbahn beendet hatte (oder, wie meine Mutter gerne sagt beziehungsweise gereizt verbessert: Er hat sie nicht beendet, mein Junge, man hat sie ihn auch nicht beenden lassen, sondern sie nahm ein Ende, die Laufbahn versickerte im abgestandenen Grau der sechziger Jahre), ein Hutgeschäft. Oder ein Strickwarengeschäft.
Cucu, mein Lieber – er war der Einzige, den sie beim Spitznamen rief –, schauen Sie mich nicht so an. Das kann so nicht weitergehen, ich sehe aus wie eine abgeschuftete christliche Mutter von vier Kindern.
Iwo, Tante Lilike.
Passen Sie auf, mein Sohn, ich bin fünfzig Jahre alt, nennen Sie mich nicht Tante. Onkel Bozsik. Bozsik lief rot an. Es bräuchte irgendein wildes Ding in wohltemperierter Preislage, süßer Cucu. Und dann erfand der hundertfache Nationalspieler für meine Mutter dieses turbanoide ewige Stück. Hätte uns das Christentum mit dem Heiligen Stephan keinen Strich, oder eher: kein Kreuz durch die Rechnung gemacht, würden wir statt des Lieblingspferds zweifellos diesen mit ihr zusammen begraben, ihren treuen Turban.
Meine Mutter interessierte sich nicht für Mutter-Klischees, deswegen benutzte sie sie, mal ernst, ausgeliefert, nicht etwa neckisch oder ironisch, sondern sich erschrocken an sie klammernd, mal parodierte sie sie kühl, als würde sie darüberstehen, und in solchen Fällen stand sie auch dort. Als würden sie widerstreiten, Schwester Emma und sie, zwei ernste Gesichter in der halb geöffneten Tür, Blicke in meine Richtung werfend. Es ist eine Binsenwahrheit, doch Binsenwahrheiten sind wahr (auch das ist eine Binsenwahrheit; auch das; und so weiter: und vielleicht am Ende, das heißt gerade nach dem unendlichsten Semikolon wird die Behauptung plötzlich dennoch etwas Neues aussagen: So stelle ich mir die Welt vor, als so ein Früher-oder-später- Ding, also dass die schwarzen Löcher doch nicht die Informationen verschlucken), wonach man neben seiner Mutter wieder zum Kinde wird, egal, ob man, sagen wir, achtundfünfzig Jahre alt ist, man hat wieder Kinderstatus. (Obwohl zwischen Kind und Kind der Unterschied groß ist.) Und in einem Krankenhausbett wird man sowieso alterslos, ein Gegenstand ohne Jahreszahl, man kann sich keinerlei Illusion hingeben, dass man sich etwa mit der Kraft der Jugend jenem Unbekannten entgegenstemmen wird, das einen hier – augenscheinlich – bedrohlich erwartet, und man kann sich auch nicht damit beruhigen, dass man sich unter dem Schutzschirm des Alters verstecken kann, indem man sich sagt, es wird nur das passieren, was passieren kann; es gibt nichts, nur das Bett, die Zimmertoilette, Schwester Emma, diese Dinge. Und meine Mutter. Der vom Duft gelber Erbsen schwer gewordene Nordwestwind trieb mir Satzfetzen zu. Das Mittagessen hatte geschmeckt: die schwer definierbare Suppe, einer Gemüsesuppe noch am ähnlichsten, gelbes Erbsenpüree, als wären wir noch in den Sechzigern, das erste essbare gelbe Erbsenpüree meines Lebens!, und dazu das ordinärste Faschierte, das möglich ist: grob, stückig, aber gerade in jene Richtung überwürzt, gegen die ich positiv voreingenommen bin: Ich kaute und spuckte Pfeffer- und Knoblauchstückchen aus.
Es tat mir wohl.
Denn wissen Sie, meine Liebe, eine Mutter ist für immer und ewig eine Mutter. Und ihr Kind ist für immer und ewig ihr Kind. Das ist das Schicksal der Mutter und des Sohnes.
Aber der Herr Professor ist … nicht mehr wirklich ein Kind.
Guter Gott! Sie nennen meinen Sohn Herr Professor?
Was für eine Welt!
Das war sein Vorschlag, weil wir nicht wussten, wie wir ihn ansprechen sollten. Erst sagte er, egal, aber Feri vielleicht doch nicht. Das haben wir nicht verstanden. Und dann sagte er das, und dass man ihn in Italien mit Professor angeredet hat.
Meine Mutter winkte ab. Ich schloss die Augen. Als hätte mich ein Stromschlag getroffen, ich konnte es beinahe hören, wie der zippende Muskel hinten in meinem linken Schenkel nachschwang, mein ganzer Körper war wie ein Bogen gespannt, Schweiß überströmte mich. Wenn das nicht so ist, als hätte man mich (hinterrücks) angeschossen, dann weiß ich auch nicht. In der Innenstadt gab es sogar schon wegen Parkplätzen Schießereien, man kann sich die Einschläge anschauen, im Parkhaus. Wie die Einschläge der Kugeln von 56 an den Häuserwänden, nur dass Letztere eine etwas erhabenere Aura haben; sie blieben lange erhalten, man konnte sie noch lange sehen, dabei wollte sich keiner an sie erinnern, weder wir noch sie.
Ich sehe nicht ein, wieso ein so talentiertes Volk keine eigene Mafia haben sollte. Es ist genug Leidenschaft vorhanden, genug Leiden und genug Korruption … Denn umsonst sind die Finnen erfindungsreich, haben ein hohes Bruttoinlandsprodukt, sie sind nicht korrupt genug. Übrigens stand ich eine Zeit lang häufig mit dem Auto an jener roten Ampel am Fuße des Rosenbergs, wo man den dort wartenden angesagten Geschäftsmann erschossen hatte. Am 11. Februar 1998 um 17 Uhr 44 hielt ein alter Mitsubishi neben ihm, ein etwa zwanzig Jahre alter junger Mann stieg mit ruhigen, zielgerichteten Bewegungen, wie ein Wassermonteur, auf der Beifahrerseite aus, dem Beruf nach ein gedungener Mörder, warf die Tür hinter sich zu, ging um den Mitsubishi herum und eröffnete aus nächster Nähe das Feuer aus seiner Maschinenpistole vom Typ Agram-2000 mit Schalldämpfer, er gab mindestens dreißig Schüsse auf Kopf und Hals des Opfers ab, das vergebens gewohnheitsmäßig eine Pistole dabeihatte – hier könnte endlich meine Lieblingswaffe, die 38er Smith and Wesson, auftauchen –, der Geschäftsmann hatte nicht einmal Zeit, die Hand schützend vor sich zu halten, und obwohl es heißt, er sei in jeder Minute des Tages misstrauisch gewesen und habe, das gehörte zu seiner Dienstpflicht, seine Todfeinde gut gekannt, in der abendlichen Rushhour wird er sich in Sicherheit gewähnt haben, denn er hatte noch nicht einmal seine Leibwächter dabei. Mittlerweile war der Mitsubishi losgefahren, noch nicht bei Grün, aber kaum mehr bei Rot, und der junge Mann verschwand im abendlichen Trubel, in Richtung jenes Buchladens, den auch ich aufzusuchen pflege.
Sie haben eine reiche Auswahl an ungarischer Literatur von jenseits der Grenzen. Die ungarischen Autoren zum Beispiel, die im ehemaligen Jugoslawien leben, wissen mehr übers Töten als wir im Mutterland, denn sie hatten ihre Nato-Bombardierung, und überhaupt, die ganzen Balkankriege. Ich bin ein Friedenskind. Natürlich ist das Blödsinn, in Friedenszeiten wird vielleicht mehr getötet, zum persönlichen Gebrauch jedenfalls, als im Krieg. Oder nehmen wir Pulp fiction. Überhaupt die Filme. So leicht, so selbstverständlich fliegen, spritzen dort die Gehirne durch die Gegend, explodieren blutig, mit einem Gusto, als handelte es sich um eine der immer häufiger vorkommenden gastro-touristischen Fernsehserien (Motto: Genieße und reise oder Die Welt als Antipasto).
Ich schloss die Augen. Von der Operation, davon, dass sie mir ins Fleisch geschnitten, mich zerlegt hatten – das wunderbare Leben eines zerlegten Huhns –, dass sie mich tranchiert hatten, war ich müde geworden, oder eher: Mein Körper war müde geworden, ich hatte zum Beispiel das Gefühl, wenn ich auch nur eine falsche Bewegung machte, bekäme ich sofort einen Krampf im Bein, ich hatte meine linke Wade in Verdacht, als wäre sie der wunde Punkt, der schwächliche Damm, über den die schäumende Welle des Schmerzes peitscht, wenngleich die Wade eher anhand meiner Erinnerungen zu ihrer prominenten Rolle kam, sie war es, die öfter einen Krampf zu bekommen pflegte. Eine falsche Bewegung: Das war es, was mich eher bedrückte, weniger das zu erwartende »plötzliche und unerwartete (schmerzliche) Zusammenziehen« der Muskeln, dass ich nicht einmal eine Idee von diesem »Falsch« hatte, ich musste also alles als falsch annehmen, jede mögliche Bewegung. Deswegen bewegte ich mich nicht, erschrocken, steif lag ich da und wusste, dass das ein Fehler (falsch) war.
Dieser Fehler hing dunkel über mir, das katholischschuldbewusste Bedrängtsein eines Lebens im Zustande ständigen Fehlens; die Tatsache jedoch, dass die Müdigkeit so eindeutig an den Körper gebunden war, erfüllte mich mit einer kaum begründbaren Heiterkeit. Grinsend öffnete ich die Augen. Ich hatte ein Einzelzimmer bekommen, das war gut, sperrte mich aber auch von allen weg. Von Zeit zu Zeit drangen geheimnisvolle Laute vom Flur herein. Sowie ein klar heraushörbares Frauenlachen, als stünde sie direkt neben mir, jene Lachende; das war am störendsten. Am aufwühlendsten. Meine Mutter stand in der Tür, nicht drinnen, nicht draußen, Schwester Emma stand bei ihr, mir war, als unterhielten sie sich. Schwester Emma war streng, unfreundlich, und ich vertraute ihr sehr. Aus irgendeinem Grund schien sie schlecht von mir zu denken, aber sie verbarg es, auch sie aus beruflichen Gründen.
Heute werden die Fäden gezogen, sagte sie eines Morgens. Draußen schneite es, in so großen Flocken wie in den Märchen. Wann?
Mit einem Mal, antwortete sie und sah mich an, als wäre sie überrascht davon, was sie gesagt hatte. Einstmals pflegten die Kellner zu fragen, auf wie viele Brote sich der Verzehr belaufen habe. Woraufhin mein Vater, als er noch sprechen konnte, jedes Mal, wie in einem bösartigen Witz, antwortete: auf einige. Das habe ich an anderer Stelle bereits geschrieben, macht nichts, das war es, was mir von diesem »mit einem Mal« in den Sinn kam, und ich war der Schwester dankbar dafür.
Wird es wehtun?
Nur wie Sex. Ich sah ihrem verschlossenen Gesicht an, sollte ich mir jetzt irgendeine Zweideutigkeit erlauben, wird sie mich ohrfeigen, oder mich, nicht wahr, erschießen, auf jeden Fall wird sie Vergeltung üben. Auf jeden Fall wird es Ärger geben.
Meine Mutter erlaubte sich – immer noch, also für immer –, ihren gelben Turban anzulegen, ihn zu tragen. Jenes Stück, das unmittelbar anzeigt, dass sie eine vornehme Dame ist. Obwohl sie nicht mehr die vornehme Dame spielte, sie spielte, sie spielt – glaube ich – nichts mehr, sie ist schon zu sehr eine alte Frau, schließlich ist sie beinahe neunzig; dennoch, sie war nicht nur eine alte Frau mit unglaublichen Energien und einem wilden gelben Hut, sondern zeigte auch an, dass diese alte Frau, aller Wahrscheinlichkeit nach, eine vornehme Frau gewesen war. Von Zeit zu Zeit vielleicht eine Dame. Dass es eine Zeit gab – ich weiß: eine heimliche Zeit –, zu der sie als Dame gegolten hatte … tja, bei wem? Die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in Osteuropa spielte den Damen nicht in die Hand, und meine Mutter bedauerte das gar nicht so sehr. Aber sie hat immer vermuten lassen – in jener heimlichen, nicht offiziellen Zeit –, dass sie, unter anderem, auch das war, eine Dame, sie galt als Dame: bei sich selbst.
Die Basis des Huts bildete eine Form aus Filz (Nachttopf, würde der fühllose ungarische Mann sagen), darauf wurde die Turbanartigkeit montiert. Meine Mutter hatte ihn in der Kígyó-Straße gekauft, in der Innenstadt, bei Bozsik. Cucu Bozsik, das andere (oder, wie meine Mutter sagt beziehungsweise kreischend verbessert: dritte!) Genie der Wunderelf, eröffnete, nachdem er seine Laufbahn beendet hatte (oder, wie meine Mutter gerne sagt beziehungsweise gereizt verbessert: Er hat sie nicht beendet, mein Junge, man hat sie ihn auch nicht beenden lassen, sondern sie nahm ein Ende, die Laufbahn versickerte im abgestandenen Grau der sechziger Jahre), ein Hutgeschäft. Oder ein Strickwarengeschäft.
Cucu, mein Lieber – er war der Einzige, den sie beim Spitznamen rief –, schauen Sie mich nicht so an. Das kann so nicht weitergehen, ich sehe aus wie eine abgeschuftete christliche Mutter von vier Kindern.
Iwo, Tante Lilike.
Passen Sie auf, mein Sohn, ich bin fünfzig Jahre alt, nennen Sie mich nicht Tante. Onkel Bozsik. Bozsik lief rot an. Es bräuchte irgendein wildes Ding in wohltemperierter Preislage, süßer Cucu. Und dann erfand der hundertfache Nationalspieler für meine Mutter dieses turbanoide ewige Stück. Hätte uns das Christentum mit dem Heiligen Stephan keinen Strich, oder eher: kein Kreuz durch die Rechnung gemacht, würden wir statt des Lieblingspferds zweifellos diesen mit ihr zusammen begraben, ihren treuen Turban.
Meine Mutter interessierte sich nicht für Mutter-Klischees, deswegen benutzte sie sie, mal ernst, ausgeliefert, nicht etwa neckisch oder ironisch, sondern sich erschrocken an sie klammernd, mal parodierte sie sie kühl, als würde sie darüberstehen, und in solchen Fällen stand sie auch dort. Als würden sie widerstreiten, Schwester Emma und sie, zwei ernste Gesichter in der halb geöffneten Tür, Blicke in meine Richtung werfend. Es ist eine Binsenwahrheit, doch Binsenwahrheiten sind wahr (auch das ist eine Binsenwahrheit; auch das; und so weiter: und vielleicht am Ende, das heißt gerade nach dem unendlichsten Semikolon wird die Behauptung plötzlich dennoch etwas Neues aussagen: So stelle ich mir die Welt vor, als so ein Früher-oder-später- Ding, also dass die schwarzen Löcher doch nicht die Informationen verschlucken), wonach man neben seiner Mutter wieder zum Kinde wird, egal, ob man, sagen wir, achtundfünfzig Jahre alt ist, man hat wieder Kinderstatus. (Obwohl zwischen Kind und Kind der Unterschied groß ist.) Und in einem Krankenhausbett wird man sowieso alterslos, ein Gegenstand ohne Jahreszahl, man kann sich keinerlei Illusion hingeben, dass man sich etwa mit der Kraft der Jugend jenem Unbekannten entgegenstemmen wird, das einen hier – augenscheinlich – bedrohlich erwartet, und man kann sich auch nicht damit beruhigen, dass man sich unter dem Schutzschirm des Alters verstecken kann, indem man sich sagt, es wird nur das passieren, was passieren kann; es gibt nichts, nur das Bett, die Zimmertoilette, Schwester Emma, diese Dinge. Und meine Mutter. Der vom Duft gelber Erbsen schwer gewordene Nordwestwind trieb mir Satzfetzen zu. Das Mittagessen hatte geschmeckt: die schwer definierbare Suppe, einer Gemüsesuppe noch am ähnlichsten, gelbes Erbsenpüree, als wären wir noch in den Sechzigern, das erste essbare gelbe Erbsenpüree meines Lebens!, und dazu das ordinärste Faschierte, das möglich ist: grob, stückig, aber gerade in jene Richtung überwürzt, gegen die ich positiv voreingenommen bin: Ich kaute und spuckte Pfeffer- und Knoblauchstückchen aus.
Es tat mir wohl.
Denn wissen Sie, meine Liebe, eine Mutter ist für immer und ewig eine Mutter. Und ihr Kind ist für immer und ewig ihr Kind. Das ist das Schicksal der Mutter und des Sohnes.
Aber der Herr Professor ist … nicht mehr wirklich ein Kind.
Guter Gott! Sie nennen meinen Sohn Herr Professor?
Was für eine Welt!
Das war sein Vorschlag, weil wir nicht wussten, wie wir ihn ansprechen sollten. Erst sagte er, egal, aber Feri vielleicht doch nicht. Das haben wir nicht verstanden. Und dann sagte er das, und dass man ihn in Italien mit Professor angeredet hat.
Meine Mutter winkte ab. Ich schloss die Augen. Als hätte mich ein Stromschlag getroffen, ich konnte es beinahe hören, wie der zippende Muskel hinten in meinem linken Schenkel nachschwang, mein ganzer Körper war wie ein Bogen gespannt, Schweiß überströmte mich. Wenn das nicht so ist, als hätte man mich (hinterrücks) angeschossen, dann weiß ich auch nicht. In der Innenstadt gab es sogar schon wegen Parkplätzen Schießereien, man kann sich die Einschläge anschauen, im Parkhaus. Wie die Einschläge der Kugeln von 56 an den Häuserwänden, nur dass Letztere eine etwas erhabenere Aura haben; sie blieben lange erhalten, man konnte sie noch lange sehen, dabei wollte sich keiner an sie erinnern, weder wir noch sie.
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Autoren-Porträt von Péter Esterházy
Péter Esterházy wurde 1950 in Budapest geboren, wo er auch heute lebt, seit 1978 als freier Schriftsteller. 2004 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet und 2012 mit dem Bremerhavener Jeanette-Schocken-Preis für Literatur.Terézia Mora, 1971 in Sopron/Ungarn, geboren, lebt seit 1990 in Berlin und ist Übersetzerin aus dem Ungarischen. Für ihre Erzählungen erhielt sie 1997 den Open-Mike-Literaturpreis, 1999 den Ingeborg-Bachmann-Preis und 2000 den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis. Für ihr bisheriges literarisches Werk sowie für ihre vielfältigen Aktivitäten als Übersetzerin und Vermittlerin zwischen dem deutschsprachigen und dem ungarischen Kulturraum wurde Terézia Mora 2010 mit dem Chamisso-Preis geehrt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Péter Esterházy
- 2009, 272 Seiten, Maße: 13,2 x 21 cm, Leinen, Deutsch
- Übersetzung: Mora, Terézia
- Übersetzer: Terézia Mora
- Verlag: BERLIN VERLAG
- ISBN-10: 3827008158
- ISBN-13: 9783827008152
Rezension zu „Keine Kunst “
Die Deutsche Akademie für Fußball-Kultur verleiht in diesem Jahr zum vierten Mal den "Deutschen Fußball-Kulturpreis" in fünf Kategorien. Zum "Fußballbuch des Jahres 2009" kürte die Jury aus elf führenden Sport- und Kulturjournalisten sowie Nürnbergs Club-Trainer Michael Oenning Péter Esterházys "Keine Kunst". Die Auszeichnung ist mit 5.000 Euro dotiert und wird im Rahmen der Gala zum Deutschen Fußball-Kulturpreis am Freitag, den 2. Oktober 2009 in der Nürnberger Tafelhalle verliehen.Akademie- und Jurymitglied Jürgen Kaube (FAZ) zur Entscheidung: "Ballsport als komisch-ergreifendes Familienschicksal. Eine Huldigung an das, was ein Spiel in der Wirklichkeit zu bedeuten vermag. Ich bin dafür, dass Péter Esterházy diesen Preis für seine Mutter entgegennehmen soll. Sie war, und wäre sie noch so erfunden, der grösste Fan aller Zeiten."
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