Keine Zeit zum Abschiednehmen
Als ihr Freund, der Stern-Reporter Gabriel Grüner im Kosovo erschossen wird, ist sie im sechsten Monat schwanger. Beatrix Gerstberger erzählt, wie sie das Unfassbare überstand. Wie es ihr gelang, die plötzliche Zerstörung ihrer Welt und ihrer...
Als ihr Freund, der Stern-Reporter Gabriel Grüner im Kosovo erschossen wird, ist sie im sechsten Monat schwanger. Beatrix Gerstberger erzählt, wie sie das Unfassbare überstand. Wie es ihr gelang, die plötzliche Zerstörung ihrer Welt und ihrer Zukunftspläne zu bewältigen. Und sie berichtet von anderen jungen Frauen, die ein ähnliches Schicksal durchleben müssen.
Keine Zeitzum Abschied nehmen von BeatrixGerstberger
LESEPROBE
»Ich war noch nie so glücklich, sagst du und hast noch vierWochen zu leben.«
Als auf ihn geschossen wurde, saß ich mit einer Freundin ineinem Café an der Alster, deckte die Augen mit beiden Händen gegen die Sonneab, dahintreibend, von Zukunft sprechend. Als er im heißen Staub der Straßelag, innerlich blutend, von fremden Soldaten umgeben, deren Sprache er nicht verstand,fuhr ich mit meinem Fahrrad über eine Brücke und dachte an ihn, seine Briefe,an sein Herz, von dem er schrieb: »Es bockt und will zu dir.« Ein Wagen mitMitarbeitern von Ärzte ohne Grenzen kam vorbei, sie hoben ihnauf die Ladefläche und fuhren fast neunzig Minuten mit ihm zu einem kanadischenStützpunkt. Ich saß auf meinem Balkon und lernte für die Segelprüfung. Es warein schöner Sommerabend im Juni 1999.
Er sagte zu der Krankenschwester, dass er leben will, dasswir einen Sohn erwarten, der Jakob heißen soll, dass er uns so sehr liebt. DerWagen schlug auf der unebenen Straße hart auf. Er stöhnte - und
machte anschließend einen Witz darüber. Er sprach Englischmit ihr, erzählte von unserem geplanten Umzug, von seinen Geschichten, die erin Afghanistan, Algerien und im Sudan gemacht hatte; sie hielt seine Hand unddachte, dass er es schaffen würde. Ich telefonierte mit einer Freundin undbeklagte mich über seine so häufige Abwesenheit in den vergangenen Wochen,immer wieder in diesen Krieg geschickt, dessen Ende er nun noch miterleben wollte.Er verabschiedete sich von der Krankenschwester mit der Bitte, ihn doch imKrankenhaus zu besuchen. Dann versetzten sie ihn in ein künstliches Koma undflogen ihn in das Militärhospital nach Brazda.
Als die Ärzte um sein Leben kämpften, schaute ichNachrichten, sah, wie deutsche Soldaten in Prizren auf einen angreifendenSerben schossen, hörte, es sei sonst alles glatt verlaufen an diesem ersten Tagdes Friedens im Kosovo. Ich rief meine Mutter an und sagte, dass ich am Morgeneine neue Wohnung für uns gefunden hätte. »Dann ist ja alles so, wie du es dirimmer gewünscht hast«, sagte sie.
Als er starb, verblutet, Leber, Darm und ein Teil des Magenszerfetzt, wartete ich auf seinen Anruf, auf seine manchmal im Scherz so hoheStimme, die »Ich bin es, mein Hase, der kleine Gabriel« in den Hörer rief.
Damals, in unserem ersten Urlaub, sah ich ihn in derMorgendämmerung, eingehüllt in sein Laken, abgewandt von mir. Am Abend zuvorhatte ich ihm gesagt, ich glaubte nicht, dass er alt würde. Wir hatten etwasgetrunken, ich konnte den Satz nicht erklären, nicht woher er plötzlich kam.Nun lag er da, traurig, entsetzt und sagte, er wolle gehen.
»Warum?«, fragte ich.
»Wie kannst du an uns glauben, wenn du so etwas denkst?«,sagte er.
»Ich würde mich immer wieder für dich entscheiden«, sagteich, »egal ob wir drei Wochen haben oder dreißig Jahre.«
Um 22.30 Uhr am 13. Juni 1999 rief michsein Ressortleiter an und sagte, er sei angeschossen worden. Ich war ruhig,dachte an einen Armschuss oder Ähnliches und fragte, wo er sei. »Niemand weißdas so genau«, sagte der Ressortleiter. Ich fragte nach dem Fotografen. »Er isttot«, sagte er. Ich bat darum, am nächsten Morgen nach Skopje fliegen zudürfen. Dann legte ich auf, rief eine Freundin an, die sofort kommen wollte,und schaltete den Fernseher wieder ein. Plötzlich liefen da dieseEilnachrichten zwischen den Börsenmeldungen: zwei deutsche Reportererschossen, auf einem anderen Kanal hieß es: ein Reporter erschossen, einerschwer verletzt. Er lebt noch, dachte ich und klammerte mich an diesen Satz,obwohl ich tief im Innern ahnte, dass es nicht so war. (...)
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Beatrix Gerstberger, geboren 1964, studierte Politologie, Publizistik und Nordistik in Münster, lebte als Journalistin ein Jahr in Detroit und besuchte anschließend die Henri-Nannen-Journalistenschule. Danach arbeitete sie beim stern im Ressort »Modernes Leben«. Seit 1994 ist sie Redakteurin bei Brigitte im Ressort »Reportagen«. Sie lebt mit ihrem Sohn in Hamburg.
- Autor: Beatrix Gerstberger
- 2004, 191 Seiten, Maße: 11,6 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548367089
- ISBN-13: 9783548367088
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