Kells Legende / Kell Bd.1
Roman. Deutsche Erstausgabe
Als eine Armee aus dem Norden über Kells Heimat herfällt, muss Kell sich entscheiden. Wird er den Erwartungen seiner Enkelin gerecht werden, die ihn aus tiefster Seele verehrt? Oder wird er sie enttäuschen und dafür ihrer beider Leben...
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Produktinformationen zu „Kells Legende / Kell Bd.1 “
Als eine Armee aus dem Norden über Kells Heimat herfällt, muss Kell sich entscheiden. Wird er den Erwartungen seiner Enkelin gerecht werden, die ihn aus tiefster Seele verehrt? Oder wird er sie enttäuschen und dafür ihrer beider Leben retten? Kells größter Kampf steht bevor!
Klappentext zu „Kells Legende / Kell Bd.1 “
Der wahrscheinlich düsterste aller Helden ...Es ist eine Zeit für Helden, eine Zeit für Krieger - und Kells Axt dürstet nach Blut. Doch Kell ist kein Held. Er ist nur ein Mann, der stets versucht hat, das Richtige zu tun. Da fällt eine grausame Armee aus dem Norden über seine Heimat her, und Kell muss sich entscheiden. Wird er den Erwartungen seiner Enkelin Nianna gerecht werden, die ihn aus tiefster Seele verehrt? Oder wird er sie enttäuschen und dafür ihrer beider Leben retten? Kells größter Kampf steht bevor!
Lese-Probe zu „Kells Legende / Kell Bd.1 “
Kells Legende von Andy Remic... mehr
Prolog
Gemetzel
»ich weiß, dass du mich für sadistisch hältst. Aber in diesem Punkt irrst du. Wenn ich bestrafe, bereitet mir das kein Vergnügen. Foltere ich, mache ich das, um Wissen zu erlangen, um weiterzukommen - und um der Wahrheit willen. Und wenn ich töte ...«, General Graal legte beide Hände auf die vereisten Zinnen und starrte ein wenig verträumt auf das Schwarzspitz- massiv, das in der Ferne im bläulichen Nebel beinahe unwirklich schimmerte: riesig, trotzig, stolz und unbezwungen. Sein schmallippiges Grinsen war das eines Skeletts. »... töte ich, um zu fressen.«
Graal drehte sich herum und starrte auf den vor ihm knienden mann hinunter. Kommandeur Oberst yax-Kulkain war achtundvierzig Jahre alt, ein erfahrener Krieger und Befehlshaber der Garnison in Jalder, Falanors größter Stadt im norden; außerdem war Jalder ein Handelsposten, in dem die militärischen nachschubrouten aus dem Osten, dem Süden und dem Westen zusammenliefen. dieser Knotenpunkt war auch als das »nördliche T« bekannt.
yax-Kulkain kauerte am Boden, seine Fäuste arbeiteten krampfhaft, während er in die blauen Augen von Graal starrte.
Der General erkannte an den geweiteten Pupillen, dass der Kommandeur ihn trotz seiner Lähmung verstehen konnte. Graal lächelte, und seine dünnen weißen Lippen schienen auf unheimliche Art in der fahlen Haut seines weichen - einige würden behaupten femininen - Gesichtes zu verschwinden. er fuhr mit der Hand durch sein weißes, schimmerndes Haar, zischte und nickte bedächtig. »Wie ich sehe, verstehst du mich, Oberst.«
yax-Kulkain murmelte etwas; es war ein animalisches Geräusch tief in seinem Hals. er zitterte, verharrte in seiner erstarrten, knienden Position und hob mit ungeheurer Willenskraft den Kopf, während das Eis in seinem Bart knackte, starrte den General mit seinem blau angelaufenen Gesicht an und knurrte. es krachte erneut, als er seine gefrorenen Kiefer öffnete. eis fiel klirrend aus seinem Bart zu Boden. »du ... wirst ... in der Hölle ... verrotten!«, spie der fast vollkommen gefrorene Krieger aus.
General Graal drehte sich um und warf einen beinahe sentimentalen Blick über die gefrorenen Befestigungen. dann wirbelte er auf dem Absatz herum, schnell und geschmeidig, und seine dünne Klinge trennte dem Oberst den Kopf vom Körper. der Schädel flog durch die Luft, prallte auf die Steine und zerbrach die Eisschicht auf ihnen. Für eine Weile rollte er noch hin und her, bis er schließlich zur Ruhe kam. die Augen starrten blicklos in den bleiernen, verschneiten Himmel.
»das glaube ich kaum«, meinte Graal und warf einen Blick auf die lange Reihe von knienden Männern - starren, gefrorenen Soldaten, die sich über die gesamte, recht beträchtliche Länge der vereisten Bastionen erstreckte. »mich beschleicht eher der Eindruck, als wäre ich bereits dort.« er hob die Stimme. »Soldaten der eisernen Armee!« er machte eine dramatische Pause, und ließ die Stimme zu einem gutturalen Grollen herabsinken. »Tötet sie, ohne Ausnahme.«
Wie mechanische Insekten traten Albino-Soldaten in einem synchronisierten Rhythmus hinter die Reihen der gefrorenen Infanteristen der größten Garnison Falanors; ihr weißes Haar peitschte im Wind, und die schwarzen Rüstungen bildeten einen düsteren Kontrast zu ihrer fahlen, wächsernen Haut. Schwarze Schwerter wurden gezückt, achthundert geölte Präzisionswaffen flüsterten leise, als sie aus den ledernen Scheiden fuhren. General Graal winkte einmal nachlässig mit der Hand, während er sich abwandte. die Schwerter zuckten, pfiffen durch die Luft, durchtrennten Haut, Fett und Knochen, und achthundert Köpfe fielen von regungslosen Schultern polternd auf den Boden. Weil die Soldaten gefroren waren, gab es kein Blut. ein sauberes Gemetzel.
Vereister Rauch wirbelte über die Zinnen, wurde immer dicker und senkte sich allmählich über die prachtvolle und ahnungslose Stadt darunter, die hinter den zerschmetterten, schützenden Befestigungen der Garnison lag. die Gebäude erstreckten sich anmutig und sehr ökonomisch vom breiten, halb gefrorenen Band des Selenau-Flusses aus über den steilen Hügel; als Graal seine seltsamen blauen Augen zu schmalen Schlitzen zusammenzog, wurde klar, dass dieses Eis alles andere als natürlich war; hier waren höchst bedrohliche Kräfte am Werk.
Graal schritt die Reihe der kopflosen Leichen ab und betrachtete sie neugierig. der wirbelnde Rauch wurde dicker. Und durch das Gemetzel glitten über die schmalen Stufen zu den Zinnen ... die Schnitter.
Sie waren groß, viel zu groß für Menschen, trugen dünne weiße Roben, die mit feinen Goldfäden bestickt waren und ihre knochigen, übermäßig langen Gestalten verhüllten. ihre Gesichter waren flach, oval und vollkommen haarlos, die Augen klein und schwarz, und ihre Nasen bestanden nur aus zwei vertikalen Schlitzen, aus denen im schnellen Rhythmus eines Herzschlags ein Zischen drang. Sie hatten die Hände in den weiten Ärmeln ihrer Gewänder verborgen und schritten merkwürdig federnd, fast hüpfend und dennoch gelassen aus. ihre Köpfe schwankten auf ihren Hälsen, als sie sich herabbeugten, um die Szenerie zu betrachten. die Reihen der regungslosen Albino-Soldaten traten ehrfürchtig etliche Schritte zurück, und obwohl die Gesichter der Männer nicht direkt Furcht zeigten, erwiesen die Albino-Krieger von Graals eiserner Armee den Schnittern einen gehörigen Respekt. niemand wollte ihnen in die Quere kommen. es sei denn, man legte keinen Wert auf seine Seele.
der erste blieb stehen und blinzelte kurzsichtig auf Graal hinab. der verschränkte die Arme und lächelte humorlos. »du bist spät dran, Hestalt.«
Hestalt nickte, und seine Stimme klang wie das träge Seufzen des Windes, als er antwortete. »Wir haben den eis-Rauch für die Stadt vorbereitet. Wir mussten mit Nonterrazake kommunizieren. Aber jetzt ist die Zeit gekommen. Sind deine Männer mit ihren primitiven, eisernen Waffen bereit?«
»meine Soldaten sind immer bereit.« Graal klang unbeeindruckt und zückte sein eigenes, schlankes Schwert. der Schnitter zuckte nicht zusammen. Vielmehr erschien eine Hand aus den Falten seiner weißen Robe. Jeder Finger war fast dreißig Zentimeter lang und endete in einer elfenbeinern schimmernden Spitze. der Schnitter drehte sich um, bückte sich und bohrte alle fünf knochigen Finger in den Leichnam des Garnisonskommandeurs, Oberst yax-Kulkain. ein saugendes Geräusch ertönte, und Graal beobachtete verbissen, wie der Körper zu schrumpfen begann, sich die Haut über die Knochen und den Schädel spannte, bis der Mann im Tod die Zähne zu fletschen schien.
Hestalt zog seine Finger zurück und hinterließ eine winzige, verschrumpelte Hülle. dann trat er zum nächsten toten Soldaten von Falanor. dort wiederholte sich dieses Schauspiel, seine Finger griffen erneut in die Brust des Mannes, bis ins Herz, und wieder fuhr der Schnitter seine schreckliche ernte ein.
General Graal konnte diese Schändung des Fleisches nicht länger mit ansehen und brüllte einen Befehl, der über die nebelverhangenen Bastionen hallte. Eishauch waberte um seine Knie, breitete sich aus und quoll ihm in dichten Schwaden entgegen, als er zu der Treppe ging, die in den gepflasterten Burgfried hinabführte. Sein Albino-Regiment folgte ihm schweigend, die Schwerter gezückt. es bewegte sich wie eine Woge, mit Graal an der Spitze, in Richtung auf die gewaltigen Eichenportale, die den Weg zu einer ebenfalls gepflasterten Straße freigaben, die den Hang hinab in die Mitte von Jalder führte, in das Herz der Stadt.
Zwei Albinos liefen voraus, schlanke Gestalten, wohlproportioniert und athletisch. Achtsam und geschmeidig glitten sie über die vereisten Pflastersteine. die Eichenportale wurden aufgestemmt, die schweren, eisernen Angeln ächzten, und Graal drehte sich am Tor noch einmal zu den langen, gebeugten Figuren herum, die sich systematisch über die Bastionen vorwärtsbewegten. Sie saugten den toten Soldaten der Garnison von Falanor ihr Lebenselixier aus. Wie Insekten, dachte er, und suchte über die Entfernung den Blickkontakt mit Hestalt. der Schnitter nickte einmal knapp; befehlend. dann deutete er auf die Stadt ... seine Instruktionen waren eindeutig.
Bereite uns den Weg.
Eishauch sammelte sich im Hof zu einer riesigen, pulsierenden Kugel, die sich drehte und in der es silbern flackerte; plötzlich flog sie durch das Tor wie Quecksilber, dem Flügel gewachsen waren, und sauste in die Stadt hinab, dehnte sich aus, schwoll an, eine Flut aus unheimlicher Stille und gedämpftem Tod, eine Plage aus treibendem Eisrauch, welche die ahnungslose Stadt in ein Leichentuch aus Blutöl-magie hüllte.
1
Tödliches Eis
Kell stand am Fenster seiner niedrigen Wohnung im zweiten Stock und betrachtete melancholisch die fernen Berge. Hinter ihm verzehrten die Flammen im Kamin knisternd Kiefernscheite, und in einer Eisenpfanne auf einem Dreibein brodelte dicker Gemüsebrei. Kell hob einen kleinen Becher an seine Lippen und nippte mit einem Seufzen an dem klaren Schnaps; der harzige Alkohol rann ihm durch die Kehle in den Bauch und wärmte seinen ganzen Körper. er fröstelte trotz des Getränks, dachte an Schnee und Eis, an die toten, kalten Orte der Berge, die tiefen Schluchten, die hohen, einsamen Felsbänke, die Hänge, auf denen man durch Steinschläge den Tod finden konnte. eisige Erinnerungen durchbohrten den Winter seiner Seele, und er glaubte sie fast auf seiner Haut fühlen zu können. manchmal glaubte Kell, er würde die Kälte seiner Vergangenheit niemals bannen können... jene dunklen Tage der Jagd im Reich der Schwarzspitzen. Sein Herz war vereist. es war darin gefangen wie ein Diamant im Fels.
draußen schneite es sanft, die Flocken wehten auf gepflasterte Straßen und tanzten in mustern in der Luft. Vom Fenster aus konnte Kell die Markthändler am Ufer des Selenau sehen und weiter rechts die schwarzen Ziegelgebäude der riesigen Gerberei, der Lager- und Schlachthäuser am Ufer. Kell schüttelte sich, als er sich daran erinnerte, wie die Abfälle hier im Sommer zum Himmel stanken. das war der Grund, warum er seine Wohnung so günstig bekommen hatte. Aber jetzt ... jetzt hatte der Winter den Hafen fest im Griff, und seine Klauen hielten den Gestank fern.
Kell schüttelte sich erneut; schon beim Anblick des tanzenden Schnees wurde ihm kalt bis auf die Knochen. er drehte sich wieder zu seiner Suppe und dem Kamin herum und rührte im Topf. dann beugte er sich vor, stützte die Hand auf den massiven Balken des Kaminsimses und klopfte mehrmals mit dem Daumen darauf. Auf der Treppe draußen hörte er das Poltern von Stiefeln. Rasch stellte er den kleinen Becher auf ein hohes Regal neben eine uralte Uhr, direkt unter die furchteinflößenden Schmetterlingsklingen von Ilanna. Im Innern der Uhr sah er die Teile des winzigen, surrenden Uhrwerks; äußerst fein und komplex, ein Meisterwerk der miniatur-Uhrmacherkunst.
die schwere Eichentür flog krachend auf, und Nienna stand in der Öffnung, eine dunkle Silhouette gegen den hellen Flur. Sie lächelte strahlend und trat sich stampfend den Schnee von den Stiefeln.
»Tag, Großvater!« »Nienna.« er trat zu ihr, und sie umarmte ihn. der Schnee in ihrem langen, braunen Haar schmolz in seinem grauen Bart. dann trat er einen Schritt zurück und hielt sie mit ausgestreckten Armen fest. »meiner Treu, du wirst täglich größer, ich schwöre es!«
»das liegt an deinen überaus nahrhaften Suppen.« Sie warf einen fragenden Blick über seine Schulter. »die halten mich gesund und machen mich stark. Was hast du heute gekocht?«
»Komm, zieh deinen Mäntel aus, dann bekommst du eine Schale davon. es ist Gemüsebrühe; nach der Rinderpest im Sommer ist Fleisch immer noch zu teuer, obwohl man mir schon vor drei Wochen eine Rinderhälfte versprochen hat. Vom Freund eines Freundes, du verstehst?« er blinzelte ihr amüsiert zu.
Nienna entledigte sich ihres Mantels, ging zu dem Eichentisch und setzte sich rittlings auf die Bank davor. Kell füllte einen handgeschnitzten napf mit Suppe und stellte ihn vor sie hin. Nienna griff hungrig nach einem Löffel, während Kell mit einem langen, krummen Messer eine Scheibe von einem dunklen Nussbrot abschnitt. »Das ist gut!«
»Vielleicht braucht sie noch etwas Salz.«
»Nein, sie ist perfekt!« Sie löffelte gierig die dicke Suppe, schlang jeden Löffel mit sichtlichem Appetit herunter. »Schön.« Kell setzte sich seiner Enkelin gegenüber und lächelte. Sein faltiges, bärtiges Gesicht strahlte, und er wirkte erheblich jünger als die zweiundsechzig Jahre, die er zählte. »das sollte dich eigentlich nicht überraschen. immerhin bin ich der beste Koch in ganz Jalder.«
»Vielleicht«, brummte ‚Nienna, »aber ich glaube, ein wenig Fleisch könnte ihr nicht schaden.« Sie hielt den Löffel in der Schwebe, während sie gespielt kritisch die Stirn runzelte. Kell grinste. »Ach, ich bin nur ein armer, alter Soldat. das kann ich mir nicht leisten.« »Arm? mit diesem Schatz unter den Bodendielen?« Nienna hob den Kopf, und ihre Augen funkelten. »Jedenfalls Behauptet Mutter das. Sie sagt, du wärest ein Miesepeter und ein Geizhals und würdest Geld in einem Geheimfach unter den Bodendielen verstecken, eingewickelt in deine alten, stinkigen Strümpfe.«
Kell lächelte, aber die Geste wirkte etwas gezwungen, sein Humor war sichtlich gedämpft. »deine Mutter war schon immer besonders liebenswürdig.« doch im nächsten Moment hellte sich seine Miene wieder auf. »du aber, Mädchen, du bist wirklich ein Witzbold! mit deinen Tricks und deinen lustigen Sprüchen.«
»ich bin schon ein bisschen zu alt, dass du mich noch so nennen solltest, Großvater.«
»nein, meine Süße, du bist immer noch mein kleines Mädchen. « er beugte sich vor und zerzauste ihr das Haar. Sie runzelte verärgert die Stirn.
»Großvater! ich bin kein Mädchen mehr! ich bin fast siebzehn! «
»Für mich wirst du immer ein kleines Mädchen sein. Und jetzt iss deine Suppe.«
Sie aßen schweigend; die Stille wurde nur vom Knistern des Feuers gestört, während der zunehmend stärker werdende Wind den Schnee in Schleiern vor sich her trieb und traurig über gefrorene, gepflasterte Straßen heulte. Nienna war schließlich mit dem essen fertig und wischte den Rest mit einem Stück von dem dunklen Brot aus dem Napf. dann lehnte sie sich seufzend zurück. »Gut! ein bisschen zu viel Salz, aber trotzdem gut.«
»Wie ich schon sagte, ich bin der beste Koch in ganz Jalder.«
»Hast du eigentlich jemals einen Affen gesehen? Einen Richtigen Affen?« Als sie diese Frage stellte, merkte man ihr zum ersten Mal einen Anflug ihrer Jugend an. »Ja. im Dschungel des Südens. Hier oben ist es für Affen zu kalt; ich nehme an, sie wollen nicht auf ihre geliebten Bananen verzichten.« »Was ist eine Banane?« »eine weiche Frucht mit einer gelben Schale.« »Sehe ich wirklich so aus?« »Wie ein Früchtchen oder wie ein Affe?«
Sie schlug ihm spielerisch auf den Arm. »du weißt, was ich meine!« »ein bisschen.« Kell leerte seinen Napf und kaute nachdenklich. Seine Zähne taten ihm schon wieder weh. »es gibt schon gewisse Übereinstimmungen: das haarige Gesicht, die Flöhe, der fette Arsch.«
»Großvater! So redet man nicht mit einer Dame! das haben wir gerade in der Schule gelernt, man nennt es eti..., etti...«
»Etikette.« er fuhr ihr erneut durchs Haar. »Und wenn du erwachsen geworden bist, Nienna, werde ich dich auch wie eine erwachsene behandeln.« Sein Lächeln war ansteckend.
Nienna half ihm, das Essgeschirr abzuwaschen und wegzuräumen. dann stellte sie sich ans Fenster und blickte eine Weile hinaus, auf die fernen Fabriken und den Markt.
»du hast im Süden in den Dschungeln gekämpft, Großvater, richtig?« Kells Laune verfinsterte sich schlagartig, und er biss sich auf die Lippen, um eine wütende Erwiderung zu unterdrücken. Das Mädchen weiß es nicht besser, tadelte er sich und holte tief Luft. »Ja. das ist aber schon lange her. damals war ich noch ein anderer Mensch.« »Wie war es denn da? ich meine, zu kämpfen, in der Armee, mit König Searlan? es muss ja so ... romantisch gewesen sein!«
Kell schnaubte verächtlich. »Romantisch? mit so einem Quatsch füllt man euch also heutzutage die Köpfe in der Schule. es hat überhaupt nichts Romantisches, wenn du mit ansehen musst, wie deine Freunde abgeschlachtet werden. Und es ist auch nichts Heroisches daran, zu beobachten, wie die Krähen auf einem Schlachtfeld um die Augen der Gefallenen streiten. nein.« Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Kämpfe sind etwas für narren.«
»Trotzdem«, setzte Nienna hartnäckig nach. »ich würde gern zur Armee gehen. meine Freundin Kat sagt, dass sie jetzt sogar Frauen aufnehmen; man kann sich auch als Krankenschwester verpflichten und den Verwundeten auf dem Schlachtfeld helfen. man bekommt eine sehr gute Ausbildung. ein befehlshabender Sergeant ist in unsere Schule gekommen und hat versucht, uns zu rekrutieren. Kat hatte schon vor zu unterschreiben, aber ich wollte erst mit dir darüber sprechen.«
Kell durchquerte den Raum so schnell, dass seine Gestalt zu verwischen schien. Nienna war geschockt. er bewegte sich viel zu rasch für einen großen, alten Mann; es wirkte irgendwie unnatürlich. er packte mit seinen großen Bärenpranken überraschend sanft ihre Schultern. dann schüttelte er sie. »Jetzt hör mir mal gut zu, Nienna, du besitzt eine Gabe, ein sehr seltenes Talent, das ich seit sehr langer Zeit nicht mehr bei jemandem gesehen habe. Die Musik liegt dir im Blut, Mädchen, und ich bin mir sicher, dass selbst die Engel grün vor Neid werden, wenn sie dich singen hören.« er holte tief Luft und sah ihr in die Augen. Sein Blick verriet seine bedingungslose Liebe. »Hör gut zu, Nienna, und versuche zu verstehen, was ein alter Mann dir sagt. ein unbekannter Wohltäter hat die Kosten für deine Universitätsausbildung bezahlt. diese Person hat dir ein Leben voller Entbehrungen in den Gerbereien oder an den Fabrikwebstühlen erspart, die so gefährlich sind, dass sie dir deine verdammten Finger abschneiden könnten. Und diese Mistkerle würden das eher zulassen, als die Produktion anzuhalten. Also, Mädchen, du gehst zur Universität und arbeitest, wie du noch nie in deinem Leben gearbeitet hast, sonst werde ich dir so heftig in den Hintern treten, dass dir meine Stiefelspitze aus dem Mund herauskommt.«
Übersetzung: Wolfgang Thon
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Prolog
Gemetzel
»ich weiß, dass du mich für sadistisch hältst. Aber in diesem Punkt irrst du. Wenn ich bestrafe, bereitet mir das kein Vergnügen. Foltere ich, mache ich das, um Wissen zu erlangen, um weiterzukommen - und um der Wahrheit willen. Und wenn ich töte ...«, General Graal legte beide Hände auf die vereisten Zinnen und starrte ein wenig verträumt auf das Schwarzspitz- massiv, das in der Ferne im bläulichen Nebel beinahe unwirklich schimmerte: riesig, trotzig, stolz und unbezwungen. Sein schmallippiges Grinsen war das eines Skeletts. »... töte ich, um zu fressen.«
Graal drehte sich herum und starrte auf den vor ihm knienden mann hinunter. Kommandeur Oberst yax-Kulkain war achtundvierzig Jahre alt, ein erfahrener Krieger und Befehlshaber der Garnison in Jalder, Falanors größter Stadt im norden; außerdem war Jalder ein Handelsposten, in dem die militärischen nachschubrouten aus dem Osten, dem Süden und dem Westen zusammenliefen. dieser Knotenpunkt war auch als das »nördliche T« bekannt.
yax-Kulkain kauerte am Boden, seine Fäuste arbeiteten krampfhaft, während er in die blauen Augen von Graal starrte.
Der General erkannte an den geweiteten Pupillen, dass der Kommandeur ihn trotz seiner Lähmung verstehen konnte. Graal lächelte, und seine dünnen weißen Lippen schienen auf unheimliche Art in der fahlen Haut seines weichen - einige würden behaupten femininen - Gesichtes zu verschwinden. er fuhr mit der Hand durch sein weißes, schimmerndes Haar, zischte und nickte bedächtig. »Wie ich sehe, verstehst du mich, Oberst.«
yax-Kulkain murmelte etwas; es war ein animalisches Geräusch tief in seinem Hals. er zitterte, verharrte in seiner erstarrten, knienden Position und hob mit ungeheurer Willenskraft den Kopf, während das Eis in seinem Bart knackte, starrte den General mit seinem blau angelaufenen Gesicht an und knurrte. es krachte erneut, als er seine gefrorenen Kiefer öffnete. eis fiel klirrend aus seinem Bart zu Boden. »du ... wirst ... in der Hölle ... verrotten!«, spie der fast vollkommen gefrorene Krieger aus.
General Graal drehte sich um und warf einen beinahe sentimentalen Blick über die gefrorenen Befestigungen. dann wirbelte er auf dem Absatz herum, schnell und geschmeidig, und seine dünne Klinge trennte dem Oberst den Kopf vom Körper. der Schädel flog durch die Luft, prallte auf die Steine und zerbrach die Eisschicht auf ihnen. Für eine Weile rollte er noch hin und her, bis er schließlich zur Ruhe kam. die Augen starrten blicklos in den bleiernen, verschneiten Himmel.
»das glaube ich kaum«, meinte Graal und warf einen Blick auf die lange Reihe von knienden Männern - starren, gefrorenen Soldaten, die sich über die gesamte, recht beträchtliche Länge der vereisten Bastionen erstreckte. »mich beschleicht eher der Eindruck, als wäre ich bereits dort.« er hob die Stimme. »Soldaten der eisernen Armee!« er machte eine dramatische Pause, und ließ die Stimme zu einem gutturalen Grollen herabsinken. »Tötet sie, ohne Ausnahme.«
Wie mechanische Insekten traten Albino-Soldaten in einem synchronisierten Rhythmus hinter die Reihen der gefrorenen Infanteristen der größten Garnison Falanors; ihr weißes Haar peitschte im Wind, und die schwarzen Rüstungen bildeten einen düsteren Kontrast zu ihrer fahlen, wächsernen Haut. Schwarze Schwerter wurden gezückt, achthundert geölte Präzisionswaffen flüsterten leise, als sie aus den ledernen Scheiden fuhren. General Graal winkte einmal nachlässig mit der Hand, während er sich abwandte. die Schwerter zuckten, pfiffen durch die Luft, durchtrennten Haut, Fett und Knochen, und achthundert Köpfe fielen von regungslosen Schultern polternd auf den Boden. Weil die Soldaten gefroren waren, gab es kein Blut. ein sauberes Gemetzel.
Vereister Rauch wirbelte über die Zinnen, wurde immer dicker und senkte sich allmählich über die prachtvolle und ahnungslose Stadt darunter, die hinter den zerschmetterten, schützenden Befestigungen der Garnison lag. die Gebäude erstreckten sich anmutig und sehr ökonomisch vom breiten, halb gefrorenen Band des Selenau-Flusses aus über den steilen Hügel; als Graal seine seltsamen blauen Augen zu schmalen Schlitzen zusammenzog, wurde klar, dass dieses Eis alles andere als natürlich war; hier waren höchst bedrohliche Kräfte am Werk.
Graal schritt die Reihe der kopflosen Leichen ab und betrachtete sie neugierig. der wirbelnde Rauch wurde dicker. Und durch das Gemetzel glitten über die schmalen Stufen zu den Zinnen ... die Schnitter.
Sie waren groß, viel zu groß für Menschen, trugen dünne weiße Roben, die mit feinen Goldfäden bestickt waren und ihre knochigen, übermäßig langen Gestalten verhüllten. ihre Gesichter waren flach, oval und vollkommen haarlos, die Augen klein und schwarz, und ihre Nasen bestanden nur aus zwei vertikalen Schlitzen, aus denen im schnellen Rhythmus eines Herzschlags ein Zischen drang. Sie hatten die Hände in den weiten Ärmeln ihrer Gewänder verborgen und schritten merkwürdig federnd, fast hüpfend und dennoch gelassen aus. ihre Köpfe schwankten auf ihren Hälsen, als sie sich herabbeugten, um die Szenerie zu betrachten. die Reihen der regungslosen Albino-Soldaten traten ehrfürchtig etliche Schritte zurück, und obwohl die Gesichter der Männer nicht direkt Furcht zeigten, erwiesen die Albino-Krieger von Graals eiserner Armee den Schnittern einen gehörigen Respekt. niemand wollte ihnen in die Quere kommen. es sei denn, man legte keinen Wert auf seine Seele.
der erste blieb stehen und blinzelte kurzsichtig auf Graal hinab. der verschränkte die Arme und lächelte humorlos. »du bist spät dran, Hestalt.«
Hestalt nickte, und seine Stimme klang wie das träge Seufzen des Windes, als er antwortete. »Wir haben den eis-Rauch für die Stadt vorbereitet. Wir mussten mit Nonterrazake kommunizieren. Aber jetzt ist die Zeit gekommen. Sind deine Männer mit ihren primitiven, eisernen Waffen bereit?«
»meine Soldaten sind immer bereit.« Graal klang unbeeindruckt und zückte sein eigenes, schlankes Schwert. der Schnitter zuckte nicht zusammen. Vielmehr erschien eine Hand aus den Falten seiner weißen Robe. Jeder Finger war fast dreißig Zentimeter lang und endete in einer elfenbeinern schimmernden Spitze. der Schnitter drehte sich um, bückte sich und bohrte alle fünf knochigen Finger in den Leichnam des Garnisonskommandeurs, Oberst yax-Kulkain. ein saugendes Geräusch ertönte, und Graal beobachtete verbissen, wie der Körper zu schrumpfen begann, sich die Haut über die Knochen und den Schädel spannte, bis der Mann im Tod die Zähne zu fletschen schien.
Hestalt zog seine Finger zurück und hinterließ eine winzige, verschrumpelte Hülle. dann trat er zum nächsten toten Soldaten von Falanor. dort wiederholte sich dieses Schauspiel, seine Finger griffen erneut in die Brust des Mannes, bis ins Herz, und wieder fuhr der Schnitter seine schreckliche ernte ein.
General Graal konnte diese Schändung des Fleisches nicht länger mit ansehen und brüllte einen Befehl, der über die nebelverhangenen Bastionen hallte. Eishauch waberte um seine Knie, breitete sich aus und quoll ihm in dichten Schwaden entgegen, als er zu der Treppe ging, die in den gepflasterten Burgfried hinabführte. Sein Albino-Regiment folgte ihm schweigend, die Schwerter gezückt. es bewegte sich wie eine Woge, mit Graal an der Spitze, in Richtung auf die gewaltigen Eichenportale, die den Weg zu einer ebenfalls gepflasterten Straße freigaben, die den Hang hinab in die Mitte von Jalder führte, in das Herz der Stadt.
Zwei Albinos liefen voraus, schlanke Gestalten, wohlproportioniert und athletisch. Achtsam und geschmeidig glitten sie über die vereisten Pflastersteine. die Eichenportale wurden aufgestemmt, die schweren, eisernen Angeln ächzten, und Graal drehte sich am Tor noch einmal zu den langen, gebeugten Figuren herum, die sich systematisch über die Bastionen vorwärtsbewegten. Sie saugten den toten Soldaten der Garnison von Falanor ihr Lebenselixier aus. Wie Insekten, dachte er, und suchte über die Entfernung den Blickkontakt mit Hestalt. der Schnitter nickte einmal knapp; befehlend. dann deutete er auf die Stadt ... seine Instruktionen waren eindeutig.
Bereite uns den Weg.
Eishauch sammelte sich im Hof zu einer riesigen, pulsierenden Kugel, die sich drehte und in der es silbern flackerte; plötzlich flog sie durch das Tor wie Quecksilber, dem Flügel gewachsen waren, und sauste in die Stadt hinab, dehnte sich aus, schwoll an, eine Flut aus unheimlicher Stille und gedämpftem Tod, eine Plage aus treibendem Eisrauch, welche die ahnungslose Stadt in ein Leichentuch aus Blutöl-magie hüllte.
1
Tödliches Eis
Kell stand am Fenster seiner niedrigen Wohnung im zweiten Stock und betrachtete melancholisch die fernen Berge. Hinter ihm verzehrten die Flammen im Kamin knisternd Kiefernscheite, und in einer Eisenpfanne auf einem Dreibein brodelte dicker Gemüsebrei. Kell hob einen kleinen Becher an seine Lippen und nippte mit einem Seufzen an dem klaren Schnaps; der harzige Alkohol rann ihm durch die Kehle in den Bauch und wärmte seinen ganzen Körper. er fröstelte trotz des Getränks, dachte an Schnee und Eis, an die toten, kalten Orte der Berge, die tiefen Schluchten, die hohen, einsamen Felsbänke, die Hänge, auf denen man durch Steinschläge den Tod finden konnte. eisige Erinnerungen durchbohrten den Winter seiner Seele, und er glaubte sie fast auf seiner Haut fühlen zu können. manchmal glaubte Kell, er würde die Kälte seiner Vergangenheit niemals bannen können... jene dunklen Tage der Jagd im Reich der Schwarzspitzen. Sein Herz war vereist. es war darin gefangen wie ein Diamant im Fels.
draußen schneite es sanft, die Flocken wehten auf gepflasterte Straßen und tanzten in mustern in der Luft. Vom Fenster aus konnte Kell die Markthändler am Ufer des Selenau sehen und weiter rechts die schwarzen Ziegelgebäude der riesigen Gerberei, der Lager- und Schlachthäuser am Ufer. Kell schüttelte sich, als er sich daran erinnerte, wie die Abfälle hier im Sommer zum Himmel stanken. das war der Grund, warum er seine Wohnung so günstig bekommen hatte. Aber jetzt ... jetzt hatte der Winter den Hafen fest im Griff, und seine Klauen hielten den Gestank fern.
Kell schüttelte sich erneut; schon beim Anblick des tanzenden Schnees wurde ihm kalt bis auf die Knochen. er drehte sich wieder zu seiner Suppe und dem Kamin herum und rührte im Topf. dann beugte er sich vor, stützte die Hand auf den massiven Balken des Kaminsimses und klopfte mehrmals mit dem Daumen darauf. Auf der Treppe draußen hörte er das Poltern von Stiefeln. Rasch stellte er den kleinen Becher auf ein hohes Regal neben eine uralte Uhr, direkt unter die furchteinflößenden Schmetterlingsklingen von Ilanna. Im Innern der Uhr sah er die Teile des winzigen, surrenden Uhrwerks; äußerst fein und komplex, ein Meisterwerk der miniatur-Uhrmacherkunst.
die schwere Eichentür flog krachend auf, und Nienna stand in der Öffnung, eine dunkle Silhouette gegen den hellen Flur. Sie lächelte strahlend und trat sich stampfend den Schnee von den Stiefeln.
»Tag, Großvater!« »Nienna.« er trat zu ihr, und sie umarmte ihn. der Schnee in ihrem langen, braunen Haar schmolz in seinem grauen Bart. dann trat er einen Schritt zurück und hielt sie mit ausgestreckten Armen fest. »meiner Treu, du wirst täglich größer, ich schwöre es!«
»das liegt an deinen überaus nahrhaften Suppen.« Sie warf einen fragenden Blick über seine Schulter. »die halten mich gesund und machen mich stark. Was hast du heute gekocht?«
»Komm, zieh deinen Mäntel aus, dann bekommst du eine Schale davon. es ist Gemüsebrühe; nach der Rinderpest im Sommer ist Fleisch immer noch zu teuer, obwohl man mir schon vor drei Wochen eine Rinderhälfte versprochen hat. Vom Freund eines Freundes, du verstehst?« er blinzelte ihr amüsiert zu.
Nienna entledigte sich ihres Mantels, ging zu dem Eichentisch und setzte sich rittlings auf die Bank davor. Kell füllte einen handgeschnitzten napf mit Suppe und stellte ihn vor sie hin. Nienna griff hungrig nach einem Löffel, während Kell mit einem langen, krummen Messer eine Scheibe von einem dunklen Nussbrot abschnitt. »Das ist gut!«
»Vielleicht braucht sie noch etwas Salz.«
»Nein, sie ist perfekt!« Sie löffelte gierig die dicke Suppe, schlang jeden Löffel mit sichtlichem Appetit herunter. »Schön.« Kell setzte sich seiner Enkelin gegenüber und lächelte. Sein faltiges, bärtiges Gesicht strahlte, und er wirkte erheblich jünger als die zweiundsechzig Jahre, die er zählte. »das sollte dich eigentlich nicht überraschen. immerhin bin ich der beste Koch in ganz Jalder.«
»Vielleicht«, brummte ‚Nienna, »aber ich glaube, ein wenig Fleisch könnte ihr nicht schaden.« Sie hielt den Löffel in der Schwebe, während sie gespielt kritisch die Stirn runzelte. Kell grinste. »Ach, ich bin nur ein armer, alter Soldat. das kann ich mir nicht leisten.« »Arm? mit diesem Schatz unter den Bodendielen?« Nienna hob den Kopf, und ihre Augen funkelten. »Jedenfalls Behauptet Mutter das. Sie sagt, du wärest ein Miesepeter und ein Geizhals und würdest Geld in einem Geheimfach unter den Bodendielen verstecken, eingewickelt in deine alten, stinkigen Strümpfe.«
Kell lächelte, aber die Geste wirkte etwas gezwungen, sein Humor war sichtlich gedämpft. »deine Mutter war schon immer besonders liebenswürdig.« doch im nächsten Moment hellte sich seine Miene wieder auf. »du aber, Mädchen, du bist wirklich ein Witzbold! mit deinen Tricks und deinen lustigen Sprüchen.«
»ich bin schon ein bisschen zu alt, dass du mich noch so nennen solltest, Großvater.«
»nein, meine Süße, du bist immer noch mein kleines Mädchen. « er beugte sich vor und zerzauste ihr das Haar. Sie runzelte verärgert die Stirn.
»Großvater! ich bin kein Mädchen mehr! ich bin fast siebzehn! «
»Für mich wirst du immer ein kleines Mädchen sein. Und jetzt iss deine Suppe.«
Sie aßen schweigend; die Stille wurde nur vom Knistern des Feuers gestört, während der zunehmend stärker werdende Wind den Schnee in Schleiern vor sich her trieb und traurig über gefrorene, gepflasterte Straßen heulte. Nienna war schließlich mit dem essen fertig und wischte den Rest mit einem Stück von dem dunklen Brot aus dem Napf. dann lehnte sie sich seufzend zurück. »Gut! ein bisschen zu viel Salz, aber trotzdem gut.«
»Wie ich schon sagte, ich bin der beste Koch in ganz Jalder.«
»Hast du eigentlich jemals einen Affen gesehen? Einen Richtigen Affen?« Als sie diese Frage stellte, merkte man ihr zum ersten Mal einen Anflug ihrer Jugend an. »Ja. im Dschungel des Südens. Hier oben ist es für Affen zu kalt; ich nehme an, sie wollen nicht auf ihre geliebten Bananen verzichten.« »Was ist eine Banane?« »eine weiche Frucht mit einer gelben Schale.« »Sehe ich wirklich so aus?« »Wie ein Früchtchen oder wie ein Affe?«
Sie schlug ihm spielerisch auf den Arm. »du weißt, was ich meine!« »ein bisschen.« Kell leerte seinen Napf und kaute nachdenklich. Seine Zähne taten ihm schon wieder weh. »es gibt schon gewisse Übereinstimmungen: das haarige Gesicht, die Flöhe, der fette Arsch.«
»Großvater! So redet man nicht mit einer Dame! das haben wir gerade in der Schule gelernt, man nennt es eti..., etti...«
»Etikette.« er fuhr ihr erneut durchs Haar. »Und wenn du erwachsen geworden bist, Nienna, werde ich dich auch wie eine erwachsene behandeln.« Sein Lächeln war ansteckend.
Nienna half ihm, das Essgeschirr abzuwaschen und wegzuräumen. dann stellte sie sich ans Fenster und blickte eine Weile hinaus, auf die fernen Fabriken und den Markt.
»du hast im Süden in den Dschungeln gekämpft, Großvater, richtig?« Kells Laune verfinsterte sich schlagartig, und er biss sich auf die Lippen, um eine wütende Erwiderung zu unterdrücken. Das Mädchen weiß es nicht besser, tadelte er sich und holte tief Luft. »Ja. das ist aber schon lange her. damals war ich noch ein anderer Mensch.« »Wie war es denn da? ich meine, zu kämpfen, in der Armee, mit König Searlan? es muss ja so ... romantisch gewesen sein!«
Kell schnaubte verächtlich. »Romantisch? mit so einem Quatsch füllt man euch also heutzutage die Köpfe in der Schule. es hat überhaupt nichts Romantisches, wenn du mit ansehen musst, wie deine Freunde abgeschlachtet werden. Und es ist auch nichts Heroisches daran, zu beobachten, wie die Krähen auf einem Schlachtfeld um die Augen der Gefallenen streiten. nein.« Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Kämpfe sind etwas für narren.«
»Trotzdem«, setzte Nienna hartnäckig nach. »ich würde gern zur Armee gehen. meine Freundin Kat sagt, dass sie jetzt sogar Frauen aufnehmen; man kann sich auch als Krankenschwester verpflichten und den Verwundeten auf dem Schlachtfeld helfen. man bekommt eine sehr gute Ausbildung. ein befehlshabender Sergeant ist in unsere Schule gekommen und hat versucht, uns zu rekrutieren. Kat hatte schon vor zu unterschreiben, aber ich wollte erst mit dir darüber sprechen.«
Kell durchquerte den Raum so schnell, dass seine Gestalt zu verwischen schien. Nienna war geschockt. er bewegte sich viel zu rasch für einen großen, alten Mann; es wirkte irgendwie unnatürlich. er packte mit seinen großen Bärenpranken überraschend sanft ihre Schultern. dann schüttelte er sie. »Jetzt hör mir mal gut zu, Nienna, du besitzt eine Gabe, ein sehr seltenes Talent, das ich seit sehr langer Zeit nicht mehr bei jemandem gesehen habe. Die Musik liegt dir im Blut, Mädchen, und ich bin mir sicher, dass selbst die Engel grün vor Neid werden, wenn sie dich singen hören.« er holte tief Luft und sah ihr in die Augen. Sein Blick verriet seine bedingungslose Liebe. »Hör gut zu, Nienna, und versuche zu verstehen, was ein alter Mann dir sagt. ein unbekannter Wohltäter hat die Kosten für deine Universitätsausbildung bezahlt. diese Person hat dir ein Leben voller Entbehrungen in den Gerbereien oder an den Fabrikwebstühlen erspart, die so gefährlich sind, dass sie dir deine verdammten Finger abschneiden könnten. Und diese Mistkerle würden das eher zulassen, als die Produktion anzuhalten. Also, Mädchen, du gehst zur Universität und arbeitest, wie du noch nie in deinem Leben gearbeitet hast, sonst werde ich dir so heftig in den Hintern treten, dass dir meine Stiefelspitze aus dem Mund herauskommt.«
Übersetzung: Wolfgang Thon
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
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Autoren-Porträt von Andy Remic
Andy Remic lebt in England, doch sein Herz gehört den schottischen Bergen. Seine Hobbys sind Schwertkampf, Klettern und Kickboxen. Er lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Lincoln.Wolfgang Thon lebt als freier Übersetzer in Hamburg. Er hat viele Thriller, u. a. von Brad Meltzer, Joseph Finder und Paul Grossman ins Deutsche übertragen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Andy Remic
- 2012, 508 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Thon, Wolfgang
- Übersetzer: Wolfgang Thon
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442268761
- ISBN-13: 9783442268764
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