Kiki Strike, Der Gläserne Sarg
Sechs Monate sind vergangen, seit die Ungebetenen Kiki Strike aus den Fängen der Fu-Tsang-Bande befreit haben. Die Tunnel der Schattenstadt haben sie fast vollständig auf einer Karte erfasst, die Eingänge verbarrikadiert, als Oonas gut gehütetes Geheimnis platzt: Sie ist die Tochter von Lester Liu — dem Anführer der Fu Tsang. Kurz nach ihrer Geburt hatte er sie verstoßen. Warum also bittet er sie und ihre Freundinnen nun, vierzehn Jahre später, zu einer Dinner-Party? Sie werfen sich in Chiffon und Seide und folgen der Einladung. Als er ihnen auf seinem herrschaftlichen Anwesen jedoch den gläsernen Sarg einer alten chinesischen Prinzessin zeigt und ankündigt, ihn dem Metropolitan Museum schenken zu wollen, wissen sie: Lester Liu führt Übles im Schilde, sie müssen ihm schnellstens auf die Schliche kommen!
Kiki Strike
Der gläserne Sarg Roman
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence VORWORT Der Tod der Prinzessin
Das heimliche Gerede begann an dem Tag, als sie auf einem Pferd durch das Tor des kaiserlichen Palastes ritt. Sie wusste, dass ihre lange Reise weit hinter der Grenze im Westen begonnen hatte, wo die Große Mauer gebaut wurde. Sie war eine Prinzessin der Xiongnu, der Barbarenstämme, die seit ewigen Zeiten mit China im Krieg lagen, und sie kam, den Sohn des Kaisers zu heiraten. Die meisten Mitglieder des Hofes waren sich einig, als sie die Prinzessin sahen: Der Frieden hatte einen hohen Preis.
Niemand wagte die Schönheit der Prinzessin in Frage zu stellen, und so spotteten sie über ihre runden, vom Wind ihrer Heimat rot gefärbten Wangen. Einen gewissen Adel konnte ihr niemand absprechen, aber sie verachteten die Frau, die weiter und genauer mit Pfeil und Bogen zu schießen verstand als jeder Mann, und die Diener des Palastes machten sich darüber lustig, dass ihre treue Dienerin, eine gemeine Reiterin aus dem Volk, ständig an ihrer Seite war.
Nachts träumte die Prinzessin von zu Hause, den Wüsten, dem Weideland und den Bergen, die jenseits des Reiches lagen, das sie einmal regieren sollte, und schließlich tauschte sie in ihrer Verzweiflung die vornehmen Gewänder gegen das Kleid einer Bettlerin und entfloh den Mauern des Palastes. Drei glorreiche Tage waren sie und ihre Dienerin frei, aber als sie den Gelben Fluss überqueren wollten, wurden sie von den Soldaten des Kaisers gefangen genommen.
Der alte Kaiser war ein weiser Mann, und er wusste seit langem, dass das Mädchen niemals Kaiserin werden durfte. Diener wurden geschickt, um ihr ein mit Gift versetztes Essen zu bringen. So sollte ihr Leib unversehrt und der Mord vor dem Bräutigam verborgen bleiben. Aber die Prinzessin weigerte sich zu sterben und fiel in einen so tiefen Schlaf, dass ihr Herzschlag kaum mehr als ein schwacher Hauch war.
Dem Sohn des Kaisers wurde gesagt, die Prinzessin sei von einem Fieber dahingerafft worden. Ein königliches Begräbnis wurde vorbereitet, selbst noch als die Gerüchte am Hof sie zur Verräterin erklärten. Es hieß, sie sei als Spionin enttarnt worden und werde zur Strafe für ihren Verrat bei lebendigem Leibe begraben. Die treue Dienerin der Prinzessin hatte nicht die Macht, die Unschuld des Mädchens zu beweisen. Aber sie bestach einen Wächter, damit er zwei Dinge ins Grab der Prinzessin hineinschmuggelt. Eines war eine kleine Figurine von ihr selbst auf einem Pferd, damit sie ihrer Herrin auch in der Nachwelt dienen konnte. Das andere war die Wahrheit.
Denn die Dienerin wusste, dass irgendwann alle Geheimnisse entdeckt werden.
KAPITEL EINS Du bist gewarnt
Bevor wir anfangen, sieh mal schnell aus dem Fenster. Es ist egal, ob du auf eine überfüllte Straße in Kalkutta oder die Einkaufsmeile von Texarkana hinunterblickst, die Leute da draußen haben alle eines gemeinsam: Sie haben ein Geheimnis. Der elegante Herr mit der Aktentasche knackt in seiner Freizeit Parkuhren, das Kind auf dem Fahrrad isst gern Ameisen und die kleine alte Dame auf der Parkbank war früher mal als der Schrecken von Cleveland bekannt. Natürlich mache ich nur Spaß. Ich kenne ihre Geheimnisse genauso wenig wie du. Aber genau darum geht es. Man kann nie wissen.
Es gibt viele Erfahrungen im Leben, die sich als eher unangenehm erweisen. Setz niemals einen Hamster in die Mikrowelle, Flip-Flops sind nicht die richtigen Schuhe für eine Cocktailparty und Mayonnaise sollte keine Kruste haben. Für eine Detektivin gibt es darüber hinaus eine Lektion, die schwerer als alle anderen zu lernen ist: Ganz gleich, wie sehr du dich auch bemühst, wirst du doch nie alles über die Menschen wissen, die dir am nächsten stehen. Selbst wenn ihr gemeinsam zahllose Abenteuer bestanden, ja, dem Tod ins Auge geblickt habt, kann es immer noch Geheimnisse zwischen euch geben.
Als diese Geschichte ihren Anfang nahm, hatte ich fünf beste Freundinnen. Ich wusste alles über ihre ungewöhnlichen Hobbys, lebensbedrohlichen Allergien, früheren Verhaftungen und wer von ihnen welches Shampoo benutzte. Allerdings wusste ich nicht, dass zwei meiner Freundinnen Geheimnisse mit sich herumtrugen, die sie vor uns anderen verbargen. Und dass eines dieser Geheimnisse mächtig genug war, uns alle zu zerstören.
Das Ganze fing an einem Samstagmorgen um acht Uhr an. Ich saß gerade am Küchentisch, las ein Buch und genoss ein ausgewogenes Frühstück in Form eines Karamellpuddings, als ich zufällig den Blick hob und meine Mutter in der Tür stehen sah, die Zeitung in der Hand. Ich könnte nicht sagen, dass mich an diesem Morgen ein besonders schlechtes Gewissen bedrückt hätte, dennoch stieß ich einen kleinen Schrei aus, als ich sie sah. Ihre kurzen schwarzen Locken waren den Haarnadeln entwichen und schwebten wie eine giftige Wolke um ihr Gesicht. Sie hatte dunkle Ränder unter den Augen und trug zwei verschiedene Turnschuhe.
»Was liest du da?«, fragte sie mit komisch förmlicher Stimme.
»Phantome, Unmenschen und Dinge, die nachts zu klopfen beginnen «, informierte ich sie. »Ich habe das Buch unter dem Bett im Gästezimmer gefunden. Wieso bist du schon auf?« In den vierzehn Jahren meines Lebens hatte ich meine Mutter am Wochenende noch nie vor zwölf Uhr auf den Beinen erlebt.
»Gestern Abend kam eine Meldung in den Nachrichten, die dich interessieren müsste. Also bin ich früh aufgestanden, um die Zeitung zu kaufen.« Auf ihrem Weg zum Tisch stieg sie über einen Stapel Bücher, der sich quer über den Küchenfußboden verteilt hatte. Vor einer Woche hatte ein kleines Erdbeben (wie die Leute annahmen, ich wusste es besser) die großen Büchertürme umstürzen lassen, die entlang der Wände unserer Wohnung aufragten. Aber die riesige, exzentrische Bibliothek meiner Eltern zurück in ihre alte Ordnung zu bringen wäre eine gar zu nervtötende Aufgabe gewesen, als dass ich sie hätte in Betracht ziehen können, und so lagen die meisten Bücher noch da, wo sie hingefallen waren. Meine Mutter ließ sich auf den Stuhl gegenüber von mir sinken und hielt den Blick fest auf mich gerichtet.
»Was für eine Meldung?«, fragte ich und überlegte fieberhaft, ob ich irgendwas getan hatte, das es in die Zeitung geschafft haben mochte. Am Mittwoch hatte ich mitgeholfen, einen Flitzer in der Grand Central Station zu fassen, aber das schien mir nicht unbedingt eine Schlagzeile wert. Und soweit ich wusste, waren sie bislang auch nicht hinter die Quelle des Erdbebens gekommen. Ich gab mir alle Mühe, nicht weiter aufzufallen.
»Sieh selbst.« Mit den Worten legte meine Mutter die Zeitung vor mir auf den Tisch. Auf der ersten Seite der New York Post war ein Bild von einem jungen Orang-Utan in lila Boxershorts zu sehen, der mit zwei Salatzangen herumfuchtelte. Ich musste lachen, bis ich den Satz darunter las. Steckt Kiki Strike dahinter?, fragte die Zeitung. Das Lächeln in meinem Gesicht erstarb, als ich meine Mutter ansah.
»Los, lies schon«, sagte sie. »Die Geschichte steht auf Seite drei.
« Unter den Augen meiner Mutter überflog ich den Artikel. Offenbar war am Abend zuvor eine Frau namens Marilyn Finchbeck von einem ein Meter langen Leguan geweckt worden, der zu ihr ins Bett kroch. Ihr Nachbar, der Marilyns panisches Schreien hörte, wollte den Notruf wählen, ging aber vorher noch ins Zimmer seines einjährigen Sohnes und musste feststellen, dass der mit einer Familie Lemuren mit großen, behaarten Ohren Kuckuck spielte. Wenig später sprang im selben Haus ein Mann aus seinem Schlafzimmerfenster, nachdem er sich unversehens dem Orang- Utan von der Titelseite gegenübergesehen hatte. Zu dem Zeitpunkt war noch keinem der Bewohner des Hauses am Broadway 983 aufgefallen, dass die Tiere, die in ihre Wohnungen eingedrungen waren, handgeschriebene Notizen um den Hals trugen.
Als die Polizei den Anrufen aus Marilyn Finchbecks Haus nachging, entdeckte sie schnell die Ursache für das Durcheinander. Jemand hatte die Schlösser der Zoohandlung unten im Erdgeschoss aufgebrochen und sämtliche Tiere befreit. Rottweilerwelpen ließen sich ganze Packungen Premium-Hundefutter schmecken, ein halbes Dutzend Kakadus und ein unflätiger Papagei saßen kreischend auf den Dachsparren. Aber statt nach dem geheimnisvollen Wohltäter der Tiere zu fahnden, verhaftete die Polizei den Ladenbesitzer. Im Hinterzimmer seines Geschäfts, hinter einer versteckten Tür, waren geheime Käfige entdeckt worden. Die meisten von ihnen waren leer, nur zwei sedierte Koalas waren noch da, die zu angeduselt gewesen waren, um bei der Party mitzumachen. Die Tierpfleger, die herbeigerufen wurden, um die Lemuren und den Orang-Utan einzufangen (sowie einen jungen Schneeleoparden, der einen Boten dreizehn Querstraßen weit verfolgt hatte), sahen gleich, dass hier gegen das Gesetz verstoßen worden war. Die Tiere aus den geheimen Käfigen gehörten alle bedrohten Arten an und hatten deshalb nichts in New York zu suchen. Um ihre Hälse hingen Zettel mit der Aufschrift: Ich will nach Hause.
Die New York Post glaubte tatsächlich, Kiki Strike stecke hinter der Aktion. Ein Mann aus der Nachbarschaft habe, so schrieb man, in der Woche zuvor eine teiggesichtige Elfe in dunkler Kleidung den Laden ausspähen sehen. (Das war sicher nicht die schmeichelhafteste Beschreibung Kikis, ganz falsch war sie allerdings auch nicht.)
»Also. Wo warst du letzte Nacht, Ananka?«, fragte meine Mutter.
»Hier«, sagte ich mit allem Nachdruck, erleichtert, ihr die Wahrheit sagen zu können. »Ich weiß absolut nichts von der Sache. «
»Du kennst Kiki Strike. Sie war Donnerstag hier und hat sich in unserem Wohnzimmer Kung-Fu-Filme angesehen.«
»Ja, aber das Mädchen, das ich kenne, ist vierzehn Jahre alt und hat kein großes Interesse an Tieren. Die Post will einfach nur Auflage machen, Mom. Da wäre es nur zu schön, wenn da draußen auf New Yorks Straßen eine Selbstjustiz übende, durchgedrehte Teenagerin Amok liefe.«
Meine Mutter schnaufte wie ein wütender Bulle, der sich darauf vorbereitete, seinen Feind auf die Hörner zu spießen. »Nur damit es klar ist: Erwartest du immer noch von mir, dass ich glaube, deine Freundin hätte nichts mit der Vereitlung dieser Entführung vor ein paar Monaten zu tun gehabt?«
»Müssen wir das jetzt alles noch mal durchkauen? Du weißt, was sie in den Nachrichten gesagt haben«, erklärte ich ihr und umging damit die Wahrheit. »Die Kiki-Strike-Geschichte im Juni war ein einziger Schwindel. Das Mädchen, das behauptete, Kiki hätte sie aus den Händen ihrer Entführer befreit, hat gelogen. Sie hat das alles erfunden, weil sie ins Fernsehen wollte. Weiß der Himmel, woher sie Kikis Namen hatte. Vielleicht hat sie ihn sich aus dem Telefonbuch herausgesucht.«
Meine Mutter lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und musterte mich mit schmalen Augen. Ihr ging noch etwas anderes durch den Kopf, und ich wusste, es konnte nichts Gutes sein. Ich sah eine Maus aus dem Schrank unter der Spüle linsen. Sie warf einen Blick auf meine Mutter und flitzte gleich wieder in Sicherheit.
»Rektorin Wickham hat gestern Nachmittag angerufen«, verkündete meine Mutter schließlich. »Dein Geschichtslehrer sagt, dass du in letzter Zeit im Unterricht nicht bei der Sache bist. Er behauptet, du hast einen Vortrag zur Gründung New Yorks verschlafen. Offenbar hast du hinterher nicht mal deinen Sabber weggewischt.« Endlich wusste ich, welche Laus ihr über die Leber gelaufen war. Es ging gar nicht um meine außerschulischen Aktivitäten. Ich konnte mich ruhig als Wonder Woman verkleiden und die Mächte des Bösen bekämpfen, solange ich nur gute Noten nach Hause brachte.
»Ich sabbere nicht. Mr Dedly mag mich nur nicht, weil ich mehr über die Geschichte New Yorks weiß als er.« Das mochte eingebildet klingen, aber ich übertrieb nicht. Ich hatte zwei Jahre damit verbracht, mich durch die riesige Bibliothek meiner Eltern zu wühlen und jedes Buch zu verschlingen, das ich zur New Yorker Geschichte finden konnte. Ich wusste, wie viele unglückliche Arbeiter in der Brooklyn Bridge begraben lagen, dass die Medizinstudenten der Stadt von da einst mit frischen Leichen zum Sezieren versorgt worden waren und wo genau die geheime unterirdische Eisenbahnstrecke verlief, die allein für den privaten Gebrauch der Familie Vanderbilt gebaut worden war. Ich hätte den Unterricht selbst leiten können, und das mit weit mehr Gespür als dieser Mr Dedly, wie ich anfügen möchte.
»Das mag ja sein, Ananka. Aber Mr Dedly ist nicht der einzige Lehrer, der dich bei kurzen Nickerchen erwischt hat.«
»Wer sonst hat sich noch beschwert?«, fuhr ich auf, ohne wirklich überrascht zu sein, dass die Atalanta-Schule für Mädchen voller Spione und Verräter steckte.
»Das tut nichts zur Sache«, sagte meine Mutter. »Was zählt, ist, dass die Schule erst vor drei Wochen wieder angefangen hat, und du steckst bereits in Schwierigkeiten. Ich will kein Zeugnis wie im letzten Jahr mehr sehen. Wenn deine Noten nicht besser werden, schicke ich dich auf ein Internat. Ich mache keine Witze, Ananka. Ich werde schon etwas fern aller Zivilisation finden, wo dir nichts bleibt als deine Hausaufgaben.«
»Du bluffst doch.« Ich lachte nervös. Meine Mutter hatte mir noch nie gedroht, und ich war nicht sicher, ob ich sie ernst nehmen sollte. Ein schlimmeres Schicksal, als aus Manhattan vertrieben zu werden, konnte es für mich nicht geben.
»Ich glaube nicht, dass du herausfinden möchtest, wozu ich fähig bin. Ich würde vorschlagen, du konzentrierst dich aufs Lernen und hängst nicht mehr so viel mit deinen Freundinnen herum. Einigen von denen scheint die Schule egal zu sein, von den wirklich zwielichtigen Gestalten unter ihnen gar nicht zu reden. Oona Wong klopft nicht einmal an. Sie macht die Tür mit ihrem Dietrich auf und kommt einfach herein.«
Ich zog den Kopf ein. Wie oft schon hatte ich Oona gesagt, sie solle das Schlösserknacken lassen, aber es war eine Gewohnheit, die sie nur schwer ablegen konnte.
»Meine Freundinnen sind eben alle auf ihre Art genial«, lautete meine wenig überzeugende Antwort.
»Das bezweifle ich nicht einen Augenblick. Vielleicht helfen sie dir sogar, ein Stipendium an einem Billig-College deiner Wahl zu gewinnen.« Meine Mutter stand vom Tisch auf. »Du und Kiki Strike, ihr führt was im Schilde«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was es ist, aber wenn es auch weiter auf deine schulischen Leistungen drückt, werde ich es herausfinden.«
Damit schlurfte sie aus der Küche. Ich sah auf die Zeitung vor mir. Wenn Kiki hinter dieser Sache steckte, hätte sie dezenter vorgehen sollen.
Natürlich hatte meine Mutter recht. Meine Freundinnen und ich, wir hatten tatsächlich etwas vor. Aber selbst wenn die Möglichkeiten in einer Multiple-Choice-Frage aufgelistet gewesen wären (Ananka und ihre zwielichtigen Freundinnen … a) treffen sich mit radikalen Tierschutzgruppen, b) schnüffeln Eddings und vernachlässigen ihre Hausaufgaben, c) sind einem kleinen Hypnotiseur verfallen, der dafür sorgen wird, dass sie irgendwann bei Betty Burger arbeiten, d) retten New York), selbst dann wäre meine Mutter nie auf die Wahrheit gekommen. Wie viele Menschen ihres Alters litt sie unter einer bizarren Form von Gedächtnisverlust, der verhinderte, dass sie sich daran erinnerte, wie es war, jung zu sein. Trotz ihres Verdachts konnte sie nicht glauben, dass eine Gruppe vierzehnjähriger Mädchen zu etwas anderem imstande war als zu harmlosem Unsinn.
Da ich gerade in Erzähllaune bin, will ich euch die Wahrheit sa gen. Mit zwölf Jahren schloss ich mich den Ungebetenen an, einer Gruppe in Ungnade gefallener Pfadfinderinnen, die von der berüchtigten Kiki Strike angeführt wurden. Wir waren sechs und hüteten ein bemerkenswertes Geheimnis. Wir hatten einen riesigen Irrgarten vergessener Gänge und Tunnel unter den Straßen Manhattans entdeckt, der vor zweihundert Jahren von den Kriminellen der Stadt angelegt worden war. Verborgene Eingänge zu dieser unterirdischen Schattenstadt fanden sich in den Kellern von Banken, Geschäften und noblen Häusern überall in Manhattan, und wer immer Zugang zu den rattenverseuchten Tunneln fand, konnte in die entsprechenden Gebäude eindringen und sie nach Belieben ausrauben. Und natürlich waren die Ungebetenen nicht darauf aus, sich die Taschen mit gestohlenen Dingen zu füllen, aber wir wollten die Tunnel für uns behalten. Natürlich wussten wir, dass unser unterirdischer Spielplatz seinen Preis hatte. Statt uns von den Behörden den Spaß verderben zu lassen, übernahmen wir selbst die Verantwortung, eine neue Generation Krimineller aus der Schattenstadt herauszuhalten.
Wie gern würde ich sagen, dass wir erfolgreich waren. Aber wie die aufgedunsenen toten Körper riesiger Kalmare, die an den Küsten Neuseelands angeschwemmt werden, kommen auch die bestgehüteten Geheimnisse früher oder später ans Tageslicht. Sechs Monate zuvor war eine unvollständige Karte der Schattenstadt in die allerschlimmsten Hände gefallen, und Kiki Strikes blutdürstigen Verwandten, Livia Galatzina, die böse Königin von Prokravia, und ihre moralisch minderbemittelte Tochter Sidonia, hatten sie benutzt, um Kikis Vernichtung zu planen. Nachdem die Ungebetenen ihren Anschlag auf Kiki verhindert hatten, flohen Livia und Sidonia Galatzina nach Russland. Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sie zurückkehren würden, und soweit wir wussten, hatten sie immer noch eine Kopie unserer Karte.
Während wir auf den nächsten Zug der Galatzinas warteten, gab es reichlich zu tun. Den ganzen Sommer über hatten die Un- gebetenen weitere Tunnel erkundet und die Karte der Schattenstadt vervollständigt. Wir sammelten die Schätze (Goldmünzen, silberne Uhren und überraschend wertvolle Nachttöpfe), auf die wir dabei stießen, und wann immer wir einen Eingang fanden, dessen Entdeckung drohte, blockierten wir ihn oder brachten Sprengfallen an. Das war anstrengend und fand hauptsächlich nachts statt, wenn die meisten Mädchen unseres Alters bequem in ihren Betten schlummerten. Wir hatten gehofft, dass unsere Karte fertig sei, bis die Schule im September wieder anfing, aber als Rektorin Wickham sich entschloss, mich in die Pfanne zu hauen, blieb immer noch ein Tunnel, der erkundet werden musste, und nichts, womit meine Mutter mir drohen konnte, würde mich davon abhalten, unsere Aufgabe zu Ende zu bringen.
Es ist nicht so, dass ich mir ihre Warnung nicht zu Herzen nahm. Wie meine Freundin Veruschka sagen würde: Wenn ein ruhiger Hund zu bellen beginnt, sollte man besser aufpassen. Ich versuchte mich sogar an den Geometrie-Hausaufgaben, die ich so lange vernachlässigt hatte. Aber Mathe hat mich schon immer abschweifen lassen, und es half auch nicht, dass jedes Zimmer unserer Wohnung voller Bücher über interessantere Themen war (über untergegangene südamerikanische Zivilisationen, kriminaltechnische Analysen prähistorischen Mists und das MI5-Komplott gegen Prinzessin Diana, um nur ein paar zu nennen). Während ich mir einen starken Kaffee machte, entdeckte ich ein Buch mit dem Titel Weibliche Giftmörder im 17. Jahrhundert, das an einer Schachtel Sweet’N Low lehnte. Unfähig, ihm zu widerstehen, sagte ich mir, dass ich eine kurze Erholung von all den Zahlen verdiente, und ließ mich in die Geschichte der gierigen Marquise de Brinvilliers hineinziehen, die ihre halbe Familie vergiftete, bevor sie auf dem Scheiterhaufen endete. Als ich den Blick hob, war es fast neun Uhr abends. Schnell schlüpfte ich in meine schwarze Hose und das schwarze T-Shirt und verfluchte meine fehlende Disziplin. Bücher sind schon immer meine Schwäche gewesen.
Ich verschloss die Tür zu meinem Zimmer und kletterte die Feuertreppe vor dem Fenster hinunter. Ich muss zugeben, dass es eigentlich keinen Grund gab, dass ich mich wie Cat Woman aus dem Staub machte. Meine Mutter und mein Vater waren nicht mal zu Hause. Ich hatte den ganzen Tag über eine so überzeugende Lernshow abgeliefert, dass sie beschlossen hatten, in einem nahen Restaurant auf ihren Erfolg anzustoßen. Das schlichte Lerne:-Bitte- nicht-stören-Schild an der Tür würde sie auch nach ihrer Rückkehr von meinem Zimmer fernhalten. Aber da ich Kiki Strike treffen wollte und ein Abend voller Abenteuer vor uns lag (vielleicht mein letzter für eine ganze Weile), passte es einfach nicht, die Wohnung durch die Tür zu verlassen.
Seit Wochen schon waren die Temperaturen für die Jahreszeit viel zu hoch, und die Luft war schwer vom ranzigen Geruch einer Million Mülltonnen. Blitze zuckten in den Wolken über der Stadt und warnten vor einem heranziehenden Gewitter. Ich lief in Richtung Marmorfriedhof, einer versteckten letzten Ruhestätte mit einem Eingang zur Schattenstadt, und zählte die Ratten, die sich vor dem Geräusch meiner Schritte in die Gullys flüchteten. Es waren schon mehr als vierzig, als ich in einen kurzen, unbeleuchteten Durchgang namens Jersey Street bog. Das Haar in meinem Nacken hob sich leicht, und ich griff nach der kleinen Dose Pfefferspray, die ich in der Tasche mit mir trug. Ich bereitete mich innerlich auf das Zusammentreffen mit einer Bande schlagfreudiger Straßenlümmel oder gar mit einem von Manhattans sagenumwobenen Straßenräubern vor, fand mich dann aber einem enorm großen Nagetier gegenüber.
Das Eichhörnchen war auf die Mauer eines Hauses gemalt, an die zwei Meter groß, und schien nicht gerade erfreut, mich zu sehen. Zwei schwarze Knopfaugen starrten mich unter buschigen Brauen her an, und ein fieses Grinsen ließ eine Reihe vorstehender Zähne sehen. Eine der dicken Pfoten des Eichhörnchens hielt ein Schild, auf dem mit Blockbuchstaben geschrieben stand: DEIN GELD WIRD ALLE TIERE BEFREIEN. Ich sah über die Schulter und hoffte, dass da nicht tatsächlich ein Eichhörnchen aus Fleisch und Blut stand und die Drohung wahrmachte. Die Gasse war leer. Ich hob die Hand und ließ die Finger über die Farbe gleiten. Sie war noch feucht. Wer immer das Eichhörnchen da hingemalt hatte, war noch nicht lange weg.
Jede Nacht drücken sich Hunderte von Künstlern durch die Schatten New Yorks und hinterlassen ihre Spuren auf den Wänden der Stadt. Einige sind Adrenalinjunkies, die den Rausch lieben, andere haben etwas zu sagen und wollen, dass die ganze Welt es hört. Es bestand kaum ein Zweifel, dass sich derjenige, der das Eichhörnchen hinterlassen hatte, auf einer Mission befand. Ich nahm an, dass es dieselbe Person war, die es mit dem Einbruch in die Zoohandlung auf die Titelseite der Post geschafft hatte. Wobei eines sicher war: Kiki Strike war es nicht. Sie sprach ein Dutzend Sprachen und konnte Leute vermöbeln, die doppelt so groß waren wie sie, aber sie konnte nicht mal ein überzeugendes Strichmännchen zeichnen. Es musste eine neue Vigilantin (vielleicht war es ja auch ein Junge) in der Stadt geben.
Nachdem ich Kiki vom Vorwurf, eine Tieraktivistin zu sein, reingewaschen hatte, brannte ich darauf, ihr von dem Eichhörnchen zu erzählen. Ich hatte noch drei Minuten. Als ich den Marmorfriedhof erreichte, lief ich vor dem Tor auf und ab und sah alle paar Sekunden auf die Uhr, genau wie der hungrige Dicke, der es nicht erwarten kann, dass die Brownies im Ofen endlich fertig werden. Es wurde neun – und keine Spur von Kiki. Um Viertel nach neun kam der Transporter eines Ladens für Haustierbedarf vorbei, mit einem schlecht gemalten Eichhörnchen an der Seite, das ein Schild hielt, auf dem stand: LASST SIE FREI ODER TRAGT DIE FOLGEN. Ich fragte mich, was für Folgen das wohl sein sollten. Derweil rumpelte es in den Wolken über mir wie aus dem Verdauungstrakt eines unter Verstopfung leidenden Riesen. Um halb zehn stand ich unter der Markise des örtlichen Bestattungsunternehmers, es schüttete wie aus Eimern, und langsam begann ich mir Sorgen zu machen. Kiki Strike war auf Pünktlichkeit bedacht. Wenn sie zu spät kam, musste es Ärger gegeben haben. Ich rief auf ihrem Handy an, aber sie ging nicht ran. Um zwanzig vor zehn winkte ich ein Taxi heran und gab dem Fahrer Kikis Adresse.
Für alle, die glauben, dass ich überreagierte, füge ich eine Liste all derer ein, die Kiki Strike tot sehen wollten. Über die Jahre ist diese Liste beträchtlich angewachsen, aber allein die Tatsache, dass Kiki zur Zeit dieser Geschichte noch nicht mal alt genug für einen Führerschein war (obwohl sie oft genug fuhr), lässt sie doch ziemlich beeindruckend erscheinen.
- LIVIA GALATZINA, (IM EXIL LEBENDE) KÖNIGIN VON PROKRAVIA
Die machthungrige Monarchin mit einem Hang zu geschmacklosem Mobiliar hatte die gesamte Familie ihrer älteren Schwester vergiftet, um den Thron des winzigen europäischen Königreichs Prokravia besteigen zu können. Kiki Strike, Livias unglückliche Nichte, wurde von Veruschka Kozlova gerettet, einem Mitglied der königlichen Garde. Als das Volk von Prokravia Livia aus dem Land warf, zog sie nach New York. Kiki und Veruschka folgten ihr, auf Rache sinnend.
2. SIDONIA GALATZINA, PRINZESSIN VON PROKRAVIA
Livias Tochter war wie ich in die Atalanta-Schule für Mädchen gegangen. Die Prinzessin galt lange als das Mädchen New Yorks, das It-girl der Stadt. Auch sie versuchte, Kiki Strike umzubringen. Um Kiki in ihre Fänge zu bekommen, entführte sie zwei Mädchen, deren Eltern Zugang zu einer gefährlichen Karte hatten. Als es den Ungebetenen gelang, die beiden Mädchen zu befreien, flohen Sidonia und ihre Mutter nach Russland, wo sie zuletzt beim Krocket mit einem berüchtigten Gangster gesichtet wurden.
- SERGEI MOLOTOW
Livias rechte Hand und ein korruptes ehemaliges Mitglied der königlichen Garde Prokravias. Molotow schob den Mord an Kikis Eltern Veruschka Kozlova in die Schuhe und zwang Kiki und Veruschka, sich zu verstecken. Später schoss der elegante Attentäter beim Versuch, Kiki Strike zu fangen, Veruschka ins Bein. Auch er entging seiner gerechten Strafe.
- DIE GESAMTE FU-TSANG-BANDE
Während sie die Schattenstadt erkundeten, fanden die Ungebetenen heraus, dass die Fu-Tsang, eine Bande chinesischer Schmuggler, einzelne Räume der Schattenstadt benutzten, um ihre Waren zu verstecken. Wir verständigten die Polizei, und aus Rache für die Razzia, die darauf folgte, taten sich die Fu- Tsang mit der Prinzessin zusammen, um Kiki zu töten. Der Großteil der Bande landete im Gefängnis. Einige Mitglieder blieben allerdings auf freiem Fuß.
- LESTER LIU
Der geheimnisvolle Führer der Fu-Tsang, zog, wie es hieß, seine Fäden von Shanghai aus.
- DER HOTDOG-VERKÄUFER VON DER ECKE 14. STRASSE UND SIXTH AVENUE
Sagen wir es mal so: Seit Kiki dem Gesundheitsamt von seinen Aktivitäten berichtet hat, habe ich keinen einzigen Hotdog mehr gegessen. Der Kerl wurde auf Kaution freigelassen, schrieb das Geld in den Wind und stand auch noch wegen zahlreicher anderer Fälle von Tierquälerei auf der Fahndungsliste.
Wenn eine Königin, ein Schmuggler und ein Hotdog-Verkäufer wild entschlossen sind, dich zu töten, ist es das Beste, nicht zu lange an einem Ort zu bleiben. Im Juli waren Kiki und Veruschka in einen neuen Unterschlupf in der 18. Straße gezogen. Der schmale, lange Ziegelbau, der ursprünglich mal ein Kutscherhaus gewesen war, hatte nur ein Stockwerk. Seit sie von Sergei Molotow vor zwei Jahren angeschossen worden war, konnte Veruschka das getroffene Bein kaum mehr benutzen, geschweige denn, Treppen steigen. Im Sommer hatte Luz Lopez, das Erfindergenie der Ungebetenen, drei Wochen darauf verwandt, einen Rollstuhl zu Veruschkas sechzigstem Geburtstag zu konstruieren. Das Ding hatte einen Sitz, der sich einen Meter hochfahren ließ, einen Roboterarm und eine kleine Tränengaskanone. Spätabends, wenn der Verkehr in Manhattan erstarb, konnte man Veruschka damit die Seventh Avenue herunterrasen sehen. Ein Polizist hatte sie einmal mit 86 Stundenkilometern erwischt. Allerdings sei er viel zu beeindruckt gewesen, prahlte Veruschka, um ihr eine Strafe aufzubrummen.
In der 18. Straße angekommen, stieg ich aus dem Taxi und landete in einem wahren Strom Regenwasser, der am Bordstein entlanggurgelte. Ich sah an der Ampel vorbei zu Kikis Haus hinüber und konnte nicht sehen, ob Kiki undVeruschka da waren. Eine unersättliche Efeuranke hatte die beiden kleinen Fenster verschluckt, die zur Straße hinausgingen, und streckte ihre hungrigen Tentakel nach dem Nachbarhaus aus. Ich ging zu dem großen hölzernen Tor und griff durch die Efeublätter zu der versteckten Klingel. Als sich drinnen nichts regte, wartete ich, bis ein neugieriger Fußgänger um die nächste Ecke verschwunden war, und kletterte die Wand hoch.
Wenn du mir auch nur irgendwie ähnlich bist, hast du schon hundert Filme gesehen, in denen Leute an Gebäuden hochklettern und sich dabei an allen möglichen Kletterpflanzen festhalten. Glaub mir, wenn ich dir sage, dass das weit schwerer ist, als es aussieht, und du es gar nicht erst versuchen solltest, es sei denn, es geht um Leben und Tod oder du bist auf der Flucht vor dem Gesetz. Bis ich Kikis Dach erreichte, rutschte ich ein halbes Dutzend Mal zurück auf den Boden und ratschte mir dabei die Handknöchel auf. Aber endlich schaffte ich es, schob mich über die Regenrinne und sah durch das riesige Oberlicht im Dach des Hauses. Das Licht brannte, aber Kiki und Veruschka waren nirgends zu sehen. Alles wirkte ruhig und reglos wie im Puppenhaus eines toten Kindes. Anzeichen eines Kampfes gab es ebenfalls nicht. Nach dem, was ich erkennen konnte, war alles am gewohnten Platz, und es gab nur einen Hinweis darauf, dass etwas nicht stimmte: Mitten im Raum stand Veruschkas Rollstuhl. Er war leer.
So gern ich genauer nachgesehen hätte, konnte ich doch nicht in Kikis Haus einbrechen. Die Ungebetenen hatten Wochen damit zugebracht, das Haus zu Kikis Schutz mit allen möglichen Fallen zu versehen. Wer das Dachfenster einschlug, würde von einer Wolke Lachgas kichernd zurück auf den Bürgersteig befördert werden, und sollte er eins der Schlösser zu knacken versuchen, fand er sich in einem Netz hautversengender Laser wieder. Ich hockte auf dem Dach und wägte meine Optionen ab. Es gab eigentlich nur eine, und die mochte ich nicht: Ich würde warten müssen.
Bevor ich mich an den Abstieg zurück durchs Efeu machte, überprüfte ich die Straße. An der nächsten Ecke stand eine dünne dunkle Gestalt und drückte sich unter den Dachvorsprung. So wie der Kerl dastand, ohne einen Schirm über sich zu halten, nahm ich an, dass er dem Ruf der Natur folgte. Mein Handy vibrierte, ich fischte es aus der Tasche und hoffte auf einen Anruf von Kiki. Aber es war nur eine SMS. Von Regentropfen verwischt, las ich auf dem Bildschirm: Treffen morgen um 7.00. Fat Frankie’s. Oona. Enttäuscht ließ ich mich zentimeterweise an der Hauswand herunter. Erst als ich sicher wieder auf dem Bürgersteig stand, beschlich mich das Gefühl, beobachtet worden zu sein. Ich eilte zu der Stelle, wo ich den Mann an der Wand hatte stehen sehen. Er war weg, hatte aber sein Markenzeichen hinterlassen, ein menschengroßes Eichhörnchen, auf dessen Schild zu lesen stand: DU BIST GEWARNT.
WIE MAN GEHEIMNISVOLL WIRKT
Wenn es dir auch einige Bücher weiszumachen versuchen, du brauchst keine magischen Kräfte oder Freunde im Feenreich, um hin und wieder ein spannendes Abenteuer zu erleben. Was du brauchst, ist nichts als ein bisschen gesunden Menschenverstand – und ein paar praktische Ratschläge. Und die will ich dir geben. Ich mag zwar nicht die weltgrößte Abenteurerin sein, aber was ich weiß, habe ich von den Besten. (Und ich bin sehr gut darin, Notizen zu machen.) Fangen wir mit etwas Einfachem an. Wie würde es dir gefallen, die Menschen zu faszinieren, sie zu Romanen zu inspirieren und womöglich schon zu Lebzeiten zu einer Legende zu werden? Dafür brauchst du keine kriminelle Vergangenheit, kein gefährliches Geheimnis und noch nicht mal einen abgetragenen Regenmantel. VIELSAGENDES SCHWEIGEN
Wenn du zu denen gehörst, die bereit sind, jedem, den sie in der U-Bahn treffen, ihre ganze Lebensgeschichte zu erzählen, wird es dir schwerfallen, eine Aura des Geheimnisvollen zu entwickeln. (Mach dir trotzdem keine Sorgen, wahrscheinlich siehst du einer blendenden Zukunft als Talkshow-Moderatorin entgegen.) Nichts lässt dich weniger geheimnisvoll erscheinen, als ein Fall von verbalem Overkill. Das heißt nicht, dass du mürrisch oder unfreundlich sein musst. Halt einfach den Mund und lass die Leute tun, was ihnen am besten gefällt: Lass sie von sich erzählen. ERFINDE EIN GEHEIMNIS
Wähle ein Thema aus, das du im Gespräch vermeidest. Es kann dein Job sein (oder der deiner Eltern), was im Sommerurlaub passiert ist oder warum dir ständig ein Bodyguard hinterherläuft. Lächle nur und wechsle das Thema, wann immer die Sprache darauf kommt. SIEH ENTSPRECHEND AUS
Knallige Farben und viel zur Schau gestelltes Fleisch sind nicht geheimnisvoll. Bevorzuge Schwarzes, Schlichtes, Raffiniertes. Wähle dazu mindestens ein sonderbares Accessoire, ohne das du dich niemals sehen lässt. Das müssen nicht gerade ein paar Nunchakus sein – ein altes Medaillon, ein seltsamer indischer Armreif oder eine zerlesene Ausgabe von International Affairs tun es auch. ZEIGE DEINE NARBE
Nur wenige Dinge sind faszinierender als Narben. Wenn du bereits eine hast, umso besser. Wenn nicht, solltest du eine vernünftige Alternative in einem Kostümladen finden können. Auch hier gilt: Sprich nicht drüber. Keine Geschichte, die du erfindest, kann so faszinierend sein wie das, was sich die Leute selbst ausmalen. WERDE EXPERTIN IN EINEM BEREICH
Lerne, wie man Schlösser knackt. Oder wie man ein Auto kurzschließt. Trainiere für den schwarzen Gürtel in Karate. Lese alles über den Aktienmarkt. Aber gebe mit deinem Können und Wissen nie an. Warte stattdessen auf die richtige Gelegenheit, eine Probe davon zu geben, und genieße es, wenn den anderen vor Staunen die Kinnlade herunterfällt. LERNE ZU VERSCHWINDEN
Plötzlich zu verschwinden ist leichter, als es scheint. Isst du mittags mit deinen Freundinnen immer am selben Ort? Bleibe eines Tages einfach weg und verspeise dein Sandwich anderswo. Erkläre nicht, wo du warst. Gehe vierundzwanzig Stunden nicht ans Telefon und beantwortet keine E-Mail. Sag den Leuten, du hättest zu tun gehabt. Wenn du mit einer Gruppe zusammen bist, warte, bis keiner darauf achtet, und lass sie stehen. Wenn dich jemand danach fragt, hattest du etwas zu tun. GRÜNDE EINE GEHEIMGESELLSCHAFT
Wenn du erst einmal eine Aura des Geheimnisvollen geschaffen hast, mag es an der Zeit sein, ein paar Freundinnen in dein Wissen einzuweihen. Finde ein Thema, für das ihr euch einsetzen wollt (egal, ob es um die Rettung von kleinen Eichhörnchen oder die Weltherrschaft geht), und gründe deine eigene Geheimgesellschaft. Überlege dir, ob ihr ein Logo haben wollt, aber denke daran: Eine Geheimgesellschaft muss immer GEHEIM bleiben.
- Autor: Kirsten Miller
- Altersempfehlung: 12 - 15 Jahre
- 2009, 366 Seiten, Maße: 14,4 x 22,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Werner Löcher-Lawrence
- Verlag: Bloomsbury
- ISBN-10: 382705348X
- ISBN-13: 9783827053480
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