Knochensplitter - Wie ich den Toten ihr Geheimnis entlockte
Mit einer ''Knochendetektivin'' auf Verbrecherjagd: Emily Craig ist forensische Anthropologin. Mit buchhalterischer Akribie untersucht sie Knochenfunde auf Hinweise zur Identifizierung der Opfer. Sie sammelt Indizien, die auf Tatzeit, Tathergang und oft...
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Mit einer ''Knochendetektivin'' auf Verbrecherjagd: Emily Craig ist forensische Anthropologin. Mit buchhalterischer Akribie untersucht sie Knochenfunde auf Hinweise zur Identifizierung der Opfer. Sie sammelt Indizien, die auf Tatzeit, Tathergang und oft auch den Täter schließen lassen. Hier gibt sie spannende Einblicke in ihre Arbeit.
Knochensplitter von Emily Craig
LESEPROBE
Vorwort
Zugegeben, es ist kaum zu glauben. Nach jahrelanger Arbeit in einem Beruf, der von der Öffentlichkeit gemeinhin ignoriert wird, ist mein Gebiet plötzlich überaus gefragt.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Das Desinteresse an meiner Wissenschaft beschränkte sich keineswegs auf die Öffentlichkeit allein. Als ich promoviert hatte, waren auch Polizisten oder Staatsanwälte, die den Begriff forensische Anthropologie schon einmal gehört hatten, eine Rarität. Meine Kollegen und ich waren damals ein kleines Häufchen, nur wenigen Menschen ein Begriff und von noch weniger verstanden.
Zwar ist unsere Zahl mit den Jahren stetig gewachsen, doch praktizieren auch heute in ganz Nordamerika nur sechzig amtlich vereidigte Anthropologen. Neben dem Militär beschäftigt nur eine Hand voll Gerichtsbezirke Anthropologen als Festangestellte. Die Mehrheit von uns arbeitet noch immer als unabhängige Gutachter für die Gerichtsbarkeit, als Leichenbeschauer und Gerichtsmediziner.
Doch unser Spezialgebiet ist flügge geworden. Heutzutage weiß jeder Fernsehzuschauer in Amerika, wen er zu rufen hat, um die skelettierten, verbrannten, verwesten, mumifizierten, verstümmelten und vergessenen Toten identifizieren zu lassen.
Das alles entbehrt nicht der Ironie. Gerichtsmedizin ist weiß Gott nichts Neues. Die erste Abhandlung wurde wohl im dreizehnten Jahrhundert in China niedergeschrieben. In Sung Tz us rechtsmedizinischem Lehrbuch Hsi yüan chi lu wird das Geständnis eines Mörders durch Fliegen erwirkt, die von einer mit Blut befleckten Sichel magisch angezogen werden. Sechs Jahrhunderte später dokumentierte der Bostoner Wissenschaftler Thomas Dwight die Identifizierung von Menschen mit hilfe von Knochen.
Das FBI erkannte den Wert der forensischen Anthropologie und bat bei Fällen, in denen es um die sterblichen Überreste von Menschen ging, Wissenschaftler des Smithsonian Institute zu Hilfe. T. Dale Stewart und andere arbeiteten gegen Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts für das Militär und untersuchten die Gebeine amerikanerischer Soldaten, die im Krieg gefallen waren.
Im Jahre 1972 richtete die American Academy of Forensic Science eine anthropologische Abteilung ein und machte damit die Gerichtsanthropologie zu einer formal anerkannten Fachrichtung. Kurz darauf wurde das American Board of Forensic Anthropology gegründet.
Während der Siebzigerjahre expandierte die Disziplin kontinuierlich und befasste sich insbesondere mit der Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen. Unter Federführung von Pionieren wie Clyde Snow begannen Anthropologen in Argentinien, Guatemala, später in Ruanda, im Kosovo und andernorts zu graben und ihre Labors aufzuschlagen. Bergungsarbeiten bei Massenkatastrophen ließen uns zunehmend unentbehrlicher werden. Unter der Regie von DMORT taten wir bei Flugzeugunglücken und auf überschwemmten Friedhöfen, nach Bombenattentaten und beim World Trade Center unsere Arbeit.
Noch immer kannte niemand unseren Namen.
Stichwort C. S. I. - Crime Scene Investigation. Die gleichnamige Fernsehserie über Leute von der Spurensicherung in Las Vegas erlebte einen überraschenden Durchbruch und fesselte Millionen Fernsehzuschauer. Gerichtsmedizin war plötzlich brandheiß, und bald folgten andere Serien. C. S. I.: Miami. Cold Case, Without a Trace. In den Siebzigern hatten wir Quincy gesehen, nun aber wurde Pathologie der absolute Renner. Crossing Jordan. Da Vinci s Inquest. Autopsy. Sogar alte Schinken wie Law and Order und Dateline bemühen Ballistik und Y-Schnitte.
Dokuserien über wahre Kriminalfälle ließen nicht lange auf sich warten. American Justice. Body of Evidence. City Confidential. Cold Case Files. Exhibit A. Forensic Evidence. Forensic Factor. FBI Files. Auf allen Kanälen schnippelten Wissenschaftler und mikroskopierten, stellten Szenarien nach und lösten knifflige Fälle.
Und auch die Literatur stand nicht zurück. Patricia Cornwall. Jeffrey Deaver. Karin Slaughter. Und natürlich Kathy Reichs und meine Lieblingsheldin, die Anthropologin Temperance Brennan.
Nach Jahrzehnten in der Anonymität sind wir plötzlich so etwas wie Rockstars.
Aber die Öffentlichkeit ist bezüglich der einzelnen Akteure noch immer nicht recht im Bilde. Was macht ein Pathologe? Was ein Anthropologe? Die Frage wird mir wieder und wieder gestellt.
Viele der fiktiven Wissenschaftler sind Pathologen - Fachleute, die an Geweben und Weichteilen arbeiten. Emily und ich sind Anthropologen - Fachleute, die es mit Knochen zu tun haben. Frisch Verstorbene oder relativ intakte Leichen: ein Fall für den Pathologen. Skelette auf dem Speicher, verkohlte Leichen in einer Cessna, Knochensplitter im Gartenhäcksler: ein Fall für den Anthropologen. Mithilfe von Indizien, die wir aus Knochen herauslesen, kümmern wir uns um Fragen wie Identität, Todesart, Todeszeitpunkt und das Schicksal einer Leiche nach dem Ableben.
Und wir arbeiten nicht allein. Mag das Fernsehen heldenhafte Individuen wie den einsamen Wissenschaftler oder Detektiv verklären, die Polizeiarbeit im wirklichen Leben besteht aus Kooperation. Ein Pathologe untersucht Organe und Gehirn, ein Entomologe die Insekten, ein Odontologe Zähne und Zahnbefunde, ein Molekularbiologe die DNA, ein Ballistiker Geschosse und Geschosshülsen, der forensische Anthropologe die Knochen. Teamarbeit ist unerlässlich. In Knochensplitter porträtiert Emily den Zusammenhalt und das Engagement von Kriminaltechnikern und Leuten von der Spurensicherung, von Kriminalbeamten und Wissenschaftlern bei der Lösung eines Falles.
Ich bilde mir gerne ein, mit meinen Romanen ein bisschen dazu beigetragen zu haben, das Interesse der Öffentlichkeit für die Gerichtsanthropologie zu wecken. Durch meine Protagonistin Temperance Brennan vermittle ich meine eigenen Erfahrungen. In Knochensplitter tut Emily das Gleiche. Durch sich selbst. Kapitel für Kapitel nimmt sie Sie mit hinter die Kulissen wahrer Fälle. Als fest angestellte Gerichtsanthropologin für den gesamten Bundesstaat Kentucky hatte sie viele, in ihrem einstigen Beruf als anatomische Zeichnerin sogar noch mehr.
Emilys Hintergrund ist einzigartig. Fünfzehn Jahre lang hat sie als medizinische Illustratorin gearbeitet, die Feinheiten von Knochen und Gelenken in Skizzen und Skulpturen übertragen. Den Weg in die Gerichtsanthropologie fand sie über einen Auftrag zur Gesichtsnachbildung bei einer unbekannten Leiche, die am Ufer des Chattahoochee River angeschwemmt worden war. Mit ihrer Karriere ging es seitdem stetig aufwärts.
Ich kenne Emily seit ihrer Zeit als Doktorandin bei Bill Bass und ihren Forschungen auf der »Body Farm« der University of Tennessee. Im Jahre 1998 schrieben wir gemeinsam ein Kapitel für mein Buch Forensic Osteology: Advances in the Identification of Human Remains. In jüngster Zeit wurden Emily und ich nach der Katastrophe am World Trade Center von DMORT in New York City eingesetzt. Ich arbeitete auf der Deponie in Staten Island, Emily im Leichenschauhaus. Vor dem Hintergrund meiner eigenen Erfahrungen schätze ich ihre Schilderungen, mit welcher Hingabe alle daran Beteiligten sich einsetzten. Das letzte Kapitel ihres Buches rief den Schrecken, das überwältigende Verantwortungsgefühl für unseren Auftrag und die wohltuende Kameradschaft wieder in mir wach, die wir alle am Ground Zero empfunden haben.
Als mir die Idee von Knochensplitter erstmals zu Ohren kam, war ich skeptisch. Würde Emilys Buch Leser mit dem ganzen Spektrum unserer Disziplin bekannt machen können, ohne sich dabei wie ein Lehrbuch zu lesen? Würde es ihr möglich sein, detailliert Methoden zu beschreiben und dennoch die menschliche Seite unserer Arbeit lebendig werden zu lassen? Lässt sich der Schmerz einer Mutter über ein vermisstes Kind, die Frustration eines Kriminalbeamten angesichts eines unaufgeklärten Mordes, der Kummer eines Polizisten beim Anblick eines von Kugeln durchsiebten Kleinkinds vermitteln?
Schon die ersten Kapitel haben mich beruhigt. Knochensplitter liefert ehrliche, packende Momentaufnahmen unseres Berufs. Seite für Seite lässt Emily sich von ihren Lesern über die Schulter schauen und gewährt ihnen Einblick in ihre Gedanken und Gefühle. Durch ihre Berichte weckt sie Verständnis für die schwierige, mühevolle, aber oft auch zutiefst befriedigende Arbeit eines forensischen Anthropologen.
Und, vielleicht noch bestechender: Emily öffnet ein Tor zu sich selbst als Frau und Wissenschaftlerin, bemüht sich um das richtige Gleichgewicht zwischen Hingabe, Objektivität und menschlicher Verletzlichkeit, darum, in einem schwierigen, oftmals herzzerreißenden Beruf Humor und Würde nicht zu verlieren. Knochensplitter vereinigt beides - die wissenschaftliche und die menschliche Seite der Gerichtsanthropologie.
Prolog
Der Stachel des Todes
Ich antworte auf die erhabene Frage »Tod, wo ist dein Stachel?« mit »Hier, in meinem Herzen, meinem Geist und meinen Erinnerungen.«
Maya Angelou
Ich hatte bereits maßlos viel Zeit mit den Augen des Opfers zugebracht, und allmählich machte sich Frustration in mir breit. Was auch immer ich anstellte, ich schaffte es nicht, sie lebendig aussehen zu lassen.
Sehr früh am vorangegangenen Tag hatte ich den Kopf dieser Frau auf meinem Küchentisch aufgebockt und seither ununterbrochen daran gearbeitet. Jetzt war es zwei Uhr nachts - weit über meine normale Zubettgehzeit hinaus -, aber ich konnte einfach nicht aufhören.
Wenn ich vielleicht an einem anderen Teil des Gesichts etwas änderte? Ich fuhr mit den Fingern über ihre kalten, glatten Wangen, versuchte, das Gefühl abzuschütteln, dass ihr lebloser Blick direkt auf mich gerichtet war. Mit den Daumen drückte ich gegen die weiche Falte, die ihre Unterlippe bildete, und modellierte ihren finsteren Ausdruck zu einem Lächeln. Dann wurde mir schlagartig klar, was ich getan hatte. Nach allem, was diese Frau durchgemacht hatte, wie um alles in der Welt konnte ich auf die Idee kommen, dass diese Frau lächeln sollte?
Meine Kollegen und ich wussten bei weitem zu wenig über die Frau, deren Gesicht ich versuchte, neu erstehen zu lassen. Aber was wir wussten, ließ einen erschauern. Drei Monate war es her, seit man ihre Leiche in der Nähe von Peck s Landing, einem Freizeitparadies bei der Stadt Baraboo am Wisconsin River, entdeckt hatte. Ein Teenager, der im Fluss schwamm, hatte eine schwarze Tuchtasche auf einer Sandbank gefunden. In der Annahme, dass sie Campingzubehör enthielt, hatte er sie zu dem kleinen Pfad am Strand geschafft. Als er sie öffnete, fand er darin einen schwarzen Müllsack, der gerade so weit offen stand, dass er die faulig riechenden blutigen Überreste eines, wie er vermutete, toten Tiers darin sehen konnte. Angeekelt kippte er die Überreste samt Plastiksack auf den Weg, hängte die Tasche in den nächsten Baum und machte sich davon. Die untersuchenden Beamten mussten nach ihm fahnden, um diese Geschichte in Erfahrung zu bringen.
Am selben Nachmittag machten zwei kleine Jungen mit ihrer Mutter auf dem Pfad den üblichen Sonntagsspaziergang. Sie waren vorausgelaufen und über den blutigen Müllsack gestolpert. Wie Kinder nun mal sind, stocherten sie mit Stöcken darin herum, bis die Plastiktüte vollends aufriss und das faulende Fleisch freigab. Auch sie hielten es für ein totes Tier und riefen aufgeregt die Mutter herbei, um ihr den Fund zu zeigen. Sie nahm die Kinder rasch beiseite und verständigte per Notruf die Polizei.
Als dem Büro des Sheriffs von Sauk County aufging, dass es sich um einen menschlichen Torso handelte, begann eine groß angelegte Suche nach weiteren Spuren im Zusammenhang mit diesem offensichtlich brutalen Verbrechen. Im Laufe der nächsten beiden Tage fanden Suchtrupps sieben weitere Plastiktüten mit Leichenteilen, alle Tüten trugen das Logo einer lokalen Einkaufskette. Die Tüten bargen die systematisch zerlegten Leichenteile einer jungen Frau zwischen zwanzig und dreißig - Schultern, Hüften, Knie und Knöchel, mit beinahe chirurgischer Präzision zerteilt, buchstäblich entbeint. Der Kopf war abgetrennt, der Schädel enthäutet, das Gesicht bis auf die Knochen abgetragen.
Ironischerweise hatten genau die Maßnahmen, die der Mörder getroffen hatte, um die Identität seines Opfers zu verbergen, dazu beigetragen, diese zu konservieren. Die Plastiktüten, sorgfältig verschlossen und in den Fluss geworfen, hatten ihren Inhalt gut geschützt, weit besser, als wenn er die Überreste einfach in den Wald geworfen hätte. Das Plastik hatte nicht nur verhindert, dass Maden und andere Aasfresser sich über das Fleisch hergemacht hatten, der Fluss hatte darüber hinaus wie ein Kühlschrank gewirkt, den natürlichen Verwesungs- und Verfallsprozess aufgehalten. Die Überreste dieser jungen Frau hatten noch immer eine Geschichte zu erzählen - wenn wir nur verstanden hätten, ihnen zuzuhören.
Als mich Detective Joe Welsch vom Morddezernat Sauk County zum ersten Mal um Hilfe bat, klang er mutloser als jeder andere Kriminalbeamte, mit dem ich je zu tun gehabt hatte.
»Ehrlich gesagt«, begann Joe, »wie dieses Mädchen abgeschlachtet worden ist, das hat hier noch keiner von uns erlebt.«
Ich hatte den Eindruck, dass er noch jung war und vielleicht ein bisschen nervös.
»Und dann all die anderen Fälle - die Frau drüben in New Hampshire, etwa zehn Tage vor unserer schwamm sie im Hampshire River. Auch ihr Körper war verstümmelt, genau wie bei unserem Opfer.«
Auch ich hatte von der Frau gehört, und ich wusste, dass Joe und ich das Gleiche dachten: ein Serientäter. Serienmörder sind extrem selten, und jeder in der großen Gemeinde der Gesetzeshüter weiß, dass sie in der Regel die unwahrscheinlichste Erklärung für einen Mord liefern. Dennoch, die schiere Brutalität dieses Mordes stach aus dem Normalen heraus. Massenmördern wie Jeffrey Dahmer und Jack the Ripper schien es nicht damit getan, ihre Opfer einfach nur umzubringen. Das im Anschluss daran begangene Verbrechen der Verstümmelung oder gar des Kannibalismus siedelt ihre Morde jenseits aller menschlichen Verhaltensmaßstäbe an. Die beiden Fälle passten zu diesem Profil. Wenn Joe einen Massenmörder in seinem Gerichtsbezirk haben sollte, sorgte er sich zu Recht.
»Wir haben hier schon mal einen Serienmörder hinter Gitter gebracht«, fuhr er fort. »Und die Polizei in Chicago hat in den letzten paar Monaten zwölf Frauenleichen auf der Straße gefunden. Ich habe mit dem FBI-Profiler dort gesprochen und auch mit dem in Madison. Wir alle versuchen wirklich nach Kräften, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Aber mir wäre weit wohler, wenn wir herausfinden könnten, wer diese Frau ist.«
Ja, dachte ich, die Uhr läuft. Jede Minute länger, in der wir nicht wussten, wer diese Frau war, verschaffte dem Mörder eine weitere Minute, um seine Spuren zu verwischen - oder den nächsten Mord zu planen.
Joe las mir aus dem Obduktionsbericht vor. »Innere Organe, Gehirn vorhanden, aber kaum erkennbar Zähne komplett und in exzellentem Zustand Keine charakteristischen Narben, keine Tätowierungen Kein Hinweis auf Knochenbrüche in der Vergangenheit « Das war die Standardcheckliste des medizinischen Gutachters, und nun verstand ich, wo Joes Problem lag: Nichts, aber auch gar nichts an der Leiche dieser jungen Frau ließ darauf schließen, wer sie gewesen war.
»Wir steht s mit Fingerabdrücken?«, fragte ich.
Joe seufzte. »Haben wir und auch nicht. Als wir sie fanden, hatte die Verwesung bereits eingesetzt, und nach all der Zeit im Wasser hatte die Haut an ihren Fingern angefangen, sich abzulösen.«
Darum, so berichtete Joe, hatte sein Spezialist für Fingerabdrücke die Haut härten müssen, indem er sie in Formalin einlegte. Dann hatte er die Epidermis an den Fingerspitzen des Opfers eingeritzt, sodass sich die äußere Hautschicht in einem Stück abziehen ließ, man bezeichnet dieses Vorgehen auch als »Degloving«. Am Ende hatte er eine etwas schaurige Art Handschuh, eine leere Hülle, in die er nun mit den eigenen Fingern hineinschlüpfen konnte. Einen um den anderen hatte er in der Haut des Opfers seinen Abdruck auf einem Stempelkissen genommen und auf einem weißen Stück Papier abgerollt und so sechs lesbare Fingerabdrücke zuwege gebracht - eine bemerkenswert hohe Zahl.
»Aber das ist toll«, entgegnete ich. Da es ungemein schwierig ist, Fingerabdrücke zu bekommen, wenn die Überreste stark verwest sind, fragte ich mich einen Moment lang, warum er so entmutigt klang. Im selben Moment wurde mir jedoch wieder klar, wie enttäuschend wenig diese Information unter Umständen bringen kann.
»Ja«, sagte Joe, »aber wir haben bislang keine Abdrücke gefunden, die dazu passen. Wissen Sie, als wir die Abdrücke bekamen, dachte ich zuerst auch, ich müsste sie nur in eine Datenbank eingeben. Der Computer würde mir eine Liste von ein paar gesuchten Personen ausspucken, und - Bingo! - wir hätten unsere Frau.«
Allen herkömmlichen Ansichten zum Trotz gibt es kein Patentrezept, mit dem sich die Fingerabdrücke unidentifizierter Opfer mit denen vermisster Personen abgleichen lassen, wenn die der vermissten Person nicht bereits in einer nationalen oder internationalen Datenbank gespeichert sind. Die Abdrücke verurteilter Straftäter sind in der Regel bei der jeweiligen Vollzugsbehörde archiviert, aber wenn die örtliche Polizei oder die lokalen Sheriffs diese Abdrücke nicht von sich aus einer nationalen, elektronisch erfassten Datenbank zur Verfügung stellen, können die Ermittler anderer Gerichtsbezirke sie nicht mit denen eines ihrer unidentifizierten Opfer vergleichen. Das biologische Profil eines Menschen (Alter, ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht, Statur, Gewicht, Haarfarbe, Augenfarbe) kann in der Regel auf tausende vermisster Personen zutreffen.
© der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by Verlagsgruppe Random House, München
Übersetzung: Susanne Kuhlmann-Krieg
- Autor: Emily Craig
- 2005, 350 Seiten, Maße: 12,5 x 18,3 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Arkana
- ISBN-10: 3442153182
- ISBN-13: 9783442153183
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