Königin der Träume
Die junge kalifornische Künstlerin Rakhi hat ihre indische Herkunft abgestreift wie einen alten Mantel, aber ihr Leben ist dadurch nicht einfacher geworden: Die bevorstehende erste größere Ausstellung wächst ihr über den Kopf, und der verhasste Exmann verbündet sich mit der gemeinsamen sechsjährigen Tochter. Schlimm genug, dass Rakhi sich in dieser Situation hilflos an ihre Mutter wenden muss, schlimmer noch, dass diese hellsichtig ist. Doch kaum haben Mutter und Tochter sich wieder vorsichtig einander genähert, da stirbt die alte weise Frau bei einem Autounfall, und Rakhis überlebender Vater erzählt ihr, der Unfall sei während der Verfolgung eines mysteriösen schwarzen Wagens geschehen. Alles, was Rakhi bleibt, sind die Tagebücher ihrer Mutter. Und erst durch diese Tagebücher erfährt sie, dass ihre Mutter die geheimnisvolle Kunst der indischen Traumdeutung beherrschte und eine Gefolgschaft um sich scharte, die sie als Königin der Träume verehrte. Öffnen die rätselhaften Traumtagebücher eine Tür zum Geheimnis ihres Todes?
Königin der Träume von Chitra Divakaruni
LESEPROBE
I.
Aus den Traumtagebüchern
Gestern Nacht erschien mir die Schlange. Ich war
überrascht, obwohl mich eigentlichnur noch wenig
zu überraschen vermag.
Sie war schöner, als ich sie inErinnerung hatte. Ihre
schuppige grüne Haut schimmerte wiedas Regenwasser
auf den Bananenpflanzen, die wir aufdem kleinen
Stück Land hinter den Traumhöhlengroßzogen. Vielleicht
ist es so, dass ich nun, da ichälter werde, Schönheit
auch dort wahrnehmen kann, wo ichsie früher nie
erwartet hätte.
Es ist schon eine Weile her, meineFreundin, sagte ich.
Aber ich gebe dir nicht die Schulddaran. Jetzt nicht
mehr.
Um mir zu zeigen, dass auch sie mirnichts nachtrug,
weitete die Schlange ihre Augen. Eswar, als wenn ein
Sonnenstrahl auf einenSpiegelsplitter fällt.
Das letzte Mal, als sie mirerschienen war, hatte es
große Veränderungen in meinem Lebengegeben. Es war
eine Zeit, die neue Möglichkeitenversprach - und Dunkelheit
brachte. Danach war sie nicht mehrzurückgekehrt,
obgleich ich geweint und nach ihrgerufen hatte,
bis meine Stimme mich verließ.
Warum kam sie jetzt, da ich endlichin Frieden lebte,
mich mit all meinen Verlusten undall den getroffe
nen Vereinbarungen abgefunden hatte? Daich meine
Fäuste geöffnet und all die Dinge,nach denen ich mich
sehnte, hatte hinausgleitenlassen?
Ein Licht erleuchtete ihren Körper.Es war ein klares,
intensives Licht mit einer Spur vonKüstenvioletttönen
- ein Spätnachmittag inmitten derZypressen entlang
des Pazifiks.
Ich betrachtete sie für eine Weileund wusste, dass sie
gekommen war, um mir eine weitereVeränderung vorherzusagen.
Aber um wen mochte es dabei gehen,und von welcher
Art mochte die Veränderung sein?
Gewiss keine Geburt. Das würde sich Rakhi nicht antun,
wo sie doch bereits alleinerziehende Mutter ist.
Wenngleich dieses Kind schon meinganzes Leben lang
immer das Unerwartete getan hat.
Möglicherweise eine Vereinigung?Kehrte Rakhi zu
Sonny zurück, wie ich es insgeheimimmer noch hoffte?
Oder trat vielleicht ein neuer Mannin ihr Leben?
Die Schlange verlor langsam ihrLeuchten. Es wurde
immer schwächer, bis sie die Farbevon Unkraut trug,
das auf der Wasseroberflächeschwimmt, nur noch ein
schwacher Nachklang in grünlichemSchlick.
Sie sagte einen Tod voraus.
Mein Herz begann zu pochen, langsam,unrhythmisch.
Ein arthritisches Hämmern, das injeder Höhlung
meines Körpers widerhallte.
Lass es nicht Rakhisein und auch nicht Sonny oder
Jonaki. Lass es nicht mein Ehemannsein, den ich in so
vielerlei Hinsicht enttäuscht habe.
Die Schlange war schon beinaheunsichtbar, als sie
sich schließlich zusammenrollte undlangsam wieder
streckte. Geheimnisvolle Zeichen, Verwicklungen,Entwirrungen.
Ich begriff.
Wird es wehtun?, flüsterte ich. Wirdes sehr wehtun?
Die Schlange schlug mit ihrem Schwanz.Die Luft
hatte die Farbe von altenTelegrafenleitungen.
Wird es wenigstens schnell gehen?
Ihre Schuppen blinzelten ein Ja.Rauch zog von irgendwoher
auf und hüllte sie ein. Oder gehörteder
Rauch zu dem, was kommen würde?
Wird es schon bald geschehen?
Im Funkeln ihrer Augen lag einekleine Irritation. In
der Welt, in der sie lebte, hatte baldkeine Bedeutung.
Ich hatte wieder einmal die falscheFrage gestellt.
Sie begann sich davonzuschlängeln.Ihre Zunge war
wie eine dünne, rosafarbenePeitsche. Mich überkam das
absurde Verlangen, sie zu berühren.
So warte doch! Wie kann ich michdarauf vorbereiten?
Die Schlange wandte mir das flacheOval ihres Kopfes
zu. Ich streckte die Hand aus. IhreZunge - aber sie
war ja gar nicht wie eine Peitsche,sondern ganz weich
und voller Traurigkeit, wie ausalter Seide gemacht!
Ich glaube, sie sagte: Es gibt keineandere Vorbereitung,
als zu verstehen.
Aber was soll ich denn verstehen?
Der Tod beendet alles, aber er kannauch ein Anfang
sein. Eine Gelegenheit, dasgutzumachen, was du verpfuscht
hast. Kannst du dich überhaupt nochdaran
erinnern, was das gewesen ist?
Ich versuchte michzurückzuversetzen. Es war, als
würde man durch Milchglas blicken.Die mit Sand ge-
füllten Höhlen. DieUnterrichtsstunden. Als Novizinnen
lernten wir die Träume von Bettlernund Königen
und Heiligen zu deuten. Ravana,Tunga-dhwaja,Varada
Muni Aber ich hatte auf halbem Wegeaufgegeben.
Die Schlange verschwand langsam. EinGedanke
strich wie ein Atemzug über meineHaut.
Aber nur, wenn du den günstigenAugenblick wahrnimmst.
Nur, wenn du
Dann war sie fort.
© Verlagsgruppe Random House
Übersetzung: Angelika Naujokat
- Autor: Chitra Banerjee Divakaruni
- 2005, 1, 446 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Diana
- ISBN-10: 3453350243
- ISBN-13: 9783453350243
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Königin der Träume".
Kommentar verfassen