Königsberg
Königsberg von Jürgen Manthey
LESEPROBE
Alles (fast alles) war anders in Königsberg. Anders als inden Städten vergleichbarer Größe entlang der Küste von Ost- und Nordsee, andersals in den Städten der übrigen ehemaligen Ostprovinzen, ja in Deutschlandinsgesamt, Berlin darin eingeschlossen. Anders auch als das Bild in unserenKöpfen von dieser alten Hauptstadt Preußens, eines nachher wegen seinerberüchtigten Militärkaste übel beleumundeten und daher 1946 von den Alliiertenaufgelösten Staates. Zu den erstaunlichen Besonderheiten bei einer Stadt in soexponierter Lage gehört, daß Königsberg in den knapp 700 Jahren seinesBestehens nicht einmal von außen gewaltsam erobert oder zerstört worden ist.Und das nicht etwa, weil es als Festung uneinnehmbar gewesen wäre – dieVerteidigungsanlagen befanden sich zu allen Zeiten in einem erbarmungswürdigschlechten Zustand –, vielmehr dank dem Vermittlungstalent undVerhandlungsgeschick seiner Bürger – sowie den Dukaten aus dem Stadtsäckel.
Was haben wir uns nicht mit politik-verächtlichem, deutsch-mystischauftrumpfendem Gedankengut (gegen westlichen Liberalismus, englischenKrämergeist und französischen Sansculotismus) abzugeben, sobald wir uns mitdeutscher Geschichte vor 1945 (und teils noch danach) beschäftigen. Um dahinterzu kommen, ab wann Deutschland eigene Wege ging – nicht nur der direktenDemokratie-Verhinderung, die gab es woanders auch, sondern einer hinhaltendenVerfassungs-Verweigerung bis in das Jahr 1918 – gerieten wir ständig weiterzurück in die Vergangenheit, hofften dabei immer auch auf Belege für vereitelteAlternativen, hielten nach Plätzen Ausschau, auf denen die Kämpfe für einanderes, besseres Deutschland ausgetragen worden und verlorengegangen waren.
Und da ist uns entgangen, daß es das alles in gedanklich feinster Ausführungund modellhaft vorgestellter Praxis ausgerechnet in einem Gemeinwesen gegebenhat, dem wir eher zugetraut hätten, eine Bastion des verhaßten reaktionärenPreußengeists gewesen zu sein. Wie aber hätte dann Hannah Arendt, Tochter einerjüdischen Königsberger Familie und 1933 nach Frankreich und 1941 in die USAemigriert, bei einem Deutschland-Besuch 1964 erklären können: »In meiner Art zudenken und zu urteilen komme ich immer noch aus Königsberg.«
Obwohl die Stadt Königsberg hieß, waren sich die preußischen Könige, die sichregelmäßig aus Anlaß ihrer Krönung dorthin begaben, dessen bewußt, daß sie dieHuldigungszeremonie an einem Ort über sich ergehen ließen, an dem traditionelldas Königtum der Hohenzollern (und vorher die absolutistische Herrschaft derBrandenburgischen Kurfürsten) höchst nachdrücklich und kontinuierlich in Fragegestellt wurde. Der »Königsberger Oppositionsgeist«, stellt Friedrich WilhelmIV. 1842 resigniert fest, sei so alt wie die Monarchie in Preußen. InWirklichkeit war er so alt wie die Stadt selbst. Dieses Königsberg, in dem Kantsein ganzes Leben verbracht hat, Haupt der deutschen Aufklärung und Begründereiner Philosophie als Kritik aller bis dahin für nicht hinterfragbar gehaltenenSysteme; dieser Ursprungsort und Ausgangspunkt grundlegender, weit nachDeutschland und in die Zukunft hineinwirkender Reformen und Anstöße für einneues, modernes Verständnis von Philosophie, Literatur und Politik; diesesKönigsberg ist spätestens 1933, nachdem Kräfte schon vorher daraufhingearbeitet hatten, von der Landkarte der Zivilisation verschwunden. Was angesellschaftlichen und baulichen Resten von einer großen Tradition derIntegration und Toleranz, der Vermittlung und des Austauschs immer auchzwischen Ost und West zeugte – der Dichter Johannes Bobrowski hat in seinerErzählung »Der Mahner« diese Zeugnisse in einer beeindruckendenBestandsaufnahme noch einmal mit Blick auf 1933 beschworen –, das istuntergegangen in den Feuersbrünsten der letzten Monate des Zweiten Weltkriegs.Es begann mit der Zerstörung der Innenstadt Ende August 1944 durch englischeFlieger, wurde fortgesetzt mit dem Beschuß während der langen Belagerung seitEnde Januar 1945 und vollendet durch den sogenannten Sturm, mit dem die RoteArmee zwischen dem 6. und dem 9. April den restlichen Widerstand der von Hitlerzur Festung erklärten Stadt brach.
Das frühere nördliche Ostpreußen ist heute ein Teil von Rußland, Königsberg seit1946 in Kaliningrad umbenannt. Gelegentlich wird dort, meist von offiziellerSeite, darauf hingewiesen, die Stadt und der Landstrich, in dem sie liegt,seien ja auch früher schon einmal russisch gewesen. Der Gouverneur desKaliningrader Gebiets, Wladimir Jeqorow, 2001 in einem »Spiegel«-Gesprächwörtlich: »Übrigens enthielt die ostpreußische Geschichte ja auch einrussisches Element, weil Ostpreußen einst zu Rußland gehörte.«1
Während des Siebenjährigen Krieges hatten russische Truppen von 1758 bis 1762ganz Ostpreußen besetzt. Doch beim Tod der Zarin Elisabeth gab ihr NachfolgerPeter III., ein Verehrer von Friedrich II., die bereits in das russische Reicheingegliederte Provinz umgehend an Preußen zurück. Nie vorher und nie wiedersind in Königsberg, zusammen mit den Offizieren der zaristischen Armee, soprächtige Feste gefeiert und so aufwendige Bälle veranstaltet worden wie indieser Zeit.
Daran mußte ich denken, als ich in Kaliningrad bei einem gemeinsamen Essen,verleitet durch das Gefühl fortschreitender Vertrautheit mit den(unterschiedlichen) Meinungen der Anwesenden, einen ironisch-melancholischenTrinkspruch ausbrachte: Hätte Königsberg nicht 1762 gleich russisch bleibenkönnen (wozu ja wirklich nicht viel gefehlt hat), was wäre der Stadt und denBewohnern zweihundert Jahre später nicht alles erspart geblieben! Die Reaktionam Tisch ließ, wenn ich freudige Zustimmung erwartet hatte, zu wünschen übrig –vielleicht angesichts der Zustände draußen: den alten Frauen am Straßenrand mitdem Bund Petersilie oder den fünf Äpfeln vor sich, deren Verkaufserlös dastägliche Stück Brot sichern soll, und daneben, gleich um die nächste Ecke, dieVillen der Neuen Russen hinter hohen Mauern, bewacht von Leibwächtern mitscharfen Hunden.
Der erweiterten Tischrunde aus dem Kaliningrader Restaurant»Zwölf Stühle« sei dieses Buch gewidmet: Europäer alle, Demokraten, »Westler«(ich habe ihrer Diskussion unmittelbar vor den Gouverneurswahlen im Jahr 2000zugehört), die sich für das Erlernen der deutschen Sprache einsetzen und um dasGedächtnis der kulturellen Vergangenheit dieser Stadt vor 1933 bemühen, ohnedie russische Identität (in ihrer ganz besonderen Kaliningrader Spielart)preiszugeben.
© Hanser Verlag
- Autor: Jürgen Manthey
- 2005, 735 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen, Maße: 15,6 x 22,2 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446206191
- ISBN-13: 9783446206199
- Erscheinungsdatum: 28.02.2005
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