Körperkult
Amerika in der nahen Zukunft: Der Schönheitswahn ist die neue Religion und Reverend Earl Sharpneck ihr oberster Prediger. Mit seinen Fitnessclubs und Diätprodukten scheffelt er Milliarden. Dicke und Magersüchtige werden in den Untergrund verbannt oder...
Amerika in der nahen Zukunft: Der Schönheitswahn ist die neue Religion und Reverend Earl Sharpneck ihr oberster Prediger. Mit seinen Fitnessclubs und Diätprodukten scheffelt er Milliarden. Dicke und Magersüchtige werden in den Untergrund verbannt oder landen bei einem obskuren Nonnenorden, doch schließlich kommt es zum Aufstand.
Eine bitterböse Satire auf die Globalisierung und den American Way of Life.
Körperkult von Kit Reed
LESEPROBE
EINS
Wenn duallein bist mit deinen Gedanken, dann glaubst du vielleicht,
du wärstwas Besonderes. Dabei bist du nur eine stinknormale Person,
die mitdiesem blöden Körper durch die Gegend rennt. Der ist
nichtsBesseres als ein Leasingfahrzeug, verstehst du? Vergiss, was
ReverendEarl predigt. Der Körper, den du benutzt, ist kein Tempel,
er isteine Falle für den Inhalt deines Kopfes. Immer, wenn du darüber
nachdenkenwillst, wer du bist und was du für deine Entwicklung
tunkannst, grübelst du wie besessen über die Körperteile nach,
die anderevon dir zu Gesicht bekommen. Die musst du in Ordnung
halten undin Form bringen, sonst rücken sie dir auf die Pelle.
PerfekteFrisur. Perfektes Outfit. Perfekter Waschbrettbauch und
Muckies!Das Image ist alles. Damit wächst du auf, und falls du es
noch nichtgemerkt hast, das bringt man dir auch während der Schulzeit
so bei.
DieAbercrombie-Zwillinge sind unterwegs und suchen nach ihrer
SchwesterAnnie. Betz Abercrombie und ihr Zwillingsbruder Danny
rasen inDave Bermans Saturn über den Highway Nummer soundso,
denn Davehat als Einziger ein Auto. Außerdem liegt ihm was an der
Sache. Ersteht irgendwie auf Annie, und Betz steht irgendwie auf
Dave. BetzAbercrombie ist verliebt in Dave Berman, aber damit
kann siesich jetzt nicht beschäftigen, denn erst mal müssen sie
Anniefinden und aus diesem schrecklichen Ort befreien. Dann kann
sie Anniedazu bringen, Dave den Laufpass zu geben, damit sie ihn
küssenkann, und dann kann ihr Leben so richtig beginnen. Und
Danny? Erliebt ihre große Schwester ebenso sehr wie Betz, aber
gleichzeitighängt er seinem eigenen Traum nach. Aber bis sie Annie
finden,müssen all ihre Träume warten.
Annie, naja, also Annie hatte ein Problem, deswegen haben die
Alten sieweggeschickt. Wegen ihres Zustands. Annie hat sich irre
Mühegegeben, dass ihr niemand auf die Schliche kommt, aber sobald
sie wasdavon bemerkten, stürzten sie sich schon auf sie. Mom
und Dadregten sich furchtbar auf, »was das für eine Schande ist!«
Jetztsitzt Annie in einer Art Kloster fest, an einem geheimen Ort,
den esnoch herauszufinden gilt. Sie ist in einer dieser Einrichtungen
fürMädchen, die mit ihrer Lebensweise Grenzen überschritten
haben, soals wäre Annie, wenn sie so weitergemacht hätte, über den
Rand derzivilisierten Welt gekippt wie ein mittelalterliches Schiff,
dasgeradewegs von der Landkarte segelt. Am Tag danach erzählte
Dad immerwieder, »es war zu ihrem eigenen Besten«, aber Mom
weinte,als Annie abgeholt wurde.
Die GutenSchwestern haben sie, und die Zwillinge werden sie da
rausholen.
Die GutenSchwestern sind eigentlich keine richtigen Nonnen,
aber sieziehen sich so an. Um auf sich aufmerksam zu machen, wie
dieZwillinge glauben. Für diese Frauen ist das, was sie tun, wichtiger
alsReligion. Wenn es nicht sogar eine Religion ist. Das ist schwer zu
sagen. DieGS laufen in brauner Nonnentracht herum, die einem
eineScheißangst einjagt, und in jedem Schulbuch zur Gesundheitserziehung
sind sieso abgebildet. In den Büchern stehen die GS da
wie eineArmee von Godzillas, die anrückt, um dich wieder aufs
richtigeGleis zu schieben. Aber das ist nicht das Schlimmste.
Großgewachsene,knallharte Gute Schwestern starren einen von den
vielenPlakaten mit den warnenden Slogans an, die alle Fast-Food-
Läden undCoffeeshops zieren, in denen die Kids rumhängen. Nur
für denFall, dass man sich mal vergisst und womöglich anfängt, Spaß
zu haben.GS-Poster hängen an den Pfeilern jedes Einkaufszentrums
und jedesKinokomplexes, den Kids wie die Abercrombies besuchen.
Sie stehendabei vor so einem mittelalterlichen Riesenbau, und selbst
der wirktbedrohlich; er hockt wie ein Monsterschloss auf einem
hohen Bergund überschattet das Kloster, um das schwarze Vögel
kreisen,keine Ahnung, ob das Geier sein sollen oder was.
Und fallsman es trotzdem nicht kapiert, steht unten drunter:
DEINKÖRPER IST EIN TEMPEL, WENN DU SEINE REINHEIT
NICHTERHALTEN KANNST, SORGEN WIR DAFÜR.
Niemandweiß genau, was die GS in diesen Einrichtungen mit
einemmachen, aber jeder weiß, dass man völlig verändert zurückkehrt.
DieZwillinge haben die Geschichten darüber gehört. Erst nehmen
sie dirdas Mobiltelefon weg und löschen deine Festplatte, jedes
einzelneMegabyte. Sie stecken dich in diese kleinen Zimmer ohne
Internetanschlussund Fernsehen, sie reißen dir die Ohrringe ab,
ziehenalle Piercings raus und lasern dir die Tattoos weg. Sie nehmen
dir alleDinge, alle Kennzeichen, die der Welt gezeigt haben, dass du
wirklichdu selbst bist. So würdest du dich niemals unter Menschen
trauen! Esist ihr heiliges, geheiligtes Ziel, dir eine Runderneuerung
zu verpassenund dir zu zeigen, wo dein Platz ist. Diese riesigen
Frauenpatrouillieren die Schlafsäle in ihren Möchtegern-Trachten,
von denfurchteinflößenden Maßbändern um ihre Taille baumeln die
Fettzangen,und dann hilf dir Gott. Niemand weiß, was da läuft,
jedenfallsnicht genau, aber jedem ist klar, dass dieses Schicksal
schlimmerist als der Tod.
Die armeAnnie sitzt an einem dieser Orte fest, sie ist schon eine
ganzeWoche weg, und das Schlimme ist, dass die Zwillinge erst
heuteherausgefunden haben, wohin man sie gebracht hat.
In ihrenschlimmsten Träumen hätten sie sich niemals ausgemalt,
dass ihreeigenen Eltern so etwas tun würden aber so war es.
Anniebekam Probleme, und ihre Alten ließen sie mitten in der
Nachteinsacken und abholen. Sie konnte sich nicht mal verabschieden.
Das gingruckzuck. Den einen Tag saßen die Zwillinge noch auf
dem Sofamit dem Schottenmuster im Wohnzimmer und guckten
Fernsehenmit Annie, die wie immer in einem großen, verwaschenen
Sweatshirtin der alles kaschierenden Einheitsgröße steckte, und
amnächsten Tag war sie weg. Betz und Annie teilten sich seit jeher
das rosaZimmer mit der Spiegelwand und Moms blumenbedruckten
Übergardinen,und von daher wusste Betz so ziemlich, was mit ihrer
großenSchwester los war, auch wenn die Eltern nicht darüber rede-
ten - undwenn sie es doch mal taten, dann sahen sie einem nicht ins
Gesicht.Betz wusste Bescheid, aber Danny hatte keine Ahnung, bevor
sie ihmdavon erzählte. Jungs merken bei solchen Sachen immer
alsletzte, was läuft. Die Alten hatten kaum geblickt, wie es um
Anniestand, da wählten sie auch schon die Notrufnummer. Ein
schwarzerKleinbus fuhr vor und holte sie mitten in der Nacht ab.
Als Betzam nächsten Morgen aufwachte, herrschte ein riesiges
Schweigenim rosa Zimmer. Heute Nacht, dachte sie im Halbschlaf,
irgendwasist heute Nacht passiert. Sie setzte sich auf. »Annie?«
Annie warnicht da. Das andere Bett war unberührt, und all ihre
Sachenwaren weg. Nur ihr Handy lag noch da. Ein kurzer Funken
Eifersuchtließ Betz sofort an Dave Berman denken; war Annie mit
ihmabgehauen? Nervös rief sie Daves Nummer in Annies Kurzwahlliste
auf -komisch, dass sie ihr Handy hier gelassen hatte! - und
als erranging, hielt sie den Atem an. Nicht da. Keine Ahnung wieso,
aber siewusste es schon. Annie war nicht da. Er brummte: »Schieß
los, duzahlst ja das Gespräch«, und im Hintergrund hörte sie das
Jammernvon Daves Mutter und die Samstag-Morgen-Zeichentrickserien
aus DavesTaschen-TV. »Hallo?«, fragte Dave am anderen Ende
derLeitung. »Hallo?«
Sie riefsämtliche Freundinnen von Annie an. Janet. Laurie. Nell.
Sie gingin Dannys Zimmer. »Steh auf. Es ist was mit Annie.«
»Hau ab,es ist Samstag.«
»Danny,sie ist weg!«
»Duspinnst doch.«
»Sie istweg, Danny. Ihre ganzen Sachen fehlen.«
SeinKörper schnellte zusammen wie ein Klappmesser. Er setzte
sich auf.»Kann doch nicht sein!«
»Doch,Danny. Sie ist echt weg.«
»Irgendwomuss sie doch sein.« Er war noch verschlafen und
massierteseine Kopfhaut mit den Knöcheln.
»Ichglaube nicht. Ich habe jeden auf ihrer Kurzwahlliste angerufen,
und keinerweiß etwas.«
»Sie hatihr Handy hier gelassen?«
»Ja, echt!Guck doch.«
»Das istja furchtbar!«
»Ich habeAngst.«
»Siekönnte sich aber auch irgendwo verstecken, oder?«
»Hoffentlich.Los, komm!«
Sieverschwendeten wertvolle Zeit damit, an idiotischen Orten
nachzusehenund sich dabei einzureden, das alles sei nichts als ein
blöderWitz, aber es war kein Witz. Sie versteckte sich nicht hinter
einer Türoder im Wandschrank, und sie war auch nicht auf dem
Dachboden.Von Annie keine Spur. Sie sahen in den Schubladen und
in derZedernholztruhe nach, auch dort fehlten all ihre Sachen. Als
sie lautrufend die Treppe hinunterstürmten, lächelten die Eltern in
ihreFrühstücksflocken, als handele es sich um einen ganz normalen
Morgen ineiner ganz normalen Welt.
»Mom, Dad,Annie ist weg!«
»Vielleichtwurde sie entführt, Mom!«
»Mom, Dad,ihr müsst die Polizei rufen!«
Momlächelte und schüttelte den Kopf, nach dem Motto: Die
Jugend vonheute, und Dad wandte sich wieder seiner Zeitung zu,
als seiensie nicht da.
Manvertraut den Eltern, bei denen man aufwächst, weil in ihrer
Stellenbeschreibungsteht, dass sie ihre Kinder lieben und auf sie
aufzupassenhaben. Aber kann man sich da ganz sicher sein? Annie
warverschwunden, und hier saßen die Eltern seelenruhig, als wäre
weiternichts passiert. Das Sonnenlicht glänzte auf Dads beginnender
Glatze undbetonte die Sommersprossen in Moms Gesicht, jede einzelne.
Übersetzung: Kirsten Borchardt
© Verlagsgruppe Random House
- Autor: Kit Reed
- 2005, 400 Seiten, Maße: 12 x 18,6 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Aus d. Amerikan. v. Kirsten Borchardt
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453401387
- ISBN-13: 9783453401389
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