Fliehe weit und schnell / Kommissar Adamsberg Bd.4
Ist der schwarze Tod wieder zurückgekehrt? Und was hat ein verrückter bretonischer Matrose damit zu...
Ist der schwarze Tod wieder zurückgekehrt? Und was hat ein verrückter bretonischer Matrose damit zu tun, der an einer Metro-Station steht und apokalyptische Reden hält?
Mit dem ''Deutschen Krimipreis'' 2004 ausgezeichnet!
Fliehe weit und schnell von Fred Vargas
LESEPROBE
Die Leutein Paris laufen viel schneller als in Le Guilvinec, das hatte Joss schon langefestgestellt. Jeden Morgen strömten die Fußgänger mit einer Geschwindigkeit vondrei Knoten durch die Avenue du Maine. An diesem Montag machte Joss fastdreieinhalb Knoten, um eine zwanzigminütige Verspätung aufzuholen. Das lagdaran, daß sich der gesamte Kaffeesatz über den Küchenboden verteilt hatte.
Das hatteihn nicht weiter überrascht. Schon lange hatte Joss begriffen, daß den Dingenein geheimes, bösartiges Leben innewohnte. Abgesehen vielleicht von bestimmtenDeckaufbauten, die ihn noch nie angegriffen hatten, war die Welt der Dinge seitbretonischem Seemannsgedenken ganz offensichtlich von einer Kraft erfüllt, dieauf nichts anderes abzielte, als den Menschen zur Weißglut zu treiben. Jederkleinste Fehler bei der Handhabung löste - indem er dem Ding eine wenn auchnoch so unbedeutende plötzliche Freiheit bot - automatisch eine Kettenreaktion vonVorfällen aus, die sich von einer bloßen Unannehmlichkeit bis zur Tragödiesteigern konnten. Der Korken, der den Fingern entgleitet, war dabei dasGrundmodell in kleiner Form. Denn ein fallengelassener Korken rollt nicht einfachvor die Füße des Menschen zurück, der ihn fallen läßt, keineswegs. Wie eineSpinne, die an einen unzugänglichen Ort flüchtet, zieht er sich bösartighinter den Herd zurück und stellt seinen Verfolger, den Menschen, vor eine Reiheunterschiedlichster Bewährungsproben - Verschieben des Herdes, Lösen desAnschlusses, Hinunterfallen des Werkzeugs, Verbrennung. Der Fall heute morgenwar eine etwas komplexere Verkettung mehrerer Elemente, ausgelöst durch einenharmlosen Fehlwurf, der zur Destabilisierung des Abfalleimers sowie seinemseitlichen Kippen und zur Verteilung des Kaffeefilters samt Inhalt auf demFußboden geführt hatte. Auf diese Weise gelang es den Dingen, getrieben vonlegitimen Rachegelüsten, die sich aus ihrem Sklavendasein speisten, für kurze,aber intensive Augenblicke dem Menschen ihrerseits ihre geheimnisvolle Machtaufzuzwingen, ihn dazu zu bringen, sich zu winden und zu kriechen wie ein Hund,wobei sie weder Frauen noch Kinder verschonten. Nein, um nichts in der Welthätte Joss den Dingen vertraut, ebensowenig wie den Menschen oder dem Meer.Erstere rauben einem den Verstand, die zweiten die Seele und letzteres das Leben.
Alskampferprobter Mensch hatte Joss das Schicksal nicht herausgefordert und denKaffeesatz aufgesammelt bis zum letzten Krümel, ergeben wie ein Hund. Ohne zumurren, hatte er Buße getan, und die Welt der Dinge hatte sich wieder ins Jochgefügt. Dieser morgendliche Zwischenfall schien unbedeutend, allem Anscheinnach nur eine harmlose Unannehmlichkeit, für Joss aber, der sich nicht täuschenließ, war er eine unmißverständliche Erinnerung daran, daß der Krieg zwischenden Menschen und den Dingen weiterging und daß der Mensch in diesem Kampf nichtimmer siegreich war, bei weitem nicht. Eine Erinnerung an Tragödien, anentmastete Schiffe, an zerschmetterte Trawler und an sein Schiff, Le Ventde Norois, das am 23. August um drei Uhr morgens und mit acht Mann an Bordin der Irischen See leckgeschlagen war. Joss hatte die hysterischenAnwandlungen seines Trawlers bei Gott immer respektiert, und Mensch und Schiffbrachten einander bei Gott einiges Verständnis entgegen. Bis zu jener verdammtenSturmnacht, als er in einem Wutanfall mit der Faust auf den Dollbordeingeschlagen hatte. Le Vent de Norois hatte schon fast auf Steuerbordgelegen und war im Heck jäh leckgeschlagen. Die Maschine war buchstäblichabgesoffen, so daß der Trawler die ganze Nacht auf dem Meer trieb, die Männerhatten pausenlos Wasser geschöpft, bis das Schiff schließlich bei Tagesanbruchauf ein Riff gelaufen war. Vor vierzehn Jahren war das gewesen, und zwei Männerhatten dabei ihr Leben gelassen. Vierzehn Jahre war es her, daß Joss denSchiffseigner der Norois mit Tritten vermöbelt hatte. Vierzehn Jahre,daß er den Hafen von Le Guilvinec verlassen hatte, nachdem er neun Monate wegenKörperverletzung mit Tötungsabsicht im Knast gesessen hatte. Vierzehn Jahrewar es nun her, daß beinahe sein ganzes Leben in jener Wasserstraße versunkenwar.
Joss gingdie Rue de la Gaite hinunter, mit zusammengebissenen Zähnen und jener Wut imBauch, die ihn jedes Mal packte, wenn die im Meer versunkene Vent de Norois aufden Wellenkämmen seiner Erinnerung auftauchte. Im Grunde war es nicht die Norois,gegen die sich sein Groll richtete. Der gute alte Trawler hatte mit dem Ächzenseiner im Lauf der Jahre verrotteten Planken einfach nur auf den Stoßgeantwortet. Joss war vollkommen davon überzeugt, daß das Schiff die Tragweiteseines kurzen Aufbegehrens nicht ermessen haben konnte und sich seines hohenAlters, seiner Gebrechlichkeit und der Wucht der Wellen in jener Nacht einfachnicht bewußt gewesen war. Mit Sicherheit hatte der Trawler den Tod der zweiSeeleute nicht gewollt, und jetzt, wo er wie ein Idiot in der Tiefe derIrischen See ruhte, bereute er vermutlich alles. Häufig bedachte Joss ihn mitWorten des Trostes und der Absolution und hatte das Gefühl, daß es dem Schiff,wie ihm selbst, mittlerweile gelang, Schlaf zu finden, und daß es sich dortunten ein neues Leben geschaffen hatte, ebenso wie er, Joss, hier in Paris.
Absolutionfür den Schiffseigner jedoch kam nicht in Frage.
»Auf, JossLe Guern«, hatte dieser gesagt und ihm auf die Schulter geklopft, »bei Ihnenmacht's der Kahn noch zehn Jahre. Er ist kampferprobt, und Sie wissen, wie man mitihm umgeht.«
»Die Noroisist gefährlich geworden«, hatte Joss hartnäckig wiederholt. »Sieschlingert, und die Beplankung verzieht sich. Die Lukendeckel haben sichgelockert. Bei schwerer See übernehme ich keine Verantwortung mehr. Und dasBeiboot entspricht auch nicht mehr den Vorschriften.«
»Ich kennemeine Schiffe, Kapitän Le Guern«, hatte der Eigner in schneidendem Tonerwidert. »Wenn Sie vor der Norois Angst haben, dann brauche ich nur mitden Fingern zu schnippen und hab zehn Männer, die bereit sind, Ihren Posten zuübernehmen. Männer, die Mumm in den Knochen haben und nicht ständig wie Beamteüber die Sicherheitsvorschriften jammern.«
»Und ich,ich hab sieben Jungs an Bord.«
Der Eignerhatte sein fettes Gesicht bedrohlich vorgeschoben.
»Falls Sieauf den Gedanken kommen sollten, zum Hafenamt zu gehen und sich dortauszuweinen, Joss Le Guern, dann verlassen Sie sich darauf, daß ich dafürsorge, daß Sie auf der Straße sitzen, bevor Sie's merken. Und von Brest bisSaint-Nazaire werden Sie nicht einen mehr finden, der Sie einstellt. Ich rateIhnen, sich das gut zu überlegen, Kapitän.« (...)
©Aufbau-Verlag GmbH, Berlin 2003
Übersetzung:Tobias Scheffel
Fred Vargas, geboren 1957 und von Haus aus Archäologin. Sie ist heute die bedeutendste französische Kriminalautorin und eine Schriftstellerin von Weltrang, übersetzt in 40 Sprachen. Sie erhielt für "Fliehe weit und schnell" den Deutschen Krimipreis, für ihr Gesamtwerk wurde sie mit dem Europäischen Krimipreis ausgezeichnet.
Bei Aufbau liegen in Übersetzung vor:
Die schöne Diva von Saint-Jacques, Der untröstliche Witwer von Montparnasse, Es geht noch ein Zug von der Gare du Nord, Bei Einbruch der Nacht, Das Orakel von Port-Nicolas, Im Schatten des Palazzo Farnese, Fliehe weit und schnell, Der vierzehnte Stein, Vom Sinn des Lebens, der Liebe und dem Aufräumen von Schränken, Die dritte Jungfrau, Die schwarzen Wasser der Seine, Das Zeichen des Widders, Der verbotene Ort, Die Tote im Pelzmantel, Von der Liebe, linken Händen und der Angst vor leeren Einkaufskörben
- Autor: Fred Vargas
- 2004, 18. Aufl., 399 Seiten, Maße: 11,5 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung:Scheffel, Tobias
- Übersetzer: Tobias Scheffel
- Verlag: Aufbau TB
- ISBN-10: 3746621151
- ISBN-13: 9783746621159
- Erscheinungsdatum: 01.09.2004
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