Kälteschlaf / Kommissar-Erlendur-Krimi Bd.8
Island Krimi
Island im Herbst: Am See von Thingvellir wird eine Frauenleiche angespült. Zunächst deutet alles auf Freitod hin, doch dann erhält Kommissar Erlendur ein Indiz zugespielt - den Mitschnitt einer Séance, an der das Opfer kurz vor seinem...
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Produktinformationen zu „Kälteschlaf / Kommissar-Erlendur-Krimi Bd.8 “
Island im Herbst: Am See von Thingvellir wird eine Frauenleiche angespült. Zunächst deutet alles auf Freitod hin, doch dann erhält Kommissar Erlendur ein Indiz zugespielt - den Mitschnitt einer Séance, an der das Opfer kurz vor seinem Tod teilgenommen hatte.
Ausgezeichnet mit dem Blóðdropinn, dem Isländischen Krimipreis!
Ausgezeichnet mit dem Blóðdropinn, dem Isländischen Krimipreis!
Klappentext zu „Kälteschlaf / Kommissar-Erlendur-Krimi Bd.8 “
An einem kalten Herbstabend wird an Islands geschichtsträchtigem See von Þingvellir die Leiche einer jungen Frau gefunden. Auf den ersten Blick ein Selbstmord, doch Kommissar Erlendur wird misstrauisch, als ihm der Mitschnitt einer Séance zugespielt wird: Kurz vor ihrem Tod hatte sich die Frau an ein Medium gewandt. Trotz seiner tiefen Skepsis gegenüber spiritistischen Praktiken geht Erlendur den Hinweisen nach und rührt dabei an ein gut gehütetes Familiengeheimnis, das die Jugend dieser Frau überschattet hat ... Ausgezeichnet mit dem Blóðdropinn, dem Isländischen Krimipreis
Lese-Probe zu „Kälteschlaf / Kommissar-Erlendur-Krimi Bd.8 “
Kälteschlaf von Arnaldur IndridasonEins
Kurz nach Mitternacht ging bei der Notrufzentrale eine Meldung von einem Mobiltelefon ein. Eine aufgeregt klingende weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung sagte:
»Sie hat sich ... María hat sich umgebracht ... Ich ... Das ist grauenvoll ... Grauenvoll!«
»Wie ist dein Name?«
»Ka... Karen.«
»Von wo aus rufst du an?«, fragte der Diensthabende beim Notruf.
»Ich bin im ... Das ist... ihr Ferienhaus.«
»Und wo ist das?«
»... Am See von Pingvellir. In ... in ihrem Ferienhaus. Beeilt euch ... Ich... ich warte hier.«
Karen hatte ihre liebe Mühe und Not gehabt, das Haus zu finden. Es war so lange her, dass sie zuletzt dort gewesen war, beinahe vier Jahre. María hatte ihr zwar sicherheitshalber den Weg dorthin genau beschrieben, aber ihre Erklärungen waren Karen mehr oder weniger zum einen Ohr hinein- und zum anderen wieder hinausgegangen; sie glaubte, sich an den Weg dorthin ganz gut erinnern zu können.
Als sie Reykjavík abends um kurz nach acht verließ, war es stockfinster. Auf der Straße über die Mosfellsheidi war wenig Verkehr, nur die Scheinwerfer von ein paar Autos, die auf dem Weg in die Stadt waren, leuchteten ihr entgegen. Ein einziges Auto fuhr in dieselbe Richtung wie sie; sie hielt sich an die roten Rücklichter und war froh, dass noch jemand außer ihr unterwegs war. Sie fuhr ungern allein im Dunkeln und hätte sich liebend gerne früher auf den Weg gemacht, war jedoch aufgehalten worden. Sie arbeitete als PR-Referentin bei einer großen Bank, und die Besprechungen und Telefongespräche hatten an diesem Tag kein Ende nehmen wollen.
Sie wusste, dass Grímannsfell zu ihrer Rechten lag, obwohl sie den Berg nicht sehen konnte, und Skálafell zu ihrer Linken. Sie passierte die Abzweigung, an der die Straße nach
... mehr
Vindáshlíd, dem Ferienheim der CVJF, abging, wo sie als Kind zweimal vierzehn Tage im Sommerlager verbracht hatte. Die roten Rücklichter legten ein angenehmes Tempo vor, und sie folgte dem Wagen, bis die Abzweigung zum See kam. Dort trennten sich ihre Wege. Die roten Rücklichter entfernten sich rasch und verschwanden in der Dunkelheit.
Nachdem sie nach rechts abgebogen war, fuhr sie in völlige Dunkelheit hinein. Wegen der Finsternis hatte sie große Probleme, sich zu orientieren. Hätte sie schon vorher abbiegen sollen? War das der richtige Weg zum See hinunter? Oder war es erst die nächste Abzweigung?
War sie zu weit gefahren?
Zweimal verfuhr sie sich und musste wenden. Es war Donnerstagabend, und die meisten Ferienhäuser standen leer. Sie hatte Proviant und Bücher zum Lesen mitgenommen. María hatte ihr außerdem gesagt, dass sie seit Kurzem auch einen Fernseher im Haus hätten. Sie wollte nichts sehnlicher, als viel schlafen und sich erholen. In der Bank war es nach einem Übernahmeversuch, den sie gerade abgewehrt hatten, zugegangen wie in einem Irrenhaus. Sie hatte es aufgegeben, die Auseinandersetzung zwischen den einzelnen Aktionärsgruppen, die sich gegen andere Gruppierungen zusammenschlossen, verstehen zu wollen. Pressemeldungen wurden im Zweistundentakt herausgegeben, und die Lage besserte sich nicht, als bekannt wurde, dass man mit einem der Bankdirektoren, den irgendeine Gruppe loswerden wollte, eine Abfindung in Höhe von hundert Millionen Kronen vereinbart hatte. Dem Bankvorstand war es damit gelungen, sich den Zorn der Öffentlichkeit zuzuziehen, und von Karen erwartete man, dass sie Mittel und Wege finden würde, die Wogen zu glätten. Damit war sie die gesamten letzten Wochen beschäftigt gewesen. Irgendwann reichte es ihr, und sie beschloss, aus der Stadt zu fliehen. María hatte ihr oft angeboten, das Ferienhaus zu nutzen. Als sie anrief, hatte María, ohne zu zögern, ja gesagt. Karen fuhr im Schritttempo auf dem holprigen Seitenweg, der sich durch niedriges Gebüsch schlängelte. Endlich fielen die Autoscheinwerfer auf das Ferienhaus unten am See. María hatte ihr einen Schlüssel gegeben, aber auch erwähnt, wo sie einen weiteren Schlüssel aufbewahrte. Manchmal war ein Ersatzschlüssel in einem Versteck beim Haus sehr nützlich. Sie freute sich schon darauf, am nächsten Tag in der herbstlichen Farbenpracht aufzuwachen, für die Pingvellir berühmt war. Seit sie sich zurückerinnern konnte, wurden jedes Jahr spezielle Fahrten zu den Herbstfarben im Nationalpark angeboten. An keinem anderen Ort waren sie schöner als an den Ufern des Sees, wo sich die roten, gelben und rostbraunen Farben der sterbenden Vegetation ausbreiteten, so weit das Auge reichte. Sie begann damit, das Gepäck aus dem Wagen zu holen und es auf der Veranda vor der Tür abzustellen. Dann steckte sie den Schlüssel ins Schloss und tastete nach einem Lichtschalter. Das Licht im Flur zur Küche ging an, und sie brachte ihre kleine Reisetasche ins eheliche Schlafzimmer. Sie wunderte sich, dass das Bett nicht gemacht war. Das sah María nicht ähnlich. Im Bad lag ein Handtuch auf dem Boden. Bevor sie das Licht in der Küche anknipste, spürte sie eine seltsame Nähe. Sie fürchtete sich zwar nicht im Dunkeln, aber dennoch durchfuhr sie von oben bis unten ein unangenehmes Gefühl. Das Wohnzimmer mit dem fantastischen Seeblick lag völlig im Dunkeln. Karen schaltete auch dort das Licht ein. An der Decke befanden sich vier starke Querbalken, und an einem hing mit dem Rücken zu ihr ein menschlicher Körper. Sie erschrak so sehr, dass sie rückwärts gegen die Wand taumelte und mit dem Kopf gegen die Holzverkleidung stieß. Ihr wurde schwarz vor Augen. Die Leiche hing an einem dünnen blauen Strick vom Balken herunter und spiegelte sich in den dunklen Fenstern des Wohnzimmers. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verstrichen war, bevor sie sich endlich näher heranwagte. Die friedliche Umgebung am See hatte sich im Handumdrehen in ein Horrorszenario verwandelt, das sie nie wieder vergessen würde. Jedes kleinste Detail prägte sich ihr ein. Der Küchenhocker, der in dem stilreinen Zimmer wie ein Fremdkörper wirkte und umgekippt unter der Leiche lag. Das Spiegelbild im Fenster. Die Dunkelheit in Pingvellir. Der bewegungslose menschliche Körper an dem Balken. Sie trat vorsichtig näher und blickte in das blau geschwollene Gesicht. Ihr schrecklicher Verdacht bestätigte sich. Es war ihre Freundin María.
Zwei
Ihr kam die Zeit, die von ihrem Anruf bis zum Eintreffen der Sanitäter, des Arztes und der Polizisten verging, erstaunlich kurz vor. Zuständig war die Polizei in Selfoss. Die Männer wussten, dass die Frau, die sich das Leben genommen hatte, aus Reykjavík stammte, im Grafarvogur-Viertel wohnte und verheiratet, aber kinderlos war.
Drinnen im Haus unterhielt man sich leise. Die Leute wirkten wie Fremdkörper in der unbekannten Wohnung, in der sich eine Tragödie zugetragen hatte. »Bist du diejenige, die den Notruf verständigt hat?«, fragte ein junger Polizist. Man hatte ihn an die Frau verwiesen, die die Leiche gefunden hatte. Sie saß mit gesenktem Kopf in der Küche und starrte auf den Fußboden.
»Ja. Ich heiße Karen.«
»Wenn du psychologische Betreuung brauchst, können wir ...«
»Nein, ich glaube ... Es geht schon.«
»Hast du sie gut gekannt?«
»Ich kenne María, seit wir Kinder waren. Sie hat mir das Haus hier zur Verfügung gestellt. Ich wollte übers Wochenende hierbleiben.«
»Du hast das Auto hinter dem Haus nicht bemerkt?«
»Nein. Ich ging davon aus, dass niemand hier ist. Allerdings fiel mir auf, dass das Bett nicht gemacht war, und als ich ins Wohnzimmer kam... Ich hab noch nie so etwas gesehen. Mein Gott, die arme María!« »Wann hast du zuletzt mit ihr gesprochen?«
»Vor ein paar Tagen noch. Da haben wir wegen des Hauses miteinander telefoniert.«
»Hat sie erwähnt, dass sie auch da sein würde?«
»Nein, davon hat sie nichts gesagt. Sie hat nur gesagt, ich könnte selbstverständlich ein paar Tage in dem Haus verbringen. Das sei kein Problem.«
»Und war sie... guter Dinge?«
»Ja, es kam mir so vor. Als ich den Schlüssel bei ihr abholte, war sie so wie immer.«
»Sie wusste also, dass du hierherkommen würdest?«
»Ja. Was meinst du damit?«
»Sie hat gewusst, dass du sie hier finden würdest«, erwiderte der Polizist.
Er hatte sich einen Küchenhocker herangezogen und sich neben sie gesetzt, um mit ihr zu sprechen. Sie griff nach seinem Handgelenk und starrte ihn an.
»Willst du damit sagen, dass ...?«
»Es könnte sein, dass du sie finden solltest«, entgegnete der Polizist. »Aber das weiß ich natürlich nicht sicher.«
»Weshalb sollte sie das gewollt haben?«
»Es ist nur eine Vermutung.«
»Aber es stimmt, sie wusste, dass ich das Wochenende hier verbringen wollte. Sie wusste, dass ich kommen würde. Wann ... Wann hat sie das getan?«
»Wir haben noch keinen genauen Befund, aber der Arzt meint, es kann kaum später als gestern Abend gewesen sein. Wahrscheinlich ist es etwa vierundzwanzig Stunden her.«
Karen schlug die Hände vors Gesicht.
»O Gott, das ist so ... Das ist alles so unwirklich. Hätte ich sie doch bloß nie um diesen Gefallen gebeten. Habt ihr schon mit ihrem Mann gesprochen?«
»Die Kollegen sind auf dem Weg zu ihm. Er wohnt in Grafarvogur, nicht wahr?«
»Ja. Wie konnte sie sich das antun? Wie kann ein Mensch so etwas machen?«
»So etwas macht man im Zustand äußerster Verzweiflung «, erklärte der Polizist und bedeutete dem Arzt, zu ihnen zu kommen. »Bei psychischen Problemen. Du hast nichts dergleichen bei ihr gemerkt?«
»Vor zwei Jahren hat sie ihre Mutter verloren. Das war ein furchtbarer Schlag für sie. Sie starb an Krebs.«
»Ich verstehe«, sagte der Polizist. Karen brach in Tränen aus, und der Polizist fragte sie, ob sie vielleicht mit dem Arzt sprechen wolle. Sie schüttelte den Kopf und sagte, es sei alles in Ordnung mit ihr, aber sie habe den Wunsch, möglichst bald nach Hause fahren zu dürfen. Das wurde ihr sofort gestattet. Gegebenenfalls konnte man ja auch noch später mit ihr sprechen. Der Polizist begleitete sie zu ihrem Auto vor dem Haus und öffnete ihr die Wagentür.
»Du bist dir sicher, dass alles in Ordnung ist?«, fragte er.
»Ja, ich denke schon«, antwortete Karen. »Vielen Dank.«
Der Polizist beobachtete, wie sie den Wagen wendete und davonfuhr. Als er das Haus wieder betrat, hatte man die Leiche abgenommen und sie auf den Fußboden gelegt. Er ging neben ihr in die Hocke. Die Frau hatte ein schmales Gesicht und dunkles, kurz geschnittenes Haar. Sie war schlank und trug ein weißes Polohemd und blaue Jeans, hatte aber keine Socken an. Er sah keinerlei Anzeichen von Gewaltanwendung, weder an ihrem Körper noch in dem Haus, nur den umgekippten Küchenhocker, den die Frau dazu benutzt hatte, den Strick am Balken zu befestigen. Ein blaues Seil dieser Art konnte man in jedem Baumarkt kaufen. Es hatte tief in ihren schmalen Hals eingeschnitten.
»Sauerstoffmangel«, sagte der Arzt, der sich mit den Sanitätern unterhalten hatte. »Sie hat sich nicht das Genick gebrochen, leider. Dann wäre es schnell vorbei gewesen.
Sie ist erstickt, als der Strick sich um den Hals schnürte, und das hat einige Zeit gedauert. Sie fragen danach, wann sie die Leiche entfernen dürfen.«
»Wie lange hat es gedauert?«, fragte der Polizist. »Zwei Minuten vielleicht, bis sie das Bewusstsein verloren hat.«
Der Polizist stand auf und sah sich in dem Haus um. Es kam ihm wie ein ganz normales isländisches Ferienhaus vor - eine Sofagarnitur aus Leder, ein beeindruckender Esstisch und eine ziemlich neue Kücheneinrichtung. Die Wände im Wohnzimmer waren vor lauter Büchern kaum zu sehen. Er ging zu einem der Regale und sah die gelbbraunen Lederrücken der Isländischen Volkssagensammlung von Jón Árnason in fünf Bänden. Gespenstergeschichten, dachte er. In anderen Regalen befanden sich isländische Romane und französische Literatur und dazwischen Kunstgegenstände aus Porzellan oder Keramik und gerahmte Fotos, drei davon zeigten dieselbe Frau in unterschiedlichem Alter, wie er zu erkennen glaubte. Wo Platz an den Wänden war, hingen Grafiken, kleine Ölgemälde und Aquarelle. Der Polizist ging in das eheliche Schlafzimmer. Das Bett war auf der einen Seite niedergedrückt. An dieser Seite lagen Bücher auf dem Nachttisch, zuoberst ein Gedichtband von David Stefánsson. Ein kleiner Parfümflakon stand ebenfalls auf dem Nachtschränkchen.
Sein Gang durch das Haus geschah nicht aus reiner Neugier. Er suchte nach Anzeichen von Gewaltanwendung, auf Hinweise darauf, dass die Frau nicht aus eigenem Antrieb in die Küche gegangen war, den Hocker geholt und ihn unter den Balken gestellt hatte, auf ihn geklettert war und sich den Strick um den Hals gelegt hatte. Aber nichts deutete auf etwas anderes hin als auf eine stille, beinahe diskrete Todesstunde. Sein Kollege aus Selfoss unterbrach ihn.
»Gibt es irgendetwas Verdächtiges?«, fragte er.
»Nichts. Das ist Selbstmord. Ganz klarer Fall. Es gibt keinerlei Anzeichen für etwas anderes. Sie hat sich selbst das Leben genommen.«
»Ja, es hat ganz den Anschein.«
»Soll ich den Strick vom Balken herunterschneiden, bevor wir das Haus verlassen? War sie nicht verheiratet? «
»Tu das. Ja, der Ehemann wird hierherkommen müssen. «
Der Polizist hob das Seil vom Boden auf und drehte es zwischen den Fingern. Keine sehr solide Ware, es war schlecht gedreht, und die Schlinge ließ sich schwer bewegen. Er dachte, dass er eine bessere Schlinge machen könnte, aber wahrscheinlich war von einer normalen Frau aus Grafarvogur nicht zu erwarten, dass sie imstande war einen perfekten Strang zu knüpfen. Es hatte nicht den Anschein, als hätte sie sich mit den technischen Details vertraut gemacht und den Selbstmord präzise vorbereitet. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Anfall von geistiger Verwirrung und nicht um einen von langer Hand geplanten Akt.
Er öffnete die Tür zur Veranda. Von ihr führten zwei Stufen hinunter auf den Pfad, auf dem man mit nur ein paar Schritten zum Ufer des Sees gelangte. Es hatte in den letzten Tagen Nachtfrost gegeben, und eine dünne Eisschicht bedeckte das Wasser am Spülsaum. An einigen Stellen war es am Ufer festgefroren und sah aus wie hauchzartes Glas, unter dem das Wasser gluckerte.
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2007 by Arnaldur Indridason
Originalverlag: Vaka-Helgafell, Reykjavík
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2009 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach
ISBN 978-3-7857-2361-6
www.luebbe.de
Nachdem sie nach rechts abgebogen war, fuhr sie in völlige Dunkelheit hinein. Wegen der Finsternis hatte sie große Probleme, sich zu orientieren. Hätte sie schon vorher abbiegen sollen? War das der richtige Weg zum See hinunter? Oder war es erst die nächste Abzweigung?
War sie zu weit gefahren?
Zweimal verfuhr sie sich und musste wenden. Es war Donnerstagabend, und die meisten Ferienhäuser standen leer. Sie hatte Proviant und Bücher zum Lesen mitgenommen. María hatte ihr außerdem gesagt, dass sie seit Kurzem auch einen Fernseher im Haus hätten. Sie wollte nichts sehnlicher, als viel schlafen und sich erholen. In der Bank war es nach einem Übernahmeversuch, den sie gerade abgewehrt hatten, zugegangen wie in einem Irrenhaus. Sie hatte es aufgegeben, die Auseinandersetzung zwischen den einzelnen Aktionärsgruppen, die sich gegen andere Gruppierungen zusammenschlossen, verstehen zu wollen. Pressemeldungen wurden im Zweistundentakt herausgegeben, und die Lage besserte sich nicht, als bekannt wurde, dass man mit einem der Bankdirektoren, den irgendeine Gruppe loswerden wollte, eine Abfindung in Höhe von hundert Millionen Kronen vereinbart hatte. Dem Bankvorstand war es damit gelungen, sich den Zorn der Öffentlichkeit zuzuziehen, und von Karen erwartete man, dass sie Mittel und Wege finden würde, die Wogen zu glätten. Damit war sie die gesamten letzten Wochen beschäftigt gewesen. Irgendwann reichte es ihr, und sie beschloss, aus der Stadt zu fliehen. María hatte ihr oft angeboten, das Ferienhaus zu nutzen. Als sie anrief, hatte María, ohne zu zögern, ja gesagt. Karen fuhr im Schritttempo auf dem holprigen Seitenweg, der sich durch niedriges Gebüsch schlängelte. Endlich fielen die Autoscheinwerfer auf das Ferienhaus unten am See. María hatte ihr einen Schlüssel gegeben, aber auch erwähnt, wo sie einen weiteren Schlüssel aufbewahrte. Manchmal war ein Ersatzschlüssel in einem Versteck beim Haus sehr nützlich. Sie freute sich schon darauf, am nächsten Tag in der herbstlichen Farbenpracht aufzuwachen, für die Pingvellir berühmt war. Seit sie sich zurückerinnern konnte, wurden jedes Jahr spezielle Fahrten zu den Herbstfarben im Nationalpark angeboten. An keinem anderen Ort waren sie schöner als an den Ufern des Sees, wo sich die roten, gelben und rostbraunen Farben der sterbenden Vegetation ausbreiteten, so weit das Auge reichte. Sie begann damit, das Gepäck aus dem Wagen zu holen und es auf der Veranda vor der Tür abzustellen. Dann steckte sie den Schlüssel ins Schloss und tastete nach einem Lichtschalter. Das Licht im Flur zur Küche ging an, und sie brachte ihre kleine Reisetasche ins eheliche Schlafzimmer. Sie wunderte sich, dass das Bett nicht gemacht war. Das sah María nicht ähnlich. Im Bad lag ein Handtuch auf dem Boden. Bevor sie das Licht in der Küche anknipste, spürte sie eine seltsame Nähe. Sie fürchtete sich zwar nicht im Dunkeln, aber dennoch durchfuhr sie von oben bis unten ein unangenehmes Gefühl. Das Wohnzimmer mit dem fantastischen Seeblick lag völlig im Dunkeln. Karen schaltete auch dort das Licht ein. An der Decke befanden sich vier starke Querbalken, und an einem hing mit dem Rücken zu ihr ein menschlicher Körper. Sie erschrak so sehr, dass sie rückwärts gegen die Wand taumelte und mit dem Kopf gegen die Holzverkleidung stieß. Ihr wurde schwarz vor Augen. Die Leiche hing an einem dünnen blauen Strick vom Balken herunter und spiegelte sich in den dunklen Fenstern des Wohnzimmers. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verstrichen war, bevor sie sich endlich näher heranwagte. Die friedliche Umgebung am See hatte sich im Handumdrehen in ein Horrorszenario verwandelt, das sie nie wieder vergessen würde. Jedes kleinste Detail prägte sich ihr ein. Der Küchenhocker, der in dem stilreinen Zimmer wie ein Fremdkörper wirkte und umgekippt unter der Leiche lag. Das Spiegelbild im Fenster. Die Dunkelheit in Pingvellir. Der bewegungslose menschliche Körper an dem Balken. Sie trat vorsichtig näher und blickte in das blau geschwollene Gesicht. Ihr schrecklicher Verdacht bestätigte sich. Es war ihre Freundin María.
Zwei
Ihr kam die Zeit, die von ihrem Anruf bis zum Eintreffen der Sanitäter, des Arztes und der Polizisten verging, erstaunlich kurz vor. Zuständig war die Polizei in Selfoss. Die Männer wussten, dass die Frau, die sich das Leben genommen hatte, aus Reykjavík stammte, im Grafarvogur-Viertel wohnte und verheiratet, aber kinderlos war.
Drinnen im Haus unterhielt man sich leise. Die Leute wirkten wie Fremdkörper in der unbekannten Wohnung, in der sich eine Tragödie zugetragen hatte. »Bist du diejenige, die den Notruf verständigt hat?«, fragte ein junger Polizist. Man hatte ihn an die Frau verwiesen, die die Leiche gefunden hatte. Sie saß mit gesenktem Kopf in der Küche und starrte auf den Fußboden.
»Ja. Ich heiße Karen.«
»Wenn du psychologische Betreuung brauchst, können wir ...«
»Nein, ich glaube ... Es geht schon.«
»Hast du sie gut gekannt?«
»Ich kenne María, seit wir Kinder waren. Sie hat mir das Haus hier zur Verfügung gestellt. Ich wollte übers Wochenende hierbleiben.«
»Du hast das Auto hinter dem Haus nicht bemerkt?«
»Nein. Ich ging davon aus, dass niemand hier ist. Allerdings fiel mir auf, dass das Bett nicht gemacht war, und als ich ins Wohnzimmer kam... Ich hab noch nie so etwas gesehen. Mein Gott, die arme María!« »Wann hast du zuletzt mit ihr gesprochen?«
»Vor ein paar Tagen noch. Da haben wir wegen des Hauses miteinander telefoniert.«
»Hat sie erwähnt, dass sie auch da sein würde?«
»Nein, davon hat sie nichts gesagt. Sie hat nur gesagt, ich könnte selbstverständlich ein paar Tage in dem Haus verbringen. Das sei kein Problem.«
»Und war sie... guter Dinge?«
»Ja, es kam mir so vor. Als ich den Schlüssel bei ihr abholte, war sie so wie immer.«
»Sie wusste also, dass du hierherkommen würdest?«
»Ja. Was meinst du damit?«
»Sie hat gewusst, dass du sie hier finden würdest«, erwiderte der Polizist.
Er hatte sich einen Küchenhocker herangezogen und sich neben sie gesetzt, um mit ihr zu sprechen. Sie griff nach seinem Handgelenk und starrte ihn an.
»Willst du damit sagen, dass ...?«
»Es könnte sein, dass du sie finden solltest«, entgegnete der Polizist. »Aber das weiß ich natürlich nicht sicher.«
»Weshalb sollte sie das gewollt haben?«
»Es ist nur eine Vermutung.«
»Aber es stimmt, sie wusste, dass ich das Wochenende hier verbringen wollte. Sie wusste, dass ich kommen würde. Wann ... Wann hat sie das getan?«
»Wir haben noch keinen genauen Befund, aber der Arzt meint, es kann kaum später als gestern Abend gewesen sein. Wahrscheinlich ist es etwa vierundzwanzig Stunden her.«
Karen schlug die Hände vors Gesicht.
»O Gott, das ist so ... Das ist alles so unwirklich. Hätte ich sie doch bloß nie um diesen Gefallen gebeten. Habt ihr schon mit ihrem Mann gesprochen?«
»Die Kollegen sind auf dem Weg zu ihm. Er wohnt in Grafarvogur, nicht wahr?«
»Ja. Wie konnte sie sich das antun? Wie kann ein Mensch so etwas machen?«
»So etwas macht man im Zustand äußerster Verzweiflung «, erklärte der Polizist und bedeutete dem Arzt, zu ihnen zu kommen. »Bei psychischen Problemen. Du hast nichts dergleichen bei ihr gemerkt?«
»Vor zwei Jahren hat sie ihre Mutter verloren. Das war ein furchtbarer Schlag für sie. Sie starb an Krebs.«
»Ich verstehe«, sagte der Polizist. Karen brach in Tränen aus, und der Polizist fragte sie, ob sie vielleicht mit dem Arzt sprechen wolle. Sie schüttelte den Kopf und sagte, es sei alles in Ordnung mit ihr, aber sie habe den Wunsch, möglichst bald nach Hause fahren zu dürfen. Das wurde ihr sofort gestattet. Gegebenenfalls konnte man ja auch noch später mit ihr sprechen. Der Polizist begleitete sie zu ihrem Auto vor dem Haus und öffnete ihr die Wagentür.
»Du bist dir sicher, dass alles in Ordnung ist?«, fragte er.
»Ja, ich denke schon«, antwortete Karen. »Vielen Dank.«
Der Polizist beobachtete, wie sie den Wagen wendete und davonfuhr. Als er das Haus wieder betrat, hatte man die Leiche abgenommen und sie auf den Fußboden gelegt. Er ging neben ihr in die Hocke. Die Frau hatte ein schmales Gesicht und dunkles, kurz geschnittenes Haar. Sie war schlank und trug ein weißes Polohemd und blaue Jeans, hatte aber keine Socken an. Er sah keinerlei Anzeichen von Gewaltanwendung, weder an ihrem Körper noch in dem Haus, nur den umgekippten Küchenhocker, den die Frau dazu benutzt hatte, den Strick am Balken zu befestigen. Ein blaues Seil dieser Art konnte man in jedem Baumarkt kaufen. Es hatte tief in ihren schmalen Hals eingeschnitten.
»Sauerstoffmangel«, sagte der Arzt, der sich mit den Sanitätern unterhalten hatte. »Sie hat sich nicht das Genick gebrochen, leider. Dann wäre es schnell vorbei gewesen.
Sie ist erstickt, als der Strick sich um den Hals schnürte, und das hat einige Zeit gedauert. Sie fragen danach, wann sie die Leiche entfernen dürfen.«
»Wie lange hat es gedauert?«, fragte der Polizist. »Zwei Minuten vielleicht, bis sie das Bewusstsein verloren hat.«
Der Polizist stand auf und sah sich in dem Haus um. Es kam ihm wie ein ganz normales isländisches Ferienhaus vor - eine Sofagarnitur aus Leder, ein beeindruckender Esstisch und eine ziemlich neue Kücheneinrichtung. Die Wände im Wohnzimmer waren vor lauter Büchern kaum zu sehen. Er ging zu einem der Regale und sah die gelbbraunen Lederrücken der Isländischen Volkssagensammlung von Jón Árnason in fünf Bänden. Gespenstergeschichten, dachte er. In anderen Regalen befanden sich isländische Romane und französische Literatur und dazwischen Kunstgegenstände aus Porzellan oder Keramik und gerahmte Fotos, drei davon zeigten dieselbe Frau in unterschiedlichem Alter, wie er zu erkennen glaubte. Wo Platz an den Wänden war, hingen Grafiken, kleine Ölgemälde und Aquarelle. Der Polizist ging in das eheliche Schlafzimmer. Das Bett war auf der einen Seite niedergedrückt. An dieser Seite lagen Bücher auf dem Nachttisch, zuoberst ein Gedichtband von David Stefánsson. Ein kleiner Parfümflakon stand ebenfalls auf dem Nachtschränkchen.
Sein Gang durch das Haus geschah nicht aus reiner Neugier. Er suchte nach Anzeichen von Gewaltanwendung, auf Hinweise darauf, dass die Frau nicht aus eigenem Antrieb in die Küche gegangen war, den Hocker geholt und ihn unter den Balken gestellt hatte, auf ihn geklettert war und sich den Strick um den Hals gelegt hatte. Aber nichts deutete auf etwas anderes hin als auf eine stille, beinahe diskrete Todesstunde. Sein Kollege aus Selfoss unterbrach ihn.
»Gibt es irgendetwas Verdächtiges?«, fragte er.
»Nichts. Das ist Selbstmord. Ganz klarer Fall. Es gibt keinerlei Anzeichen für etwas anderes. Sie hat sich selbst das Leben genommen.«
»Ja, es hat ganz den Anschein.«
»Soll ich den Strick vom Balken herunterschneiden, bevor wir das Haus verlassen? War sie nicht verheiratet? «
»Tu das. Ja, der Ehemann wird hierherkommen müssen. «
Der Polizist hob das Seil vom Boden auf und drehte es zwischen den Fingern. Keine sehr solide Ware, es war schlecht gedreht, und die Schlinge ließ sich schwer bewegen. Er dachte, dass er eine bessere Schlinge machen könnte, aber wahrscheinlich war von einer normalen Frau aus Grafarvogur nicht zu erwarten, dass sie imstande war einen perfekten Strang zu knüpfen. Es hatte nicht den Anschein, als hätte sie sich mit den technischen Details vertraut gemacht und den Selbstmord präzise vorbereitet. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Anfall von geistiger Verwirrung und nicht um einen von langer Hand geplanten Akt.
Er öffnete die Tür zur Veranda. Von ihr führten zwei Stufen hinunter auf den Pfad, auf dem man mit nur ein paar Schritten zum Ufer des Sees gelangte. Es hatte in den letzten Tagen Nachtfrost gegeben, und eine dünne Eisschicht bedeckte das Wasser am Spülsaum. An einigen Stellen war es am Ufer festgefroren und sah aus wie hauchzartes Glas, unter dem das Wasser gluckerte.
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2007 by Arnaldur Indridason
Originalverlag: Vaka-Helgafell, Reykjavík
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2009 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach
ISBN 978-3-7857-2361-6
www.luebbe.de
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Autoren-Porträt von Arnaldur Indriðason
Coletta Bürling ist die langjährige ehemalige Leiterin des Goethe-Instituts Reykjavik. Seit dessen Schließung übersetzte sie bereits zahlreiche Werke aus dem Isländischen. Der preisgekrönte Schriftsteller Arnaldur Indriðason, geboren 1961, war Journalist und Filmkritiker bei Islands größter Tageszeitung. Heute lebt er als freier Autor in Reykjavik.
Bibliographische Angaben
- Autor: Arnaldur Indriðason
- 2015, 6. Aufl., 380 Seiten, Maße: 12,6 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Coletta Bürling
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404165462
- ISBN-13: 9783404165469
- Erscheinungsdatum: 14.02.2011
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