Kryptum
Anno Domini in Spanien 1582: Raimundo Randa wartet auf seinen Inquisitionsprozess. Ist der Grund dafür ein geheimnisvolles, uraltes Pergament, dem er auf die Spur gekommen ist?
Über 400 Jahre später verschwindet die Wissenschaftlerin Sara Toledano...
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Anno Domini in Spanien 1582: Raimundo Randa wartet auf seinen Inquisitionsprozess. Ist der Grund dafür ein geheimnisvolles, uraltes Pergament, dem er auf die Spur gekommen ist?
Über 400 Jahre später verschwindet die Wissenschaftlerin Sara Toledano spurlos. Ihr letztes Lebenszeichen: ein uraltes Pergament, das sie dem Kryptologen David geschickt hat.
Über 400 Jahre später verschwindet die amerikanische Wissenschaftlerin Sara Toledano spurlos in Antigua. Hat sie den Schlüssel zum Geheimnis ihrer Vorfahren gefunden, nach dem sie ein halbes Leben lang gesucht hat? Die vier Fragmente des Pergaments, die sie kurz zuvor ihrem engsten Mitarbeiter David Calderón geschickt hat, deuten ganz darauf hin. Aber wo ist sie? In größter Sorge um ihr Leben macht sich der Kryptologe daran, die geheime Botschaft zu entschlüsseln. Doch Calderón ist nicht der einzige, der diesen Code aus uralter Zeit knacken will. Er hat einen gewaltigen Gegenspieler: die NSA, der mächtigste Geheimdienst der Welt.
Drei Orte, zwei Schicksale, ein Geheimnis: Kryptum. Auf der Suche nach dem letzten Schlüssel der Menschheit.
Kryptum von Agustín Sánchez Vidal
LESEPROBE
KONSTANTINOPEL - DAS PERGAMENT
"Rebecca, bevor ihr nach Jerusalem zieht, müssen wir beideüber etwas sprechen, von dem nach dem Tod deines Vaters nur ich selbst nochKenntnis habe. Es muß noch jemand anderes aus der Familie davon wissen, fallsmir etwas zustoßen sollte."
Damit wollte er mir bedeuten, daß ich bei der Unterredung unerwünscht war. Docheinmal mehr wollte Rebecca ihr Schicksal mit dem meinen verbinden.
"Raimundo hat auf seiner langen Reise sein Leben viele Male aufs Spiel gesetzt.Zudem ist er der Vater meiner Tochter. Er hat ein Recht darauf, in dieseGeheimnisse eingeweiht zu werden."
Don Moisés kannte das Temperament seiner Nichte nur zu gut, weshalb er nichteinmal Anstalten machte, sich ihren Worten zu widersetzen.
"Wenn du meinst Ihr solltet jedoch wissen, Raimundo, daß die Kenntnis dessen,was ich meiner Nichte zu offenbaren habe, Euch noch stärker an sie binden wirdals eine Hochzeit."
Er schickte uns in ein Hinterzimmer und kehrte nach einer Weile mit einerSchatulle aus Elfenbein zurück, die ihrem Aussehen nach sehr wertvoll war. Siewar nicht mit einem gewöhnlichen Vorhängeschloß gesichert, sondern mit vierRädchen, die mit Zahlen versehen waren, welche man so lange drehen mußte, bissie eine bestimmte Zahlenkombination ergaben, wonach es sich öffnen ließ. Mitunverhohlener Bewunderung betrachtete ich den Mechanismus, den ich noch niezuvor gesehen hatte. Moisés Toledano setzte sich zu uns, stellte die Schatulleauf seinen Schoß und wandte sich dann an mich.
"Hierin befindet sich das, was Euch das Leben kosten kann."
Er zog ein dünnes Pergament aus der Schatulle, das aus Gazellenleder war. Alser es hochhob, um es uns besser zeigen zu können, sah ich, daß es die Formeines Keils hatte und wahrscheinlich aus einem größeren Pergamentherausgeschnitten war. Auf der einen Seite waren breite, geometrische Linien zusehen, die mit einem glühenden Eisen labyrinthartig in das Leder eingebrannt zusein schienen. Auf der Rückseite stand ein einziges Wort: ETEMENANKI. Ichversuchte, mir in Erinnerung zu rufen, wo ich es schon einmal gehört hatte. Bises mir einfiel: Seine Majestät, Karl V., hatte es in Yuste nach demEntschlüsseln meiner Botschaft ausgerufen!
"Ihr werdet Euch fragen, was das ist", sagte Don Moisés. "Nun, so hört gut zu,denn unter den Toledanos wird diese Geschichte zusammen mit diesemPergamentkeil von Generation zu Generation weitergegeben. Euer Leben wirdfortan davon abhängen."
Und er erzählte uns anschaulich und in allen Einzelheiten, was sich während derRegierungszeit von Alfons X., den man auch "den Weisen" nannte, in Antiguazugetragen hatte. Seine Geschichte setzte ein in einer finsteren Winternacht,in der der Regen über das Land peitschte und Nebelfetzen über den Fluß zogen.Damals besaß Antigua nur eine einzige Brücke, die von bewaffneten Posten strengbewacht wurde. Die Familie der Toledanos genoß unter den Einwohnern Antiguasgroßes Ansehen. In jener Winternacht mußten sie einem Fremden helfen, unbemerktin die Stadt zu gelangen. Bei Anbruch der Dämmerung hatten die jüngstenFamilienmitglieder deshalb ihre Häuser verlassen und sich auf dem steil zumFlußbett abfallenden Felsen postiert, der die Stadtmauer des Judenviertelsbegrenzte.
Von dort aus konnten die Toledanos nun die Soldaten auf der Brücke sehen, die sichan einem Lagerfeuer wärmten, dessen Flammen bei dem heftigen Wind hochloderten. Angestrengt spähten sie in der Dunkelheit hinüber zur anderen Seitedes Flusses. Lange Zeit geschah nichts. Doch plötzlich sahen sie das Signal vomanderen Ufer, eine Laterne, geschwenkt von einem Mann von schmächtiger Gestalt.Sie antworteten ihm geschwind, indem sie ihre eigene Laterne hochhoben, wobeisie sorgfältig darauf achteten, daß das Gebäude des jüdischen Schlachthofszwischen ihnen und den Wachen auf der Brücke lag.
Kaum hatten sie ihre Signale ausgetauscht, warfen die Toledanos schon eineStrickleiter den Felsen hinab zu der Ruine einer Mühle, die vor langer Zeit derBlitz getroffen hatte. Durch ein Lärchenwäldchen vor den Soldaten verborgen,kletterten sie einer nach dem anderen sie hinunter.
Auf der anderen Seite des Flusses hielt unterdessen der kleine Mann vorsichtigdie Hand in das eiskalte Wasser. Ihn schauderte bei dem Gedanken, daß er esdurchqueren mußte. Doch es gab keine andere Möglichkeit, in die Stadt zukommen, ohne verhaftet zu werden. Deshalb richtete er sich wieder auf, blicktehinüber zum anderen Ufer, schwenkte noch einmal seine Laterne, und sowie erAntwort erhalten hatte, löschte er sie aus. Der Moment war gekommen.
Ein ungünstiger Moment, gewiß, sagten sich die Toledanos, während sie ihn vonder gegenüberliegenden Seite aus beobachteten. Dort, wo sich das alte Wasserradder Mühle befand, war die einzige seichte Stelle, die das Überqueren desFlusses gestattete. Doch selbst tagsüber und wenn man die Furt gut kannte, wardas sehr gefährlich. Nachts aber, noch dazu bei diesem Wetter, war dieFlußdurchquerung der reinste Wahnsinn. In der Mitte konnte man kaum stehen, unddie Strömung war sehr stark. Schon viele waren an dieser Stelle ertrunken. JenerFremde mußte einen dringlichen Grund haben, um es trotzdem zu wagen.
Er watete in das Flußbett, in das dunkle, eisige Wasser. Vorsichtig setzte ereinen Fuß vor den anderen, geleitet nur von dem schwachen Laternenschein derer,die ihn auf der anderen Seite erwarteten. Er mühte sich, nicht den Boden unterden Füßen zu verlieren. Plötzlich rutschte er aus, verlor beinahe dasGleichgewicht. Als er sich der gefährlichen Flußmitte näherte, reichte ihm dasWasser erst bis zur Hüfte, dann bis zur Brust.
Vom gegenüberliegenden Ufer aus beobachteten die Toledanos beklommen diemerkwürdige Art, wie er sich fortbewegte. In steifer Haltung stemmte er sichder Strömung entgegen, statt den Weg des geringsten Widerstands zu suchen. Siewußten, daß er gleich an den tiefsten und schwierigsten Punkt des Flußbettskommen würde, und warfen sich besorgte Blicke zu.
"Ohne unsere Hilfe wird er es nicht schaffen", meinte der jüngste undkräftigste der Toledanos.
Er nahm seine Kopfbedeckung ab, entrollte sie, band sich das eine Ende um dieTaille und forderte seine Begleiter auf, ihm auch ihre Turbane zu geben, damiter die langen Stoffbänder an seinen eigenen knüpfen konnte.
"Haltet dieses Ende fest, so daß es immer straff gespannt ist", wies er sie an.
Dann warf er sich geradewegs in die Strömung. Inmitten des Flusses, von denWellen umspült, riß der Strom den schmächtigen Fremden fast mit sich fort.Nichtsdestotrotz hielt er sich kerzengerade. Der junge Bursche, der ihm zuHilfe eilte, verstand sein Verhalten erst, als er ihn erreichte: Zum Schutz vordem Wasser in ein gewachstes Tuch eingeschlagen, trug er auf dem Kopf einBündel, das ihm wertvoller zu sein schien als das eigene Leben.
"Seid bloß vorsichtig damit", bat der Fremde seinen Retter mit dünner Stimme,als dieser ihn fest bei den Schultern packte, einen seiner kräftigen Arme unterdenen des Mannes hindurchschob und ihn so an Land schleppte, wobei er sich andem improvisierten Tau seiner Kameraden festhielt.
Am Ufer zohen sie dem Fremden die nasse Kleidung aus und wickelten ihn in eineDecke. Gesicht, Hände und Füße waren ganz blau, er zitterte vor Kälte, konntesich kaum auf den Beinen halten. Die Strickleiter mußten sie ihn hinaufhieven.Sein Bündel ließ er dabei nicht los; er hielt es die ganze Zeit festumklammert, selbst die Prellungen, die er an der Felswand davontrug, als sieihn hinaufzogen, schreckten ihn nicht.
Innerhalb der Stadtmauern, im Judenviertel, brachten sie ihn in eines ihrerHäuser, wo man ihm am Feuer mit trockener Kleidung und einer heißen Suppe erwartete.Nach dem Mahl fiel er erschöpft ins Bett, jedoch nicht ohne - sicher ist sicher- sein Bündel unter das Kopfkissen zu schieben.
Am nächsten Tag, kaum war er aufgewacht, bat er seine Gastgeber, ihnunverzüglich zu Samuel Toledano zu bringen. Der Rabbiner, der über dieGeschehnisse längst Bescheid wußte, empfing ihn sofort. Als er den Raum betrat,sah der Fremde, daß Samuel Toledano nicht allein war, wie er es sich gewünschthätte; die drei Oberrichter und der Ältestenrat waren bei ihm. Der alte Rabbinerbemerkte seinen Unmut und forderte alle Anwesenden auf, den Saal zu verlassen.Zum ersten Mal lächelte der kleine Mann.
Da sie nun allein waren, bat er um Erlaubnis, den Federkasten benutzen zudürfen, den er auf einem Tisch neben dem ehrwürdigen Rabbiner entdeckt hatte.Toledano war zwar überrascht, willigte dann aber ein. Daraufhin setzte sich derFremde an den Tisch und begann eifrig zu zeichnen. Vielleicht auch zuschreiben; es war schwer zu sagen, was diese Linien bedeuten sollten, dieseKästchen, die er eines nach dem anderen mit Tinte ausmalte, genauen Regelnfolgend, die nur er zu kennen schien.
"Es würde besser aussehen, wenn ich meine eigene Feder und Tinte zur Handgehabt hätte", entschuldigte er sich, als er fertig war.
Der alte Rabbiner sah sich das Papier genau an. Er hielt es ein Stück von sichweg, um es besser betrachten zu können. Sein Gesicht drückte Erstaunen aus.Dann blickte er abwechselnd auf das Papier und auf den Fremden, hüllte sichjedoch in Schweigen.
Endlich fragte er ihn mit strenger Miene:
"Wo habt Ihr derartige Linien schon einmal gesehen?"
Der Fremde schien jedoch nicht ohne weiteres reden zu wollen.
"Ich werde es Euch erzählen, wenn Ihr mir sagt, was sie bedeuten", schlug erdem Rabbiner vor.
Samuel Toledano runzelte unwillig die Stirn.
"Ich kann Euch helfen, sie zu entschlüsseln, doch werde ich das nicht eher tun,als bis Ihr mir gesagt habt, wer Ihr seid und woher diese Linien stammen."
"Nun gut", lenkte der Fremde ein, "mein Name ist Azarquiel, und ich komme ausdem Königreich Marokko, genauer gesagt aus Fes."
"Ihr habt meine Frage noch nicht ganz beantwortet. Woher stammen diese Linien?"
Da schickte Azarquiel sich an, ihm das Geheimnis zu enthüllen:
"Alles begann in Fes, als man mich bat, eine Schätzung der Bibliothek einer derreichsten Familien der Stadt vorzunehmen. Meine Auftraggeber warenandalusischer Herkunft und wollten nach dem überraschenden Tod desFamilienoberhaupts ihren gesamten Besitz sichten und ein Nachlaßverzeichniserstellt haben.
Während ich also dessen Bücher und Dokumente durchsah und taxierte, blieb meinBlick immer wieder an dem seltsamen Tisch hängen, den der Verstorbene benutzthatte, wenn er in seiner Bibliothek arbeitete. Wer genau hinsah, konnteerkennen, daß die äußeren Maße des Möbelstücks nicht mit der Tiefe derzahlreichen Schubladen übereinstimmten. Ich maß mit einer Kordel nach, undtatsächlich, nachdem ich eine Weile die Rückwand abgetastet hatte, entdeckteich ein Geheimfach. Mit größter Vorsicht öffnete ich es, und was entdeckte ich?Ein Pergament.
Es war indes kein alltägliches Pergament, vielmehr eines aus hauchdünnem Gems-oder Gazellenleder. Darauf war mit Tinte etwas aufgezeichnet, vielleicht warendie Linien aber auch eingebrannt. Es sah jedenfalls aus wie ein Labyrinth. Manmußte nicht besonders bewandert sein, um zu begreifen, daß es sich um ein sehr,sehr altes Pergament handelte. Im Geheimfach fand ich überdies noch ein StückPapier, auf dem zu lesen stand, das dieses Pergament eine Schatzkarte sei, diezu dem kostbarsten Schatz führte, den die Mauren von Al-Andalus kannten. Unddaß diesen Schatz nur diejenigen finden könnten, die von echtem Glauben erfülltseien und diese Karte zu entziffern wüßten. Die Ungläubigen bedachte derSchreiber hingegen mit den allerschrecklichsten Flüchen und drohte ihnen mitden fürchterlichsten aller Todesarten.
Ich dachte lange darüber nach, was ich damit tun sollte. Das Pergament mußtesehr wertvoll sein, wenn der Verstorbene es an einem so geheimen Ort aufbewahrtund selbst vor der eigenen Familie verborgen hatte. Nach langem Zögern beschloßich schließlich, es heimlich mitzunehmen.
Alsdann geschah etwas Eigenartiges: Nachdem ich das einzigartige Dokument übermehrere Tage hinweg studiert hatte, begann ich einen immer wiederkehrendenTraum zu haben. Zunächst war er noch ganz angenehm, mit der Zeit entwickelte ersich aber zu einer wahren Obsession. In diesem Traum erschien mir dasPergament, dessen Labyrinth sich von der Mitte her in alle vierHimmelsrichtungen ausbreitete. Es schien lebendig zu werden, es wuchs nach obenund nach unten, bis es ein großes Gebäude war. Ich spazierte darin herum,anfangs noch ohne Schwierigkeiten, aber schon bald verlief ich mich und fandaus den engen Gängen nicht mehr heraus. Dann wurde es dunkel um mich herum. VollerFurcht versuchte ich diese Dunkelheit zu ergründen, und plötzlich verlor ichden Boden unter den Füßen und fiel in ein tiefes, unendlich tiefes Loch. Ichfiel und fiel
So erging es mir ein ums andere Mal, und ich sehnte mich geradezu danach, daßes Zeit wurde, schlafen zu gehen. Zugleich fürchtete ich mich aber auch davor.Einerseits wünschte ich mir den Traum herbei, denn jenes Pergament schien seineGeheimnisse nur im Schlaf preiszugeben. Andererseits machte es mir angst, dennich schlief schlecht und wachte mitten in der Nacht schweißgebadet auf. Und amTag zitterte mir die Hand beim Schreiben, und ich konnte mich nicht mehr aufmeine Arbeit konzentrieren.
Da mich diese merkwürdigen Vorgänge zutiefst erschreckten, hütete ich michzunächst, irgend jemand dieses Pergament zu zeigen, das sich meines Willens zubemächtigen schien. Nachdem ich jedoch lange darüber nachgedacht hatte, ohne esdeuten zu können, kopierte ich sorgfältig einige Fragmente, die mir vontiefgreifender Bedeutung zu sein schienen, und machte mich daran, sie denenvorzulegen, die ich für die gelehrtesten Männer der Stadt hielt. Dochvergebens: Keiner von ihnen kam viel weiter als ich. Entweder waren siewirklich überfragt, oder aber sie verschwiegen mir, was sie wußten, denn in mehrals einem Blick konnte ich große Angst erkennen.
Mißmutig beschloß ich deshalb, dem Ratschlag derer zu folgen, die mirversicherten, nur in Antigua könne ich weise Männer finden, die über dienötigen Kenntnisse verfügen, um das Rätsel zu entschlüsseln. Hier, so sagte manmir, befänden sich die besten Bibliotheken und die hervorragendsten Kennerüberlieferten Wissens. Und man erklärte mir auch, daß Ihr, der Rabbiner dieserGemeinde, der angesehenste von allen seid."
Mit diesen Worten holte der Fremde sein mitgebrachtes Bündel hervor, knüpfte esauf und breitete seinen Fund vor Samuel Toledano aus. Der ehrwürdige alte Mannbefühlte die Tierhaut, prüfte sie genau. Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort.Als er schließlich zum Reden ansetzte, tat er dies langsam und bedächtig undblickte Azarquiel dabei mit besorgten, ja kummervollen Augen an.
"Nicht Ihr seid es, der dieses Pergament gefunden hat. Es hat Euch gefunden, eshat sich Euch offenbart. Es gehört nicht Euch, sondern Ihr gehört ihm. Dieshier ist das allerkostbarste der über 400.000 Handschriften, die die berühmteBibliothek des Kalifen al-Hakam II. einstmals umfaßte. Man glaubte es für immerverloren."
Ein Pergament aus der Bibliothek des Kalifen? Was hat es damit auf sich?
Nun, die Geschichte nimmt ihren Anfang vor über dreihundert Jahren, währendder Herrschaft der omaijadischen Kalifen
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"Und dies hier war also das kostbarste Pergament jener Bibliothek?" fragteAzarquiel den Rabbiner.
"Es war nicht nur das kostbarste; die Bibliothek war anscheinend eigens dafürgebaut worden. Al-Hakams Handschriftensammlung war im Grunde nur daraufausgerichtet gewesen, dieses Pergament in seinen Besitz zu bringen.
Man erfuhr nie, woher es wirklich stammte. Es gehörte zu einem Kodex, derSarazenischen Chronik, die die Eroberung Spaniens durch die Mauren erzählt.Kaum war die Handschrift in der Stadt eintroffen, nahm der Vertraute desKalifen, Ibn Shaprut, sie persönlich in Empfang und brachte sie unverzüglichzum Kalifen. Al-Hakam II. sagte sofort alle noch ausstehenden Audienzen ab undschloß sich mit seinem engsten Berater in der Palastbibliothek ein. Darin wurdeeine ganz besondere Sammlung von mehreren hundert Kodizes aufbewahrt, und anihrer Tür, die rund um die Uhr bewacht wurde, stand der Leitspruch: Die volleWahrheit ist nicht in einem einzigen, sondern in vielen Träumen zu finden.
In der Folgezeit häuften sich Ibn Shapruts Besuche in Antigua. Sie erfolgtenstets unter strengster Geheimhaltung. Doch währte dies nicht lange, denn seineund des Kalifen Tage waren gezählt. Sie starben fast zur gleichen Zeit, und mitihnen ihr Geheimnis. Niemand konnte ahnen, daß das Kalifat von Córdoba nachihrem Tod in die Barbarei zurücksinken würde unter dem despotischen Großwesiral-Mansur, den die Christen Almansor nennen. Um die größten Glaubenseiferer aufseine Seite zu ziehen, befahl er, alle der Irrlehre verdächtigen Bücher aus derunvergleichlichen Bibliothek des Kalifen zu vernichten. Er selbst zündete dieScheiterhaufen an, die Tag und Nacht brannten. Die anderen wurden auf denarabischen Märkten verschleudert. Selbst nach vielen Jahren konnte man manchedieser Buchrollen und Kodizes noch in den Antiquariaten von Fes erwerben."
Es lag tiefe Trauer in Samuel Toledanos Stimme, jetzt, da er seine Erzählungbeendet hatte.
"Versteht Ihr nun, warum es ein wahres Wunder ist, daß Ihr dieses Pergamentgefunden habt?" fragte der alte Rabbiner.
"Und weshalb ist es so kostbar?" will Azarquiel wissen.
"Das habe ich Euch bereits gesagt: Es hütet das Geheimnis von ETEMENANKI, denletzten Schlüssel, die verborgene Sprache des Universums, mit der Gott die Welterschuf und die allem zugrunde liegt. Doch begibt man sich in große Gefahr,wenn man sie ergründen will "
© Deutscher Taschenbuch Verlag
Übersetzung: Silke Kleemann
Agustín Sánchez Vidal, 1948 in Salamanca geboren, ist Professor für Film- und Medienwissenschaft an der Universität Zaragoza und einer der weltweit anerkannten Experten für das Werk von Luis Buñuel und Carlos Saura. Des Weiteren hat er Drehbücher für Film und TV verfasst und mehrere Monografien zu Literatur-, Kunst- und Filmgeschichte veröffentlicht. Sein Romandebüt 'Kryptum' (dtv 21086) stand 20 Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste.
- Autor: Agustín Sánchez Vidal
- 2006, 2. Aufl., 752 Seiten, Maße: 14,5 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzer: Silke Kleemann
- Verlag: DTV
- ISBN-10: 3423245662
- ISBN-13: 9783423245661
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