Kurt Georg Kiesinger 1904-1988
Kanzler zwischen den Zeiten
Kurt Georg Kiesinger: Regierungschef der Großen Koalition, Ministerpräsident Baden Württembergs. Die Erinnerung an ihn bestimmt jedoch bis heute die Ohrfeige Beate Klarsfelds, die sie dem Kanzler wegen seiner NSdAP-Mitgliedschaft verpaßte. Philipp Gassert...
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Produktinformationen zu „Kurt Georg Kiesinger 1904-1988 “
Kurt Georg Kiesinger: Regierungschef der Großen Koalition, Ministerpräsident Baden Württembergs. Die Erinnerung an ihn bestimmt jedoch bis heute die Ohrfeige Beate Klarsfelds, die sie dem Kanzler wegen seiner NSdAP-Mitgliedschaft verpaßte. Philipp Gassert legt erstmals eine große, neutrale Biographie dieses umstrittenen Politikers vor.
Klappentext zu „Kurt Georg Kiesinger 1904-1988 “
Kurt Georg Kiesinger (1904 -1988) war Bundeskanzler in einer Zeit des Umbruchs: Mit ihm endeten die ersten beiden, von CDU-Regierungen geprägten Jahrzehnte der Nachkriegspolitik. Seiner Kanzlerschaft folgten die sozialdemokratischen siebziger Jahre nach. Er war der Kopf einer Großen Koalition, die die erste tiefgreifende Krise der Bundesrepublik zu bewältigen hatte. Die Erinnerung an ihn bestimmt bis heute die Ohrfeige Beate Klarsfelds, die sie ihm wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft verpaßte.Das Leben Kurt Georg Kiesingers ist wie das kaum eines anderen Spitzenpolitikers der Bundesrepublik ein Spiegel des 20. Jahrhunderts. Geboren im Kaiserreich, Jurastudium in der Weimarer Republik, 1933 bis 1945 Mitglied der NSDAP. Nach 1949 christdemokratischer Rechts- und Außenpolitiker, Ministerpräsident von Baden-Württemberg und Kanzler. Er hat den demokratischen Wiederaufbau an entscheidender Stelle mitgeprägt.
Kurt Georg Kiesinger (1904 -1988) war Bundeskanzler in einer Zeit des Umbruchs: Mit ihm endeten die ersten beiden, von CDU-Regierungen gepr gten Jahrzehnte der Nachkriegspolitik. Seiner Kanzlerschaft folgten die sozialdemokratischen siebziger Jahre nach. Er war der Kopf einer Gro en Koalition, die die erste tiefgreifende Krise der Bundesrepublik zu bew ltigen hatte. Die Erinnerung an ihn bestimmt bis heute die Ohrfeige Beate Klarsfelds, die sie ihm wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft verpa te.Das Leben Kurt Georg Kiesingers ist wie das kaum eines anderen Spitzenpolitikers der Bundesrepublik ein Spiegel des 20. Jahrhunderts. Geboren im Kaiserreich, Jurastudium in der Weimarer Republik, 1933 bis 1945 Mitglied der NSDAP. Nach 1949 christdemokratischer Rechts- und Au enpolitiker, Ministerpr sident von Baden-W rttemberg und Kanzler. Er hat den demokratischen Wiederaufbau an entscheidender Stelle mitgepr gt.
Lese-Probe zu „Kurt Georg Kiesinger 1904-1988 “
Einleitung: Kanzler zwischen den ZeitenKaum einen Monat agierte Kurt Georg Kiesinger im Kanzleramt, da meldete sich Anfang Januar 1967 aus seinem Baseler Exil Karl Jaspers zu Wort. In einem Interview mit dem Fernsehmagazin "Panorama" meinte der Philosoph, ein "alter Nationalsozialist" an der Spitze des Bundeskabinetts sei nicht nur ein "Affront gegenüber dem Ausland", sondern auch "eine Beleidigung gegenüber der Minderzahl der Deutschen [...], die den Nationalsozialismus immer gehaßt haben und noch hassen".
Jaspers sah die düstere Prognose bestätigt, die er ein Jahr zuvor in seinem aufsehenerregenden Buch Wohin treibt die Bundesrepublik? aufgestellt hatte. Darin hatte er das Fortwirken ehemaliger Nationalsozialisten als "ein Grundgebrechen der inneren Verfassung der Bundesrepublik" bezeichnet. Die prekäre innere und äußere Lage Westdeutschlands führte er darauf zurück, daß es den "500.000 Unbelasteten", die während des Nationalsozialismus "stets ihr klares Urteil bewahrt" hätten, nach 1945 nicht gelungen sei, die Führung in Politik und Gesellschaft zu ergreifen. Vielmehr hätten ehemalige Nationalsozialisten nach einer gewissen Schamfrist "wirksam und maßgebend" den Wiederaufbau betrieben und dadurch "die freie Gestaltung unseres Staates" beeinträchtigt. Die Unbelasteten seien "beiseite gedrängt [worden] oder mußten dulden, daß ihre Freiheitsidee nicht verwirklicht, sondern stillschweigend bekämpft wurde".
Jaspers' Angriff auf den Bundeskanzler blieb nicht unwidersprochen. Etwa eine Woche nach dem Panorama-Interview schrieb ihm ein alter Bekannter, der Mediziner Karl Heinrich Bauer. Mit Bauer, dem ersten Nachkriegsrektor der Heidelberger Universität, verband Jaspers die Erfahrung der nationalsozialistischen Diktatur und eine alte, "auf vielen gemeinsamen Erlebnissen basierende Freundschaft aus der Zeit nach dem großen Umbruch 1945". Wie Jaspers nahm Bauer für sich in Anspruch, "jener Minderzahl der Deutschen" anzugehören, die sich unzweideutig gegenüber dem
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Regime verhalten hätten. Anders als Jaspers fühlte er sich aufgerufen, Kiesinger zu verteidigen.
Bauer warf Jaspers vor, er habe Kiesinger Unrecht getan, als er ihn unter die "alten Nazis" reihte. Er, Bauer, halte Kiesinger "für einen Mann, der wohl geirrt, aber doch durch 20 Jahre täglicher Leistung bewiesen hat, daß ihm das
Schicksal der Bundesrepublik nach seinen Qualitäten und Leistungen anvertraut werden darf. K. ist eine integre Persönlichkeit. [...] Er weiß von der Macht weisen Gebrauch zu machen und durch großen persönlichen Charme manche Schwierigkeit auszuschalten [...]. Es steht ihm ein großes Wissensgut gerade über die letzten Grundlagen der Demokratie zur Verfügung. Er gehört unbestreitbar zu der Kategorie von Menschen, denen man verzeihen muß, will man ihnen nicht Unrecht tun."
Bauer war nicht der einzige, der befremdet auf Jaspers harsches Urteil über Kiesinger reagierte. Der Diplomat und Schriftsteller Erwin Wickert, ein Jaspers-Schüler, war im Zweiten Weltkrieg als deutscher Rundfunkattaché in Shanghai und Tokio formal Kiesingers Untergebener im Auswärtigen Amt gewesen, woraus sich später eine persönlich-politische Freundschaft entwickelte. Seinem alten Lehrer Jaspers schrieb Wickert nach Basel, daß er dessen Urteil "für ungerecht, simplifziert und falsch" halte. Jaspers werde mit der Auffassung von dem "Affront", den die Ernennung eines "alten Nazis" zum Bundeskanzler bedeute, "weder Herrn Kiesinger noch der Situation gerecht".
Für ein Urteil über Kiesinger sei nicht relevant, meinte Wickert, "ob er die Mitgliedskarte der NSDAP besaß oder nicht, sondern wie er dachte und wie er handelte. Und darüber scheint mir, nach allem, was ich weiß, kein Zweifel möglich zu sein. Sind die Vorwürfe, die einige schäbige Denunzianten aus Kiesingers Abteilung im Auswärtigen Amt während des Krieges der SS gegenüber erhoben und die der 'Spiegel' kürzlich veröffentlichte, nicht ein entscheidenderes Dokument als die NSDAP-Mitgliedskarte?" Viele Nichtparteimitglieder seien ideologisch verbohrtere Nazis gewesen als mancher, der 1933 eingetreten sei. Man müsse den Kritikern "das Wesen eines totalitären Staates schildern und ihnen sagen, daß Kiesinger sich auch hinter [sic] diesem System ehrenhaft benommen und sich bemüht hat, auch unter den damaligen Bedingungen das Rechte zu tun". Während Bauer also für Kiesinger das "Recht auf politischen Irrtum" (Kogon) in Anspruch nahm und Kiesingers demokratische Läuterung nach 1945 in den Vordergrund stellte, hob Wickert darauf ab, daß Kiesinger, nachdem er anfänglich geirrt, sich unter den Bedingungen des totalitären Staates doch "ehrenhaft benommen" hätte.
Mit seiner Attacke auf Kiesinger hatte Jaspers medienwirksam auf eine Tatsache aufmerksam gemacht, die in den späten sechziger Jahren noch nicht als Allgemeingut akzeptiert wurde, jedoch von der historischen Forschung mittlerweile gründlich herausgearbeitet worden ist: Die frühe Bundesrepublik, wie übrigens auch die frühe DDR, verband eine hohe personelle Kontinuität mit dem verflossenen "Dritten Reich". Die Führungsschicht des 1949 gegründeten westdeutschen Teilstaates entstammte weit überwiegend dem Kreis der damals so genannten Ehemaligen, das heißt, es handelte sich um Personen, die in vergleichbarer Funktion schon vor 1945 tätig gewesen waren. Das galt ganz besonders für die Justiz, in der ein sehr hoher Prozentsatz ehemaliger NS-Richter nach 1945 Recht sprach, aber auch für die Wirtschaft, die Schulen und Universitäten, Presse und Rundfunk, das Militär und die Polizei. Auch die hohe Bürokratie - d.h. die Ministerien in Bund und Ländern und das Korps der Staatssekretäre - war stark mit ehemaligen Nationalsozialisten durchsetzt.
Das Auswärtige Amt, dem Kiesinger 1940 bis 1945 kriegsdienstverpflichtet angehört hatte, setzte wie kein zweites Ministerium diese personellen Traditionen fort. Dort war der relative Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder 1952 sogar höher als vor 1945. Das hatte mit der Pensionierung einer älteren, noch nationalkonservativ geprägten Generation von Diplomaten zu tun, die im ersten Nachkriegsjahrzehnt durch jüngere, erst in den dreißiger Jahren in eine berufliche Laufbahn eingetretene und daher altersbedingt stärker belastete Mitglieder ersetzt wurden. Nach 1949 standen weite Bereiche gesellschaftlicher Verantwortung ehemaligen Emigranten kaum offen, dafür durchweg Hitlers Eliten, die seit jeher Teil jener Volksgemeinschaft gewesen waren, die personell den NS-Staat getragen hatte und nun auch die Bundesrepublik trug. Es gab nur eine signifikante Ausnahme: die Politik selbst. Hier hatten, mit einem Wort des Freiburger Historikers Ulrich Herbert, die Alliierten "ganze Arbeit" geleistet. Die politische Führungsschicht des NS-Staates hatte in der Nachkriegszeit in der ersten Reihe der Politik keine Zukunft.
Angesichts dieser - in der westdeutschen Öffentlichkeit im Laufe der sechziger Jahre zunehmend kontrovers diskutierten - Frage der Elitenkontinuität vom Reich zur frühen Bundesrepublik sah Jaspers keinen Grund, sein Urteil über Kiesinger einzuschränken oder gar zu revidieren. Er wolle der Deutung seiner Äußerung als "apodiktisch und ungerecht" nicht widersprechen, schrieb er an seinen Schüler Willi Emmer, der ähnlich wie Bauer und Wickert reagiert und Jaspers zugleich dessen eigene Schwäche im Angesicht der nationalsozialistischen "Machtergreifung" 1933 vorgehalten hatte. "Vollendete Sorgfalt einschränkender hin- und herwendender Urteile pflegt nicht zu wirken", meinte Jaspers. Er urteile nicht über den "ganzen Menschen" Kiesinger, sondern allein "über Handlungen, Verhaltensweisen, Aussagen". So habe sich Kiesinger "bei dem Erwerb der Rundfunksender in Nord-Frankreich der Methoden der Arisierung bedient". Auch Bauer gegenüber steckte Jaspers nicht zurück. Er habe zwar persönlich nichts gegen den Kanzler, von dem er "nur Gutes höre". Es sei jedoch unstrittig, "daß Kiesinger Nationalsozialist war". Ehemalige Nationalsozialisten müßten in der Rolle, "die sie bei uns spielen dürfen", soweit beschränkt sein, "daß sie unter keinen Umständen die Bundesrepublik repräsentieren". Er und Bauer seien in einer
grundlegenden Frage ganz unterschiedlicher Meinung, und diese "Differenz geht sehr tief".
Jaspers ging es folglich um die Frage individueller Schuld und Verantwortung angesichts einer möglichen Mittäterschaft Kiesingers im NS-Regime, wovon er, anders als Wickert, offenkundig überzeugt war. Zugleich machte er auf das weit über die Person des dritten Kanzlers hinausweisende Problem der politischen Signalwirkung der Wahl eines "Ex-PGs" in eines der höchsten Ämter der Bundesrepublik aufmerksam. Das bedeute, wie Jaspers in seiner Antwort an seine Kritiker klarstellte: "Nunmehr gilt es als gleichgültig, einst Nationalsozialist gewesen zu sein." Schließlich wertete Jaspers die Wahl Kiesingers auch als Symptom einer drastischen Fehlentwicklung seit 1945. Die auf schwachen Füßen stehende demokratische Kultur der Bundesrepublik sei mit der Bildung der Großen Koalition endgültig dahin. Nur die "politisch uneinsichtigen Deutschen" würden Westdeutschland noch als eine Demokratie bezeichnen. Die Bildung der Großen Koalition habe die parlamentarische Opposition sinnlos gemacht und stelle den entscheidenden Schritt zur "Politiker-Diktatur" dar.
Mit letzterer Prognose erwies sich der Philosoph als wenig hellsichtiger Analytiker. Die Demokratie war zwischen 1966 und 1969 nicht in Gefahr. Dennoch illustriert sein Standpunkt eindrücklich die erstaunlich nervöse Stimmung, die noch Ende der sechziger Jahre in der Bundesrepublik herrschte, als eine von Diktatur, Weltkrieg und Völkermord tief traumatisierte Gesellschaft nur vordergründig zur Normalität gefunden hatte. Vor diesem Hintergrund wird Jaspers' Reaktion verständlich, zumal die Große Koalition mit dem als NS-Gesetze diffamierten Projekt der Reform des inneren Notstandes viele Intellektuelle in einen permanenten Alarmzustand versetzt hatte. Als nicht untypischer Repräsentant der kritischen Intelligenz der sechziger Jahre interpretierte Jaspers Kiesingers Kanzlerschaft als symbolischen Schlußstrich unter den Nationalsozialismus. Sie schien das Tüpfelchen auf dem "i" der Elitenrestauration zu bedeuten.
Entgangen war Jaspers, daß jene um 1905 geborene, hochbelastete Generation Kiesingers in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren die Altersgrenze erreichte und das Personalproblem sich just in dem Augenblick entschärfte, als die Skandalisierung ihrem Höhepunkt zustrebte. Ebenso übersahen die Kritiker, was Bauer in seiner Apologie nahelegte: daß Kiesingers ambivalente Erfahrungen vor 1945 ihn nicht nur emphatisch für die demokratische Reorientierung eintreten ließen, sondern gegen alle totalitären Anfechtungen endgültig immunisierten.
Eine politische Biographie des dritten Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland wird sich mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob Jaspers und andere recht hatten, als sie Kiesinger unter die alten Nazis rückten, oder ob eher Wickert zuzustimmen ist, der diesen Vorwurf für einen groben Fehler, ja, im Falle der zu Berühmtheit gelangten Angriffe von Beate Klarsfeld, für "eine niederträchtige Beleidigung" hielt. Tatsächlich hatte das von Jaspers zur Begründung seiner Angriffe gegen Kiesinger ins Feld geführte Arisierungsgeschäft weder stattgefunden, noch war Kiesinger an den Planungen dafür beteiligt gewesen, wenn er auch davon vermutlich Kenntnis hatte. Bei genauer Lektüre des entsprechenden Dokuments wäre es Jaspers aufgefallen. Er verließ sich jedoch in seinem Urteil auf einen im Januar 1967 in den Blättern für deutsche und internationale Politik publizierten Artikel, in dem Kiesinger als "Schreibtischtäter" und Drahtzieher eines Arisierungsgeschäfts denunziert worden war und in dem ihm Äußerungen eines anderen zugeschrieben wurden.
Pikanterweise war der Autor dieses Artikels, Friedhelm Baukloh, kein Linker, wie der Publikationsort nahelegt, sondern der langjährige Kulturredakteur der katholischen, CDU-nahen Zeitung Echo der Zeit, der Anfang 1967 zum Spiegel gewechselt war. Er galt als Journalist, der Kiesingers Konkurrenten um das Kanzleramt, Gerhard Schröder, freundlich gesinnt war. Baukloh wiederum stützte sich auf das noch unveröffentlichte Manuskript eines Buches von Reimund Schnabel, einem ehemaligen Mitarbeiter des Bayerischen Rundfunks, der sich in den sechziger Jahren in die DDR abgesetzt hatte und der nun sein Werk über den gewerkschaftseigenen Wiener Europa-Verlag lancierte. Der kritische Intellektuelle Jaspers bediente sich also der Darstellung eines CDU-Dissidenten, der sich auf ein Produkt Ostberliner Propaganda stützte, das aus politischen Gründen ein Zerrbild des historischen Kiesinger zeichnete.
Was auch immer an den Vorwürfen gegen Kiesinger zutraf oder nicht und wie komplex sich die Hintergründe im einzelnen gestalteten: In seiner Zeit und seither im kollektiven Gedächtnis gilt Kiesinger, neben Globke, Lübke und Oberländer, als eine paradigmatische Figur, an der sich das Fortwirken nationalsozialistisch belasteter Eliten in der frühen Bundesrepublik schlaglichtartig aufzeigen läßt. Daher stellt sich die angesichts fehlender, eindeutig historischer Maßstäbe nicht leicht zu beantwortende Frage, wie er im Vergleich zu anderen westdeutschen Spitzenpolitikern abschnitt, die ebenfalls keine hochrangigen NS-Funktionäre gewesen waren, aber doch auch, meist als Soldaten, im Dienst des NS-Regimes gestanden hatten.
Mit der rühmlichen Ausnahme von Willy Brandt war unter den ersten Bundeskanzlern und Bundespräsidenten kein einziger, der Deutschland nach 1933 verlassen hatte und darob nicht Kompromisse geschlossen hätte. Für Kiesingers Karriere wäre es im Rückblick vermutlich das Beste gewesen,
er hätte Deutschland, wie er es Mitte der dreißiger Jahre tatsächlich beabsichtigte, den Rücken gekehrt. Nur: Als Remigrant hätte er es wohl kaum an die Spitze seiner Partei gebracht. Insofern ist außer Brandt nur Adenauer von dem generellen Befund der Involvierung mit dem Regime auszunehmen. Als führender Zentrumspolitiker der zwanziger Jahre wurde Adenauer vom NS-Regime als Gegner wahrgenommen und verfemt, wodurch er zu einem gefährdeten Personenkreis gehörte.
Schon bei Theodor Heuss wird es kompliziert. Zwar gehörte der angesehene Liberale später ins Umfeld des südwestdeutschen Widerstands. Doch stimmt der Reichstagsabgeordnete Heuss, mit allen inneren Vorbehalten, im März 1933 dem sogenannten Ermächtigungsgesetz zu, dem vielleicht wichtigsten frühen Schritt zur Konsolidierung der Herrschaft Hitlers. Ludwig Erhard war als Wirtschaftsexperte in Beraterstäben des "Dritten Reiches" tätig. Heinrich Lübke war zwar als Gegner des Regimes 20 Monate eingekerkert worden, zeichnete dann aber als Mitarbeiter der Baugruppe Schlempp in Peenemünde und weiteren Orten für die Beschäftigung von Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen mitverantwortlich. Der einer jüngeren Generation als Kiesinger und Lübke zugehörige Walter Scheel wurde Oberleutnant der Luftwaffe und 1942 Mitglied der NSDAP. Karl Carstens, der als Leutnant bei der Flakartillerie seinen Kriegsdienst leistete, hatte, nach eigener Aussage, "unter Druck", einen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt, während Helmut Schmidt als Offizier "widerwillig und doch pflichtgetreu" in der Wehrmacht diente.
Zugespitzt läßt sich formulieren, daß sie alle, ob freiwillig oder, und das sei betont, unfreiwillig, dem säkularen Verbrechen den Rücken freihielten. Selbst im Falle von Gustav Heinemann, dem dritten Bundespräsidenten, der zu den führenden Mitgliedern der Bekennenden Kirche gehörte, ist zu konstatieren, daß er, sicher gegen seinen Wunsch, als Bergwerksdirektor die deutschen Rüstungsanstrengungen unterstützte. Interessant ist der Fall des Bundeswirtschaftsministers Karl Schiller, der als NSDAP-Mitglied und Vordenker der NS-Arbeitsmarktpolitik neben dem Kanzler als das am stärksten nationalsozialistisch belastete Mitglied des Kabinetts der Großen Koalition galt. Er spielte im Bundestagswahlkampf 1969 auf seiten der SPD eine zentrale Rolle, ohne daß seine NS-Vergangenheit in nennenswertem Umfang angesprochen worden wäre. Bis heute wurde Schiller nicht in die Ahnengalerie der Globke, Oberländer, Lübke, Kiesinger eingereiht. Auf die Einseitigkeit ihrer Kampagne gegen Kiesinger angesprochen, meinte Beate Klarsfeld im Dezember 1968: "Ich würde mich schrecklich freuen, wenn jemand auch mal den Professor Schiller ohrfeigen würde. Das ist auch so ein Sozialist, der aus dem Nationalsozialismus gekommen ist."
Vermutlich wußte es Karl Jaspers nicht, doch viele Angriffe auf Kiesinger hatten eine parteipolitische und eine innerparteiliche Dimension. Im Rahmen einer politischen Biographie gilt es nachdrücklich darauf hinzuweisen. Die erste größere Kontroverse um Kiesingers Vergangenheit brach bezeichnenderweise auf dem Gründungsparteitag der Bundes-CDU in Goslar 1950 aus, als Kiesingers Kandidatur für das Amt des CDU-Generalsekretärs von innerparteilichen Gegnern Adenauers, als dessen "junger Mann" er galt, mit geschichtspolitischen Argumenten gestoppt wurde. Dieses Muster setzte sich an weiteren Stationen seiner politischen Laufbahn fort, wenn sie auch niemals die gleiche Intensität und öffentliche Resonanz erreichten wie schließlich die Angriffe der Jahre 1968/69, als die außerparlamentarische Protestbewegung im Zenit stand. Es war auch kein Zufall, daß die ersten kritischen Stimmen, die Anfang November 1966 Zweifel an Kiesingers Eignung zum Bundeskanzler weckten, nicht von der kritischen Intelligenz stammten, auch nicht aus der DDR, sondern aus den eigenen Reihen. Dagegen hielt sich der künftige Koalitionspartner, die SPD, auffallend zurück. Vergangenheit, das war eben immer auch ein politisches Thema in einem sehr elementaren Sinne, nämlich Instrument des Machtkampfes.Es liegt also nahe, in den Kontroversen um Kiesinger mehr als ein Fallbeispiel einer geschichtskulturellen Selbstverständigung zu sehen. Der Fall Kiesinger wirft auch die Frage nach den politischen Motiven der außerparlamentarischen Kritiker der sechziger Jahre auf, denen es neben Vergangenheitsbewältigung vermutlich auch um Tagespolitik ging. Insofern greift diese Untersuchung den von dem Heidelberger Zeithistoriker Edgar Wolfrum geprägten Begriff der Geschichtspolitik auf und erweitert ihn um einen machtpolitischen Aspekt. Während unter Geschichtspolitik die öffentliche Konstruktion von Geschichtsbildern und die damit einhergehende Auseinandersetzung um westdeutsche Identität verstanden wird, geht es hier um mehr.
Bauer warf Jaspers vor, er habe Kiesinger Unrecht getan, als er ihn unter die "alten Nazis" reihte. Er, Bauer, halte Kiesinger "für einen Mann, der wohl geirrt, aber doch durch 20 Jahre täglicher Leistung bewiesen hat, daß ihm das
Schicksal der Bundesrepublik nach seinen Qualitäten und Leistungen anvertraut werden darf. K. ist eine integre Persönlichkeit. [...] Er weiß von der Macht weisen Gebrauch zu machen und durch großen persönlichen Charme manche Schwierigkeit auszuschalten [...]. Es steht ihm ein großes Wissensgut gerade über die letzten Grundlagen der Demokratie zur Verfügung. Er gehört unbestreitbar zu der Kategorie von Menschen, denen man verzeihen muß, will man ihnen nicht Unrecht tun."
Bauer war nicht der einzige, der befremdet auf Jaspers harsches Urteil über Kiesinger reagierte. Der Diplomat und Schriftsteller Erwin Wickert, ein Jaspers-Schüler, war im Zweiten Weltkrieg als deutscher Rundfunkattaché in Shanghai und Tokio formal Kiesingers Untergebener im Auswärtigen Amt gewesen, woraus sich später eine persönlich-politische Freundschaft entwickelte. Seinem alten Lehrer Jaspers schrieb Wickert nach Basel, daß er dessen Urteil "für ungerecht, simplifziert und falsch" halte. Jaspers werde mit der Auffassung von dem "Affront", den die Ernennung eines "alten Nazis" zum Bundeskanzler bedeute, "weder Herrn Kiesinger noch der Situation gerecht".
Für ein Urteil über Kiesinger sei nicht relevant, meinte Wickert, "ob er die Mitgliedskarte der NSDAP besaß oder nicht, sondern wie er dachte und wie er handelte. Und darüber scheint mir, nach allem, was ich weiß, kein Zweifel möglich zu sein. Sind die Vorwürfe, die einige schäbige Denunzianten aus Kiesingers Abteilung im Auswärtigen Amt während des Krieges der SS gegenüber erhoben und die der 'Spiegel' kürzlich veröffentlichte, nicht ein entscheidenderes Dokument als die NSDAP-Mitgliedskarte?" Viele Nichtparteimitglieder seien ideologisch verbohrtere Nazis gewesen als mancher, der 1933 eingetreten sei. Man müsse den Kritikern "das Wesen eines totalitären Staates schildern und ihnen sagen, daß Kiesinger sich auch hinter [sic] diesem System ehrenhaft benommen und sich bemüht hat, auch unter den damaligen Bedingungen das Rechte zu tun". Während Bauer also für Kiesinger das "Recht auf politischen Irrtum" (Kogon) in Anspruch nahm und Kiesingers demokratische Läuterung nach 1945 in den Vordergrund stellte, hob Wickert darauf ab, daß Kiesinger, nachdem er anfänglich geirrt, sich unter den Bedingungen des totalitären Staates doch "ehrenhaft benommen" hätte.
Mit seiner Attacke auf Kiesinger hatte Jaspers medienwirksam auf eine Tatsache aufmerksam gemacht, die in den späten sechziger Jahren noch nicht als Allgemeingut akzeptiert wurde, jedoch von der historischen Forschung mittlerweile gründlich herausgearbeitet worden ist: Die frühe Bundesrepublik, wie übrigens auch die frühe DDR, verband eine hohe personelle Kontinuität mit dem verflossenen "Dritten Reich". Die Führungsschicht des 1949 gegründeten westdeutschen Teilstaates entstammte weit überwiegend dem Kreis der damals so genannten Ehemaligen, das heißt, es handelte sich um Personen, die in vergleichbarer Funktion schon vor 1945 tätig gewesen waren. Das galt ganz besonders für die Justiz, in der ein sehr hoher Prozentsatz ehemaliger NS-Richter nach 1945 Recht sprach, aber auch für die Wirtschaft, die Schulen und Universitäten, Presse und Rundfunk, das Militär und die Polizei. Auch die hohe Bürokratie - d.h. die Ministerien in Bund und Ländern und das Korps der Staatssekretäre - war stark mit ehemaligen Nationalsozialisten durchsetzt.
Das Auswärtige Amt, dem Kiesinger 1940 bis 1945 kriegsdienstverpflichtet angehört hatte, setzte wie kein zweites Ministerium diese personellen Traditionen fort. Dort war der relative Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder 1952 sogar höher als vor 1945. Das hatte mit der Pensionierung einer älteren, noch nationalkonservativ geprägten Generation von Diplomaten zu tun, die im ersten Nachkriegsjahrzehnt durch jüngere, erst in den dreißiger Jahren in eine berufliche Laufbahn eingetretene und daher altersbedingt stärker belastete Mitglieder ersetzt wurden. Nach 1949 standen weite Bereiche gesellschaftlicher Verantwortung ehemaligen Emigranten kaum offen, dafür durchweg Hitlers Eliten, die seit jeher Teil jener Volksgemeinschaft gewesen waren, die personell den NS-Staat getragen hatte und nun auch die Bundesrepublik trug. Es gab nur eine signifikante Ausnahme: die Politik selbst. Hier hatten, mit einem Wort des Freiburger Historikers Ulrich Herbert, die Alliierten "ganze Arbeit" geleistet. Die politische Führungsschicht des NS-Staates hatte in der Nachkriegszeit in der ersten Reihe der Politik keine Zukunft.
Angesichts dieser - in der westdeutschen Öffentlichkeit im Laufe der sechziger Jahre zunehmend kontrovers diskutierten - Frage der Elitenkontinuität vom Reich zur frühen Bundesrepublik sah Jaspers keinen Grund, sein Urteil über Kiesinger einzuschränken oder gar zu revidieren. Er wolle der Deutung seiner Äußerung als "apodiktisch und ungerecht" nicht widersprechen, schrieb er an seinen Schüler Willi Emmer, der ähnlich wie Bauer und Wickert reagiert und Jaspers zugleich dessen eigene Schwäche im Angesicht der nationalsozialistischen "Machtergreifung" 1933 vorgehalten hatte. "Vollendete Sorgfalt einschränkender hin- und herwendender Urteile pflegt nicht zu wirken", meinte Jaspers. Er urteile nicht über den "ganzen Menschen" Kiesinger, sondern allein "über Handlungen, Verhaltensweisen, Aussagen". So habe sich Kiesinger "bei dem Erwerb der Rundfunksender in Nord-Frankreich der Methoden der Arisierung bedient". Auch Bauer gegenüber steckte Jaspers nicht zurück. Er habe zwar persönlich nichts gegen den Kanzler, von dem er "nur Gutes höre". Es sei jedoch unstrittig, "daß Kiesinger Nationalsozialist war". Ehemalige Nationalsozialisten müßten in der Rolle, "die sie bei uns spielen dürfen", soweit beschränkt sein, "daß sie unter keinen Umständen die Bundesrepublik repräsentieren". Er und Bauer seien in einer
grundlegenden Frage ganz unterschiedlicher Meinung, und diese "Differenz geht sehr tief".
Jaspers ging es folglich um die Frage individueller Schuld und Verantwortung angesichts einer möglichen Mittäterschaft Kiesingers im NS-Regime, wovon er, anders als Wickert, offenkundig überzeugt war. Zugleich machte er auf das weit über die Person des dritten Kanzlers hinausweisende Problem der politischen Signalwirkung der Wahl eines "Ex-PGs" in eines der höchsten Ämter der Bundesrepublik aufmerksam. Das bedeute, wie Jaspers in seiner Antwort an seine Kritiker klarstellte: "Nunmehr gilt es als gleichgültig, einst Nationalsozialist gewesen zu sein." Schließlich wertete Jaspers die Wahl Kiesingers auch als Symptom einer drastischen Fehlentwicklung seit 1945. Die auf schwachen Füßen stehende demokratische Kultur der Bundesrepublik sei mit der Bildung der Großen Koalition endgültig dahin. Nur die "politisch uneinsichtigen Deutschen" würden Westdeutschland noch als eine Demokratie bezeichnen. Die Bildung der Großen Koalition habe die parlamentarische Opposition sinnlos gemacht und stelle den entscheidenden Schritt zur "Politiker-Diktatur" dar.
Mit letzterer Prognose erwies sich der Philosoph als wenig hellsichtiger Analytiker. Die Demokratie war zwischen 1966 und 1969 nicht in Gefahr. Dennoch illustriert sein Standpunkt eindrücklich die erstaunlich nervöse Stimmung, die noch Ende der sechziger Jahre in der Bundesrepublik herrschte, als eine von Diktatur, Weltkrieg und Völkermord tief traumatisierte Gesellschaft nur vordergründig zur Normalität gefunden hatte. Vor diesem Hintergrund wird Jaspers' Reaktion verständlich, zumal die Große Koalition mit dem als NS-Gesetze diffamierten Projekt der Reform des inneren Notstandes viele Intellektuelle in einen permanenten Alarmzustand versetzt hatte. Als nicht untypischer Repräsentant der kritischen Intelligenz der sechziger Jahre interpretierte Jaspers Kiesingers Kanzlerschaft als symbolischen Schlußstrich unter den Nationalsozialismus. Sie schien das Tüpfelchen auf dem "i" der Elitenrestauration zu bedeuten.
Entgangen war Jaspers, daß jene um 1905 geborene, hochbelastete Generation Kiesingers in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren die Altersgrenze erreichte und das Personalproblem sich just in dem Augenblick entschärfte, als die Skandalisierung ihrem Höhepunkt zustrebte. Ebenso übersahen die Kritiker, was Bauer in seiner Apologie nahelegte: daß Kiesingers ambivalente Erfahrungen vor 1945 ihn nicht nur emphatisch für die demokratische Reorientierung eintreten ließen, sondern gegen alle totalitären Anfechtungen endgültig immunisierten.
Eine politische Biographie des dritten Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland wird sich mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob Jaspers und andere recht hatten, als sie Kiesinger unter die alten Nazis rückten, oder ob eher Wickert zuzustimmen ist, der diesen Vorwurf für einen groben Fehler, ja, im Falle der zu Berühmtheit gelangten Angriffe von Beate Klarsfeld, für "eine niederträchtige Beleidigung" hielt. Tatsächlich hatte das von Jaspers zur Begründung seiner Angriffe gegen Kiesinger ins Feld geführte Arisierungsgeschäft weder stattgefunden, noch war Kiesinger an den Planungen dafür beteiligt gewesen, wenn er auch davon vermutlich Kenntnis hatte. Bei genauer Lektüre des entsprechenden Dokuments wäre es Jaspers aufgefallen. Er verließ sich jedoch in seinem Urteil auf einen im Januar 1967 in den Blättern für deutsche und internationale Politik publizierten Artikel, in dem Kiesinger als "Schreibtischtäter" und Drahtzieher eines Arisierungsgeschäfts denunziert worden war und in dem ihm Äußerungen eines anderen zugeschrieben wurden.
Pikanterweise war der Autor dieses Artikels, Friedhelm Baukloh, kein Linker, wie der Publikationsort nahelegt, sondern der langjährige Kulturredakteur der katholischen, CDU-nahen Zeitung Echo der Zeit, der Anfang 1967 zum Spiegel gewechselt war. Er galt als Journalist, der Kiesingers Konkurrenten um das Kanzleramt, Gerhard Schröder, freundlich gesinnt war. Baukloh wiederum stützte sich auf das noch unveröffentlichte Manuskript eines Buches von Reimund Schnabel, einem ehemaligen Mitarbeiter des Bayerischen Rundfunks, der sich in den sechziger Jahren in die DDR abgesetzt hatte und der nun sein Werk über den gewerkschaftseigenen Wiener Europa-Verlag lancierte. Der kritische Intellektuelle Jaspers bediente sich also der Darstellung eines CDU-Dissidenten, der sich auf ein Produkt Ostberliner Propaganda stützte, das aus politischen Gründen ein Zerrbild des historischen Kiesinger zeichnete.
Was auch immer an den Vorwürfen gegen Kiesinger zutraf oder nicht und wie komplex sich die Hintergründe im einzelnen gestalteten: In seiner Zeit und seither im kollektiven Gedächtnis gilt Kiesinger, neben Globke, Lübke und Oberländer, als eine paradigmatische Figur, an der sich das Fortwirken nationalsozialistisch belasteter Eliten in der frühen Bundesrepublik schlaglichtartig aufzeigen läßt. Daher stellt sich die angesichts fehlender, eindeutig historischer Maßstäbe nicht leicht zu beantwortende Frage, wie er im Vergleich zu anderen westdeutschen Spitzenpolitikern abschnitt, die ebenfalls keine hochrangigen NS-Funktionäre gewesen waren, aber doch auch, meist als Soldaten, im Dienst des NS-Regimes gestanden hatten.
Mit der rühmlichen Ausnahme von Willy Brandt war unter den ersten Bundeskanzlern und Bundespräsidenten kein einziger, der Deutschland nach 1933 verlassen hatte und darob nicht Kompromisse geschlossen hätte. Für Kiesingers Karriere wäre es im Rückblick vermutlich das Beste gewesen,
er hätte Deutschland, wie er es Mitte der dreißiger Jahre tatsächlich beabsichtigte, den Rücken gekehrt. Nur: Als Remigrant hätte er es wohl kaum an die Spitze seiner Partei gebracht. Insofern ist außer Brandt nur Adenauer von dem generellen Befund der Involvierung mit dem Regime auszunehmen. Als führender Zentrumspolitiker der zwanziger Jahre wurde Adenauer vom NS-Regime als Gegner wahrgenommen und verfemt, wodurch er zu einem gefährdeten Personenkreis gehörte.
Schon bei Theodor Heuss wird es kompliziert. Zwar gehörte der angesehene Liberale später ins Umfeld des südwestdeutschen Widerstands. Doch stimmt der Reichstagsabgeordnete Heuss, mit allen inneren Vorbehalten, im März 1933 dem sogenannten Ermächtigungsgesetz zu, dem vielleicht wichtigsten frühen Schritt zur Konsolidierung der Herrschaft Hitlers. Ludwig Erhard war als Wirtschaftsexperte in Beraterstäben des "Dritten Reiches" tätig. Heinrich Lübke war zwar als Gegner des Regimes 20 Monate eingekerkert worden, zeichnete dann aber als Mitarbeiter der Baugruppe Schlempp in Peenemünde und weiteren Orten für die Beschäftigung von Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen mitverantwortlich. Der einer jüngeren Generation als Kiesinger und Lübke zugehörige Walter Scheel wurde Oberleutnant der Luftwaffe und 1942 Mitglied der NSDAP. Karl Carstens, der als Leutnant bei der Flakartillerie seinen Kriegsdienst leistete, hatte, nach eigener Aussage, "unter Druck", einen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt, während Helmut Schmidt als Offizier "widerwillig und doch pflichtgetreu" in der Wehrmacht diente.
Zugespitzt läßt sich formulieren, daß sie alle, ob freiwillig oder, und das sei betont, unfreiwillig, dem säkularen Verbrechen den Rücken freihielten. Selbst im Falle von Gustav Heinemann, dem dritten Bundespräsidenten, der zu den führenden Mitgliedern der Bekennenden Kirche gehörte, ist zu konstatieren, daß er, sicher gegen seinen Wunsch, als Bergwerksdirektor die deutschen Rüstungsanstrengungen unterstützte. Interessant ist der Fall des Bundeswirtschaftsministers Karl Schiller, der als NSDAP-Mitglied und Vordenker der NS-Arbeitsmarktpolitik neben dem Kanzler als das am stärksten nationalsozialistisch belastete Mitglied des Kabinetts der Großen Koalition galt. Er spielte im Bundestagswahlkampf 1969 auf seiten der SPD eine zentrale Rolle, ohne daß seine NS-Vergangenheit in nennenswertem Umfang angesprochen worden wäre. Bis heute wurde Schiller nicht in die Ahnengalerie der Globke, Oberländer, Lübke, Kiesinger eingereiht. Auf die Einseitigkeit ihrer Kampagne gegen Kiesinger angesprochen, meinte Beate Klarsfeld im Dezember 1968: "Ich würde mich schrecklich freuen, wenn jemand auch mal den Professor Schiller ohrfeigen würde. Das ist auch so ein Sozialist, der aus dem Nationalsozialismus gekommen ist."
Vermutlich wußte es Karl Jaspers nicht, doch viele Angriffe auf Kiesinger hatten eine parteipolitische und eine innerparteiliche Dimension. Im Rahmen einer politischen Biographie gilt es nachdrücklich darauf hinzuweisen. Die erste größere Kontroverse um Kiesingers Vergangenheit brach bezeichnenderweise auf dem Gründungsparteitag der Bundes-CDU in Goslar 1950 aus, als Kiesingers Kandidatur für das Amt des CDU-Generalsekretärs von innerparteilichen Gegnern Adenauers, als dessen "junger Mann" er galt, mit geschichtspolitischen Argumenten gestoppt wurde. Dieses Muster setzte sich an weiteren Stationen seiner politischen Laufbahn fort, wenn sie auch niemals die gleiche Intensität und öffentliche Resonanz erreichten wie schließlich die Angriffe der Jahre 1968/69, als die außerparlamentarische Protestbewegung im Zenit stand. Es war auch kein Zufall, daß die ersten kritischen Stimmen, die Anfang November 1966 Zweifel an Kiesingers Eignung zum Bundeskanzler weckten, nicht von der kritischen Intelligenz stammten, auch nicht aus der DDR, sondern aus den eigenen Reihen. Dagegen hielt sich der künftige Koalitionspartner, die SPD, auffallend zurück. Vergangenheit, das war eben immer auch ein politisches Thema in einem sehr elementaren Sinne, nämlich Instrument des Machtkampfes.Es liegt also nahe, in den Kontroversen um Kiesinger mehr als ein Fallbeispiel einer geschichtskulturellen Selbstverständigung zu sehen. Der Fall Kiesinger wirft auch die Frage nach den politischen Motiven der außerparlamentarischen Kritiker der sechziger Jahre auf, denen es neben Vergangenheitsbewältigung vermutlich auch um Tagespolitik ging. Insofern greift diese Untersuchung den von dem Heidelberger Zeithistoriker Edgar Wolfrum geprägten Begriff der Geschichtspolitik auf und erweitert ihn um einen machtpolitischen Aspekt. Während unter Geschichtspolitik die öffentliche Konstruktion von Geschichtsbildern und die damit einhergehende Auseinandersetzung um westdeutsche Identität verstanden wird, geht es hier um mehr.
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Autoren-Porträt von Philipp Gassert
Philipp Gassert, geboren 1965, ist Wissenschaftlicher Assistent am Historischen Seminar der Universität Heidelberg. Er hat zahlreiche Publikationen zu den deutsch-amerikanischen Beziehungen im 20. Jahrhundert und zur westdeutschen Zeitgeschichte verfaßt, darunter "Amerika im Dritten Reich" (1996).
Bibliographische Angaben
- Autor: Philipp Gassert
- 2006, 894 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen, Maße: 15,6 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: DVA
- ISBN-10: 3421058245
- ISBN-13: 9783421058249
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