Bis ans Ende der Welt / Kyria & Reb Bd.1
Im Jahr 2125 ist das Vereinigte Europa zu einem Überwachungsstaat geworden. Kyria verbündet sich mit dem Rebellen Reb und flieht. Doch Abtrünnige werden mit künstlichen Seuchen bedroht. Und die Verfolger sind Kyria und Reb schon auf der Spur.
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Produktinformationen zu „Bis ans Ende der Welt / Kyria & Reb Bd.1 “
Im Jahr 2125 ist das Vereinigte Europa zu einem Überwachungsstaat geworden. Kyria verbündet sich mit dem Rebellen Reb und flieht. Doch Abtrünnige werden mit künstlichen Seuchen bedroht. Und die Verfolger sind Kyria und Reb schon auf der Spur.
Klappentext zu „Bis ans Ende der Welt / Kyria & Reb Bd.1 “
Das Vereinigte Europa im Jahr 2125 ist eine Welt der kompletten Überwachung. Alles geschieht nur zum Besten der Bürger, sagt Kyrias Mutter, eine hochrangige Politikerin des perfekt gesteuerten Systems "New Europe". Doch die 17-jährige Kyria möchte endlich erfahren, wie es ist, sich frei zu fühlen. Als sie in Reb, einem jungen Rebellen aus dem Untergrund, einen Verbündeten findet, fliehen die beiden auf abenteuerliche Weise aus New Europe und gelangen in ein fernes Reservat. Dort haben sich die Menschen ein bäuerliches Leben wie in längst vergangenen Zeiten bewahrt. Aber schon bald sind die Verfolger Kyria und Reb auf der Spur. Und das ist nicht die einzige Gefahr, denn alle, die sich der Macht von New Europe entziehen, werden von künstlich ausgelösten Seuchen bedroht. Auch Kyria gerät in den Verdacht, die friedliebenden Menschen des Reservats mit einer Masernepidemie vernichten zu wollen. Zum Glück hat sie Freunde an ihrer Seite - und einen jungen Rebellen, der ihr Herz berührt ...
Lese-Probe zu „Bis ans Ende der Welt / Kyria & Reb Bd.1 “
Kyria & Reb - Bis ans Ende der Welt von Andrea SchachtGEBURTSTAGSFEIER
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Über den großen Wandbildschirm liefen im Halbdunkel schrei- ende Menschen. Ein Scheinwerfer schwenkte seinen grellen Strahl durch die Gasse, Blaulicht zuckte über die uniformierten Amazonen, die mit gezogenen Waffen einige zerlumpte Männer verfolgten.
Über das Knattern der beiden Hubschrauber hinweg kommentierte die ölige Stimme des Reporters das Geschehen.
»Den Einsatzkräften ist es gelungen, die gewalttätigen Mitglieder der Subcultura zu vertreiben. Doch es hat Opfer gegeben.«
Die Kamera schwenkte auf zwei Männer, die an einer Hauswand lehnten und von Sanitäterinnen versorgt wurden.
Das Gesicht des Reporters, die Stirn in ernste Falten gelegt, schob sich in Großaufnahme vor die Szene.
»Unsere tapferen Helden aus der Civitas haben die junge Frau vor den Übergriffen der Ausgestoßenen beschützt. Sie wird soeben in ärztliche Behandlung übergeben. Leider kann ich Ihnen nicht berichten, in welchem Zustand sie sich befindet, doch ich fürchte, er ist ernst.«
Sirenen heulten, eine Ambulanz entfernte sich.
Wieder zeigte man die Straßenszene. Noch immer flohen zerlumpte, magere Gestalten an den Häuserwänden entlang, brachen unter den Schüssen der Amazonen zusammen. Einer von ihnen fiel direkt vor der Kamera auf den Asphalt. Gekrümmt vor Schmerzen, das Gesicht blutüberströmt. Eine Polizistin sprang über ihn und versetzte ihm dabei einen fiesen Tritt in den Magen.
Er krümmte sich noch mehr zusammen. Eine Sanitäterin ging an ihm vorbei, ignorierte ihn. Die Kamera hielt nach wie vor auf ihn, er schien mich direkt anzusehen.
»Mach das aus, Kyria. Das ist ja grässlich!«
Ja, grässlich war es, aber auch irgendwie wichtig. Derartige Bilder wurden höchst selten gesendet.
»Guck weg, Bonnie«, riet ich meiner Freundin und schob sie von dem Bildschirm fort.
Noch immer hielt die Kamera auf den armen Kerl, der verletzt am Boden lag, und noch immer liefen Amazonen und Sanitäterinnen an ihm vorbei, ohne ihm zu helfen.
Ich merkte, dass ich mit den Zähnen knirschte. Delbert hingegen berichtete ungerührt weiter über die Zustände in den Straßen von La Capitale, über die tapferen Civitates und die Banden der Ausgestoßenen, die sich Subcults nannten und für Unruhe sorgten.
Der Junge schien jemanden zu sehen, richtete sich mühsam auf und stöhnte: »Mama!«
»Was für ein Jämmerling!«, schnaubte Bonnie und schaltete das Gerät aus. »Kyria, du musst dich umziehen.«
Bonnie ist meine Duenna - sieben Jahre älter, aber gut einen Kopf kleiner als ich. Zur Feier des Tages - meines Tages! - hatte sie ein blassgelbes Gewand gewählt, das sie zusammen mit ihrem blonden Haargekräusel und ihren riesigen braunen Kulleraugen wie ein flauschiges Küken aussehen ließ. Ich hingegen habe lange Beine und einen langen Hals, und in dem apricotfarbenen Gewand mochte ich gut als ausgewachsener Flamingo durchgehen. Bonnie wuselte um mich herum, zupfte hier, strich dort ein Fältchen glatt und bot mir dann einen Teller mit Krokantpralinen an. Ich erwog kurz, eine zu nehmen, aber das Essen, das wir eben hinter uns hatten, lag mir noch schwer im Magen.
»Später, Bonnie, ich bin pappsatt. Ich fühle mich so, als müsste man mich gleich in den Saal rollen.«
»Aber nein, Kyria. Du bist so schlank. Du könntest ruhig häufiger naschen.«
Schlank war höflich ausgedrückt - eigentlich war ich mager. Aber was bedeutete das schon?
»Dieser Ole ist wieder um dich herumgeschlichen, Kyria. Das solltest du unterbinden«, meinte Bonnie. »Er hat zwar die richtige Herkunft, aber du solltest ihn wirklich meiden, Kyria. Er ist ein solcher Trottel. Schon wie er aussieht.«
»Ich finde ihn nett«, verteidigte ich mich schwach. Bonnie hatte schon häufiger über Ole MacFuga gelästert, und ich wollte jetzt, kurz vor dem großen Auftritt, keine Diskussion mit ihr anfangen.
Das blieb mir auch erspart, denn meine Mutter betrat das Zimmer.
»Bonnie, man hat mir gemeldet, dass sich auf der Aussichtsterrasse an dem Rosenspalier ein Hornissennest gebildet hat. Rufen Sie den Gärtner, er soll es umgehend entfernen. Ich möchte nicht, dass es zu Unannehmlichkeiten während des Feuerwerks kommt.«
»Sofort, Ma Dama Isha. Kyria, wir treffen uns unten.«
Dann war ich mit meiner Mutter allein.
Ich wappnete mich.
»Kyria, heute ist dein großer Tag. Wir wollen unsere Streitereien begraben. Ich bin unglaublich glücklich, dass wir ihn zusammen ...«
Sie drückte die Hand an den Mund, und ihre Augen schwammen in Tränen.
Ich biss mir auf die Lippe. Meine Mutter war für gewöhnlich alles andere als rührselig. Sie war beherrscht und kühl.
Aber ich verstand schon - ja, ich verstand. Die Chancen, dass ich mein achtzehntes Lebensjahr erreichen würde, hatten nicht besonders gut gestanden. Immerhin, mir war es gelungen zu überleben.
»Schon gut, Mama. Streiten wir nicht mehr«, sagte ich versöhnlich und machte einen Schritt auf sie zu.
Sie hatte sich wieder gefasst und lächelte mich an.
Meine Mutter ist eine schöne Frau, und wenn sie lächelt, bezwingt sie die Massen. Ich merkte, dass ich sie ebenfalls anlächelte.
»Es ist ein rauschendes Fest, Kyria. Du hast bei dem Empfang vorhin eine würdige Figur gemacht. Und auch jetzt, auf dem Ball, wirst du unsere Gäste bezaubern. Ganz besonders, hoffe ich, unseren Überraschungsgast.«
»Einen Überraschungsgast? Wen hast du eingeladen? Die Landesmutter persönlich?«
So etwas sähe Ma Dama Isha ähnlich, dachte ich.
»Nein, nein, so hoch habe ich nicht gegriffen. Wart es ab. Und nun, mein Kind ...« Sie öffnete ein Kästchen, das sie in der Hand hielt, und holte eine goldene Kette heraus. »Hier, ein Erinnerungsstück an diesen Tag.«
Ich starrte den Anhänger fassungslos an. Ein goldener Kranz, vielleicht drei Zentimeter im Durchmesser, mit einem komplizierten Muster versehen, darunter ein silbernes Kreuz, verziert mit verschlungenen Linien, ergaben zusammen das Symbol unseres Landes: den Venusspiegel. Viele trugen es, doch in dieser kostbaren Form wohl nur wenige. Zumal dort, wo das Kreuz in den Kreis überging, ein klarweißer Brillant funkelte.
Ein Schauer kroch mir über den Rücken.
»Beug den Kopf, Liebes, damit ich es dir umlegen kann.«
Kühl schmiegte sich das Metall an meine Haut und erwärmte sich langsam.
»Danke, Mama.«
»Bitte, Tochter.«
Ein hauchzarter Kuss berührte meine Wange. Ja, manchmal konnte sie wirklich lieb sein.
Ich schluckte eine kleine Welle der Bitterkeit hinunter - wir mochten für heute Frieden geschlossen haben, aber unsere Auseinandersetzungen waren damit nicht beendet. Um nicht wieder über meine Zukunft zu reden, deutete ich auf den großen Bildschirm.
»Hast du vorhin die Nachrichten gesehen, Mama?«
»Nein, ich hatte keine Zeit. Ist etwas Besonderes geschehen?« »Ein Überfall der Subcults auf eine Frau der Civitas. Und sie haben es live gezeigt.«
»Wie bitte?«
»Ja, Delbert hat vom Tatort aus berichtet.«
»Ungewöhnlich.«
»Dachte ich auch. Und vor allem, Mama, die Sanitäterinnen haben sich nur um die Opfer aus der Civitas gekümmert, die anderen haben sie einfach verletzt auf der Straße liegen lassen. Eine Amazone hat sogar einen von ihnen noch getreten.«
Meine Mutter bekam schmale Lippen. »Ich kümmere mich morgen selbst darum, Kyria. Aber jetzt«, sie schaute auf die Uhr, »vergessen wir das. Es ist dein Tag. Der Ball beginnt!«
Ich folgte ihr bereitwillig. Wenn die Dama Isha sich selbst um die Angelegenheit kümmern wollte, würde es Folgen haben. Auch wenn meine Mutter Ministerin für Wirtschaft und Verkehr war, so hatte sie doch genügend Einfluss, auch in anderen Staatsangelegenheiten gehört zu werden.
Sie zählte zu denen, die alles erreichten, was sie sich vornahmen. Manchmal machte sie mir damit Angst.
Aber nun traten wir auf die Empore, und ein sanfter Schubs von ihr brachte mich dazu, vor ihr die Treppe hinunterzugehen. Besser, zu schweben. Wie Bonnie es mir beigebracht hatte.
Das Orchester spielte eine triumphierende Musik, und alle unsere Gäste sahen zu mir auf und applaudierten. Das Rauschen erfüllte meine Ohren. Ein leichter Schwindel packte mich.
Nicht jetzt, flehte ich. Nicht gerade jetzt. Viel zu oft hatte ich in den vergangenen Monaten unter Schwindel und Übelkeit gelitten. Ich atmete tief ein.
Es ging wieder.
Ole MacFuga lächelte mich an, verbeugte sich. Ich fand, dass er gut aussah mit seinen breiten Schultern, dem langen sandfarbenen Zopf und den geraden dunklen Brauen. Auch wenn für Männer ein ganz anderes Schönheitsideal galt.
Als ich den letzten Absatz der weit geschwungenen Treppe erreicht hatte, hielt mich eine leichte Berührung an der Schulter zurück. Ich blieb stehen, spürte meine Mutter hinter mir.
Die Musik brauste auf und ging in die Hymne der Großen Mutter über.
Verdammt, Ma Dama Isha hatte ihre Freundin überredet, uns zu beglücken.
Ich hätte es wissen müssen!
Acht blumengeschmückte Priesterinnen tanzten mit schwingenden, goldbestickten Gewändern in den Saal. »Pomp and Circumstance« - das wussten sie zu zelebrieren. Begeistert klatschte man im Takt der Musik. Die Tänzerinnen teilten sich schließlich in zwei Gruppen und bildeten ein Spalier, durch das nun Ma Donna Saphrina selbst in den Saal schritt. Hochgewachsen, in einen prachtvollen Ornat gewandet, die goldblonden Haare zu einer Krone geflochten, auf dem Arm ein kleines Kind, das seine Arme um ihren Hals schmiegte - die Inkarnation der Großen Mutter, die Hohepriesterin des Matronentempels.
Sie nahm gelassen die Huldigungen der Menge entgegen und ignorierte die zahlreichen Medienvertreter, die eifrig Aufnahmen von ihr machten.
Vor meinem geistigen Auge erschien wieder das Bild des verletzten Jungen, der blutend auf dem Pflaster lag und um den sich niemand kümmerte.
Erst recht nicht die Große Mutter.
Es war, als würden die Farben verblassen, grau und grämlich werden. Ich hatte meine Erfahrungen mit den Priesterinnen gemacht. Meine Kommentare über sie hatten mir den Ruf eingebracht, eine Zynikerin zu sein.
Insbesondere Bonnie hatte mich schon häufiger als solche getadelt. Sie bewunderte nämlich die Frauen aus dem Tempel, und während sie unten an der Treppe auf mich wartete, strahlte ihr süßes Gesicht vor Begeisterung und Hingabe. Die Handflächen vor der Brust zusammengepresst, verneigte sie sich nun tief, wie alle anderen auch.
Ich hob nur die Rechte zum halben Gruß und senkte ein wenig den Kopf. Mutter hinter mir zischte leise. Aber ich blieb bei dieser Geste, auch wenn sie ungehörig war.
Ma Donna Saphrinas dramatisch geschminkte Augen ruhten auf mir. Sie war zu weit entfernt, als dass ich ihren Ausdruck hätte deuten können. Amüsierte sie die Respektlosigkeit meiner Reverenz, oder war sie empört?
Es war mir egal.
Die Musik erstarb, die Hohepriesterin übergab das Kind auf ihrem Arm einer Frau aus ihrem Gefolge und trat weiter vor. Mutter forderte mich mit einem Stupser auf, die Treppe zu ihr hinabzusteigen. Ich tat es, froh darüber, dass mein Ärger über diesen prunkvollen Auftritt das Schwindelgefühl endgültig vertrieben hatte.
Ich blieb vor der Hohepriesterin stehen und kam nun nicht umhin, die passende, ehrfurchtsvolle Verneigung auszuführen.
Ma Donna Saphrina lächelte und erhob ihre wohlklingende Stimme. Meinen Ehrentag würdigte sie und in vielen Wendungen und Lobpreisungen vor allem das Glück, dass ich ihn bei Gesundheit und voller Freude erleben durfte.
Mir wurde kalt und kälter. Wenn ich um eines wusste, dann um die Zerbrechlichkeit meines Lebens.
Ich war eine Gendefekte. Der Tod lauerte hinter jeder Biegung, heimtückisch und listenreich. Es war nur eine Frage der Zeit, wann er mich holte.
Achtzehn Jahre hatte ich ihm getrotzt - mit Hilfe der ärztlichen Kunst und andauernder Fürsorge.
Die Zukunft - wer mochte wissen, wie lange meine noch währen würde?
Ich hörte nicht, was die Inkarnation der Großen Mutter auf Erden von sich gab. Ich umfasste den Anhänger, der um meinen Hals lag, und versuchte die Wärme darin auf mich überzuleiten, um die düstere Kälte in mir zu vertreiben.
Es gelang nicht.
Was sie aber vertrieb, war der Schock, den Ma Donna Saphrina mir in diesem Augenblick versetzte.
»Und darum, mein liebes Kind, nehmen Wir dich im Tempel der Matronae auf, damit du in Ihrem Dienst dein Leben erfüllst.«
Alles jubelte.
Ich war wie erstarrt.
»Kyria, du musst dich bedanken«, wisperte Mutter hinter mir. »Ich will nicht!«
»Kyria, es ist eine einmalige Chance. Sie nehmen nur zwölf Novizinnen im Jahr auf.«
Bonnie starrte mich an, Ole zeigte eine unbewegte Miene, Saphrina lächelte abwartend.
Wie eine Schlange, die ihr Opfer fixiert.
Ich stammelte »Danke«.
»Besuche Uns übermorgen im Tempel, mein Kind«, erwiderte die Hohepriesterin, und wie auf ein geheimes Zeichen setzte die Musik wieder ein, begannen ihre Priesterinnen zu tanzen, und sie wandte sich dem Ausgang zu.
Ich drehte mich zu meiner Mutter um.
»Darüber reden wir noch«, keuchte ich.
»Später, Kyria.«
Aber ihr Gesichtsausdruck sagte mir, dass die Entscheidung endgültig war. Sie hatte es zusammen mit ihrer Freundin Saphrina ausgemacht.
Ich saß in der Falle.
In einer mehr.
»Der Ball ist eröffnet«, verkündete meine Mutter, und einer der vielen jungen Männer verbeugte sich vor mir, um mich zum ersten Tanz zu holen. Vorsichtig und langsam, als wäre ich aus Glas, führte er mich durch das Rund, bis sich andere Paare anschlossen. Dann brachte er mich zurück an den blumengeschmückten Tisch, an dem schon Bonnie wartete. Sie strahlte mich an.
»Was für ein Angebot, Kyria! Ich gäbe Jahre meines Lebens, um nur in einem der minderen Tempel dienen zu dürfen.«
»Unsere Vorlieben sind da sehr unterschiedlich«, sagte ich trocken. Ich wollte nicht darüber reden. Darum war ich froh, als ein weiterer junger Mann um einen Tanz bat.
Mama hatte die Creme der Electi eingeladen, Töchter und Söhne der einflussreichen Frauen in der Capitale. Seide schimmerte, Schmuck glitzerte, Melodien füllten die duftgeschwängerten Räume. Nach zwei weiteren Tänzen war der Schwindel wieder da, und ich war froh, dass Ole sich zu mir gesellte.
»Gehen wir auf die Terrasse, Junora Kyria. Die Luft wird Sie erfrischen.«
»Ja, danke. Es ist stickig hier drinnen.«
Was nicht ganz richtig war, aber ich brauchte Abstand von all den Menschen. Mochte sein, dass ich zu anfällig war. Mich viel zu schnell aufregte, zu empfindlich war. Aber die Bilder der gejagten Subcults wollten mir nicht aus dem Sinn, und das Angebot der Hohepriesterin drückte mir wie ein Bleiring die Seele zusammen.
Ole öffnete eine der Fenstertüren und ließ mir den Vortritt. Der Blick von der Terrasse war wie immer großartig. Unser Haus gehörte zu den Main-Logen, zu unseren Füßen schimmerte der Fluss, in den Parks und Gärten am gegenüberliegenden Ufer blinzelten unter Geäst und Lauben Feenlichter.
»Was bedrückt Sie, Junora Kyria?«
»Was? Oh, Entschuldigung, Junor Ole. Es ist einfach nur so überwältigend, das alles.«
»Die Hohepriesterin ist überwältigend. Hat ihr Angebot Sie überwältigt?«
Er war wohl scharfsichtiger, als Bonnie vermutete. Sicher, bisher hatten wir nur gesellschaftliche Floskeln ausgetauscht, und besonders redegewandt war er mir nicht erschienen. Aber er hatte eine nette Art zuzuhören.
»Es kam ... überraschend.«
Er nickte.
Hinter uns raschelten die Vorhänge, ich sah über die Schulter. Bonnie spähte zu uns hin und huschte dann auf die Terrasse.
»Du solltest ein Tuch umlegen, Kyria. Die Nacht ist kühl.«
»Dann hol mir doch eines aus meinem Zimmer, Bonnie.«
Sie stutzte. Gewöhnlich erteilte man seiner Duenna keine Befehle. Aber mir war das im Moment egal. Ich fügte lediglich ein »Bitte« hinzu. Sie machte eine schnippische kleine Verbeugung und ging in den Saal zurück. Eine Duenna sollte vor allem der ihr anvertrauen jungen Dame höfliche Manieren und einen geschliffenen gesellschaftlichen Umgang beibringen. Gerade eben war sie damit gescheitert.
Ole und ich schwiegen einen Moment, dann murmelte ich entschuldigend: »Bonnie schätzt es nicht, wenn ich mich mit Ihnen unterhalte.«
»Weil ich nicht standesgemäß bin?«
»Das sind Sie. Nur Ihre Beschäftigung ... «
»Weil ich als Stallbursche bei den Wagenlenkern arbeite? Rieche ich nach Pferd?«
Es lag ein kleines Lachen in seiner Stimme, das mir gefiel. Also schniefte ich einmal undamenhaft und schüttelte den Kopf.
»Es ist eine sehr ehrenvolle Aufgabe, Junora Kyria. Viele von uns stammen aus guten Familien.«
»Ich weiß, und die Wagenlenker sind samt und sonders Berühmtheiten.«
»Besuchen Sie manchmal die Rennen?«
»Bisher nicht, es ist ein Sport für Männer.«
Ich wollte ihm nicht gerne erklären, dass ich mich eigentlich vor Pferden fürchtete, und zum Glück kam Bonnie zurück. Sie hatte sich sehr beeilt, schon trat sie wieder zu mir und legte mir den breiten aprikosenfarbenen Seidenschal um die bloßen Schultern. Ja, sie hatte recht, die Tunika, am Hals hochgeschlossen, doch ohne Ärmel, war zu leicht für den Maiabend.
»Besser, du gehst wieder rein, Kyria. Man erwartet von dir, dass du mit den Gästen plauderst.«
»Das Feuerwerk beginnt in wenigen Minuten«, entgegnete Ole. »Ich führe Junora Kyria zu einem guten Aussichtsplatz.«
»Oh, ja, richtig. Dann geht rüber zu der Laube, von dort hat man den besten Blick über das Wasser.«
Natürlich heftete sie sich an meine Fersen, und kurz darauf betraten auch die anderen Gäste die Terrasse. Unten am Ufer entzündete man die Raketen, am sternenklaren Himmel erblühten feurige Blumen. Funken stiebten aus bengalischen Feuern bis zu uns hoch, und aus den Augenwinkeln sah ich einen direkt neben mir im Laub landen.
Plötzlich schwirrte die Luft um mich herum.
Etwas krabbelte an meinem Arm. Ich schlug danach.
Es stach. Und es brannte.
Es krabbelte noch mehr.
Ich schrie.
...
© 2011 INK verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
Über den großen Wandbildschirm liefen im Halbdunkel schrei- ende Menschen. Ein Scheinwerfer schwenkte seinen grellen Strahl durch die Gasse, Blaulicht zuckte über die uniformierten Amazonen, die mit gezogenen Waffen einige zerlumpte Männer verfolgten.
Über das Knattern der beiden Hubschrauber hinweg kommentierte die ölige Stimme des Reporters das Geschehen.
»Den Einsatzkräften ist es gelungen, die gewalttätigen Mitglieder der Subcultura zu vertreiben. Doch es hat Opfer gegeben.«
Die Kamera schwenkte auf zwei Männer, die an einer Hauswand lehnten und von Sanitäterinnen versorgt wurden.
Das Gesicht des Reporters, die Stirn in ernste Falten gelegt, schob sich in Großaufnahme vor die Szene.
»Unsere tapferen Helden aus der Civitas haben die junge Frau vor den Übergriffen der Ausgestoßenen beschützt. Sie wird soeben in ärztliche Behandlung übergeben. Leider kann ich Ihnen nicht berichten, in welchem Zustand sie sich befindet, doch ich fürchte, er ist ernst.«
Sirenen heulten, eine Ambulanz entfernte sich.
Wieder zeigte man die Straßenszene. Noch immer flohen zerlumpte, magere Gestalten an den Häuserwänden entlang, brachen unter den Schüssen der Amazonen zusammen. Einer von ihnen fiel direkt vor der Kamera auf den Asphalt. Gekrümmt vor Schmerzen, das Gesicht blutüberströmt. Eine Polizistin sprang über ihn und versetzte ihm dabei einen fiesen Tritt in den Magen.
Er krümmte sich noch mehr zusammen. Eine Sanitäterin ging an ihm vorbei, ignorierte ihn. Die Kamera hielt nach wie vor auf ihn, er schien mich direkt anzusehen.
»Mach das aus, Kyria. Das ist ja grässlich!«
Ja, grässlich war es, aber auch irgendwie wichtig. Derartige Bilder wurden höchst selten gesendet.
»Guck weg, Bonnie«, riet ich meiner Freundin und schob sie von dem Bildschirm fort.
Noch immer hielt die Kamera auf den armen Kerl, der verletzt am Boden lag, und noch immer liefen Amazonen und Sanitäterinnen an ihm vorbei, ohne ihm zu helfen.
Ich merkte, dass ich mit den Zähnen knirschte. Delbert hingegen berichtete ungerührt weiter über die Zustände in den Straßen von La Capitale, über die tapferen Civitates und die Banden der Ausgestoßenen, die sich Subcults nannten und für Unruhe sorgten.
Der Junge schien jemanden zu sehen, richtete sich mühsam auf und stöhnte: »Mama!«
»Was für ein Jämmerling!«, schnaubte Bonnie und schaltete das Gerät aus. »Kyria, du musst dich umziehen.«
Bonnie ist meine Duenna - sieben Jahre älter, aber gut einen Kopf kleiner als ich. Zur Feier des Tages - meines Tages! - hatte sie ein blassgelbes Gewand gewählt, das sie zusammen mit ihrem blonden Haargekräusel und ihren riesigen braunen Kulleraugen wie ein flauschiges Küken aussehen ließ. Ich hingegen habe lange Beine und einen langen Hals, und in dem apricotfarbenen Gewand mochte ich gut als ausgewachsener Flamingo durchgehen. Bonnie wuselte um mich herum, zupfte hier, strich dort ein Fältchen glatt und bot mir dann einen Teller mit Krokantpralinen an. Ich erwog kurz, eine zu nehmen, aber das Essen, das wir eben hinter uns hatten, lag mir noch schwer im Magen.
»Später, Bonnie, ich bin pappsatt. Ich fühle mich so, als müsste man mich gleich in den Saal rollen.«
»Aber nein, Kyria. Du bist so schlank. Du könntest ruhig häufiger naschen.«
Schlank war höflich ausgedrückt - eigentlich war ich mager. Aber was bedeutete das schon?
»Dieser Ole ist wieder um dich herumgeschlichen, Kyria. Das solltest du unterbinden«, meinte Bonnie. »Er hat zwar die richtige Herkunft, aber du solltest ihn wirklich meiden, Kyria. Er ist ein solcher Trottel. Schon wie er aussieht.«
»Ich finde ihn nett«, verteidigte ich mich schwach. Bonnie hatte schon häufiger über Ole MacFuga gelästert, und ich wollte jetzt, kurz vor dem großen Auftritt, keine Diskussion mit ihr anfangen.
Das blieb mir auch erspart, denn meine Mutter betrat das Zimmer.
»Bonnie, man hat mir gemeldet, dass sich auf der Aussichtsterrasse an dem Rosenspalier ein Hornissennest gebildet hat. Rufen Sie den Gärtner, er soll es umgehend entfernen. Ich möchte nicht, dass es zu Unannehmlichkeiten während des Feuerwerks kommt.«
»Sofort, Ma Dama Isha. Kyria, wir treffen uns unten.«
Dann war ich mit meiner Mutter allein.
Ich wappnete mich.
»Kyria, heute ist dein großer Tag. Wir wollen unsere Streitereien begraben. Ich bin unglaublich glücklich, dass wir ihn zusammen ...«
Sie drückte die Hand an den Mund, und ihre Augen schwammen in Tränen.
Ich biss mir auf die Lippe. Meine Mutter war für gewöhnlich alles andere als rührselig. Sie war beherrscht und kühl.
Aber ich verstand schon - ja, ich verstand. Die Chancen, dass ich mein achtzehntes Lebensjahr erreichen würde, hatten nicht besonders gut gestanden. Immerhin, mir war es gelungen zu überleben.
»Schon gut, Mama. Streiten wir nicht mehr«, sagte ich versöhnlich und machte einen Schritt auf sie zu.
Sie hatte sich wieder gefasst und lächelte mich an.
Meine Mutter ist eine schöne Frau, und wenn sie lächelt, bezwingt sie die Massen. Ich merkte, dass ich sie ebenfalls anlächelte.
»Es ist ein rauschendes Fest, Kyria. Du hast bei dem Empfang vorhin eine würdige Figur gemacht. Und auch jetzt, auf dem Ball, wirst du unsere Gäste bezaubern. Ganz besonders, hoffe ich, unseren Überraschungsgast.«
»Einen Überraschungsgast? Wen hast du eingeladen? Die Landesmutter persönlich?«
So etwas sähe Ma Dama Isha ähnlich, dachte ich.
»Nein, nein, so hoch habe ich nicht gegriffen. Wart es ab. Und nun, mein Kind ...« Sie öffnete ein Kästchen, das sie in der Hand hielt, und holte eine goldene Kette heraus. »Hier, ein Erinnerungsstück an diesen Tag.«
Ich starrte den Anhänger fassungslos an. Ein goldener Kranz, vielleicht drei Zentimeter im Durchmesser, mit einem komplizierten Muster versehen, darunter ein silbernes Kreuz, verziert mit verschlungenen Linien, ergaben zusammen das Symbol unseres Landes: den Venusspiegel. Viele trugen es, doch in dieser kostbaren Form wohl nur wenige. Zumal dort, wo das Kreuz in den Kreis überging, ein klarweißer Brillant funkelte.
Ein Schauer kroch mir über den Rücken.
»Beug den Kopf, Liebes, damit ich es dir umlegen kann.«
Kühl schmiegte sich das Metall an meine Haut und erwärmte sich langsam.
»Danke, Mama.«
»Bitte, Tochter.«
Ein hauchzarter Kuss berührte meine Wange. Ja, manchmal konnte sie wirklich lieb sein.
Ich schluckte eine kleine Welle der Bitterkeit hinunter - wir mochten für heute Frieden geschlossen haben, aber unsere Auseinandersetzungen waren damit nicht beendet. Um nicht wieder über meine Zukunft zu reden, deutete ich auf den großen Bildschirm.
»Hast du vorhin die Nachrichten gesehen, Mama?«
»Nein, ich hatte keine Zeit. Ist etwas Besonderes geschehen?« »Ein Überfall der Subcults auf eine Frau der Civitas. Und sie haben es live gezeigt.«
»Wie bitte?«
»Ja, Delbert hat vom Tatort aus berichtet.«
»Ungewöhnlich.«
»Dachte ich auch. Und vor allem, Mama, die Sanitäterinnen haben sich nur um die Opfer aus der Civitas gekümmert, die anderen haben sie einfach verletzt auf der Straße liegen lassen. Eine Amazone hat sogar einen von ihnen noch getreten.«
Meine Mutter bekam schmale Lippen. »Ich kümmere mich morgen selbst darum, Kyria. Aber jetzt«, sie schaute auf die Uhr, »vergessen wir das. Es ist dein Tag. Der Ball beginnt!«
Ich folgte ihr bereitwillig. Wenn die Dama Isha sich selbst um die Angelegenheit kümmern wollte, würde es Folgen haben. Auch wenn meine Mutter Ministerin für Wirtschaft und Verkehr war, so hatte sie doch genügend Einfluss, auch in anderen Staatsangelegenheiten gehört zu werden.
Sie zählte zu denen, die alles erreichten, was sie sich vornahmen. Manchmal machte sie mir damit Angst.
Aber nun traten wir auf die Empore, und ein sanfter Schubs von ihr brachte mich dazu, vor ihr die Treppe hinunterzugehen. Besser, zu schweben. Wie Bonnie es mir beigebracht hatte.
Das Orchester spielte eine triumphierende Musik, und alle unsere Gäste sahen zu mir auf und applaudierten. Das Rauschen erfüllte meine Ohren. Ein leichter Schwindel packte mich.
Nicht jetzt, flehte ich. Nicht gerade jetzt. Viel zu oft hatte ich in den vergangenen Monaten unter Schwindel und Übelkeit gelitten. Ich atmete tief ein.
Es ging wieder.
Ole MacFuga lächelte mich an, verbeugte sich. Ich fand, dass er gut aussah mit seinen breiten Schultern, dem langen sandfarbenen Zopf und den geraden dunklen Brauen. Auch wenn für Männer ein ganz anderes Schönheitsideal galt.
Als ich den letzten Absatz der weit geschwungenen Treppe erreicht hatte, hielt mich eine leichte Berührung an der Schulter zurück. Ich blieb stehen, spürte meine Mutter hinter mir.
Die Musik brauste auf und ging in die Hymne der Großen Mutter über.
Verdammt, Ma Dama Isha hatte ihre Freundin überredet, uns zu beglücken.
Ich hätte es wissen müssen!
Acht blumengeschmückte Priesterinnen tanzten mit schwingenden, goldbestickten Gewändern in den Saal. »Pomp and Circumstance« - das wussten sie zu zelebrieren. Begeistert klatschte man im Takt der Musik. Die Tänzerinnen teilten sich schließlich in zwei Gruppen und bildeten ein Spalier, durch das nun Ma Donna Saphrina selbst in den Saal schritt. Hochgewachsen, in einen prachtvollen Ornat gewandet, die goldblonden Haare zu einer Krone geflochten, auf dem Arm ein kleines Kind, das seine Arme um ihren Hals schmiegte - die Inkarnation der Großen Mutter, die Hohepriesterin des Matronentempels.
Sie nahm gelassen die Huldigungen der Menge entgegen und ignorierte die zahlreichen Medienvertreter, die eifrig Aufnahmen von ihr machten.
Vor meinem geistigen Auge erschien wieder das Bild des verletzten Jungen, der blutend auf dem Pflaster lag und um den sich niemand kümmerte.
Erst recht nicht die Große Mutter.
Es war, als würden die Farben verblassen, grau und grämlich werden. Ich hatte meine Erfahrungen mit den Priesterinnen gemacht. Meine Kommentare über sie hatten mir den Ruf eingebracht, eine Zynikerin zu sein.
Insbesondere Bonnie hatte mich schon häufiger als solche getadelt. Sie bewunderte nämlich die Frauen aus dem Tempel, und während sie unten an der Treppe auf mich wartete, strahlte ihr süßes Gesicht vor Begeisterung und Hingabe. Die Handflächen vor der Brust zusammengepresst, verneigte sie sich nun tief, wie alle anderen auch.
Ich hob nur die Rechte zum halben Gruß und senkte ein wenig den Kopf. Mutter hinter mir zischte leise. Aber ich blieb bei dieser Geste, auch wenn sie ungehörig war.
Ma Donna Saphrinas dramatisch geschminkte Augen ruhten auf mir. Sie war zu weit entfernt, als dass ich ihren Ausdruck hätte deuten können. Amüsierte sie die Respektlosigkeit meiner Reverenz, oder war sie empört?
Es war mir egal.
Die Musik erstarb, die Hohepriesterin übergab das Kind auf ihrem Arm einer Frau aus ihrem Gefolge und trat weiter vor. Mutter forderte mich mit einem Stupser auf, die Treppe zu ihr hinabzusteigen. Ich tat es, froh darüber, dass mein Ärger über diesen prunkvollen Auftritt das Schwindelgefühl endgültig vertrieben hatte.
Ich blieb vor der Hohepriesterin stehen und kam nun nicht umhin, die passende, ehrfurchtsvolle Verneigung auszuführen.
Ma Donna Saphrina lächelte und erhob ihre wohlklingende Stimme. Meinen Ehrentag würdigte sie und in vielen Wendungen und Lobpreisungen vor allem das Glück, dass ich ihn bei Gesundheit und voller Freude erleben durfte.
Mir wurde kalt und kälter. Wenn ich um eines wusste, dann um die Zerbrechlichkeit meines Lebens.
Ich war eine Gendefekte. Der Tod lauerte hinter jeder Biegung, heimtückisch und listenreich. Es war nur eine Frage der Zeit, wann er mich holte.
Achtzehn Jahre hatte ich ihm getrotzt - mit Hilfe der ärztlichen Kunst und andauernder Fürsorge.
Die Zukunft - wer mochte wissen, wie lange meine noch währen würde?
Ich hörte nicht, was die Inkarnation der Großen Mutter auf Erden von sich gab. Ich umfasste den Anhänger, der um meinen Hals lag, und versuchte die Wärme darin auf mich überzuleiten, um die düstere Kälte in mir zu vertreiben.
Es gelang nicht.
Was sie aber vertrieb, war der Schock, den Ma Donna Saphrina mir in diesem Augenblick versetzte.
»Und darum, mein liebes Kind, nehmen Wir dich im Tempel der Matronae auf, damit du in Ihrem Dienst dein Leben erfüllst.«
Alles jubelte.
Ich war wie erstarrt.
»Kyria, du musst dich bedanken«, wisperte Mutter hinter mir. »Ich will nicht!«
»Kyria, es ist eine einmalige Chance. Sie nehmen nur zwölf Novizinnen im Jahr auf.«
Bonnie starrte mich an, Ole zeigte eine unbewegte Miene, Saphrina lächelte abwartend.
Wie eine Schlange, die ihr Opfer fixiert.
Ich stammelte »Danke«.
»Besuche Uns übermorgen im Tempel, mein Kind«, erwiderte die Hohepriesterin, und wie auf ein geheimes Zeichen setzte die Musik wieder ein, begannen ihre Priesterinnen zu tanzen, und sie wandte sich dem Ausgang zu.
Ich drehte mich zu meiner Mutter um.
»Darüber reden wir noch«, keuchte ich.
»Später, Kyria.«
Aber ihr Gesichtsausdruck sagte mir, dass die Entscheidung endgültig war. Sie hatte es zusammen mit ihrer Freundin Saphrina ausgemacht.
Ich saß in der Falle.
In einer mehr.
»Der Ball ist eröffnet«, verkündete meine Mutter, und einer der vielen jungen Männer verbeugte sich vor mir, um mich zum ersten Tanz zu holen. Vorsichtig und langsam, als wäre ich aus Glas, führte er mich durch das Rund, bis sich andere Paare anschlossen. Dann brachte er mich zurück an den blumengeschmückten Tisch, an dem schon Bonnie wartete. Sie strahlte mich an.
»Was für ein Angebot, Kyria! Ich gäbe Jahre meines Lebens, um nur in einem der minderen Tempel dienen zu dürfen.«
»Unsere Vorlieben sind da sehr unterschiedlich«, sagte ich trocken. Ich wollte nicht darüber reden. Darum war ich froh, als ein weiterer junger Mann um einen Tanz bat.
Mama hatte die Creme der Electi eingeladen, Töchter und Söhne der einflussreichen Frauen in der Capitale. Seide schimmerte, Schmuck glitzerte, Melodien füllten die duftgeschwängerten Räume. Nach zwei weiteren Tänzen war der Schwindel wieder da, und ich war froh, dass Ole sich zu mir gesellte.
»Gehen wir auf die Terrasse, Junora Kyria. Die Luft wird Sie erfrischen.«
»Ja, danke. Es ist stickig hier drinnen.«
Was nicht ganz richtig war, aber ich brauchte Abstand von all den Menschen. Mochte sein, dass ich zu anfällig war. Mich viel zu schnell aufregte, zu empfindlich war. Aber die Bilder der gejagten Subcults wollten mir nicht aus dem Sinn, und das Angebot der Hohepriesterin drückte mir wie ein Bleiring die Seele zusammen.
Ole öffnete eine der Fenstertüren und ließ mir den Vortritt. Der Blick von der Terrasse war wie immer großartig. Unser Haus gehörte zu den Main-Logen, zu unseren Füßen schimmerte der Fluss, in den Parks und Gärten am gegenüberliegenden Ufer blinzelten unter Geäst und Lauben Feenlichter.
»Was bedrückt Sie, Junora Kyria?«
»Was? Oh, Entschuldigung, Junor Ole. Es ist einfach nur so überwältigend, das alles.«
»Die Hohepriesterin ist überwältigend. Hat ihr Angebot Sie überwältigt?«
Er war wohl scharfsichtiger, als Bonnie vermutete. Sicher, bisher hatten wir nur gesellschaftliche Floskeln ausgetauscht, und besonders redegewandt war er mir nicht erschienen. Aber er hatte eine nette Art zuzuhören.
»Es kam ... überraschend.«
Er nickte.
Hinter uns raschelten die Vorhänge, ich sah über die Schulter. Bonnie spähte zu uns hin und huschte dann auf die Terrasse.
»Du solltest ein Tuch umlegen, Kyria. Die Nacht ist kühl.«
»Dann hol mir doch eines aus meinem Zimmer, Bonnie.«
Sie stutzte. Gewöhnlich erteilte man seiner Duenna keine Befehle. Aber mir war das im Moment egal. Ich fügte lediglich ein »Bitte« hinzu. Sie machte eine schnippische kleine Verbeugung und ging in den Saal zurück. Eine Duenna sollte vor allem der ihr anvertrauen jungen Dame höfliche Manieren und einen geschliffenen gesellschaftlichen Umgang beibringen. Gerade eben war sie damit gescheitert.
Ole und ich schwiegen einen Moment, dann murmelte ich entschuldigend: »Bonnie schätzt es nicht, wenn ich mich mit Ihnen unterhalte.«
»Weil ich nicht standesgemäß bin?«
»Das sind Sie. Nur Ihre Beschäftigung ... «
»Weil ich als Stallbursche bei den Wagenlenkern arbeite? Rieche ich nach Pferd?«
Es lag ein kleines Lachen in seiner Stimme, das mir gefiel. Also schniefte ich einmal undamenhaft und schüttelte den Kopf.
»Es ist eine sehr ehrenvolle Aufgabe, Junora Kyria. Viele von uns stammen aus guten Familien.«
»Ich weiß, und die Wagenlenker sind samt und sonders Berühmtheiten.«
»Besuchen Sie manchmal die Rennen?«
»Bisher nicht, es ist ein Sport für Männer.«
Ich wollte ihm nicht gerne erklären, dass ich mich eigentlich vor Pferden fürchtete, und zum Glück kam Bonnie zurück. Sie hatte sich sehr beeilt, schon trat sie wieder zu mir und legte mir den breiten aprikosenfarbenen Seidenschal um die bloßen Schultern. Ja, sie hatte recht, die Tunika, am Hals hochgeschlossen, doch ohne Ärmel, war zu leicht für den Maiabend.
»Besser, du gehst wieder rein, Kyria. Man erwartet von dir, dass du mit den Gästen plauderst.«
»Das Feuerwerk beginnt in wenigen Minuten«, entgegnete Ole. »Ich führe Junora Kyria zu einem guten Aussichtsplatz.«
»Oh, ja, richtig. Dann geht rüber zu der Laube, von dort hat man den besten Blick über das Wasser.«
Natürlich heftete sie sich an meine Fersen, und kurz darauf betraten auch die anderen Gäste die Terrasse. Unten am Ufer entzündete man die Raketen, am sternenklaren Himmel erblühten feurige Blumen. Funken stiebten aus bengalischen Feuern bis zu uns hoch, und aus den Augenwinkeln sah ich einen direkt neben mir im Laub landen.
Plötzlich schwirrte die Luft um mich herum.
Etwas krabbelte an meinem Arm. Ich schlug danach.
Es stach. Und es brannte.
Es krabbelte noch mehr.
Ich schrie.
...
© 2011 INK verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
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Autoren-Porträt von Andrea Schacht
Andrea Schacht hat lange Jahre als Wirtschaftsingenieurin gearbeitet, bis sie sich entschloss, ihre wahre Leidenschaft, das Schreiben, zu ihrem Beruf zu machen. Vor allem mit ihren historischen Romanen um die Kölner Begine Almut Bossart erlangte sie große Bekanntheit. Ihre Bücher stehen regelmäßig auf den Bestsellerlisten.
Bibliographische Angaben
- Autor: Andrea Schacht
- Altersempfehlung: 12 - 15 Jahre
- 2012, 384 Seiten, Maße: 15,3 x 21,6 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Ink
- ISBN-10: 3863960165
- ISBN-13: 9783863960162
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