Labyrinth der Leidenschaft
Roman. Deutsche Erstausgabe
In Kindertagen verband Abigail Smart eine zärtliche Freundschaft mit Valerian Danford, bis Abigails gefährliches Geheimnis sie zu erbitterten Feinden werden lässt. Als sie sich nach Jahren wieder begegnen, versucht Abigail nach Kräften,...
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Produktinformationen zu „Labyrinth der Leidenschaft “
In Kindertagen verband Abigail Smart eine zärtliche Freundschaft mit Valerian Danford, bis Abigails gefährliches Geheimnis sie zu erbitterten Feinden werden lässt. Als sie sich nach Jahren wieder begegnen, versucht Abigail nach Kräften, die knisternde Leidenschaft zwischen ihnen zu ignorieren. Doch Valerian gerät in tödliche Gefahr, aus der nur Abigail ihn befreien kann, und sie erkennt, dass sie etwas an diesen Mann bindet, das stärker ist als die Vergangenheit ...
Klappentext zu „Labyrinth der Leidenschaft “
In Kindertagen verband Abigail Smart eine zärtliche Freundschaft mit Valerian Danford, bis Abigails gefährliches Geheimnis sie zu erbitterten Feinden werden lässt. Als sie sich nach Jahren wieder begegnen, versucht Abigail nach Kräften, die knisternde Leidenschaft zwischen ihnen zu ignorieren. Doch Valerian gerät in tödliche Gefahr, aus der nur Abigail ihn befreien kann, und sie erkennt, dass sie etwas an diesen Mann bindet, das stärker ist als die Vergangenheit ...
Lese-Probe zu „Labyrinth der Leidenschaft “
Labyrinth der Leidenschaft von Anne MalloryAus dem Amerikanischen von Eva Malsch
1
Er war eine herrliche Kreatur. Dunkel und bedrohlich, sowohl
hinsichtlich seiner äußeren Erscheinung als auch seiner
Aura. Die meisten Leute würden Valerian Danforth,
Lord Rainewood, mit einem kraftvollen, geschmeidigen
Raubtier vergleichen - mit einem Panther oder einem Wolf.
Aber Abigail Smart hielt ihn für einen aufgeblasenen Widerling.
»Idiot«, murmelte sie auf einem fast menschenleeren Teil
des Balkons über dem Gedränge im Ballsaal, während er
sich elegant und voll unerschütterlichem Selbstvertrauen ihren
Schritten anpasste.
»Missgelaunte Xanthippe«, lautete die lässige Antwort.
Sie beobachtete die Tanzpaare, die anmutig über das Parkett
glitten, ohne zu ahnen, welches Drama sich über ihren
Köpfen abspielte. Natürlich merkten die Mitglieder der
vornehmen Londoner Gesellschaft niemals, wie sich Abigails
Nerven in Rainewoods Nähe anspannten.
Dafür sorgte er.
Denn obwohl er absichtlich an ihrer Seite dahinschlenderte
und sie provozierte, würde jeder, der nach oben
schaute, einfach glauben, dass Seine Lordschaft nur rein zufällig
neben ihr den Balkon entlangging. Neben einem kleinen
Niemand, seiner erhabenen Position gar nicht würdig.
»Lausiger, elender Tunichtgut, miserabler, gottverdammter Esel.«
»Nun revidiere ich meinen soeben geäußerten Kommen-
tar«, entgegnete er mit einer Stimme, die weicher erschien
als der edelste Whisky und doppelt so gefährlich, falls man
das Getränk zu unbesonnen konsumierte. »Nicht einmal
eine Xanthippe wäre so grausam.«
... mehr
Als würde ihn die Konversation langweilen, zog er eine
Taschenuhr hervor, um festzustellen, wie spät es war. Nur
die zuckenden Finger, die den Deckel aufschnappen ließen,
erweckten einen anderen Eindruck. Mit einer geschickten
Drehung des Handgelenks schloss er die Uhr wieder, dann
verschwand sie in der Brusttasche seines teuren Jacketts.
Ein langer Blick unter noch längeren Wimpern forderte
Abigail zu einer Reaktion heraus, während sie den ziellosen
Rundgang fortsetzten. Zu Rainewoods federnden Schritten
passte die arrogante Haltung seines Kopfs, den er ein wenig
seitlich neigte. Vielleicht konnte er sich nicht entscheiden,
ob er den vorpreschenden Jäger oder den König auf seinem
Thron mimen sollte. Nach Abigails Meinung eignete
er sich für beide Rollen. Sie schaute wieder nach unten und
betrachtete das Muster des Parketts unter den Füßen der
Tanzpaare. Dabei wurde ihr bewusst, dass dieses wechselnde
Hell und Dunkel der Einlegearbeit symbolisierte, was sie für Rainewood empfand.
»Fällt dir kein anderer Zeitvertreib ein?«, fauchte sie.
»Vorhin habe ich mindestens fünf junge Damen gezählt,
die dich anstarrten - mit schmachtenden Augen, so groß
wie die Untertassen vom Lieblingsporzellan unserer Gastgeberin.«
Ein Splitter. Ja, er glich einem großen, langen Mahagonisplitter,
den sie niemals los wurde, der unter ihrer Haut
steckte, tief verwurzelt. Und jetzt würde sie es auch gar
nicht mehr ertragen, ihn zu entfernen.
Sonst wäre sie im Ballsaal geblieben, geschützt von zahlreichen
Gästen. Dort würde er sich nicht zu einem Wortgefecht mit ihr herablassen.
»Das hast du bemerkt?«, erwiderte er leise. Zum Teufel
mit diesem berauschenden Whisky. »Oh, ich fühle mich geschmeichelt.
Interessierst du dich nicht mehr für die Geister
und Ungeheuer, die Gespenster und Dämonen? Gewiss ist
es dir sehr schwer gefallen, dich auf etwas zu konzentrieren,
das sich außerhalb deiner grotesken Fantasiewelt befindet.«
Abigail grub die Finger in ihre Handflächen. Entschlossen
blickte sie in den Ballsaal hinab. Wäre sie bei den unverheirateten
Damen geblieben, könnte sie jetzt ebenfalls
über das Parkett schweben und sich im Ritual eines Tanzes
verlieren, den Luftzug spüren, die Berührung einer warmen
Hand ... Zweifellos wäre das besser als die Hitze und der
Zorn in ihrer Brust, die ihr den Atem nahmen, wann immer
sie sich von den Leuten entfernte und dem begehrenswertesten,
unerträglichsten aller Männer begegnete.
Immer wieder gelang es ihm, sie allein anzutreffen, wenn
auch nur für kurze Momente. Und sie versäumte es niemals,
jeden Abend mindestens einmal den anderen Gästen
zu entrinnen - obwohl sie wusste, was sie damit riskierte.
»Halt still, mein stockender Atem, während ich die Antwort
erwarte ... Womöglich könnte ich glauben, ich würde
dir etwas bedeuten, Smart.«
Seine Finger streiften ihren Ellbogen - vielleicht nur zufällig.
Aber in seinen dunklen, sinnlichen Augen, die ihren
Blick plötzlich festhielten, las sie etwas ganz anderes. Unter
ihrer Haut loderten Flammen, die Warnung vor einer
drohenden Gefahr drang in ihr Bewusstsein und nötigte sie zur Flucht.
»Darauf wirst du sehr lange warten, Rainewood.«
»Ach, tatsächlich?«
An ihrem Arm richteten sich die Härchen auf, als seine
Finger behutsam über die Innenseite glitten.
Ja, ganz eindeutig - sie musste fliehen, der einzige Ausweg ...
»Idiot, Idiot, Idiot«, flüsterte sie und trat zur Seite, aus der Gefahrenzone.
Geschickt bahnte sie sich einen Weg zwischen einigen
Paaren hindurch, die sich am Treppenabsatz versammelt
hatten, versuchte ihren Verfolger abzuschütteln und drehte
sich um, als wollte sie die Damentoilette ansteuern. Rainewood
blieb hinter ihr zurück, sobald sie eine etwas stärker
frequentierte Zone erreichten. Die Ladys schwatzten
und flirteten, die Gentlemen posierten und prahlten. Die
Stufen hinab ... Mehr würde sie nicht brauchen, um sich
zu befreien. Das wäre eine kluge Entscheidung gewesen,
denn an diesem Abend lag etwas in der Luft. Eine Veränderung.
Und so etwas geschah nur selten zu Abigails Gunsten.
Ihr Ellbogen prickelte.
Langsam ging sie in die Richtung, aus der sie gekommen
war, zwischen all den Leuten hindurch, machte erneut
kehrt, wanderte zur anderen Seite des Balkons, auf einem
scheinbar ziellosen Rundgang.
»Idiot«, murmelte sie zum zehnten Mal, verärgert über
Rainewood und wütend auf sich selbst, weil sie die Treppe
nicht hinabstieg - weil sie den Zwang verspürte, hier oben
zu bleiben und weiterzuschlendern.
»Redest du mit dir selbst, Smart?«, fragte Rainewood
gedehnt, als er wieder an ihrer Seite auftauchte. Nun er
reichten sie eine Säulenreihe, die eventuellen Beobachtern
im Ballsaal die Sicht versperrte, sodass sie nicht feststellen
konnten, ob Abigail und ihr Begleiter miteinander plauderten.
Mit seinen langen Schritten hatte er ihre kürzeren, hektischen
mühelos eingeholt. Sie gestatteten ihm, entspannt
und kontrolliert zu wirken, während sie stets den Anschein
erweckte, als befände sie sich auf dem Rückzug. Ein einzigartiger
Edelmann aus Eis und Anmut neben ihrer nervösen,
plebejischen Attitüde ... In ihrem Kopf wiederholte sie die
Einschätzung seines Charakters wie eine Litanei.
»Sicher eine bessere Möglichkeit, angesichts der Alternative,
die mir meine derzeitige Gesellschaft bietet«, erwiderte sie.
Ein kühles Lächeln hob seine Mundwinkel, ein verwirrender
Kontrast zu der aufflammenden Glut in den Schokoladenaugen
- dem einzigen Hinweis auf den echten Valerian,
der sich gleichmütig und distanziert präsentierte, was
seinem wahren Wesen nicht entsprach. »Reiner Wahnsinn,
mit sich selber zu reden ... Soll ich die Wärter des Irrenhauses
verständigen und deinem metaphysischen Unsinn
ein für alle Mal ein Ende setzen?«
Hilflos spürte sie, wie ihre Glieder gefroren, und sie stolperte
beinahe über ihre plötzlich bleischweren Beine. Das
kühle Lächeln nahm einen spöttischen Ausdruck an und
entblößte ebenmäßige, strahlend weiße Zähne, die Valerians
intensive Augenfarbe und sein dunkles Haar noch betonten,
sogar seine makellose Haut. Im Gegensatz zu den
meisten Gentlemen besaß er einen gesunden, leicht gebräunten
Teint. Schon vor langer Zeit hatte Abigail festgestellt,
sein Pakt mit dem Teufel müsste ihm neben anderen
Vorteilen auch eine ausgezeichnete körperliche Verfassung
verschafft haben.
»Viel angenehmer wäre es, du würdest diese Farce beenden.«
Und sie hatte das beklemmende Spiel geduldet. Auch
jetzt ermutigte sie ihn geradewegs dazu. Erbost verfluchte
sie sich. »Lass mich in Ruhe, Rainewood.«
»Lieber nicht - weil du nämlich einen Aufpasser brauchst.
Schon seit Jahren ist das offensichtlich. Deshalb muss ich
den Rest der Menschheit vor dir schützen.«
Abigail trat seitwärts, näher zu ihm. Auf diese Weise
wollte sie ihn zwingen, ihr auszuweichen, oder er würde
gegen eine Säule prallen.
Stattdessen rempelte er sie an, und sie strauchelte. »Oh,
Verzeihung - Miss Smith, nicht wahr?«, entschuldigte er
sich mit geheuchelter Fürsorge, als zwei ältere Damen näher
kamen und ihnen neugierige Blicke zuwarfen. Nachdem
sie seine Worte gehört hatten, schauten sie weg und setzten
ihre Unterhaltung fort.
Also wirklich, es war unglaublich. Wann immer Abigail
und Valerian sich bei gesellschaftlichen Anlässen trafen,
stritten sie - und niemand schien es zu merken. Großer
Gott, seit geschlagenen zehn Minuten wanderten sie Seite
an Seite den Balkon entlang, teilweise im Blickfeld der anderen
Gäste, und er gab vor, er würde sie gar nicht begleiten.
Bin ich denn unsichtbar?
Was die Wahrnehmung dieses erlauchten Gesellschaftskreises
anging, würde man staunen, wenn Rainewood
auch nur halbwegs korrekt ihren Namen buchstabieren
könnte. Dank seiner Position stand er haushoch über ihr,
und so würde es niemand seltsam finden, wenn er sie igno-
rierte. Umso mehr genoss er das private Spiel, das er mit ihr trieb.
Sobald die beiden Frauen hinter einer Biegung des Balkons
aus der Sichtweite geraten waren, schenkte er Abigail
ein tückisches Lächeln, immer noch hinter der Maske seiner falschen Besorgnis.
Vom Schock des Zusammenstoßes beschleunigt, hämmerte
ihr Herz schmerzhaft gegen ihre Rippen, und das
schürte ihren Zorn über sich selbst. Wahrscheinlich würde
sie ihn eines Tages in aller Öffentlichkeit anschreien. Und
dann würde man zweifelsohne die Wärter holen.
Sie kniff die Augen zusammen und musterte Rainewoods
aristokratische Züge, die kühle Distanz bekundeten - im
Gegensatz zu seinem spöttischen Blick. Irgendjemand müsste
ihn endlich zurechtstutzen und auf die Ebene schicken,
die der Rest der Bevölkerung bewohnte.
Und sie musste dieses Spiel beenden, der Anziehungskraft
widerstehen, die schon ihr halbes Leben lang zwischen ihnen herrschte.
Wortlos kehrte sie ihm den Rücken und ging davon.
»Was für ein langweiliges Mädchen du geworden bist,
Smart!« In seiner normalerweise so ruhigen, beherrschten
Stimme schwang Irritation mit, als er ihr wieder einmal
folgte.»Ständig missgönnst du mir mein Amüsement.«
»Dein Amüsement würde eine gewisse Einschränkung
vertragen«, konterte sie. »Und jetzt scher dich zurück zu
dem Stein, unter dem du hervorgekrochen bist.«
»Zuerst du, Smart.« Glatte Finger strichen über ihren
nackten Arm, und sie bekam eine Gänsehaut. Doch sie
zwang sich, seine Hand nicht abzuschütteln, und ging einfach weiter.
Neben ihrem rechten Ohr erklang sonores, tiefes Gelächter,
als er sich zu ihr neigte. Offenbar war es ihr nicht gelungen,
eine ausdruckslose Miene beizubehalten.
»Lass mich in Ruhe, Rainewood«, verlangte sie noch
einmal und entzog ihm ihren Arm. Weder die Tanzpaare
im Ballsaal noch die schwatzenden Gäste auf dem Balkon
hatten die Berührung gesehen. Dafür war er viel zu raffiniert.
Und falls seine Diskretion aus irgendwelchen Gründen
versagen sollte, würde man die Schuld ihr anlasten,
weil Seine Lordschaft einen Großteil der Hautevolee regierte.
Vor einem kleinen Tisch mit Erfrischungen - für jene
Gäste bereitgestellt, die hier oben eine Ruhepause genossen
- blieb Abigail stehen. Inzwischen hatte sie ihre Fassung
wiedergewonnen, und so konnte sie einen Becher
mit Punsch füllen und ihre zitternden Finger einigermaßen
kontrollieren. Im Lauf der Jahre hatte sie gelernt, ihre Angst
hinter graziösen Gesten zu verbergen. Die hatte sie so lange
geübt, bis sie natürlich erschienen.
»Das werde ich gewiss nicht tun, Smart.« Rainewood
steckte sich einen Keks in den Mund. Über den Tisch gebeugt,
postierte er sich wieder lässig in Abigails Blickfeld.
»Da du meine Frage nicht beantwortet hast ... Solltest du
die Leute nicht mit Geschichten über Geister erschrecken,
die in finsterer Nacht heulen? Über Gespenster, die grausige
Forderungen stellen, in die Häuser ihrer Opfer eindringen
und furchtbare Drohungen ausstoßen?«
Unter ihrer Haut brannte das Leid der Vergangenheit, und sie rieb ihren Arm.
Offenbar störte ihn ihr Schweigen nicht und verdarb ihm
kein bisschen das Vergnügen, sie zu verhöhnen. »Und wie
um alles in der Welt hast du eine Einladung zu diesem gesellschaftlichen
Ereignis ergattert?«
Während ihr Blick nach unten schweifte, zügelte sie den
Impuls, eine Grimasse zu schneiden. Ihre Mutter stand an
einer Wand und beobachtete sie mit Argusaugen, vom unablässigen
Streben nach dem ersehnten sozialen Aufstieg
getrieben. Als sie Rainewood an der Seite ihrer Tochter entdeckte,
runzelte sie die Stirn und winkte ihr zu. Offensichtlich
wünschte sie, Abigail würde wieder an den Aktivitäten
im Ballsaal teilnehmen. Und sie fürchtete, ihr einziges Kind
würde irgendetwas Unverzeihliches tun.
Oder sie malte sich voller Sorge aus, welchen Schaden
Rainewood dem gesellschaftlichen Status der Smarts zufügen
könnte, würde er diese unverzeihliche Tat galant auf
sich nehmen. Aber vielleicht hoffte sie auch, er würde plötzlich
vom Blitz getroffen und erkennen, wie verzweifelt er
das Mädchen liebte. Und die jahrelange Gefühlskälte wäre
nur ein unzulänglicher Versuch gewesen, die glühende Leidenschaft
zu verbergen ...
Bei diesem Gedanken seufzte Abigail ironisch. Ihre Mutter
hatte nie herausgefunden, was vor all den Jahren geschehen
war. Obwohl sie beharrlich versuchte, ihrer Tochter
die Wahrheit zu entlocken, seit Rainewood sein Erbe angetreten
hatte ... Plötzlich der Erbe eines Herzogtitels! Die
Mutter war nicht dumm. Und sie verfolgte ihre gesellschaftlichen
Interessen viel eifriger, als es ihr zustand.
»Ein Pakt mit dem Teufel, Smart?«
Abigail wandte den Blick von ihrer Mutter und deren
eben erst engagierten Begleiterin ab - einer Frau, die gewisse
Türen in gehobenen Kreisen öffnete. Hätten arrogante
Aristokraten wie Seine Lordschaft in dieser Hinsicht
etwas zu sagen, würden die Türen verschlossen bleiben.
»Soviel ich mich entsinne, habe ich niemals einen Pakt
mit dir geschlossen, Rainewood. Nein, die Einladung ist
keineswegs ungewöhnlich. Du würdest staunen, wenn du
wüsstest, wie tödlich sich manche Mitglieder der Hautevolee
in den aktuellen besseren Kreisen langweilen. Deshalb
sind sie dankbar für frisches Blut und neue Perspektiven.«
Mit schmalen Augen musterte sie ihn von oben bis unten
- die exquisite modische Kleidung, den beneidenswerten
Stil, den er so gelassen zur Schau trug, als wäre es vollkommen
selbstverständlich.
»Ach, heutzutage ist es ja so öde, einfach nur elegant zu
erscheinen«, flötete Abigail, »und man findet individuelle
charakterstarke Persönlichkeiten viel interessanter - leider
eine Seltenheit in unserer Gesellschaft ...«
Unschuldig lächelte sie und hob den Punschbecher an die
Lippen, während zwei Gentlemen am Tisch stehen blieben
und sich mit Getränken versorgten.
Rainewoods Kinnmuskeln spannten sich an. Dann schob
er noch einen Keks in den Mund, beobachtete die Männer,
die ihn diskret ignorierten, und wartete darauf, dass sie davongehen
würden. Abigail überlegte, ob sie sich ebenfalls
entfernen sollte. Aber er strahlte etwas aus, das sie immer
wieder in seinen Bann zog, obwohl es sie gleichzeitig abstieß.
Schon seit Kindertagen kannte sie dieses Gefühl - einen
unerklärlichen Instinkt, der sie bewog, ein paar Sekunden
länger in seiner Nähe zu verharren. Als würde sie eine
Biene sehen, die sie stechen würde, und trotzdem nicht davonlaufen
...
Vermutlich hing diese alberne Taktik mit kindischen ro-
mantischen Träumen zusammen. Rainewood verfügte über
ein viel effektiveres Arsenal, mit dem sich ihre armseligen
Waffen nicht messen konnten. Und in gesellschaftlicher
Hinsicht besaß er die Macht, sie rettungslos zu ruinieren.
Dass er darauf verzichtete, überraschte sie. Offenbar ließ
er sie lieber am Rand des vernichtenden Abgrunds schwanken,
wie ein Kater, der mit einer halb verhungerten Maus spielte.
Endlich schlenderten die beiden Männer davon, gefüllte
Gläser in den Händen.
Rainewood neigte sich zu Abigail, und der Duft, der stets
an ihm haftete, stieg ihr in die Nase - das Wispern von
verbotenen Nächten und immerwährenden Herausforderungen.
»Darin liegt dein Problem, Smart. Dauernd versuchst
du dich über deinen Status zu erheben.«
Langsam leerte sie ihren Punschbecher, senkte ihn und
löste ihre verkrampfte Hand. Mit dieser verbalen Attacke
frischte Seine Lordschaft ihre Erinnerung an die Vergangenheit
auf, die sie niemals mit der Gegenwart verwechseln
durfte. Immerwährende Herausforderungen - das war alles,
was sie von Rainewood erwarten konnte. Und Gefühlskälte,
bissigen Sarkasmus, den sie ihrer Ansicht nach nicht verdiente ...
»Oh, ich habe schon in sehr jungen Jahren gelernt, was
man riskiert,wenn man sich über seinen Status erhebt.Dieses
Wissen brachte mir nicht viel ein. Aber sobald ich mein Ziel
erreiche, wird mir Gerechtigkeit widerfahren.« Nun brach
der Bann des Verbotenen, und sie hieß den heiteren Lärm
willkommen, der aus dem Ballsaal heraufdrang. Ohne den
Blick von ihm abzuwenden,fügte sie hinzu,was sie so inständig
ersehnte. »Wenn das geschieht, hoffe ich, wirst du dar-
an ersticken. Und jetzt wünsche ich dir einen angenehmen Abend, Raine.«
Seine dunklen Augen färbten sich schwarz, weil sie ihn
an die gemeinsame Vergangenheit erinnerte, an Geheimnisse,
an den Moment, wo sich ihre Wege unkontrollierbar gekreuzt hatten.
»Niemals wirst du dieses Ziel erreichen!«, rief er ihr
nach, als sie davonschlenderte, und verstieß gegen seine
Regel, Abigail in der Öffentlichkeit zu schneiden. Aber seine
Stimme klang erstaunlich ruhig, trotz der Glut, die seine
Miene verraten hatte.
Sie ging weiter und schaute über ihre Schulter. »Damit
sollten Sie nicht rechnen, Lord Rainewood, denn ich glaube,
unsere Rechnung wird zu meinen Gunsten aufgehen.«
»Zwischen uns existiert keine Rechnung mehr.«
Abigail neigte den Kopf. »Vielleicht bilden Sie sich das
in Ihrer Arroganz ein - ich sehe es anders. Sie haben alles zerstört. Nicht ich.«
Hinter diesen Worten steckte viel mehr als ein Hinweis
auf jene Zeit, in der sie freundschaftliche Wetten abgeschlossen
hatten. Der Schmerz - gemildert, aber immer
noch vorhanden - krampfte ihr Herz zusammen. Hastig
wandte sie sich ab, damit Rainewood nichts in ihren Augen
las. Er konnte ihre Gefühle so mühelos ergründen. Und er
besaß stärkere Munition.
Zu ihrer Verblüffung folgte er ihr nicht, versuchte nicht,
diesen letzten Angriff zu kontern, ihren gesellschaftlichen
Ruin mit der Offenbarung von Geheimnissen zu erzielen,
die ihr alle Türen verschließen würde.
2
Abigail stieg die Treppe hinab und drängte sich zwischen
den Tanzpaaren und Gruppen von Leuten hindurch, die am
Rand des Parketts standen und plauderten.
Vom Kleid einer jungen Frau, die im Takt der Musik dahinwirbelte,
löste sich ein Band und flatterte durch die Luft
zu Abigail. Sie fing das dünne blaue Satinband auf, schlang
es um ihre Finger und ging weiter. Mittlerweile war die junge
Dame mit ihrem Partner im Getümmel der Tänzer verschwunden.
Dass am Saum ihres Rocks eine Schleife fehlte, merkte sie nicht.
Abigails Hand umklammerte das befreite Band etwas
fester. So frei würde sie niemals sein. Sie eilte zu ihrer Mutter.
Inmitten der Menschenmenge, die den Ballsaal erfüllte,
hielt sie sich nur ungern auf. Doch dieser Ort erschien ihr
angenehmer als andere Möglichkeiten. Zum Beispiel ein
Seiltanz mit dem Teufel ...
»Kopf hoch, mein Kind. Und rück deinen Kragen zurecht.«
Abigail spürte, wie es ihre Mutter in den Fingern
juckte, zarte Spitze zu berühren, und sie trat rasch beiseite.
Sonst hätte sie Mama tatsächlich in Versuchung geführt.
Mrs Gerald Smart befolgte gewissenhaft alle Regeln der
besseren Gesellschaft. Aber manchmal vergaß sie sich in
ihrem eifrigen Streben nach sozialem Aufstieg. So verzweifelt
sehnte sie dieses Ziel herbei, so besessen kämpfte sie
darum, und deshalb missachtete sie die Strategie subtilerer Maßnahmen.
»Und wie schrecklich dein Haar aussieht! Was hast du denn gemacht?«
Abigail strich über ihre Locken, die niemals an den richtigen
Stellen blieben - ganz egal wie viele Nadeln ihre Zofe
oder sie selbst hineinstecken mochten. Seufzend fing sie einen
Blick der Gesellschafterin Mrs Browning auf, die bei
den älteren Damen an der Wand saß. Wie üblich kräuselte
sie missbilligend die Lippen.
»Ach, kümmere dich nicht darum«, fuhr die Mutter fort.
»Da kommt Mr Brockwell. So ein netter Gentleman. Tausend
Pfund pro Jahr. Aus guter Familie. Und er sieht richtig
smart aus.« Fröhlich lachte sie über ihr eigenes Bonmot,
und Abigail versuchte, nicht zusammenzuzucken. Bedauerlicherweise
ließen Mamas Manieren zu wünschen übrig.
Woher sie stammte, konnte sie niemals ganz verbergen, trotz aller Mühe.
Manchmal wünschte Abigail inbrünstig, ihr gegenwärtiges
Leben wäre nur ein Traum und die Vergangenheit
würde wieder auferstehen. Kein Lord Rainewood, keine
speziellen Geschenke, keine Angst vor der Entdeckung ...
Phillip Brockwell schlenderte heran, auf spindeldürren
Beinen und mit ungelenken Schritten.
»Ah, Mr Brockwell ...« Die Mutter musterte ihn von
Kopf bis Fuß. »Welch eine Freude, Sie an diesem schönen Abend hier anzutreffen!«
»Mrs Smart, Ihre Anwesenheit ist viel erfreulicher. Natürlich gilt
das auch für Miss Smart.«
Die Mutter nickte geschmeichelt, und Abigail nahm Phillips
Kompliment lächelnd zur Kenntnis. Wenn er auch nicht
vor Charme und geistreichem Witz sprühte - er tat immerhin sein Bestes.
»Wie freundlich von Ihnen, Mr Brockwell«, erwiderte
Mrs Smart. »Soeben hat Abigail von Ihnen gesprochen und
erklärt, sie würde Ihre Gesellschaft und die Gespräche mit
Ihnen überaus schätzen.«
Während er errötete, gelang es Abigail nur mit Mühe, ihr Lächeln beizubehalten.
»Was für eine wunderbare Gelegenheit, an diesem Abend
beides zu genießen«, säuselte ihre Mutter voller Genugtuung.
»Ah, ich glaube, unsere Gastgeberin winkt mich zu
sich. Wenn Sie mich bitte entschuldigen, Sir ...«
Sie hob eine Hand, um ihrerseits zu winken. Dann
schenkte sie Phillip ein letztes strahlendes Lächeln.
»Streng dich ein bisschen an«, befahl sie ihrer Tochter in
peinlichem bühnenreifem Flüsterton und steuerte das andere
Ende des Ballsaals an - ein Ziel, weit entfernt von der Gastgeberin.
Abigail überlegte, ob es irgendwie möglich wäre, ihre
Mutter in einem Schrank einzusperren.
Ohne zu protestieren, hatte sie sich bereitgefunden, gemeinsam
mit Mama eine Position im Zentrum der Hautevolee
zu erringen. Aber ihre Mutter machte es ihnen beiden sehr schwer.
Die Wangen immer noch gerötet, trat Phillip von einem
Fuß auf den anderen. »Wie geht es Ihnen, Miss Smart?«
»Danke, ganz ausgezeichnet, Mr Brockwell. Und wie
geht es Ihnen? Haben Sie den Punsch schon gekostet?« Sie
hob ihren Becher und versuchte dem armen Mann aus der
Verlegenheit zu helfen. »Vorhin hörte ich, Lady Malcolm
habe dieses neue Rezept von ihrer Reise auf die Inseln mitgebracht.«
Phillip grinste schief, und seine angespannten Schultern
lockerten sich ein wenig. »Ja, schon zwei Mal ...« Plötzlich
verkrampften sich die Schultern erneut.
Als sie sich umdrehte, sah sie Edwina Penshard heraneilen.
»Ah,Miss Smart,Mr Brockwell ...«Atemlos blieb die junge
Dame stehen. Mit ihren goldblonden Locken,den rosigen
Wangen und ihrer üppigen Figur glich sie den farbenfrohen,
voll erblühten Tulpen in ihrem liebevoll gepflegten Gar-
ten.Bei jeder Begegnung gelang es ihr,Abigail aufzuheitern.
Gregory, Edwinas Bruder, ein blonder Mann mit durchdringend
grünen Augen und einer messerscharfen Zunge,
folgte ihr. Auch er begrüßte Abigail und Phillip Brockwell.
Die Penshards genossen das außerordentliche Missvergnügen,
mit Rainewood verwandt zu sein, und meist führten
sich die beiden Gentlemen auf wie Tiger, die um dieselbe
Futterquelle herumschlichen.
Mit einem verkniffenen Lächeln verneigte Gregory sich
vor Abigail. In der letzten Woche hatte er sich ziemlich sonderbar
benommen. Da sie nicht naiv war, wusste sie, welche
Absichten er hegte, und sie fragte sich, ob sie ihn ermutigen
sollte. Irgendwie hatte er sie schon immer an Rainewoods
verstorbenen älteren Bruder erinnert. Und das warf Probleme auf.
Nach dem Tod des Bruders war Rainewood entschlossen
in dessen Fußstapfen getreten. Und die oberen Tausend verkrafteten
nur einen absoluten Herrscher.
Edwinas ungekünsteltes Lächeln vertiefte sich, worauf
Mr Brockwell noch heftiger errötete. Armer, unsterblich verliebter Phillip ...
»Was für ein wunderbarer Ball!«, schwärmte Edwina.
»Hoffentlich kann ich im Lauf des Abends mit Sir Walter
Malcolm, unserem Gastgeber, sprechen. Vor Kurzem hielt
er bei einer Versammlung des Gartenvereins eine Rede und
erklärte, ein Gärtner könnte das Wachstum der Pflanzen
mit positiven Gedanken fördern. Faszinierend!«
Phillip lockerte seine Krawatte, weil sein Hals unter
Edwinas leuchtendem Blick zu schwitzen begann. Ȇber
dieses Thema hielt er auch bei der Gesellschaft junger Wissenschaftler
einen fabelhaften Vortrag. Da dachte ich sofort
an Sie, meine liebe Miss Penshard, und Ihre positiven Gedanken.«
Armer Phillip ...
»Oh, wie nett, Mr Brockwell!« Edwina strahlte vor
Glück. »Also sind Sie dieser Gesellschaft beigetreten! Einfach großartig!«
»In der Tat«, bestätigte Phillip entzückt. Dann verengten
sich seine Augen, als er über Abigails Schulter spähte. »Allerdings
gibt es eine Fraktion, die hartnäckig versucht, die
Interessen des Vereins in andere Bahnen zu lenken.«
Abigail folgte seinem Blick zu einer Gruppe, die sich auf
der anderen Seite der Tanzfläche versammelt hatte. Enthusiastisch
umringten die elegantesten Mitglieder der jüngeren
Hautevolee ihr Idol - den Idioten.
»Hatten Sie Ärger mit diesen Leuten, Brockwell?«, fragte Gregory.
»Nicht so wichtig«, antwortete Phillip etwas zu schnell.
Am anderen Ende des Raums warf Rainewood den Kopf
nach links, eine Haarsträhne fiel in seine arrogante Stirn,
und er zeigte sich von seiner besten Seite, während er über
den Scherz eines seiner Kumpane lachte. Abigail bekämpfte
die verhasste Anziehungskraft und versuchte sich auf die albernen
Gesichter weißgekleideter, verträumter Mädchen zu
konzentrieren, die ebenfalls in seine Richtung starrten.
Zweifellos hoffte jede unverheiratete junge Dame, Raine
Copyright © 2010 für die deutsche Ausgabe
by Blanvalet Verlag, in der
Verlagsgruppe Random House, München
Umschlaggestaltung: © HildenDesign, München,
unter Verwendung eines Motivs von Leslie Peck
via Agentur Schlück GmbH
Redaktion: Barbara Müller
LH • Herstellung: sam
Satz: DTP Service Apel, Hannover
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN: 978-3-442-37557-8
www.blanvalet.de
Als würde ihn die Konversation langweilen, zog er eine
Taschenuhr hervor, um festzustellen, wie spät es war. Nur
die zuckenden Finger, die den Deckel aufschnappen ließen,
erweckten einen anderen Eindruck. Mit einer geschickten
Drehung des Handgelenks schloss er die Uhr wieder, dann
verschwand sie in der Brusttasche seines teuren Jacketts.
Ein langer Blick unter noch längeren Wimpern forderte
Abigail zu einer Reaktion heraus, während sie den ziellosen
Rundgang fortsetzten. Zu Rainewoods federnden Schritten
passte die arrogante Haltung seines Kopfs, den er ein wenig
seitlich neigte. Vielleicht konnte er sich nicht entscheiden,
ob er den vorpreschenden Jäger oder den König auf seinem
Thron mimen sollte. Nach Abigails Meinung eignete
er sich für beide Rollen. Sie schaute wieder nach unten und
betrachtete das Muster des Parketts unter den Füßen der
Tanzpaare. Dabei wurde ihr bewusst, dass dieses wechselnde
Hell und Dunkel der Einlegearbeit symbolisierte, was sie für Rainewood empfand.
»Fällt dir kein anderer Zeitvertreib ein?«, fauchte sie.
»Vorhin habe ich mindestens fünf junge Damen gezählt,
die dich anstarrten - mit schmachtenden Augen, so groß
wie die Untertassen vom Lieblingsporzellan unserer Gastgeberin.«
Ein Splitter. Ja, er glich einem großen, langen Mahagonisplitter,
den sie niemals los wurde, der unter ihrer Haut
steckte, tief verwurzelt. Und jetzt würde sie es auch gar
nicht mehr ertragen, ihn zu entfernen.
Sonst wäre sie im Ballsaal geblieben, geschützt von zahlreichen
Gästen. Dort würde er sich nicht zu einem Wortgefecht mit ihr herablassen.
»Das hast du bemerkt?«, erwiderte er leise. Zum Teufel
mit diesem berauschenden Whisky. »Oh, ich fühle mich geschmeichelt.
Interessierst du dich nicht mehr für die Geister
und Ungeheuer, die Gespenster und Dämonen? Gewiss ist
es dir sehr schwer gefallen, dich auf etwas zu konzentrieren,
das sich außerhalb deiner grotesken Fantasiewelt befindet.«
Abigail grub die Finger in ihre Handflächen. Entschlossen
blickte sie in den Ballsaal hinab. Wäre sie bei den unverheirateten
Damen geblieben, könnte sie jetzt ebenfalls
über das Parkett schweben und sich im Ritual eines Tanzes
verlieren, den Luftzug spüren, die Berührung einer warmen
Hand ... Zweifellos wäre das besser als die Hitze und der
Zorn in ihrer Brust, die ihr den Atem nahmen, wann immer
sie sich von den Leuten entfernte und dem begehrenswertesten,
unerträglichsten aller Männer begegnete.
Immer wieder gelang es ihm, sie allein anzutreffen, wenn
auch nur für kurze Momente. Und sie versäumte es niemals,
jeden Abend mindestens einmal den anderen Gästen
zu entrinnen - obwohl sie wusste, was sie damit riskierte.
»Halt still, mein stockender Atem, während ich die Antwort
erwarte ... Womöglich könnte ich glauben, ich würde
dir etwas bedeuten, Smart.«
Seine Finger streiften ihren Ellbogen - vielleicht nur zufällig.
Aber in seinen dunklen, sinnlichen Augen, die ihren
Blick plötzlich festhielten, las sie etwas ganz anderes. Unter
ihrer Haut loderten Flammen, die Warnung vor einer
drohenden Gefahr drang in ihr Bewusstsein und nötigte sie zur Flucht.
»Darauf wirst du sehr lange warten, Rainewood.«
»Ach, tatsächlich?«
An ihrem Arm richteten sich die Härchen auf, als seine
Finger behutsam über die Innenseite glitten.
Ja, ganz eindeutig - sie musste fliehen, der einzige Ausweg ...
»Idiot, Idiot, Idiot«, flüsterte sie und trat zur Seite, aus der Gefahrenzone.
Geschickt bahnte sie sich einen Weg zwischen einigen
Paaren hindurch, die sich am Treppenabsatz versammelt
hatten, versuchte ihren Verfolger abzuschütteln und drehte
sich um, als wollte sie die Damentoilette ansteuern. Rainewood
blieb hinter ihr zurück, sobald sie eine etwas stärker
frequentierte Zone erreichten. Die Ladys schwatzten
und flirteten, die Gentlemen posierten und prahlten. Die
Stufen hinab ... Mehr würde sie nicht brauchen, um sich
zu befreien. Das wäre eine kluge Entscheidung gewesen,
denn an diesem Abend lag etwas in der Luft. Eine Veränderung.
Und so etwas geschah nur selten zu Abigails Gunsten.
Ihr Ellbogen prickelte.
Langsam ging sie in die Richtung, aus der sie gekommen
war, zwischen all den Leuten hindurch, machte erneut
kehrt, wanderte zur anderen Seite des Balkons, auf einem
scheinbar ziellosen Rundgang.
»Idiot«, murmelte sie zum zehnten Mal, verärgert über
Rainewood und wütend auf sich selbst, weil sie die Treppe
nicht hinabstieg - weil sie den Zwang verspürte, hier oben
zu bleiben und weiterzuschlendern.
»Redest du mit dir selbst, Smart?«, fragte Rainewood
gedehnt, als er wieder an ihrer Seite auftauchte. Nun er
reichten sie eine Säulenreihe, die eventuellen Beobachtern
im Ballsaal die Sicht versperrte, sodass sie nicht feststellen
konnten, ob Abigail und ihr Begleiter miteinander plauderten.
Mit seinen langen Schritten hatte er ihre kürzeren, hektischen
mühelos eingeholt. Sie gestatteten ihm, entspannt
und kontrolliert zu wirken, während sie stets den Anschein
erweckte, als befände sie sich auf dem Rückzug. Ein einzigartiger
Edelmann aus Eis und Anmut neben ihrer nervösen,
plebejischen Attitüde ... In ihrem Kopf wiederholte sie die
Einschätzung seines Charakters wie eine Litanei.
»Sicher eine bessere Möglichkeit, angesichts der Alternative,
die mir meine derzeitige Gesellschaft bietet«, erwiderte sie.
Ein kühles Lächeln hob seine Mundwinkel, ein verwirrender
Kontrast zu der aufflammenden Glut in den Schokoladenaugen
- dem einzigen Hinweis auf den echten Valerian,
der sich gleichmütig und distanziert präsentierte, was
seinem wahren Wesen nicht entsprach. »Reiner Wahnsinn,
mit sich selber zu reden ... Soll ich die Wärter des Irrenhauses
verständigen und deinem metaphysischen Unsinn
ein für alle Mal ein Ende setzen?«
Hilflos spürte sie, wie ihre Glieder gefroren, und sie stolperte
beinahe über ihre plötzlich bleischweren Beine. Das
kühle Lächeln nahm einen spöttischen Ausdruck an und
entblößte ebenmäßige, strahlend weiße Zähne, die Valerians
intensive Augenfarbe und sein dunkles Haar noch betonten,
sogar seine makellose Haut. Im Gegensatz zu den
meisten Gentlemen besaß er einen gesunden, leicht gebräunten
Teint. Schon vor langer Zeit hatte Abigail festgestellt,
sein Pakt mit dem Teufel müsste ihm neben anderen
Vorteilen auch eine ausgezeichnete körperliche Verfassung
verschafft haben.
»Viel angenehmer wäre es, du würdest diese Farce beenden.«
Und sie hatte das beklemmende Spiel geduldet. Auch
jetzt ermutigte sie ihn geradewegs dazu. Erbost verfluchte
sie sich. »Lass mich in Ruhe, Rainewood.«
»Lieber nicht - weil du nämlich einen Aufpasser brauchst.
Schon seit Jahren ist das offensichtlich. Deshalb muss ich
den Rest der Menschheit vor dir schützen.«
Abigail trat seitwärts, näher zu ihm. Auf diese Weise
wollte sie ihn zwingen, ihr auszuweichen, oder er würde
gegen eine Säule prallen.
Stattdessen rempelte er sie an, und sie strauchelte. »Oh,
Verzeihung - Miss Smith, nicht wahr?«, entschuldigte er
sich mit geheuchelter Fürsorge, als zwei ältere Damen näher
kamen und ihnen neugierige Blicke zuwarfen. Nachdem
sie seine Worte gehört hatten, schauten sie weg und setzten
ihre Unterhaltung fort.
Also wirklich, es war unglaublich. Wann immer Abigail
und Valerian sich bei gesellschaftlichen Anlässen trafen,
stritten sie - und niemand schien es zu merken. Großer
Gott, seit geschlagenen zehn Minuten wanderten sie Seite
an Seite den Balkon entlang, teilweise im Blickfeld der anderen
Gäste, und er gab vor, er würde sie gar nicht begleiten.
Bin ich denn unsichtbar?
Was die Wahrnehmung dieses erlauchten Gesellschaftskreises
anging, würde man staunen, wenn Rainewood
auch nur halbwegs korrekt ihren Namen buchstabieren
könnte. Dank seiner Position stand er haushoch über ihr,
und so würde es niemand seltsam finden, wenn er sie igno-
rierte. Umso mehr genoss er das private Spiel, das er mit ihr trieb.
Sobald die beiden Frauen hinter einer Biegung des Balkons
aus der Sichtweite geraten waren, schenkte er Abigail
ein tückisches Lächeln, immer noch hinter der Maske seiner falschen Besorgnis.
Vom Schock des Zusammenstoßes beschleunigt, hämmerte
ihr Herz schmerzhaft gegen ihre Rippen, und das
schürte ihren Zorn über sich selbst. Wahrscheinlich würde
sie ihn eines Tages in aller Öffentlichkeit anschreien. Und
dann würde man zweifelsohne die Wärter holen.
Sie kniff die Augen zusammen und musterte Rainewoods
aristokratische Züge, die kühle Distanz bekundeten - im
Gegensatz zu seinem spöttischen Blick. Irgendjemand müsste
ihn endlich zurechtstutzen und auf die Ebene schicken,
die der Rest der Bevölkerung bewohnte.
Und sie musste dieses Spiel beenden, der Anziehungskraft
widerstehen, die schon ihr halbes Leben lang zwischen ihnen herrschte.
Wortlos kehrte sie ihm den Rücken und ging davon.
»Was für ein langweiliges Mädchen du geworden bist,
Smart!« In seiner normalerweise so ruhigen, beherrschten
Stimme schwang Irritation mit, als er ihr wieder einmal
folgte.»Ständig missgönnst du mir mein Amüsement.«
»Dein Amüsement würde eine gewisse Einschränkung
vertragen«, konterte sie. »Und jetzt scher dich zurück zu
dem Stein, unter dem du hervorgekrochen bist.«
»Zuerst du, Smart.« Glatte Finger strichen über ihren
nackten Arm, und sie bekam eine Gänsehaut. Doch sie
zwang sich, seine Hand nicht abzuschütteln, und ging einfach weiter.
Neben ihrem rechten Ohr erklang sonores, tiefes Gelächter,
als er sich zu ihr neigte. Offenbar war es ihr nicht gelungen,
eine ausdruckslose Miene beizubehalten.
»Lass mich in Ruhe, Rainewood«, verlangte sie noch
einmal und entzog ihm ihren Arm. Weder die Tanzpaare
im Ballsaal noch die schwatzenden Gäste auf dem Balkon
hatten die Berührung gesehen. Dafür war er viel zu raffiniert.
Und falls seine Diskretion aus irgendwelchen Gründen
versagen sollte, würde man die Schuld ihr anlasten,
weil Seine Lordschaft einen Großteil der Hautevolee regierte.
Vor einem kleinen Tisch mit Erfrischungen - für jene
Gäste bereitgestellt, die hier oben eine Ruhepause genossen
- blieb Abigail stehen. Inzwischen hatte sie ihre Fassung
wiedergewonnen, und so konnte sie einen Becher
mit Punsch füllen und ihre zitternden Finger einigermaßen
kontrollieren. Im Lauf der Jahre hatte sie gelernt, ihre Angst
hinter graziösen Gesten zu verbergen. Die hatte sie so lange
geübt, bis sie natürlich erschienen.
»Das werde ich gewiss nicht tun, Smart.« Rainewood
steckte sich einen Keks in den Mund. Über den Tisch gebeugt,
postierte er sich wieder lässig in Abigails Blickfeld.
»Da du meine Frage nicht beantwortet hast ... Solltest du
die Leute nicht mit Geschichten über Geister erschrecken,
die in finsterer Nacht heulen? Über Gespenster, die grausige
Forderungen stellen, in die Häuser ihrer Opfer eindringen
und furchtbare Drohungen ausstoßen?«
Unter ihrer Haut brannte das Leid der Vergangenheit, und sie rieb ihren Arm.
Offenbar störte ihn ihr Schweigen nicht und verdarb ihm
kein bisschen das Vergnügen, sie zu verhöhnen. »Und wie
um alles in der Welt hast du eine Einladung zu diesem gesellschaftlichen
Ereignis ergattert?«
Während ihr Blick nach unten schweifte, zügelte sie den
Impuls, eine Grimasse zu schneiden. Ihre Mutter stand an
einer Wand und beobachtete sie mit Argusaugen, vom unablässigen
Streben nach dem ersehnten sozialen Aufstieg
getrieben. Als sie Rainewood an der Seite ihrer Tochter entdeckte,
runzelte sie die Stirn und winkte ihr zu. Offensichtlich
wünschte sie, Abigail würde wieder an den Aktivitäten
im Ballsaal teilnehmen. Und sie fürchtete, ihr einziges Kind
würde irgendetwas Unverzeihliches tun.
Oder sie malte sich voller Sorge aus, welchen Schaden
Rainewood dem gesellschaftlichen Status der Smarts zufügen
könnte, würde er diese unverzeihliche Tat galant auf
sich nehmen. Aber vielleicht hoffte sie auch, er würde plötzlich
vom Blitz getroffen und erkennen, wie verzweifelt er
das Mädchen liebte. Und die jahrelange Gefühlskälte wäre
nur ein unzulänglicher Versuch gewesen, die glühende Leidenschaft
zu verbergen ...
Bei diesem Gedanken seufzte Abigail ironisch. Ihre Mutter
hatte nie herausgefunden, was vor all den Jahren geschehen
war. Obwohl sie beharrlich versuchte, ihrer Tochter
die Wahrheit zu entlocken, seit Rainewood sein Erbe angetreten
hatte ... Plötzlich der Erbe eines Herzogtitels! Die
Mutter war nicht dumm. Und sie verfolgte ihre gesellschaftlichen
Interessen viel eifriger, als es ihr zustand.
»Ein Pakt mit dem Teufel, Smart?«
Abigail wandte den Blick von ihrer Mutter und deren
eben erst engagierten Begleiterin ab - einer Frau, die gewisse
Türen in gehobenen Kreisen öffnete. Hätten arrogante
Aristokraten wie Seine Lordschaft in dieser Hinsicht
etwas zu sagen, würden die Türen verschlossen bleiben.
»Soviel ich mich entsinne, habe ich niemals einen Pakt
mit dir geschlossen, Rainewood. Nein, die Einladung ist
keineswegs ungewöhnlich. Du würdest staunen, wenn du
wüsstest, wie tödlich sich manche Mitglieder der Hautevolee
in den aktuellen besseren Kreisen langweilen. Deshalb
sind sie dankbar für frisches Blut und neue Perspektiven.«
Mit schmalen Augen musterte sie ihn von oben bis unten
- die exquisite modische Kleidung, den beneidenswerten
Stil, den er so gelassen zur Schau trug, als wäre es vollkommen
selbstverständlich.
»Ach, heutzutage ist es ja so öde, einfach nur elegant zu
erscheinen«, flötete Abigail, »und man findet individuelle
charakterstarke Persönlichkeiten viel interessanter - leider
eine Seltenheit in unserer Gesellschaft ...«
Unschuldig lächelte sie und hob den Punschbecher an die
Lippen, während zwei Gentlemen am Tisch stehen blieben
und sich mit Getränken versorgten.
Rainewoods Kinnmuskeln spannten sich an. Dann schob
er noch einen Keks in den Mund, beobachtete die Männer,
die ihn diskret ignorierten, und wartete darauf, dass sie davongehen
würden. Abigail überlegte, ob sie sich ebenfalls
entfernen sollte. Aber er strahlte etwas aus, das sie immer
wieder in seinen Bann zog, obwohl es sie gleichzeitig abstieß.
Schon seit Kindertagen kannte sie dieses Gefühl - einen
unerklärlichen Instinkt, der sie bewog, ein paar Sekunden
länger in seiner Nähe zu verharren. Als würde sie eine
Biene sehen, die sie stechen würde, und trotzdem nicht davonlaufen
...
Vermutlich hing diese alberne Taktik mit kindischen ro-
mantischen Träumen zusammen. Rainewood verfügte über
ein viel effektiveres Arsenal, mit dem sich ihre armseligen
Waffen nicht messen konnten. Und in gesellschaftlicher
Hinsicht besaß er die Macht, sie rettungslos zu ruinieren.
Dass er darauf verzichtete, überraschte sie. Offenbar ließ
er sie lieber am Rand des vernichtenden Abgrunds schwanken,
wie ein Kater, der mit einer halb verhungerten Maus spielte.
Endlich schlenderten die beiden Männer davon, gefüllte
Gläser in den Händen.
Rainewood neigte sich zu Abigail, und der Duft, der stets
an ihm haftete, stieg ihr in die Nase - das Wispern von
verbotenen Nächten und immerwährenden Herausforderungen.
»Darin liegt dein Problem, Smart. Dauernd versuchst
du dich über deinen Status zu erheben.«
Langsam leerte sie ihren Punschbecher, senkte ihn und
löste ihre verkrampfte Hand. Mit dieser verbalen Attacke
frischte Seine Lordschaft ihre Erinnerung an die Vergangenheit
auf, die sie niemals mit der Gegenwart verwechseln
durfte. Immerwährende Herausforderungen - das war alles,
was sie von Rainewood erwarten konnte. Und Gefühlskälte,
bissigen Sarkasmus, den sie ihrer Ansicht nach nicht verdiente ...
»Oh, ich habe schon in sehr jungen Jahren gelernt, was
man riskiert,wenn man sich über seinen Status erhebt.Dieses
Wissen brachte mir nicht viel ein. Aber sobald ich mein Ziel
erreiche, wird mir Gerechtigkeit widerfahren.« Nun brach
der Bann des Verbotenen, und sie hieß den heiteren Lärm
willkommen, der aus dem Ballsaal heraufdrang. Ohne den
Blick von ihm abzuwenden,fügte sie hinzu,was sie so inständig
ersehnte. »Wenn das geschieht, hoffe ich, wirst du dar-
an ersticken. Und jetzt wünsche ich dir einen angenehmen Abend, Raine.«
Seine dunklen Augen färbten sich schwarz, weil sie ihn
an die gemeinsame Vergangenheit erinnerte, an Geheimnisse,
an den Moment, wo sich ihre Wege unkontrollierbar gekreuzt hatten.
»Niemals wirst du dieses Ziel erreichen!«, rief er ihr
nach, als sie davonschlenderte, und verstieß gegen seine
Regel, Abigail in der Öffentlichkeit zu schneiden. Aber seine
Stimme klang erstaunlich ruhig, trotz der Glut, die seine
Miene verraten hatte.
Sie ging weiter und schaute über ihre Schulter. »Damit
sollten Sie nicht rechnen, Lord Rainewood, denn ich glaube,
unsere Rechnung wird zu meinen Gunsten aufgehen.«
»Zwischen uns existiert keine Rechnung mehr.«
Abigail neigte den Kopf. »Vielleicht bilden Sie sich das
in Ihrer Arroganz ein - ich sehe es anders. Sie haben alles zerstört. Nicht ich.«
Hinter diesen Worten steckte viel mehr als ein Hinweis
auf jene Zeit, in der sie freundschaftliche Wetten abgeschlossen
hatten. Der Schmerz - gemildert, aber immer
noch vorhanden - krampfte ihr Herz zusammen. Hastig
wandte sie sich ab, damit Rainewood nichts in ihren Augen
las. Er konnte ihre Gefühle so mühelos ergründen. Und er
besaß stärkere Munition.
Zu ihrer Verblüffung folgte er ihr nicht, versuchte nicht,
diesen letzten Angriff zu kontern, ihren gesellschaftlichen
Ruin mit der Offenbarung von Geheimnissen zu erzielen,
die ihr alle Türen verschließen würde.
2
Abigail stieg die Treppe hinab und drängte sich zwischen
den Tanzpaaren und Gruppen von Leuten hindurch, die am
Rand des Parketts standen und plauderten.
Vom Kleid einer jungen Frau, die im Takt der Musik dahinwirbelte,
löste sich ein Band und flatterte durch die Luft
zu Abigail. Sie fing das dünne blaue Satinband auf, schlang
es um ihre Finger und ging weiter. Mittlerweile war die junge
Dame mit ihrem Partner im Getümmel der Tänzer verschwunden.
Dass am Saum ihres Rocks eine Schleife fehlte, merkte sie nicht.
Abigails Hand umklammerte das befreite Band etwas
fester. So frei würde sie niemals sein. Sie eilte zu ihrer Mutter.
Inmitten der Menschenmenge, die den Ballsaal erfüllte,
hielt sie sich nur ungern auf. Doch dieser Ort erschien ihr
angenehmer als andere Möglichkeiten. Zum Beispiel ein
Seiltanz mit dem Teufel ...
»Kopf hoch, mein Kind. Und rück deinen Kragen zurecht.«
Abigail spürte, wie es ihre Mutter in den Fingern
juckte, zarte Spitze zu berühren, und sie trat rasch beiseite.
Sonst hätte sie Mama tatsächlich in Versuchung geführt.
Mrs Gerald Smart befolgte gewissenhaft alle Regeln der
besseren Gesellschaft. Aber manchmal vergaß sie sich in
ihrem eifrigen Streben nach sozialem Aufstieg. So verzweifelt
sehnte sie dieses Ziel herbei, so besessen kämpfte sie
darum, und deshalb missachtete sie die Strategie subtilerer Maßnahmen.
»Und wie schrecklich dein Haar aussieht! Was hast du denn gemacht?«
Abigail strich über ihre Locken, die niemals an den richtigen
Stellen blieben - ganz egal wie viele Nadeln ihre Zofe
oder sie selbst hineinstecken mochten. Seufzend fing sie einen
Blick der Gesellschafterin Mrs Browning auf, die bei
den älteren Damen an der Wand saß. Wie üblich kräuselte
sie missbilligend die Lippen.
»Ach, kümmere dich nicht darum«, fuhr die Mutter fort.
»Da kommt Mr Brockwell. So ein netter Gentleman. Tausend
Pfund pro Jahr. Aus guter Familie. Und er sieht richtig
smart aus.« Fröhlich lachte sie über ihr eigenes Bonmot,
und Abigail versuchte, nicht zusammenzuzucken. Bedauerlicherweise
ließen Mamas Manieren zu wünschen übrig.
Woher sie stammte, konnte sie niemals ganz verbergen, trotz aller Mühe.
Manchmal wünschte Abigail inbrünstig, ihr gegenwärtiges
Leben wäre nur ein Traum und die Vergangenheit
würde wieder auferstehen. Kein Lord Rainewood, keine
speziellen Geschenke, keine Angst vor der Entdeckung ...
Phillip Brockwell schlenderte heran, auf spindeldürren
Beinen und mit ungelenken Schritten.
»Ah, Mr Brockwell ...« Die Mutter musterte ihn von
Kopf bis Fuß. »Welch eine Freude, Sie an diesem schönen Abend hier anzutreffen!«
»Mrs Smart, Ihre Anwesenheit ist viel erfreulicher. Natürlich gilt
das auch für Miss Smart.«
Die Mutter nickte geschmeichelt, und Abigail nahm Phillips
Kompliment lächelnd zur Kenntnis. Wenn er auch nicht
vor Charme und geistreichem Witz sprühte - er tat immerhin sein Bestes.
»Wie freundlich von Ihnen, Mr Brockwell«, erwiderte
Mrs Smart. »Soeben hat Abigail von Ihnen gesprochen und
erklärt, sie würde Ihre Gesellschaft und die Gespräche mit
Ihnen überaus schätzen.«
Während er errötete, gelang es Abigail nur mit Mühe, ihr Lächeln beizubehalten.
»Was für eine wunderbare Gelegenheit, an diesem Abend
beides zu genießen«, säuselte ihre Mutter voller Genugtuung.
»Ah, ich glaube, unsere Gastgeberin winkt mich zu
sich. Wenn Sie mich bitte entschuldigen, Sir ...«
Sie hob eine Hand, um ihrerseits zu winken. Dann
schenkte sie Phillip ein letztes strahlendes Lächeln.
»Streng dich ein bisschen an«, befahl sie ihrer Tochter in
peinlichem bühnenreifem Flüsterton und steuerte das andere
Ende des Ballsaals an - ein Ziel, weit entfernt von der Gastgeberin.
Abigail überlegte, ob es irgendwie möglich wäre, ihre
Mutter in einem Schrank einzusperren.
Ohne zu protestieren, hatte sie sich bereitgefunden, gemeinsam
mit Mama eine Position im Zentrum der Hautevolee
zu erringen. Aber ihre Mutter machte es ihnen beiden sehr schwer.
Die Wangen immer noch gerötet, trat Phillip von einem
Fuß auf den anderen. »Wie geht es Ihnen, Miss Smart?«
»Danke, ganz ausgezeichnet, Mr Brockwell. Und wie
geht es Ihnen? Haben Sie den Punsch schon gekostet?« Sie
hob ihren Becher und versuchte dem armen Mann aus der
Verlegenheit zu helfen. »Vorhin hörte ich, Lady Malcolm
habe dieses neue Rezept von ihrer Reise auf die Inseln mitgebracht.«
Phillip grinste schief, und seine angespannten Schultern
lockerten sich ein wenig. »Ja, schon zwei Mal ...« Plötzlich
verkrampften sich die Schultern erneut.
Als sie sich umdrehte, sah sie Edwina Penshard heraneilen.
»Ah,Miss Smart,Mr Brockwell ...«Atemlos blieb die junge
Dame stehen. Mit ihren goldblonden Locken,den rosigen
Wangen und ihrer üppigen Figur glich sie den farbenfrohen,
voll erblühten Tulpen in ihrem liebevoll gepflegten Gar-
ten.Bei jeder Begegnung gelang es ihr,Abigail aufzuheitern.
Gregory, Edwinas Bruder, ein blonder Mann mit durchdringend
grünen Augen und einer messerscharfen Zunge,
folgte ihr. Auch er begrüßte Abigail und Phillip Brockwell.
Die Penshards genossen das außerordentliche Missvergnügen,
mit Rainewood verwandt zu sein, und meist führten
sich die beiden Gentlemen auf wie Tiger, die um dieselbe
Futterquelle herumschlichen.
Mit einem verkniffenen Lächeln verneigte Gregory sich
vor Abigail. In der letzten Woche hatte er sich ziemlich sonderbar
benommen. Da sie nicht naiv war, wusste sie, welche
Absichten er hegte, und sie fragte sich, ob sie ihn ermutigen
sollte. Irgendwie hatte er sie schon immer an Rainewoods
verstorbenen älteren Bruder erinnert. Und das warf Probleme auf.
Nach dem Tod des Bruders war Rainewood entschlossen
in dessen Fußstapfen getreten. Und die oberen Tausend verkrafteten
nur einen absoluten Herrscher.
Edwinas ungekünsteltes Lächeln vertiefte sich, worauf
Mr Brockwell noch heftiger errötete. Armer, unsterblich verliebter Phillip ...
»Was für ein wunderbarer Ball!«, schwärmte Edwina.
»Hoffentlich kann ich im Lauf des Abends mit Sir Walter
Malcolm, unserem Gastgeber, sprechen. Vor Kurzem hielt
er bei einer Versammlung des Gartenvereins eine Rede und
erklärte, ein Gärtner könnte das Wachstum der Pflanzen
mit positiven Gedanken fördern. Faszinierend!«
Phillip lockerte seine Krawatte, weil sein Hals unter
Edwinas leuchtendem Blick zu schwitzen begann. Ȇber
dieses Thema hielt er auch bei der Gesellschaft junger Wissenschaftler
einen fabelhaften Vortrag. Da dachte ich sofort
an Sie, meine liebe Miss Penshard, und Ihre positiven Gedanken.«
Armer Phillip ...
»Oh, wie nett, Mr Brockwell!« Edwina strahlte vor
Glück. »Also sind Sie dieser Gesellschaft beigetreten! Einfach großartig!«
»In der Tat«, bestätigte Phillip entzückt. Dann verengten
sich seine Augen, als er über Abigails Schulter spähte. »Allerdings
gibt es eine Fraktion, die hartnäckig versucht, die
Interessen des Vereins in andere Bahnen zu lenken.«
Abigail folgte seinem Blick zu einer Gruppe, die sich auf
der anderen Seite der Tanzfläche versammelt hatte. Enthusiastisch
umringten die elegantesten Mitglieder der jüngeren
Hautevolee ihr Idol - den Idioten.
»Hatten Sie Ärger mit diesen Leuten, Brockwell?«, fragte Gregory.
»Nicht so wichtig«, antwortete Phillip etwas zu schnell.
Am anderen Ende des Raums warf Rainewood den Kopf
nach links, eine Haarsträhne fiel in seine arrogante Stirn,
und er zeigte sich von seiner besten Seite, während er über
den Scherz eines seiner Kumpane lachte. Abigail bekämpfte
die verhasste Anziehungskraft und versuchte sich auf die albernen
Gesichter weißgekleideter, verträumter Mädchen zu
konzentrieren, die ebenfalls in seine Richtung starrten.
Zweifellos hoffte jede unverheiratete junge Dame, Raine
Copyright © 2010 für die deutsche Ausgabe
by Blanvalet Verlag, in der
Verlagsgruppe Random House, München
Umschlaggestaltung: © HildenDesign, München,
unter Verwendung eines Motivs von Leslie Peck
via Agentur Schlück GmbH
Redaktion: Barbara Müller
LH • Herstellung: sam
Satz: DTP Service Apel, Hannover
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN: 978-3-442-37557-8
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Autoren-Porträt von Anne Mallory
Seit Anne Mallory im Grundschulalter, die Liebesromane ihrer Mutter entdeckte, ist sie selbst begeisterte Leserin von historischen Romanzen. Ihr erster eigener Roman war unter den Finalisten für den Golden Heart Award 2003 der Romance Writers of America, seither begeistert Anne Mallory mit ihren spritzigen historischen Romanen Fans und Kritiker gleichermaßen. Anne Mallory lebt in Kalifornien in der Nähe von San Francisco.
Bibliographische Angaben
- Autor: Anne Mallory
- 2010, 411 Seiten, Maße: 12,5 x 18,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Eva Malsch
- Übersetzer: Eva Malsch
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442375576
- ISBN-13: 9783442375578
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