Land's End
Ein Spaziergang in Provincetown
Provincetown - eine Kleinstadt an der Spitze von Cape Cod - war die erste Station der Pilgerväter Amerikas und seitdem ein Anffangbecken für Außenseiter, Rebellen und Visionäre. Durch Zufall verschlug es Michael Cunningham vor gut 20 Jahren an diesen...
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Produktinformationen zu „Land's End “
Provincetown - eine Kleinstadt an der Spitze von Cape Cod - war die erste Station der Pilgerväter Amerikas und seitdem ein Anffangbecken für Außenseiter, Rebellen und Visionäre. Durch Zufall verschlug es Michael Cunningham vor gut 20 Jahren an diesen ungewöhnlichen Ort und er verfiel dem Zahl der Stadt inmitten von Sand und Meer...
Die Ostkte der USA mit ihren Landzungen und Inseln wie Martha's Vineyard ist als Refugium f die Superstars und Megareichen berhtigt. Aber mittendrin, wo Cape Cod ins Meer ragt, liegt ganz am Ende des Festlands Provincetown, 1720 gegrdet und damit eine der testen Stte Amerikas. Seit jeher hat diese exzentrische, verwirrend sche Stadt einen unwiderstehlichen Reiz auf Aunseiter aller Art ausget.
Als er vor mehr als zwanzig Jahren zum erstenmal hierherkommt, verflt Michael Cunningham dem besonderen Charakter der Landschaft mit ihren Den, Salzmarschen und Strden und dem eigenwilligen Charme der Einwohner. Und er entdeckt, daProvincetown mehr ist als ein Mekka f Sonnenanbeter und Miggger, mehr bietet als die bermten Strde f Schwule und Lesben, die witzigen Len und das ausschweifende Nachtleben. In dieser Stadt, auf Sand gebaut und von nur zwei Stran begrenzt, begann die Geschichte der USA. Hier finden sich noch Naturparadiese, Einsamkeit und Ruhe. Viele Schriftsteller und Kstler haben sich hierher zurkgezogen - Tennessee Williams und Eugene O'Neill, Norman Mailer, Mark Rothko und Robert Motherwell -, weil sie wie Cunningham hier einen Ort vorfanden, der ... anders war. Eine Zuflucht, deren Geschichte und Geheimnisse erfrt, wer den Erzler auf seinen Spazierggen begleitet.
Als er vor mehr als zwanzig Jahren zum erstenmal hierherkommt, verflt Michael Cunningham dem besonderen Charakter der Landschaft mit ihren Den, Salzmarschen und Strden und dem eigenwilligen Charme der Einwohner. Und er entdeckt, daProvincetown mehr ist als ein Mekka f Sonnenanbeter und Miggger, mehr bietet als die bermten Strde f Schwule und Lesben, die witzigen Len und das ausschweifende Nachtleben. In dieser Stadt, auf Sand gebaut und von nur zwei Stran begrenzt, begann die Geschichte der USA. Hier finden sich noch Naturparadiese, Einsamkeit und Ruhe. Viele Schriftsteller und Kstler haben sich hierher zurkgezogen - Tennessee Williams und Eugene O'Neill, Norman Mailer, Mark Rothko und Robert Motherwell -, weil sie wie Cunningham hier einen Ort vorfanden, der ... anders war. Eine Zuflucht, deren Geschichte und Geheimnisse erfrt, wer den Erzler auf seinen Spazierggen begleitet.
Lese-Probe zu „Land's End “
Provincetown steht auf einer schmalen Landzunge an der äußersten Spitze von Cape Cod, einem Widerhaken im Wasser, einem geologischen Glacis, ebenso flach wie fragil, das einst von Baumwurzeln zusammengehalten wurde. Der Großteil der Bäume wurde jedoch von den ersten Siedlern gefällt, und heutzutage, da die Wälder verschwunden sind, besteht das Land, auf dem Provincetown gebaut ist, im wesentlichen aus einer Sandbank, die nur über eine filigrane Verbindung mit dem Festland verfügt und fortwährend vom Wirken der Gezeiten umgestaltet wird. Als Henry David Thoreau Mitte des neunzehnten Jahrhunderts dort hinkam, bezeichnete er es als "eine dünne Scheibe Land, die flach auf dem Ozean liegt, die bloße Spiegelung einer Sandbank im darüber hängenden Dunst". Seither hat sich nicht viel verändert, jedenfalls nicht, wenn man es von weitem sieht. Am äußersten Ende des Kaps erbaut, das wie der Schnabelschuh eines Dschinns vor der Küste von Massachusetts ins Wasser ragt, zieht es sich am sanft gekrümmten Spann entlang und ist nicht dem offenen Meer zugewandt, sondern dem dickeren Arm von Cape Cod. Die fernen Lichter, die man bei Nacht auf der anderen Seite der Bucht sieht, stammen von den Nachbarstädten Truro, Wellfleet und Eastham. Wenn man im Hafen am Strand steht, hat man den eigentlichen Ozean im Rücken. Wenn man sich umdreht, quer durch die Stadt und die Dünen auf die andere Seite läuft und dann nach Osten segelt, legt man irgendwann in Lissabon an. Über Land führt nur der Weg, auf dem man hergekommen ist, wieder aus Provincetown fort.Die Stadt ist keineswegs unerreichbar, aber allzu leicht gelangt man nicht dorthin. Im achtzehnten Jahrhundert wurde die einzige Straße, die Provincetown mit dem übrigen Teil von Cape Cod verband, mitunter durch Stürme oder wechselnde Strömungen weggespült, und während dieser Zeit kam man nur mit dem Boot in die Stadt. Selbst wenn das Wetter und der Ozean mitspielten, blieben die Kutschen auf der sandigen Straße häufig stecken und kippten
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manchmal in die Brandung. Heute ist Provincetown fester und zuverlässiger angebunden. Man kann mit dem Auto hinfahren. Sowohl von Boston als auch von Providence aus dauert die Fahrt fast genau zwei Stunden, falls man nicht in dichten Verkehr gerät, was im Sommer allerdings unwahrscheinlich ist. Man kann von Boston aus auch hinfliegen - fünfundzwanzig Minuten dauert der Flug über die Bucht, und wenn man Glück hat, sieht man vom Flugzeug aus blasende Wale. Im Sommer, von Mitte Mai bis zum Columbus Day, verkehrt von Boston aus zweimal täglich eine Fähre. Provincetown ist von Natur aus ein Ziel. Dort endet das Land; es ist keine Zwischenstation zu einem anderen Ort. Einer seiner Reize besteht darin, daß diejenigen, die dort landen, einiges dafür auf sich genommen haben.
Provincetown ist drei Meilen lang und nur etwas mehr als zwei Häuserblocks breit. Zwei Straßen verlaufen von Ost nach West durch die ganze Stadt: die Commercial Street, eine schmale Einbahnstraße, an der fast alle Geschäfte liegen, und die Bradford Street, eine eher befahrbare, zweispurige Straße einen Häuserblock nördlich der Commercial. Die Wohnstraßen, teils kaum so breit wie ein Auto, verlaufen rechtwinklig in einem halbwegs regelmäßigen Schachbrettmuster zwischen der Commercial und der Bradford Street und schlängeln sich nördlich der Bradford in die Dünen oder ins bescheidene Dunkel des verbliebenen Waldes, je nachdem, was das Terrain vorgibt. Obwohl es die Stadt hier schon vor 1720 gab (dem Jahr, in dem sie offiziell gegründet wurde) und sie seither zahllose verheerende Stürme überstanden hat, könnte ein schwerer Hurrikan, der sie mit voller Wucht trifft, alles einfach hinwegfegen, da Provincetown kein Felsfundament, keinerlei festen Halt hat. Es ist auf Sand gebaut, so wie eine Siedlung in der Arktis mehr oder weniger auf Eis steht. Ein Reisender schrieb 1808 an seine Freunde in England, der Sand sei "so leicht, daß er um die Häuser treibt ... ähnlich wie Schnee bei einem Wintersturm. Es gibt keinen festen Boden; sobald man einen Schritt aus dem Haus tut, versinkt man im Sand". Thoreau bemerkte rund vierzig Jahre später: "Der Sand ist hier der große Feind ... Es gab eine Schule, in der der Sand bis zu den Schreibpulten stand."
Der Sand ist inzwischen gezähmt, und Provincetown treibt heutzutage auf einigen Schichten Asphalt, Beton und Ziegelsteinen im Meer. Aber das Erdreich für einen Garten beim eigenen Haus muß immer noch von anderswo hergeschafft werden. Das Gras und die Blumen, mit denen manch älteres Haus aufwartet, wachsen auf Erde, die als Ballast im Bauch der Schiffe vor hundert, zweihundert Jahren hierhergebracht wurde - auf einem Boden, der aus Europa, Asien oder Südamerika stammt. An stürmischen Tagen stieben nach wie vor Sandböen durch die Straßen.
Gab's eine zweite Stadt wie diese? Ganz sicher nicht. Wer die Menschheit en masse nur schwer ertrug, der mochte im Sommer, in bedrängender Enge, dahinwelken wie ein Blatt. Wer hingegen an Einsamkeit litt, der konnte sich im endlos langen Winter bis zum Rand vollsaugen mit Angst.
Rund sechzig bis siebzig Kilometer gegen Süden und Westen hin erstreckte sich Martha's Vineyard, Land voller Urgeschichte. Gebirge waren entstanden, vergangen, Meere hatten sich gehoben, gesenkt; Wälder und Sümpfe lebten und starben. Dinosaurier zogen durch Martha's Vineyard (jetzt war ihr Gebein von Stein umschlossen), und Gletscher kamen und gingen; sie bewegten die Insel in nördliche Richtung, schoben sie dann, wie eine Fähre, wieder weiter südlich. - In Martha's Vineyard gab es Fossilien, die viele Millionen Jahre alt waren; doch der nördliche Ausläufer von Cape Cod, wo mein Haus stand, wo das Land lag, das ich bewohnte - jene lange, gekrümmte Landzunge voller Sträucher und Dünen, die an der Spitze des Capes spiralenförmig in sich selbst verweist -: dieser Ausläufer war von Wind und See geformt worden in den letzten zehntausend Jahren - nach geologischer Zeit wohl kaum mehr als ein Wimpernschlag.
Ist Provincetown deshalb so schön? Weil die Stadt gleichsam in einer einzigen - und man möchte schwören: sturmdurchtobten - Nacht empfangen, gezeugt, geschaffen wurde? Frühmorgens glänzen die sandigen Flächen so feucht wie unberührte Urlandschaft, die sich zum erstenmal der Sonne entblößt. Jahrzehnt für Jahrzehnt kamen Maler, um das Licht von Provincetown zu malen, und man stellte Vergleiche zu den Lagunen von Venedig und den holländischen Marschen an.
Der Sommer war vorbei und die meisten Maler davon; und der lange Neuengland-Winter ließ jetzt schon seine schmuddlige Unterwäsche sehen - so trostlos grau wie mein Gemüt. Kein Wunder also, daß mir einfiel, wie blutjung dies Land noch war: bloß zehntausend Jahre alt und daher kein Boden, wo meine Gespenster Wurzeln schlugen. Nein, mit Martha's Vineyard konnte sich das nicht messen - nicht mit den Uralt-Fossilien dort, die ihre Uralt-Geister in sich bannten. Unsere Phantome hatten keine Behausung: Die fegte der Wind durch die beiden langen Straßen der Stadt, die gekrümmt um die Bucht herumstrebten wie zwei alte Jungfern auf dem Weg zur Kirche. norman mailer
aus Harte Männer tanzen nicht
Die Jahreszeiten
Im Hochsommer, wenn die Touristen kommen, ist die Einwohnerzahl von Provincetown schwer einzuschätzen. Im Winter hingegen schrumpft sie auf etwa 3800 Seelen. Ich finde die Stadt bei jedem Wetter hinreißend, aber wenn jemand einen ganz gewöhnlichen Urlaub am Strand verbringen möchte, kann er nur im Juli und August, vielleicht auch noch Anfang September darauf vertrauen, daß die Sonne scheint, und selbst dann kann es passieren, daß tage-, manchmal auch wochenlang vom Atlantik her Regenschauer aufziehen. Im Sommer ist es tagsüber warm, gelegentlich sogar heiß, bei Nacht immer kühl. Im Winter schneit es für gewöhnlich. Weil die Stadt aber rundum vom Meer umgeben ist, wird es hier nie so klirrend kalt wie in Boston, das siebenundzwanzig Meilen entfernt auf der anderen Seite der Bucht liegt.
Ich bin in Südkalifornien aufgewachsen, wo man es im allgemeinen gut findet, daß sich der Januar kaum vom Juni unterscheidet, und meine Jugendjahre scheinen teilweise dazu beigetragen zu haben, daß ich einen leichten Horror vor mildem Wetter habe, das Tag für Tag immer gleich bleibt. Provincetown stillt mein Verlangen nach Unbeständigkeit. Mitten an einem sonnigen Sommertag kann ein kalter Regenschauer niedergehen, wonach wieder die Sonne scheint, die Luft aber kühler und klarer ist. Im Februar sind ein paar strahlend schöne und relativ warme Tage nichts Ungewöhnliches. Meinen persönlichen Aufzeichnungen zufolge gibt es alljährlich zwei Zeiträume, die einander die Waage halten. Zum einen den tiefen Winter, in dem eine große arktische Kurve eisiger Stille vorherrscht. Der Himmel wird so strahlend blank und weiß wie die Leinwand des Autokinos in Wellfleet. Die Stadt ist in eine fahle Helligkeit getaucht, als ob das Licht nicht nur vom Himmel fiele, sondern auch von der braunen und grauen Erde aufstiege - von den winterlichen Gärten und stummen Fassaden der Häuser, den kahlen Zweigen der Bäume, der blaugrauen Bucht und den wie mattes Zinn schimmernden Straßen. Die Luft ist völlig still; geradezu grell leuchten die Farben. Wir alle, die wir zu dieser Zeit da sind, gehen dann behutsam durch die Straßen, ehrfürchtig, als hätten wir Angst, jemanden zu wecken. Wieviel Schönheit dieser Stadt auch immer innewohnen mag, jetzt zeigt sich Provincetown von seiner schönsten Seite - im Winterschlaf, so scheint es, offenbart sich die Stadt in ihrer wahren Gestalt, ohne Schmuck oder Federn, wie eine Königin aus weißem Marmor; eine Frau, die zu Lebzeiten launisch und unberechenbar gewesen sein mag, schmollend und schnell eingeschnappt, sich allzu leicht durch Samt und Brokat betören ließ; die jetzt auf ewig in einer Kathedralennische ruht, die Augen friedlich geschlossen, auf dem Gesicht ein Ausdruck entrückter Trauer, während die Lebenden mit ihren Kameras und Kerzen, ihren kleinen Gebeten vorbeiwuseln.
Dann ist da der Hochsommer, der ungefähr Mitte August oder kurz davor einkehrt. Provincetown liegt weit oben im Norden, näher an Novia Scotia als an Florida - der Herbst kommt dort zeitig. Um den Labor Day, den ersten Montag im September, sieht man an manchem Blatt schon Rot- und Gelbtöne. Aber in der zweiten Augustwoche (manchmal früher, manchmal später) ist die ganze Stadt wie eine tiefblaue Schale voller herrlicher Tage, lauter als im Winter, aber unterschwellig von einer ähnlichen Stille durchdrungen, einem ähnlichen Gefühl, daß die Welt so ist und immer so bleiben wird - warm und wohlig, wie ausgebleicht vom gleißenden Licht, sämtliche Kontraste von einem Schimmern gedämpft, das es einem schwermacht, genau festzustellen, wo der Ozean aufhört und der Himmel anfängt. Vor ein paar Jahren saß ich an einem Nachmittag im August lesend am Pier und hatte plötzlich das Gefühl, als wäre ich Teil einer riesigen Uhr, auf der es genau in diesem Augenblick Mittag war; als befände ich mich exakt in der Mitte des Jahres. Eine Minute zuvor war der Sommer noch vorangeschritten; eine Minute später neigte er sich bereits dem Ende zu, obwohl sich allem Anschein nach nichts verändert hatte.
Ich liebe diese Zeiten der Stille, freue mich regelrecht darauf, aber das Wetter finde ich persönlich am schönsten im späten Frühling und im Frühherbst. Im Mai und im Juni ist es in Provincetown meist neblig und dunstverhangen, und die Stadt wirkt so grün und ruhig wie ein Dorf in den schottischen Highlands. Unentwegt trötet das Nebelhorn, tagsüber wie auch des Nachts. Die Stadt bereitet sich auf den Sommer vor - die Geschäfte und Restaurants sind hell erleuchtet, das einzige verbliebene Kino öffnet wieder seine Pforten -, aber noch sind nur wenige Touristen eingetroffen. In diesen Wochen besteht die Bevölkerung fast ausschließlich aus den Leuten, die rund ums Jahr oder den ganzen Sommer lang hier leben, den Menschen, die in den Geschäften und Restaurants arbeiten, und sie laufen durch den Nebel auf der Commercial Street, begrüßen einander überschwenglich, erkundigen sich, wie der Winter war, und sind voller Lebensfreude, die sich stetig abnutzen wird, bis sie am oder um das erste Septemberwochenende ihren Tiefpunkt erreicht, wenn alle erschöpft und erbittert sind. Doch im Moment, in diesen Wochen, denken sie nur an das, was unmittelbar bevorsteht, all der Sex und das Tanzen, all das Geld, das zu verdienen ist. Hunderte von Fremden sind unterwegs - jeder könnte sich verlieben. Ein leichtes Funkeln liegt in der Luft, ein diesig grüner Schein, der im unentwegt fallenden Nieselregen um so kräftiger wirkt. Zu dieser Jahreszeit kann man nach Mitternacht die Commercial Street entlangspazieren, wenn die Straßenlaternen nur neblige Kreise beleuchten, und feststellen, daß man völlig allein ist, abgesehen von ein paar herumstöbernden Stinktieren, einem Mann namens Butchy, der einen blauen Motorradhelm trägt, einen brustlangen Bart hat und mit einem schwarzen Müllsack voller Krimskrams durch die Straßen zieht, und einem anderen Mann mit einer blonden Perücke und einem silbernen Lamékleid, der ohne Begleitung zwanzig Schritte vor einem geht und "Loving You" singt, wie eine durchgedrehte Lorelei, die noch immer Schiffer in den Tod zu locken sucht, obwohl sie nicht mehr das ist, was sie mal war.
Im Herbst, von Mitte September bis Ende Oktober, dreht sich der Prozeß um. Der Herbst ist vermutlich nirgendwo so durch und durch von der ihm eigenen herben, vergänglichen Schönheit erfüllt wie in einer Stadt, die sich anschickt, in den Winterschlaf zu sinken. Die Lichter gehen aus, eins nach dem anderen: Zuerst schließt das Kino, gefolgt von ein paar der kurzlebigeren Boutiquen. Jede Woche gibt es etwas weniger. Dennoch halten die meisten Geschäfte bis zum langen Wochenende um den Columbus Day am 12. Oktober aus, aber danach befindet sich die Stadt in der Winterstarre. Heutzutage ist das ganze Jahr über mehr geboten als bei meinem ersten Besuch vor zwanzig Jahren - bis Neujahr haben einige Lokale an den Wochenenden geöffnet, und ein paar machen schon im April wieder auf; inzwischen sind zwei gute Buchhandlungen und ein Plattenladen das ganze Jahr über offen -, aber Mitte Januar gibt es nur eine Handvoll Bars, ein, zwei Restaurants und ein paar vereinzelte Geschäfte. Im Februar kann man an einem Werktag spätabends die Commercial Street entlanglaufen, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Der Schnee stiebt von den Dächern und wirbelt glitzernd im Laternenschein durch die menschenleeren Straßen.
Aber vom Labor Day bis Halloween ist die Stadt fast unerträglich schön. In diesen Wochen wirkt die Luft weniger ätherisch als vielmehr halbfest, klar und doch irgendwie dicht, als wäre sie voller feinster goldener Pollen. Der Himmel wird strahlend eisblau, und alles und jeder ist in einen weichen, wie Gold wirkenden Glanz gehüllt. Blechbüchsen sehen bei diesem Licht gut aus; weggeworfene Einkaufstüten ebenso. Ich bin nicht Dichter genug, um zu schildern, wie die Salzmarsch bei auflaufender Flut aussieht. Ich gebe zu, daß ich, als ich das ganze Jahr über in Provincetown lebte, gegen Ende Oktober zusehends unruhiger wurde, wenn ein überirdisch schöner Tag um den anderen einem unterschwellig anzudeuten schien, daß die einzig vernünftige menschliche Verhaltensweise darin bestünde, all seine törichten Vorsätze und Pläne aufzugeben, hinauszugehen und auf die Knie zu fallen. Ich stellte fest, daß ich mich auf die relativ trostlosen Novembertage freute, wenn das Licht weißer wurde und die Straßen mit dürrem Laub bedeckt waren; wenn Büchsen und Einkaufstüten wieder einfach wie Müll aussahen. Im November käme ich wenigstens ein bißchen zum Arbeiten.
Copyright © in der Verlagsgruppe Random House
Provincetown ist drei Meilen lang und nur etwas mehr als zwei Häuserblocks breit. Zwei Straßen verlaufen von Ost nach West durch die ganze Stadt: die Commercial Street, eine schmale Einbahnstraße, an der fast alle Geschäfte liegen, und die Bradford Street, eine eher befahrbare, zweispurige Straße einen Häuserblock nördlich der Commercial. Die Wohnstraßen, teils kaum so breit wie ein Auto, verlaufen rechtwinklig in einem halbwegs regelmäßigen Schachbrettmuster zwischen der Commercial und der Bradford Street und schlängeln sich nördlich der Bradford in die Dünen oder ins bescheidene Dunkel des verbliebenen Waldes, je nachdem, was das Terrain vorgibt. Obwohl es die Stadt hier schon vor 1720 gab (dem Jahr, in dem sie offiziell gegründet wurde) und sie seither zahllose verheerende Stürme überstanden hat, könnte ein schwerer Hurrikan, der sie mit voller Wucht trifft, alles einfach hinwegfegen, da Provincetown kein Felsfundament, keinerlei festen Halt hat. Es ist auf Sand gebaut, so wie eine Siedlung in der Arktis mehr oder weniger auf Eis steht. Ein Reisender schrieb 1808 an seine Freunde in England, der Sand sei "so leicht, daß er um die Häuser treibt ... ähnlich wie Schnee bei einem Wintersturm. Es gibt keinen festen Boden; sobald man einen Schritt aus dem Haus tut, versinkt man im Sand". Thoreau bemerkte rund vierzig Jahre später: "Der Sand ist hier der große Feind ... Es gab eine Schule, in der der Sand bis zu den Schreibpulten stand."
Der Sand ist inzwischen gezähmt, und Provincetown treibt heutzutage auf einigen Schichten Asphalt, Beton und Ziegelsteinen im Meer. Aber das Erdreich für einen Garten beim eigenen Haus muß immer noch von anderswo hergeschafft werden. Das Gras und die Blumen, mit denen manch älteres Haus aufwartet, wachsen auf Erde, die als Ballast im Bauch der Schiffe vor hundert, zweihundert Jahren hierhergebracht wurde - auf einem Boden, der aus Europa, Asien oder Südamerika stammt. An stürmischen Tagen stieben nach wie vor Sandböen durch die Straßen.
Gab's eine zweite Stadt wie diese? Ganz sicher nicht. Wer die Menschheit en masse nur schwer ertrug, der mochte im Sommer, in bedrängender Enge, dahinwelken wie ein Blatt. Wer hingegen an Einsamkeit litt, der konnte sich im endlos langen Winter bis zum Rand vollsaugen mit Angst.
Rund sechzig bis siebzig Kilometer gegen Süden und Westen hin erstreckte sich Martha's Vineyard, Land voller Urgeschichte. Gebirge waren entstanden, vergangen, Meere hatten sich gehoben, gesenkt; Wälder und Sümpfe lebten und starben. Dinosaurier zogen durch Martha's Vineyard (jetzt war ihr Gebein von Stein umschlossen), und Gletscher kamen und gingen; sie bewegten die Insel in nördliche Richtung, schoben sie dann, wie eine Fähre, wieder weiter südlich. - In Martha's Vineyard gab es Fossilien, die viele Millionen Jahre alt waren; doch der nördliche Ausläufer von Cape Cod, wo mein Haus stand, wo das Land lag, das ich bewohnte - jene lange, gekrümmte Landzunge voller Sträucher und Dünen, die an der Spitze des Capes spiralenförmig in sich selbst verweist -: dieser Ausläufer war von Wind und See geformt worden in den letzten zehntausend Jahren - nach geologischer Zeit wohl kaum mehr als ein Wimpernschlag.
Ist Provincetown deshalb so schön? Weil die Stadt gleichsam in einer einzigen - und man möchte schwören: sturmdurchtobten - Nacht empfangen, gezeugt, geschaffen wurde? Frühmorgens glänzen die sandigen Flächen so feucht wie unberührte Urlandschaft, die sich zum erstenmal der Sonne entblößt. Jahrzehnt für Jahrzehnt kamen Maler, um das Licht von Provincetown zu malen, und man stellte Vergleiche zu den Lagunen von Venedig und den holländischen Marschen an.
Der Sommer war vorbei und die meisten Maler davon; und der lange Neuengland-Winter ließ jetzt schon seine schmuddlige Unterwäsche sehen - so trostlos grau wie mein Gemüt. Kein Wunder also, daß mir einfiel, wie blutjung dies Land noch war: bloß zehntausend Jahre alt und daher kein Boden, wo meine Gespenster Wurzeln schlugen. Nein, mit Martha's Vineyard konnte sich das nicht messen - nicht mit den Uralt-Fossilien dort, die ihre Uralt-Geister in sich bannten. Unsere Phantome hatten keine Behausung: Die fegte der Wind durch die beiden langen Straßen der Stadt, die gekrümmt um die Bucht herumstrebten wie zwei alte Jungfern auf dem Weg zur Kirche. norman mailer
aus Harte Männer tanzen nicht
Die Jahreszeiten
Im Hochsommer, wenn die Touristen kommen, ist die Einwohnerzahl von Provincetown schwer einzuschätzen. Im Winter hingegen schrumpft sie auf etwa 3800 Seelen. Ich finde die Stadt bei jedem Wetter hinreißend, aber wenn jemand einen ganz gewöhnlichen Urlaub am Strand verbringen möchte, kann er nur im Juli und August, vielleicht auch noch Anfang September darauf vertrauen, daß die Sonne scheint, und selbst dann kann es passieren, daß tage-, manchmal auch wochenlang vom Atlantik her Regenschauer aufziehen. Im Sommer ist es tagsüber warm, gelegentlich sogar heiß, bei Nacht immer kühl. Im Winter schneit es für gewöhnlich. Weil die Stadt aber rundum vom Meer umgeben ist, wird es hier nie so klirrend kalt wie in Boston, das siebenundzwanzig Meilen entfernt auf der anderen Seite der Bucht liegt.
Ich bin in Südkalifornien aufgewachsen, wo man es im allgemeinen gut findet, daß sich der Januar kaum vom Juni unterscheidet, und meine Jugendjahre scheinen teilweise dazu beigetragen zu haben, daß ich einen leichten Horror vor mildem Wetter habe, das Tag für Tag immer gleich bleibt. Provincetown stillt mein Verlangen nach Unbeständigkeit. Mitten an einem sonnigen Sommertag kann ein kalter Regenschauer niedergehen, wonach wieder die Sonne scheint, die Luft aber kühler und klarer ist. Im Februar sind ein paar strahlend schöne und relativ warme Tage nichts Ungewöhnliches. Meinen persönlichen Aufzeichnungen zufolge gibt es alljährlich zwei Zeiträume, die einander die Waage halten. Zum einen den tiefen Winter, in dem eine große arktische Kurve eisiger Stille vorherrscht. Der Himmel wird so strahlend blank und weiß wie die Leinwand des Autokinos in Wellfleet. Die Stadt ist in eine fahle Helligkeit getaucht, als ob das Licht nicht nur vom Himmel fiele, sondern auch von der braunen und grauen Erde aufstiege - von den winterlichen Gärten und stummen Fassaden der Häuser, den kahlen Zweigen der Bäume, der blaugrauen Bucht und den wie mattes Zinn schimmernden Straßen. Die Luft ist völlig still; geradezu grell leuchten die Farben. Wir alle, die wir zu dieser Zeit da sind, gehen dann behutsam durch die Straßen, ehrfürchtig, als hätten wir Angst, jemanden zu wecken. Wieviel Schönheit dieser Stadt auch immer innewohnen mag, jetzt zeigt sich Provincetown von seiner schönsten Seite - im Winterschlaf, so scheint es, offenbart sich die Stadt in ihrer wahren Gestalt, ohne Schmuck oder Federn, wie eine Königin aus weißem Marmor; eine Frau, die zu Lebzeiten launisch und unberechenbar gewesen sein mag, schmollend und schnell eingeschnappt, sich allzu leicht durch Samt und Brokat betören ließ; die jetzt auf ewig in einer Kathedralennische ruht, die Augen friedlich geschlossen, auf dem Gesicht ein Ausdruck entrückter Trauer, während die Lebenden mit ihren Kameras und Kerzen, ihren kleinen Gebeten vorbeiwuseln.
Dann ist da der Hochsommer, der ungefähr Mitte August oder kurz davor einkehrt. Provincetown liegt weit oben im Norden, näher an Novia Scotia als an Florida - der Herbst kommt dort zeitig. Um den Labor Day, den ersten Montag im September, sieht man an manchem Blatt schon Rot- und Gelbtöne. Aber in der zweiten Augustwoche (manchmal früher, manchmal später) ist die ganze Stadt wie eine tiefblaue Schale voller herrlicher Tage, lauter als im Winter, aber unterschwellig von einer ähnlichen Stille durchdrungen, einem ähnlichen Gefühl, daß die Welt so ist und immer so bleiben wird - warm und wohlig, wie ausgebleicht vom gleißenden Licht, sämtliche Kontraste von einem Schimmern gedämpft, das es einem schwermacht, genau festzustellen, wo der Ozean aufhört und der Himmel anfängt. Vor ein paar Jahren saß ich an einem Nachmittag im August lesend am Pier und hatte plötzlich das Gefühl, als wäre ich Teil einer riesigen Uhr, auf der es genau in diesem Augenblick Mittag war; als befände ich mich exakt in der Mitte des Jahres. Eine Minute zuvor war der Sommer noch vorangeschritten; eine Minute später neigte er sich bereits dem Ende zu, obwohl sich allem Anschein nach nichts verändert hatte.
Ich liebe diese Zeiten der Stille, freue mich regelrecht darauf, aber das Wetter finde ich persönlich am schönsten im späten Frühling und im Frühherbst. Im Mai und im Juni ist es in Provincetown meist neblig und dunstverhangen, und die Stadt wirkt so grün und ruhig wie ein Dorf in den schottischen Highlands. Unentwegt trötet das Nebelhorn, tagsüber wie auch des Nachts. Die Stadt bereitet sich auf den Sommer vor - die Geschäfte und Restaurants sind hell erleuchtet, das einzige verbliebene Kino öffnet wieder seine Pforten -, aber noch sind nur wenige Touristen eingetroffen. In diesen Wochen besteht die Bevölkerung fast ausschließlich aus den Leuten, die rund ums Jahr oder den ganzen Sommer lang hier leben, den Menschen, die in den Geschäften und Restaurants arbeiten, und sie laufen durch den Nebel auf der Commercial Street, begrüßen einander überschwenglich, erkundigen sich, wie der Winter war, und sind voller Lebensfreude, die sich stetig abnutzen wird, bis sie am oder um das erste Septemberwochenende ihren Tiefpunkt erreicht, wenn alle erschöpft und erbittert sind. Doch im Moment, in diesen Wochen, denken sie nur an das, was unmittelbar bevorsteht, all der Sex und das Tanzen, all das Geld, das zu verdienen ist. Hunderte von Fremden sind unterwegs - jeder könnte sich verlieben. Ein leichtes Funkeln liegt in der Luft, ein diesig grüner Schein, der im unentwegt fallenden Nieselregen um so kräftiger wirkt. Zu dieser Jahreszeit kann man nach Mitternacht die Commercial Street entlangspazieren, wenn die Straßenlaternen nur neblige Kreise beleuchten, und feststellen, daß man völlig allein ist, abgesehen von ein paar herumstöbernden Stinktieren, einem Mann namens Butchy, der einen blauen Motorradhelm trägt, einen brustlangen Bart hat und mit einem schwarzen Müllsack voller Krimskrams durch die Straßen zieht, und einem anderen Mann mit einer blonden Perücke und einem silbernen Lamékleid, der ohne Begleitung zwanzig Schritte vor einem geht und "Loving You" singt, wie eine durchgedrehte Lorelei, die noch immer Schiffer in den Tod zu locken sucht, obwohl sie nicht mehr das ist, was sie mal war.
Im Herbst, von Mitte September bis Ende Oktober, dreht sich der Prozeß um. Der Herbst ist vermutlich nirgendwo so durch und durch von der ihm eigenen herben, vergänglichen Schönheit erfüllt wie in einer Stadt, die sich anschickt, in den Winterschlaf zu sinken. Die Lichter gehen aus, eins nach dem anderen: Zuerst schließt das Kino, gefolgt von ein paar der kurzlebigeren Boutiquen. Jede Woche gibt es etwas weniger. Dennoch halten die meisten Geschäfte bis zum langen Wochenende um den Columbus Day am 12. Oktober aus, aber danach befindet sich die Stadt in der Winterstarre. Heutzutage ist das ganze Jahr über mehr geboten als bei meinem ersten Besuch vor zwanzig Jahren - bis Neujahr haben einige Lokale an den Wochenenden geöffnet, und ein paar machen schon im April wieder auf; inzwischen sind zwei gute Buchhandlungen und ein Plattenladen das ganze Jahr über offen -, aber Mitte Januar gibt es nur eine Handvoll Bars, ein, zwei Restaurants und ein paar vereinzelte Geschäfte. Im Februar kann man an einem Werktag spätabends die Commercial Street entlanglaufen, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Der Schnee stiebt von den Dächern und wirbelt glitzernd im Laternenschein durch die menschenleeren Straßen.
Aber vom Labor Day bis Halloween ist die Stadt fast unerträglich schön. In diesen Wochen wirkt die Luft weniger ätherisch als vielmehr halbfest, klar und doch irgendwie dicht, als wäre sie voller feinster goldener Pollen. Der Himmel wird strahlend eisblau, und alles und jeder ist in einen weichen, wie Gold wirkenden Glanz gehüllt. Blechbüchsen sehen bei diesem Licht gut aus; weggeworfene Einkaufstüten ebenso. Ich bin nicht Dichter genug, um zu schildern, wie die Salzmarsch bei auflaufender Flut aussieht. Ich gebe zu, daß ich, als ich das ganze Jahr über in Provincetown lebte, gegen Ende Oktober zusehends unruhiger wurde, wenn ein überirdisch schöner Tag um den anderen einem unterschwellig anzudeuten schien, daß die einzig vernünftige menschliche Verhaltensweise darin bestünde, all seine törichten Vorsätze und Pläne aufzugeben, hinauszugehen und auf die Knie zu fallen. Ich stellte fest, daß ich mich auf die relativ trostlosen Novembertage freute, wenn das Licht weißer wurde und die Straßen mit dürrem Laub bedeckt waren; wenn Büchsen und Einkaufstüten wieder einfach wie Müll aussahen. Im November käme ich wenigstens ein bißchen zum Arbeiten.
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Autoren-Porträt von Michael Cunningham
Michael Cunningham wurde 1952 in Cincinnati, Ohio, geboren und wuchs in Pasadena, Kalifornien, auf. Er lebt in New York City. Für 'Die Stunden' erhielt Michael Cunningham u.a. den PEN/Faulkner Award und den Pulitzerpreis, der Roman wurde bisher in elf Sprachen übersetzt.Georg Schmidt, geb. 1952 in Oberfranken, ist Journalist und Lektor sowie der Übersetzer von u.a. James Lee Burke, James Crumley, James Ellroy, Richard Lourie, Paco Ignacio Taibo, Michael Cunningham und Andrew Vachss.
Bibliographische Angaben
- Autor: Michael Cunningham
- 2003, 189 Seiten, Maße: 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Schmidt, Georg
- Verlag: Luchterhand Literaturverlag
- ISBN-10: 363087164X
- ISBN-13: 9783630871646
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