Leben und Schreiben: 1 Tagebücher 1951-1962
Im September 1951 - dem Monat, mit dem Martin Walsers Tagebücher beginnen - ist er 24, und Jahre trennen ihn von seinem ersten Buch. "Noch kann mich niemand kennen. Ich bin noch nicht da" schreibt er in dieser frühen Zeit. Er berichtet von Romanen und...
Im September 1951 - dem Monat, mit dem Martin Walsers Tagebücher beginnen - ist er 24, und Jahre trennen ihn von seinem ersten Buch. "Noch kann mich niemand kennen. Ich bin noch nicht da" schreibt er in dieser frühen Zeit. Er berichtet von Romanen und Romanideen, von Reisen und Sylvesterpartys, von Krankenhausaufenthalten, Begegnungen, Gesprächen. Sein Tasten und anfängliches Zweifeln als Autor finden sich ebenso darin wie sein Lebenshunger und der Wunsch, die "freundlich-schmerzlichen Wege weiterrutschen und die Welt wie ein Beerenfeld leer essen" zu können. Er erzählt vom "Abschlachten von Erwartungen", von der "Sucht der Sehnsucht", vom Schreiben als "Spielen vor einem Altar". Doch Martin Walser ist ein Verwandlungskünstler: Er verwandelt das Leben in Literatur. Stets werden seine Romane für autobiographisch gehalten, selten zu Recht. Wer nun seine Tagebücher aufschlägt, erkennt, dass sogar sie eher Dokumente seines Schreibens als seines Lebens sind. Genau dies macht sie zu einem Kunstwerk von hohem Rang.
Tagebücher 1951-1962. Leben und Schreiben von Martin Walser
LESEPROBE
1951
15.9.1951
Die Sprache ist etwas, was man trotzder einzelnen Sätze und Wörter noch spüren muß. DerDichter führt eine freie Melodie ins Unsichtbare. Wer mitgeht, sieht späteretwas.
Arbeiten für diesen Winter:
1. Ein Vertreter, der dasWundergerät AQ verkauft und durch das Fenster die verzweifelte Familiebeobachtet, die über dem Gerät, mit dem sie nichts mehr anzufangen weiß, zusammensinkt.Der Vater, der die Frau schlägt, weil sie dem Vertreter erlag (im Kauf!).
2. Die drei Damen, alte Damen, diedas Mädchen (die Untermieterin) abends nicht mehr ausgehen lassen wollen, sie muß mit Karten spielen! Die Damen werden Spinnen beimKartenspielen, sie fressen die Karten dem Mädchen aus der Hand und kriechen aufseinen Brüsten herum. Der Freund hat kein Gefühl für das Mädchen! Er lacht überdie Spinnen!
3. Achill im Lager: nicht wegen desMädchens, das ihm Agamemnon nahm, sondern aus «Feigheit»! Nestor kommt undmahnt! Achill schält Kartoffeln und dichtet Spottlieder! Er unterhält sich mitden Göttern und entwaffnet sie durch seine lustigen Sprüche. Komplott gegen dieGötter: diese sollen gegeneinander kämpfen und die Troer und die GriechenFrieden schließen.
4. «Die gebrauchten Kleider» des Totenwächters. Jubiläumsfeier. Mit den Enthüllungen ausseiner langen Berufstätigkeit. Die armen und die reichen Toten.
10.10.1951
Da ist nun die Sprache. Ein Dichterhat sie ins Buch gebracht, weil er keinen besseren Platz für sie fand. Sie paßt nicht hinein. An allen Ecken und Enden fährt siedarüber hinaus. Sie gibt nicht zu, in Zeilen geschrieben zu sein. Es ist eineUnverschämtheit, sie für Gedrucktes zu halten.
Der Dichter bläst ein Seil in denHimmel. Das Seil peitscht in großen Kurven durch die Luft und will nicht ruhigsein. Der Dichter bläst ein Haus dazu und zwei unglückliche Menschen. Das Seilgibt keine Ruhe. Er bläst eine Barockorgel hinauf und eine mittlereStraßenwalze und einen veralteten Kaufladen, der auf der Erde sowieso baldunter den Hammer gekommen wäre, dazu noch den fetten Krämer mit seiner bösenFrau und die vierte Klasse der Mädchenoberschule inklusive Chemielehrerin. DasSeil wird ruhiger, aber nicht ruhig. Es reißt alles, was da hinaufgeblasenwurde, in großen Bögen durch die Luft, wirbelt den alten Krämer auf die Orgel, daß das Manuale bricht, klatscht die Erdkundelehrerin aufdie Straßenwalze, daß die Walze AU schreit, und dieMädchen schreien iii und fühlen sich gekitzelt. Das alles beobachtet der Leser mitSorge. Er soll es nämlich lesen und möchte gern wissen, in welcher Höhe sichdas Seil aufhält und wie man da hinaufkommt.
10.11.1951
Könnte schreiben. Verhindert wegenRigorosum!
In diesem Café war keine Bedienung,mit der man hätte schlafen wollen, deswegen Exitus!
Ich gehe nicht mehr auf die Straße,weil heute alle Menschen schweben. Ich gehe nie mehr aus meinem Zimmer. «Zuhaben, als hätte man nicht.»
Roschmann ist immer ganz kurz vor derVerwirklichung! Jetzt kommt der Handwerker! Das ist ein Grund für Roschmann zu denken, der Handwerker wolle ihn einschließen(durch viele Einzelreparaturen). Roschmann bestellttäglich Freunde, mit denen er nichts mehr zu sprechen weiß, nur um die Tür offenzuhalten. Als der Handwerker, wie alle Handwerker, dieRechnung kassiert und geht, ist Roschmann enttäuscht.Jetzt ist niemand mehr da, dem er die Schuld geben kann, daßer seinen Plan nicht verwirklichen kann.
Der Professor liest seine eigenenManuskripte vor, spricht von sich per «er» und stirbt stehend auf dem Katheder.Niemand wagt, ihn wegzuschaffen. Der Nachfolger stellt sich neben ihn undliest immer wieder das zuletzt aufgeschlagene Blatt vor.
25.11.1951
Altmetalle: Alle sammeln, stehlen,liefern ab! Der Einzelhändler drängt zum Großhändler, der zum ganz Großen undder auf den Weltmarkt und von dort in die Stahlindustrie und von dort alsKanonen und Waffen zurück zu den kleinen Leuten.
Wenn Griechen und Troer doch daraufgekommen wären, die Götter gegeneinander kämpfen zu lassen.
Der Autor hat so wenig Flügel wieder Leser. Weil der Autor aber keinem Beruf nachgeht, der ihn ablenken könnte,weil er, im Gegenteil, von Berufs wegen die leere Stelle fühlt, an der dieFlügel wachsen müßten, deshalb empfindet er denFlügelmangel besonders, und darüber läßt er sich aus.Es bedarf dazu keiner Phantasie. Wie sich Gedachtes, Gewünschtes, immer wiederin Wirklichkeit verwandelt und sich dabei verliert und verliert, dieser Abfall.Und dann die unwillkürliche Verklärung durch Vergangensein, die man jenemAbfall nicht mehr ohne Ironie durchgehen lassen kann, das sind die Erfahrungendes Autors beziehungsweise seine Phantasie.
Dezember. In einem Hausgang.
Häuser, in denen die Handwerkerwühlen, ziehen mich an. Wenn Tapeten heruntergerissen werden, bin ich dabei.Wie der Gips unterm Hammer zerspritzt, sehe ich aufatmend. Eine Türleibung wirdzerschlagen, bravo. Ich möchte mir gern erklären, warum ich mich nicht sattsehen kann an den Dachsparren, die zutage kommen, wenn die Platten in denHinterhof klatschen. Weil ich mich gern jenseits der durch rote Fähnchenmarkierten Linie aufhalte, hab ich mir einen kleinen Kunststoffhelm gekauft.Den setz ich auf und werde deshalb überall, wo es nötig ist, für einen Bauingenieurgehalten. Ich bleibe in ausgeweideten Häusern, bis die Handwerker gehen. NachFeierabend gehe ich durch die verwüsteten Räume und versuche zuzuhören.
Tagebuch eines politischenFeiglings: Tatsachen und kleine Selbstverständlichkeiten, provozierend aneinandergeflochten.
Es besteht Anlaß.
So mit Schritten, die der Bodenfürchten muß, ging ich die Straße hinab, Wolkenzerteilend, die Füße immer wieder bändigend, und war nicht überrascht, alssich erwies, die Ansammlung sei ein Sarg mit Leutetrauben dran, durch die Stadtkriechend auf der Suche nach einem Friedhof. Sofort bitte ich den Uhrenhändler,seine Markisen gefälligst herunterzulassen, verspreche dem TotenAppetitlosigkeit und stampfe schnurstracks unter die Anlagenbäume. Erstens, um siegegen Angriffe der Friedhofsucher zu verteidigen, zweitens, weil ich mich beiRinden am besten von aller Etwaigkeit erhole. Eine Dame, der die Augen vorStaunen rauchen, vertreibe ich aus dem Gelände. Ein Käfer und ich auf der Bank.Wir sind die wahren Polizisten. Uns wäre zu danken. Bei der nächstenGelegenheit werden wir. Das ist sicher. Bloß was? Das weiß noch nicht einmalunser Feind, der doch unsere Zukunft von Amts wegen verwaltet.
© Rowohlt Verlag
- Autor: Martin Walser
- 2005, 1. Auflage., 672 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 15 x 22 cm, Leinen, Deutsch
- Verlag: Rowohlt
- ISBN-10: 3498073559
- ISBN-13: 9783498073558
- Erscheinungsdatum: 23.09.2005
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