Lebenskunst
Wege zur inneren Freiheit
In jedem Leben gibt es Verpflichtungen und Zwänge, denen wir uns stellen müssen. Wie wir unsere innere Freiheit dennoch erhalten können und unsere Persönlichkeit so entfalten, dass unser Leben erfüllt und glücklich ist, zeigt...
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Buch
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Lebenskunst “
In jedem Leben gibt es Verpflichtungen und Zwänge, denen wir uns stellen müssen. Wie wir unsere innere Freiheit dennoch erhalten können und unsere Persönlichkeit so entfalten, dass unser Leben erfüllt und glücklich ist, zeigt der renommierte Psychologe Peter Lauster in diesem einfühlsamen Buch.
Klappentext zu „Lebenskunst “
Diese Buch weist neue Wege zur schöpferischen Persönlichkeitsentfaltung und zur inneren Freiheit. Eindringlich zeigt Peter Lauster, dass Fremdbestimmung, falsche Lebensphilosophien und seelische Blockaden abgebaut werden können und müssen, damit wir uns selbst und unsere Individualität entfalten können.
Lese-Probe zu „Lebenskunst “
Lebenskunst von Peter LausterDer Mensch wird mit wenigen vorprogrammierten Instinkten in die Welt hineingeboren, mit der in der Natur höchsten Möglichkeit, sich zu entwickeln. Der Mensch kommt als ein fast leeres Gefäß zur Welt, in das nach und nach Inhalte hineingegossen werden. Diese Inhalte sind Verhaltensregeln, Normen, religiöse und moralische Erfahrungen, Informationen, gegeben von den verschiedensten Seiten und Interessengruppen, zuerst von den Eltern, dann von Lehrern, Lehrherren, Professoren, Freunden, von Liebes- oder Ehepartnern, von privaten oder beruflichen Ratgebern aller Art. Das Gefäß wird voller und voller, bis es schließlich so voll erscheint, dass das Individuum es ablehnt, noch weitere Informationen aufzunehmen und sich mit den alten Inhalten begnügt.
Im Gespräch sagte mir jemand zum Thema Partnerschaft und persönliche Freiheit: «Das Thema habe ich ausdiskutiert.»
Eine weitere Bereitschaft zur Diskussion bestand nicht mehr.
Die eigene Meinung war gefestigt, für weitere Informationen schien kein Platz mehr zu sein.
Ein anderer Gesprächspartner meinte einmal: «Ich habe keine Lust, mich über dieses Thema zu unterhalten, denn ich habe ja doch meine eigene Meinung.» Eine junge Frau erzählte mir in der Praxis, dass sie ihren Ehemann gebeten hätte, mein Buch «Die Liebe» zu lesen, worauf er ihr geantwortet hätte: «Ich habe meine eigene Auffassung von der Liebe, da brauch ich kein Buch, das interessiert mich nicht.» Das sind Beispiele dafür, dass das Bedürfnis nach weiteren Informationen mit zunehmendem Alter oft abnimmt.
Die Gefäßmetapher ist materialistisch, alle Materie hat einen Anfang und ein Ende. Ist das Bild vom Gefäß wirklich auf den Menschen, seine Seele und seinen Geist übertragbar? Nicht ganz – denn ich stelle mir dieses
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Gefäß mit unendlichem Fassungsvermögen vor. Die Aufnahmefähigkeit des Menschen ist unbegrenzt, ein Thema ist nur dann erschöpft, wenn ich es so will; es bleibt ewig jung und lebendig, wenn ich dafür offen bin. Indische Gurus gebrauchen das Bild von der gefüllten Schale, wenn Suchende zu ihnen kommen, um sich Lebensweisheit vermitteln zu lassen, sie sagen «erst muss dein Gehirn leer werden, damit du frei bist für den neuen Inhalt».
Kann die Schale wirklich einfach ausgegossen werden? Das menschliche Gedächtnis speichert alle Inhalte als elektrochemische Engramme, wie die Gehirnforscher sagen, sie können nur mit chemischen Mitteln oder operativ zerstört werden. Die Gehirninhalte können also nicht einfach ausgeschüttet werden; wir können sie jederzeit hervorholen und sie uns von allen Seiten betrachten. Jeder Inhalt hat viele Seiten und steht in einem Sinnzusammenhang, der veränderlich ist, der je nach Lust und Laune wechselt.
Wer in die psychologische Beratungspraxis kommt, weiß nicht mehr, was richtig und falsch ist; er hat in Frage gestellt, was andere Menschen von ihm erwarten, was er selbst von sich erwarten kann, wer er ist, worin der Sinn seines Lebens, seiner Partnerschaft und seines Berufes besteht. Die alten Inhalte beginnen in ihrer Bedeutung und ihrer Wertigkeit zu schillern. Was bisher klar und sicher war, wird brüchig und unsicher. Was bisher «richtig» erschien, wird fragwürdig, wenn nicht gar falsch. Die Diskussion ist nicht beendet, sondern sie wird plötzlich wieder aktuell. Ich weiß nicht mehr, was Liebe ist, es ist mir unklar, ob ich meinen Partner liebe und ob er mich wirklich liebt. Das scheinbar so geschlossene System hat durch eine seelische Erschütterung plötzlich Risse bekommen. Die scheinbar endgültig geklärten Tatsachen beginnen sich zu verändern, ein anderes Licht scheint auf sie, und in diesem Licht erscheinen sie anders, neu, verändert, nicht mehr greifbar, sie schrumpfen zusammen, oder sie beginnen zu wachsen.
Was bisher eine unwichtige Bagatelle war, wird plötzlich sehr bedeutsam; wonach ich bisher gestrebt habe, verliert an Sinn und Attraktivität. Was ist richtig und falsch? Der Freund wird zum Feind, die Geliebte zur Hure, der Seelsorger zum Betrüger, der Lehrer zum Hanswurst, der Friedensapostel zum Gewalttäter, der bescheidene Samariter zum geltungssüchtigen Menschenverächter und so fort. Die Inhalte in meinem Gefäß sind nichts Statisches, sie beginnen plötzlich zu leben. Keiner kann mich dazu auffordern, dass es geschieht. Das Leben selbst führt durch Ereignisse diese Erschütterung herbei. Es gibt zwei Arten, hierauf zu reagieren: Entweder klammert man sich umso fester und beharrlicher an die alten Bedeutungen und wird dadurch starrer, verfestigter, unbeirrbarer und verkalkter im alten Schema, oder man wirft sich offen dem Neuen entgegen.
Die meisten Menschen reagieren erfahrungsgemäß mit der ersten Reaktionsweise. Sie verschließen sich, kapseln sich ein, halten an den alten Interpretationen und Werten fest und wiegen sich so in dem Gefühl von Sicherheit. Sie sind dann das Zentrum von Sicherheit und Ordnung, und draußen braust das Chaos – sie halten dem Chaos stand, indem sie Jahr um Jahr neue Kalkschichten bilden, um den Stürmen des Lebens mit einer Schutzschicht zu trotzen. Sie erscheinen stabil und lebenstüchtig, sie hüten die Wahrheit, ihre Wahrheit, wie einen Schatz, bis zu dem Tag, an dem die große Woge eines schicksalhaften Ereignisses alles überrennt.
Wer sich dem Neuen stellt, wer unsicher ist, alles in Frage stellt, dem neuen Licht nachgeht, die Inhalte um- und umdreht, sich die neuen Seiten betrachtet, dem Licht des lebendigen Lebens Zutritt verschafft, für den ist kein Thema zu Ende diskutiert, er ist wirklich offen, und er lässt das Chaos in sich eindringen, ja, er liefert sich dem Chaos aus; er stemmt sich nicht verkalkt dagegen, um daran zu zerbrechen, sondern er macht die Türen und Fenster seiner Seele weit auf, damit der Wind hindurchwehen kann – er ist transparent. Eine verkalkte Pflanze wird vom Sturm abgebrochen, das filigrane Gras dagegen wird nur zu Boden gedrückt und richtet sich danach wieder auf.
Geist und Seele des Menschen sind zwar gebunden an Materie, aber sie gehen über die Materie hinaus, sie sind unerschöpfbar, unausmessbar, unausfüllbar, sie sind das eigentlich Lebendige. Materie ist unschöpferisch, sie ist begrenzt, Geist und Seele dagegen, als Einheit betrachtet, sind schöpferisch, kreativ und unbegrenzt. Die Diskussion hört nicht auf, der Prozess des Wachstums ist nie abgeschlossen, deshalb kann in einem alten Körper ein junger Geist lebendig sein. Der Körper mag sterben und mit ihm der geistige Prozess, der ja an die Materie gebunden ist, aber das ist kein Beweis dafür, dass der Geist und die Seele altern.
Geist und Seele können jung bleiben bis zum Tod. Wenn der Körper stirbt, die Materie sich umwandelt, dann sind Geist und Seele hiervon unberührt, weil sie ein Teil des Ewigen sind. Während die Materie altert, altert die schöpferische Seele nicht zwangsläufig mit.
Die Griechen waren der Ansicht, dass in einem gesunden Körper ein gesunder Geist wohnt, aber anders formuliert ist es richtiger: Ein gesunder (lebendiger) Geist schafft erst die Voraussetzungen für einen gesunden Körper. Ein alternder Körper muss nicht krank sein; die Materie verschleißt zwar, aber der lebendige Geist niemals. Die lebendige Seele ist keinem Sterbevorgang unterworfen, sie kann jung bleiben, hierin liegt das Mysterium des Glaubens an ein ewiges Leben der Seele nach dem Tod des Körpers. Wir mögen uns diesem Glauben anschließen oder auch nicht, das ist unwichtig: Entscheidend ist die Erkenntnis, dass Geist und Seele während eines Menschenlebens nicht altern müssen. Seelisches Altern verursachen wir selbst, es ist keine unabänderliche Tatsache wie der Alterungsprozess der biologischen Verhältnisse.
Begabungsblockierungen
Der Mensch kommt als ein leeres Gefäß zur Welt, das nach und nach mit seelisch-geistigen Inhalten aufgefüllt wird. Die Aufnahmekapazität ist nicht begrenzt. Der Vorgang der Aufnahme und Verarbeitung ist nie abgeschlossen, bis zum Tod des Körpers. Die menschliche Gehirnfunktion ist im Vergleich mit sämtlichen Lebewesen auf dieser Erde am höchsten entwickelt. Es existieren zwar Tiere mit einer besseren Spezialisierung und höherer Leistungsfähigkeit des Nervensystems und der Sinnesorgane, aber hierin liegt auch ein Nachteil, nicht nur ein Vorteil. Der Mensch bringt bei Geburt wenig angeborene Reaktionsschemata mit, er zeichnet sich im Vergleich zu anderen Lebewesen nicht durch Spezialisierungen aus, sondern durch seine Offenheit und Plastizität. Der Mensch ist also nicht festgelegt auf einige wenige Verhaltensmuster, sondern er kann alle möglichen Fähigkeiten entfalten und Fertigkeiten entwickeln, je nach dem vorliegenden Lernangebot. Er ist das lernfähigste Wesen auf diesem Planeten.
Der Mensch bringt den Ansatz für viele Gaben mit, die «begabt » werden müssen, damit die Begabung sichtbar wird und sich verwirklichen kann. Was sind Begabungen? Die psychologische Forschung unterscheidet z. B. Sprachbegabung, mathematische Begabung, technische Begabung, musikalische Begabung, gestalterische Begabung usw. Mit psychologischen Tests können Begabungsschwerpunkte in ihrem Ausprägungsgrad gemessen werden. Es wird allerdings nur ein momentaner Istzustand festgestellt, der nur schwer Prognosen für die Zukunft erlaubt. Der Begabungsforscher H. B. Lehmann hat die Höchstleistungen bekannter Persönlichkeiten aus verschiedenen Berufen untersucht, und er kam zu dem Resultat, dass erst zwischen dem 25. und 44. Lebensjahr die volle Leistungsreifung erfolgt, die sich danach noch weiter steigern kann.
Begabung ist kein Schicksal, das in die Wiege gelegt wird, sondern sie entsteht durch äußere Einflüsse, durch Bedingungen, die einen günstigen Entwicklungsprozess anstoßen und weiter motivieren. Zunächst muss das Gehirn eine Anregung erhalten, z. B. im sprachlichen, gestalterischen oder musikalischen Bereich, sodass Interesse an einem bestimmten Gebiet wach wird und das Bedürfnis nach Information und Lernen geweckt wird.
Je früher Anregungen erfolgen, desto besser. Das Lernen fällt zunächst leicht und macht Spaß. Durch Beschäftigung mit dem Lerngebiet wächst die Leistungsfähigkeit mehr und mehr, und damit das Selbstvertrauen. Das Sachgebiet wird vertrauter, und der Umgang mit Worten, Zahlen oder technischen Dingen fällt leichter und leichter, schließlich wird eigene schöpferische Produktivität entfaltet, und man wächst in neue, selbst entwickelte Erkenntnisse hinein. Jetzt ist die entwickelte Fähigkeit für jedermann sichtbar, und es wird gesagt: «Er hat seine Begabung entfaltet.
» Das klingt so, als hätte er mit der besonderen Begabung bereits die Welt betreten, als ein Begnadeter, der die Begabung wie aus einem tiefen Brunnen einfach nur hochzuziehen brauchte. Ich bin der Auffassung, dass alle Menschen zunächst einmal mit den gleichen Möglichkeiten, alle Begabungen zu entdecken, zur Welt kommen. Auf welches Gebiet jemand stößt, hängt von der Umwelt ab, die ihn fördert oder blockiert.
Jedes Kind malt zunächst gerne mit Farben, das ist etwas ganz Normales und Natürliches. Aber nicht in jeder Familie wird die Mallust entsprechend unterstützt und gefördert. Picasso wurde von seinem Vater, der Zeichenprofessor war, gelobt und unterstützt. Der kleine Picasso erhielt jede Hilfe, die er brauchte, es war z. B. stets genug Papier und Farbe da, er konnte sich auf dem Papier austoben, wann und wie oft er wollte. Kein Wunder also, dass er schon sehr früh Farbgefühl und einen «lockeren Strich» entwickelte.
Der Düsseldorfer Künstler Joseph Beuys sagt: «Jeder Mensch ist ein Künstler.» Er provoziert mit diesem Satz, weil sich die Mehrzahl der Menschen mit dieser Aussage nicht identifizieren kann. Und doch hat Beuys Recht, wenn man seine Feststellung etwas genauer betrachtet. Jeder Mensch könnte ein Künstler sein, wenn er sich künstlerisch betätigen würde, denn in jedem steckt die Gabe dafür, wenn er begabt wird, wenn die vorhandene Gabe angeregt, gefördert und zur Entfaltung motiviert wird.
Ich habe selbst die Erfahrung gemacht, dass jeder Mensch malen und zeichnen kann, wenn man ihm Mut macht und sein Interesse weckt. Jeder freut sich, wenn er mit Wasserfarben auf das Papier einen roten Klecks setzt und einen schwarzen Klecks dazumalt, der in den roten Klecks hineinläuft. Es gibt keinen Menschen, der nicht ganz spontan Freude und Interesse verspürt, wenn er mit verschiedenen Farben malt, die sich durch das Wasser miteinander verbinden. Was uns davon abhält zu malen, ist der hohe Leistungsanspruch, den wir von Lehrern und Erziehungspersonen übernommen haben. Wir sind mutlos, wir glauben, Malen wäre sinnlos, weil wir die Könnerschaft der «Großen» ja doch nicht erreichen. Wir vergleichen uns mit den «Genies» und verlieren deshalb die Freude am Spiel, an der Entdeckung unserer eigenen Leistungsmöglichkeiten. Keiner sagt uns: «Du kannst das auch erreichen, wenn du lange genug Spaß an der Malerei hast. Die Möglichkeit ist in dir, wenn sie dich interessiert. Du entwickelst dich, du wirst von Tag zu Tag lockerer, freier und leichter, wenn du dich einfach nur aus Freude damit beschäftigst.»
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Kann die Schale wirklich einfach ausgegossen werden? Das menschliche Gedächtnis speichert alle Inhalte als elektrochemische Engramme, wie die Gehirnforscher sagen, sie können nur mit chemischen Mitteln oder operativ zerstört werden. Die Gehirninhalte können also nicht einfach ausgeschüttet werden; wir können sie jederzeit hervorholen und sie uns von allen Seiten betrachten. Jeder Inhalt hat viele Seiten und steht in einem Sinnzusammenhang, der veränderlich ist, der je nach Lust und Laune wechselt.
Wer in die psychologische Beratungspraxis kommt, weiß nicht mehr, was richtig und falsch ist; er hat in Frage gestellt, was andere Menschen von ihm erwarten, was er selbst von sich erwarten kann, wer er ist, worin der Sinn seines Lebens, seiner Partnerschaft und seines Berufes besteht. Die alten Inhalte beginnen in ihrer Bedeutung und ihrer Wertigkeit zu schillern. Was bisher klar und sicher war, wird brüchig und unsicher. Was bisher «richtig» erschien, wird fragwürdig, wenn nicht gar falsch. Die Diskussion ist nicht beendet, sondern sie wird plötzlich wieder aktuell. Ich weiß nicht mehr, was Liebe ist, es ist mir unklar, ob ich meinen Partner liebe und ob er mich wirklich liebt. Das scheinbar so geschlossene System hat durch eine seelische Erschütterung plötzlich Risse bekommen. Die scheinbar endgültig geklärten Tatsachen beginnen sich zu verändern, ein anderes Licht scheint auf sie, und in diesem Licht erscheinen sie anders, neu, verändert, nicht mehr greifbar, sie schrumpfen zusammen, oder sie beginnen zu wachsen.
Was bisher eine unwichtige Bagatelle war, wird plötzlich sehr bedeutsam; wonach ich bisher gestrebt habe, verliert an Sinn und Attraktivität. Was ist richtig und falsch? Der Freund wird zum Feind, die Geliebte zur Hure, der Seelsorger zum Betrüger, der Lehrer zum Hanswurst, der Friedensapostel zum Gewalttäter, der bescheidene Samariter zum geltungssüchtigen Menschenverächter und so fort. Die Inhalte in meinem Gefäß sind nichts Statisches, sie beginnen plötzlich zu leben. Keiner kann mich dazu auffordern, dass es geschieht. Das Leben selbst führt durch Ereignisse diese Erschütterung herbei. Es gibt zwei Arten, hierauf zu reagieren: Entweder klammert man sich umso fester und beharrlicher an die alten Bedeutungen und wird dadurch starrer, verfestigter, unbeirrbarer und verkalkter im alten Schema, oder man wirft sich offen dem Neuen entgegen.
Die meisten Menschen reagieren erfahrungsgemäß mit der ersten Reaktionsweise. Sie verschließen sich, kapseln sich ein, halten an den alten Interpretationen und Werten fest und wiegen sich so in dem Gefühl von Sicherheit. Sie sind dann das Zentrum von Sicherheit und Ordnung, und draußen braust das Chaos – sie halten dem Chaos stand, indem sie Jahr um Jahr neue Kalkschichten bilden, um den Stürmen des Lebens mit einer Schutzschicht zu trotzen. Sie erscheinen stabil und lebenstüchtig, sie hüten die Wahrheit, ihre Wahrheit, wie einen Schatz, bis zu dem Tag, an dem die große Woge eines schicksalhaften Ereignisses alles überrennt.
Wer sich dem Neuen stellt, wer unsicher ist, alles in Frage stellt, dem neuen Licht nachgeht, die Inhalte um- und umdreht, sich die neuen Seiten betrachtet, dem Licht des lebendigen Lebens Zutritt verschafft, für den ist kein Thema zu Ende diskutiert, er ist wirklich offen, und er lässt das Chaos in sich eindringen, ja, er liefert sich dem Chaos aus; er stemmt sich nicht verkalkt dagegen, um daran zu zerbrechen, sondern er macht die Türen und Fenster seiner Seele weit auf, damit der Wind hindurchwehen kann – er ist transparent. Eine verkalkte Pflanze wird vom Sturm abgebrochen, das filigrane Gras dagegen wird nur zu Boden gedrückt und richtet sich danach wieder auf.
Geist und Seele des Menschen sind zwar gebunden an Materie, aber sie gehen über die Materie hinaus, sie sind unerschöpfbar, unausmessbar, unausfüllbar, sie sind das eigentlich Lebendige. Materie ist unschöpferisch, sie ist begrenzt, Geist und Seele dagegen, als Einheit betrachtet, sind schöpferisch, kreativ und unbegrenzt. Die Diskussion hört nicht auf, der Prozess des Wachstums ist nie abgeschlossen, deshalb kann in einem alten Körper ein junger Geist lebendig sein. Der Körper mag sterben und mit ihm der geistige Prozess, der ja an die Materie gebunden ist, aber das ist kein Beweis dafür, dass der Geist und die Seele altern.
Geist und Seele können jung bleiben bis zum Tod. Wenn der Körper stirbt, die Materie sich umwandelt, dann sind Geist und Seele hiervon unberührt, weil sie ein Teil des Ewigen sind. Während die Materie altert, altert die schöpferische Seele nicht zwangsläufig mit.
Die Griechen waren der Ansicht, dass in einem gesunden Körper ein gesunder Geist wohnt, aber anders formuliert ist es richtiger: Ein gesunder (lebendiger) Geist schafft erst die Voraussetzungen für einen gesunden Körper. Ein alternder Körper muss nicht krank sein; die Materie verschleißt zwar, aber der lebendige Geist niemals. Die lebendige Seele ist keinem Sterbevorgang unterworfen, sie kann jung bleiben, hierin liegt das Mysterium des Glaubens an ein ewiges Leben der Seele nach dem Tod des Körpers. Wir mögen uns diesem Glauben anschließen oder auch nicht, das ist unwichtig: Entscheidend ist die Erkenntnis, dass Geist und Seele während eines Menschenlebens nicht altern müssen. Seelisches Altern verursachen wir selbst, es ist keine unabänderliche Tatsache wie der Alterungsprozess der biologischen Verhältnisse.
Begabungsblockierungen
Der Mensch kommt als ein leeres Gefäß zur Welt, das nach und nach mit seelisch-geistigen Inhalten aufgefüllt wird. Die Aufnahmekapazität ist nicht begrenzt. Der Vorgang der Aufnahme und Verarbeitung ist nie abgeschlossen, bis zum Tod des Körpers. Die menschliche Gehirnfunktion ist im Vergleich mit sämtlichen Lebewesen auf dieser Erde am höchsten entwickelt. Es existieren zwar Tiere mit einer besseren Spezialisierung und höherer Leistungsfähigkeit des Nervensystems und der Sinnesorgane, aber hierin liegt auch ein Nachteil, nicht nur ein Vorteil. Der Mensch bringt bei Geburt wenig angeborene Reaktionsschemata mit, er zeichnet sich im Vergleich zu anderen Lebewesen nicht durch Spezialisierungen aus, sondern durch seine Offenheit und Plastizität. Der Mensch ist also nicht festgelegt auf einige wenige Verhaltensmuster, sondern er kann alle möglichen Fähigkeiten entfalten und Fertigkeiten entwickeln, je nach dem vorliegenden Lernangebot. Er ist das lernfähigste Wesen auf diesem Planeten.
Der Mensch bringt den Ansatz für viele Gaben mit, die «begabt » werden müssen, damit die Begabung sichtbar wird und sich verwirklichen kann. Was sind Begabungen? Die psychologische Forschung unterscheidet z. B. Sprachbegabung, mathematische Begabung, technische Begabung, musikalische Begabung, gestalterische Begabung usw. Mit psychologischen Tests können Begabungsschwerpunkte in ihrem Ausprägungsgrad gemessen werden. Es wird allerdings nur ein momentaner Istzustand festgestellt, der nur schwer Prognosen für die Zukunft erlaubt. Der Begabungsforscher H. B. Lehmann hat die Höchstleistungen bekannter Persönlichkeiten aus verschiedenen Berufen untersucht, und er kam zu dem Resultat, dass erst zwischen dem 25. und 44. Lebensjahr die volle Leistungsreifung erfolgt, die sich danach noch weiter steigern kann.
Begabung ist kein Schicksal, das in die Wiege gelegt wird, sondern sie entsteht durch äußere Einflüsse, durch Bedingungen, die einen günstigen Entwicklungsprozess anstoßen und weiter motivieren. Zunächst muss das Gehirn eine Anregung erhalten, z. B. im sprachlichen, gestalterischen oder musikalischen Bereich, sodass Interesse an einem bestimmten Gebiet wach wird und das Bedürfnis nach Information und Lernen geweckt wird.
Je früher Anregungen erfolgen, desto besser. Das Lernen fällt zunächst leicht und macht Spaß. Durch Beschäftigung mit dem Lerngebiet wächst die Leistungsfähigkeit mehr und mehr, und damit das Selbstvertrauen. Das Sachgebiet wird vertrauter, und der Umgang mit Worten, Zahlen oder technischen Dingen fällt leichter und leichter, schließlich wird eigene schöpferische Produktivität entfaltet, und man wächst in neue, selbst entwickelte Erkenntnisse hinein. Jetzt ist die entwickelte Fähigkeit für jedermann sichtbar, und es wird gesagt: «Er hat seine Begabung entfaltet.
» Das klingt so, als hätte er mit der besonderen Begabung bereits die Welt betreten, als ein Begnadeter, der die Begabung wie aus einem tiefen Brunnen einfach nur hochzuziehen brauchte. Ich bin der Auffassung, dass alle Menschen zunächst einmal mit den gleichen Möglichkeiten, alle Begabungen zu entdecken, zur Welt kommen. Auf welches Gebiet jemand stößt, hängt von der Umwelt ab, die ihn fördert oder blockiert.
Jedes Kind malt zunächst gerne mit Farben, das ist etwas ganz Normales und Natürliches. Aber nicht in jeder Familie wird die Mallust entsprechend unterstützt und gefördert. Picasso wurde von seinem Vater, der Zeichenprofessor war, gelobt und unterstützt. Der kleine Picasso erhielt jede Hilfe, die er brauchte, es war z. B. stets genug Papier und Farbe da, er konnte sich auf dem Papier austoben, wann und wie oft er wollte. Kein Wunder also, dass er schon sehr früh Farbgefühl und einen «lockeren Strich» entwickelte.
Der Düsseldorfer Künstler Joseph Beuys sagt: «Jeder Mensch ist ein Künstler.» Er provoziert mit diesem Satz, weil sich die Mehrzahl der Menschen mit dieser Aussage nicht identifizieren kann. Und doch hat Beuys Recht, wenn man seine Feststellung etwas genauer betrachtet. Jeder Mensch könnte ein Künstler sein, wenn er sich künstlerisch betätigen würde, denn in jedem steckt die Gabe dafür, wenn er begabt wird, wenn die vorhandene Gabe angeregt, gefördert und zur Entfaltung motiviert wird.
Ich habe selbst die Erfahrung gemacht, dass jeder Mensch malen und zeichnen kann, wenn man ihm Mut macht und sein Interesse weckt. Jeder freut sich, wenn er mit Wasserfarben auf das Papier einen roten Klecks setzt und einen schwarzen Klecks dazumalt, der in den roten Klecks hineinläuft. Es gibt keinen Menschen, der nicht ganz spontan Freude und Interesse verspürt, wenn er mit verschiedenen Farben malt, die sich durch das Wasser miteinander verbinden. Was uns davon abhält zu malen, ist der hohe Leistungsanspruch, den wir von Lehrern und Erziehungspersonen übernommen haben. Wir sind mutlos, wir glauben, Malen wäre sinnlos, weil wir die Könnerschaft der «Großen» ja doch nicht erreichen. Wir vergleichen uns mit den «Genies» und verlieren deshalb die Freude am Spiel, an der Entdeckung unserer eigenen Leistungsmöglichkeiten. Keiner sagt uns: «Du kannst das auch erreichen, wenn du lange genug Spaß an der Malerei hast. Die Möglichkeit ist in dir, wenn sie dich interessiert. Du entwickelst dich, du wirst von Tag zu Tag lockerer, freier und leichter, wenn du dich einfach nur aus Freude damit beschäftigst.»
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Autoren-Porträt von Peter Lauster
Peter Lauster, geb. 1940 in Stuttgart, studierte Psychologie, Philosophie, Anthropologie und Kunstgeschichte. In den letzten Jahren beschäftigte er sich verstärkt mit der Erforschung sozialer Phänomene, die den Menschen neurotisieren.
Bibliographische Angaben
- Autor: Peter Lauster
- 2009, Neuausg., 288 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499620405
- ISBN-13: 9783499620409
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