Lenin kam nur bis Lüdenscheid
Lenin kam nur bis Lüdenscheid, bis Solingen ist er nie gekommen. Aber in den Zeltlagern der DKP in Lüdenscheid war die Weltrevolution schon geglückt. Liedermacher sangen von der großen Solidarität zwischen Kindern und Erwachsenen, man feierte den "Internationalen Tag des Kindes", und die Schauspieler des Jugendtheaters "Rote Grütze" trugen Unterhemden mit aufgemalten Brüsten und redeten über Pipi.
Geboren 1964 als Kind westdeutscher Linker im provinziellen Solingen, lernt Richard David Precht schon früh, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, zwischen Sozialismus und Faschismus. Und er wächst auf mit einem klaren Feindbild: den USA. Coca-Cola ist zu Hause ebenso verpönt wie Ketchup, "Flipper", "Daktari" oder "Raumschiff Enterprise ", dafür gibt es aber das Grips Theater und Lieder von Degenhardt und Süverkrüp. Seine Eltern sind noch engagierter als viele ihrer Zeitgenossen - sie adoptieren zwei Kinder aus Vietnam und schicken ihren Nachwuchs ins Jugendkulturzentrum der SDAJ. Prechts Kindheits- und Jugenderinnerungen sind eine durchaus liebevolle Rückschau auf ein politisches Elternhaus, die bei allen Altersgenossen vertraute Erinnerungen an die Leidenschaften eines vergangenen Jahrhunderts wachrufen werden. Amüsant, nachdenklich und mit dem Gespür für die prägenden Details erzählt er das Gegenstück zur bürgerlichen Jugend der "Generation Golf".
Ab 5. Juni ist die Verfilmung von 'Lenin kam nur bis Lüdenscheid' im Kino zu sehen. Weitere Informationen unter www.lenin-film.de.
Lenin kamnur bis Lüdenscheid von RichardDavid Precht
LESEPROBE
Die Lehrerin unserer Parallelklasse heißt Frau Pickelein. IhreHauptfächer sind Religion und Singen. Offensichtlich ist sie darin so gut, dasswir hierin mit der Parallelklasse gemeinsam unterrichtet werden. Jedenfalls alle,die evangelisch sind. Ich bin ungetauft, das ist nicht katholisch, aber imZweifelsfall so gut wie evangelisch. An diesem Morgen sprechen wir überVorbilder, über moderne Heilige, die ihr Leben dem Guten verschrieben haben,und die gar nicht anders konnten, als zutiefst gut zu sein. Frau Pickeleinerzählt von Mahatma Gandhi, aber besonders viel weiß sie über ihn nicht. Dannleuchten ihre Augen: Der nächste Heilige ist John F. Kennedy. Ein schrecklicherKommunist hat den amerikanischen Präsidenten feige und brutal ermordet, weilKennedy sich für die Rechte der »Neger« eingesetzt hat. Frau Pickelein sagttatsächlich »Neger«. Ich kenne den Kennedy. Und von den »Negern« weiß ich, dasssie nicht »Neger« heißen. Einmal habe ich zu Anke Breuer gesagt: »Die Negerunter den Pferden heißen Rappen.« Meine Mutter hat mich belehrt, dass die»Neger« es gar nicht gerne hören, dass man sie »Neger« nennt, und dass sie sichselbst »Schwarze« nennen. Aber das mit dem lieben guten Kennedy ist noch vielfalscher. Ich hole Luft: »Der Kennedy ist ein Mörder!« Ich bin der besteSchüler meiner Klasse, und auch in Religion bin ich gut. Kader-Schulung beiSchwester Maria. So viele Bibel-Geschichten wie ich kennen die anderen nicht. DieKlassenbeste bei Frau Pickelein heißt Katrin Fleischer. Sie ist kess undselbstbewusst und hat blonde Zöpfe. Ihr Vater ist Chefarzt an den StädtischenKrankenanstalten. Katrin Fleischer kann gut singen, sie singt mit Altstimme,außerdem kann sie Altflöte spielen. Sie ist ganz reizend, genauso wie FrauPickelein sich eine Klassenbeste vorstellt. Ich dagegen bin zappelig, vorlaut undkann nicht Altflöte spielen. Meine Eltern erzählen mir seltsame Dinge, und meinBenehmen lässt zu wünschen übrig. Hanna hat Frau Pickelein einmal in die Handgebissen, als diese sie unter der Schulbank hervorziehen wollte. So etwashinterlässt Spuren. Frau Pickelein hat eine sehr ungefähre Vorstellung vomsittlichen Zuschnitt unserer Familie. Reizend findet sie mich nicht. Unlängsthat sie sich gerächt. Über unsere Note im Singen entscheidet ein Vorsingen.Jeder darf sich ein Lied aussuchen, das er vortragen will. Ich schlage den »BaggerführerWillibald« vor. Das Lied ist von Dieter Süverkrüp und einfach und zackig zusingen. Die Geschichte handelt vom Baggerführer, der seine Kumpels auf dem Baudavon überzeugt, dass sie zum Häuserbauen eigentlich keinen Boss brauchen: »DerBoss steht meistens rum / und redet laut und dumm / Sein Haus, das soll sichlohnen / Wer Geld hat, darf drin wohnen / Wer arm ist, darf nicht rein -Gemein!« Den »Baggerführer Willibald« kennt Frau Pickelein nicht und auch nichtden Komponisten. Sie will das Lied auch nicht kennen lernen. Stattdessen nötigtsie mich zu einem ihrer eigenen Favoriten: »Auf, du junger Wandersmann«. Dashaben wir schon einmal mit der ganzen Klasse gesungen. Verstanden habe ich das Liednicht, ich habe keine Worte dafür, aber alles daran ist mir fremd: das»Felleisen«, das der Wandersmann über dem Rücken trägt, und auch der Herrgott,dem Dank erwiesen werden soll - für was, ist mir nicht klar. Der schöne Donauflussund die fröhlich springenden Hirschlein, alles ist süßlich und kitschig. FrauPickelein singt das Lied mit spitzem Mund; zu ihr passt es. Die ganzeAngelegenheit ist peinlich. Als ich aufstehen soll, um vorzusingen, fühle ichmich unwohl. Wenn mir mulmig ist, werde ich laut. Ich singe sehr laut. Nacheiner Weile finde ich mich gar nicht so schlecht. Frau Pickelein zückt ihrrotes Notenbuch und entscheidet sich für ein Ausreichend. Die Vier ist die Zweides kleinen Mannes, aber in der Grundschule ist eine Vier eine Sechs. Ich empfindedie Vier als Schikane. Ich war doch nicht übel. Außerdem: Den »Baggerführer Willibald«hätte ich besser vorsingen können. Ich verteidige mich wortreich und sage FrauPickelein, dass mir das Lied nichts sagt. Vor allem das mit dem Herrgott: »Ichglaube nicht an Gott!« Frau Pickelein ist fassungslos. Eine schamlosere Rechtfertigungfür schlechtes Singen ist ihr noch nicht untergekommen. Sie kanzelt mich vorder ganzen Klasse ab, das mit dem lieben Gott kann ich doch gar nicht beurteilen,was verstehe ich schon davon. Frau Pickelein hat offensichtlich bessereVerbindungen; sie kann es beurteilen. Nach dem Unterricht sagt Norbert Sobiechzu mir: »Ich glaube auch nicht an Gott. Aber so etwas sagt man doch nicht vorder Klasse.« Wahrscheinlich sagt man auch nicht, dass der Kennedy ein Mörderist. Frau Pickelein ringt nach Luft. Ich soll in der Ecke stehen, aber ichweigere mich. Den Kindern in Vietnam ist durch den blöden Kennedy vielSchlimmeres passiert, als nur in der Ecke zu stehen. Aber so treudoof, dass ichmich für den in die Ecke stelle, bin ich trotzdem nicht. Die Situation istschwierig. Frau Pickelein schäumt. Schließlich gebe ich klein bei. Ich gehe indie Ecke, stolz und mit erhobenem Haupt. Wir werden ja sehen, wer von unsbeiden Recht behält, mit dem Kennedy sowieso und eines Tages auch mit demlieben Gott. Der Auftritt bei Frau Pickelein macht meinen Eltern Spaß.Natürlich sind sie auf meiner Seite, Frau Pickelein ist »reaktionär« - eingroßes schweres Wort für eine alte Schachtel. Besonderes Lob für meinen Muterhalte ich nicht. Für meine Eltern und auch für mich ist esselbstverständlich, dass ich mich gegen falsche Autoritäten behaupte. DassHanna in ihrer Klasse viel vorsichtiger und zurückhaltender ist, ändert darannichts. Endlich mal eine Disziplin, in der auch ich zu glänzen vermag. Voneiner wie der Pickelein lasse ich mich nicht unterschätzen. Wenn die wüsste,was Frau Weymann trotz allem von mir hält. Unlängst hat sie mir zweiverschiedene Lesebücher fürs 4. Schuljahr mit nach Hause gegeben, damit ich ihrsage, welches von beiden ich besser finde. Das Cornelsen-Lesebuch finde ichschön: Bunte Zeichnungen sind darin und viele Räuber-Geschichten. DasBagel-Lesebuch dagegen ist ziemlich unübersichtlich. Bunte Bilder gibt es hierkaum, dafür entdecke ich eine Seite mit Reklame für Smarties. Ich sageFrau Weymann, dass ich das Cornelsen-Lesebuch viel besser finde, und sie stimmtmir freudig zu. Zwei Tage später spricht mich meine Mutter auf die beidenLesebücher an. Ich sage ihr, dass ich das Bagel-Buch blöd finde, schon wegender Reklame. Meine Mutter ist stocksauer. Die Reklame ist deshalb im Buch,damit die Kinder lernen, die Lügen darin zu erkennen und sich in Zukunft vorReklame zu schützen. Ich habe mal wieder überhaupt nichts kapiert und das falscheLesebuch ausgesucht. Wie steht sie jetzt da? Immerhin hatte meine Mutter sicherst vor einem Jahr für ein Lesebuch namens Drucksachen stark gemacht, dasan einigen Schulen des Landes probeweise eingeführt werden sollte und Verse wiedas » sollst sie in die Fresse rotzen!« in der Manier von Warum ist die Bananekrumm? enthielt. Ein Lesebuch übrigens, gegen das ungezählte Elternverbändewie auch die CDU mit demSlogan »Lerne Lesen mit Ulrike Meinhof!« Sturm gelaufen sind. Warum meineMutter den Vers, wonach Kinder ihren Eltern »in die Fresse rotzen« sollen, imLesebuch haben will, ist mir nicht klar. Das sollten wir zu Hause mal wagen.Immer ist alles anders, als man denkt. Vielleicht liegt das am Kapitalismusoder am »System«, in dem wir hier leben. Auf meinen Satz mit dem Kennedy hatFrau Pickelein geantwortet: »Geh doch nach drüben! « Den ganzen Weg nach Hausehabe ich darüber gegrübelt, was sie damit gemeint hat. »Drüben«, erklärt meineMutter, »das meint die DDR.« In der DDR ist alles kommunistisch,und alle Kommunisten meinen, dass der Kennedy ein Mörder ist. Wie schön es seinmuss, in der DDR zu leben. »Undwarum ziehen wir nicht nach drüben?« Meine Mutter spült Geschirr. IhreAntworten sind kurz, aber nicht unfreundlich. In der DDR gibt es für meinen Vaterkeine Arbeit. Offensichtlich braucht man drüben keine Designer, weil allesohnehin schon schön und richtig gestaltet ist. Und zweitens, sagt meine Mutter,ist es unsere Aufgabe, die Verhältnisse hier in der Bundesrepublik zu ändern. Ichfinde das ganz schön anstrengend. Manchmal wünsche ich mir, wir würden trotzdemeinfach in die DDR ziehen. (...)
© Claassen Verlag
- Autor: Richard David Precht
- 2005, 288 Seiten, Maße: 13 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: CLAASSEN VERLAG
- ISBN-10: 3546003810
- ISBN-13: 9783546003810
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