Leute, das Leben ist wild / Die Lelle-Romane Bd.4
Eltern in der Krise, Tochter im Stress
Lelle kann es nicht fassen: Mama flippt ab! Ihre liebe, gute, brave Mutter hat sich von Papa getrennt und »verwirklicht sich«! Jetzt trägt sie stylische Klamotten, trinkt Latte Macchiato im...
Lelle kann es nicht fassen: Mama flippt ab! Ihre liebe, gute, brave Mutter hat sich von Papa getrennt und »verwirklicht sich«! Jetzt trägt sie stylische Klamotten, trinkt Latte Macchiato im...
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Produktinformationen zu „Leute, das Leben ist wild / Die Lelle-Romane Bd.4 “
Eltern in der Krise, Tochter im Stress
Lelle kann es nicht fassen: Mama flippt ab! Ihre liebe, gute, brave Mutter hat sich von Papa getrennt und »verwirklicht sich«! Jetzt trägt sie stylische Klamotten, trinkt Latte Macchiato im Szenecafé und flirtet wie wild. Das wäre ja noch ganz cool, hätte Lelle, die Helferin von Dienst, jetzt nicht einerseits ihren traurigen Vater am Bein - und andererseits Cotschs schreiendes Baby, dessen Mutter sich ebenfalls selbstverwirklicht. Wie kann denn Lelle sich bei all dem noch verwirklichen?? Dabei zieht ihr Ex-Lover Johannes - ohne seine neue Freundin! - gerade in eine coole WG, wo ALLES erlaubt ist. Wenn Lelle nicht schon ihren Arthur hätte ... Ach, hey, Leute, warum ist das Leben bloß immer so kompliziert?
Der vierte Band der erfolgreichen neuen Lelle-Reihe.
Lelle kann es nicht fassen: Mama flippt ab! Ihre liebe, gute, brave Mutter hat sich von Papa getrennt und »verwirklicht sich«! Jetzt trägt sie stylische Klamotten, trinkt Latte Macchiato im Szenecafé und flirtet wie wild. Das wäre ja noch ganz cool, hätte Lelle, die Helferin von Dienst, jetzt nicht einerseits ihren traurigen Vater am Bein - und andererseits Cotschs schreiendes Baby, dessen Mutter sich ebenfalls selbstverwirklicht. Wie kann denn Lelle sich bei all dem noch verwirklichen?? Dabei zieht ihr Ex-Lover Johannes - ohne seine neue Freundin! - gerade in eine coole WG, wo ALLES erlaubt ist. Wenn Lelle nicht schon ihren Arthur hätte ... Ach, hey, Leute, warum ist das Leben bloß immer so kompliziert?
Der vierte Band der erfolgreichen neuen Lelle-Reihe.
Klappentext zu „Leute, das Leben ist wild / Die Lelle-Romane Bd.4 “
Eltern in der Krise, Tochter im StressLelle kann es nicht fassen: Mama flippt ab! Ihre liebe, gute, brave Mutter hat sich von Papa getrennt und "verwirklicht sich"! Jetzt trägt sie stylische Klamotten, trinkt Latte Macchiato im Szenecafé und flirtet wie wild. Das wäre ja noch ganz cool, hätte Lelle, die Helferin von Dienst, jetzt nicht einerseits ihren traurigen Vater am Bein und andererseits Cotschs schreiendes Baby, dessen Mutter sich ebenfalls selbstverwirklicht. Wie kann denn Lelle sich bei all dem noch verwirklichen?? Dabei zieht ihr Ex-Lover Johannes ohne seine neue Freundin! gerade in eine coole WG, wo ALLES erlaubt ist. Wenn Lelle nicht schon ihren Arthur hätte Ach, hey, Leute, warum ist das Leben bloß immer so kompliziert?
Der vierte Band der erfolgreichen neuen Lelle-Reihe.
Eltern in der Krise, Tochter im Stress Lelle kann es nicht fassen: Mama flippt ab! Ihre liebe, gute, brave Mutter hat sich von Papa getrennt und "verwirklicht sich"! Jetzt trägt sie stylische Klamotten, trinkt Latte Macchiato im Szenecafé und flirtet wie wild. Das wäre ja noch ganz cool, hätte Lelle, die Helferin von Dienst, jetzt nicht einerseits ihren traurigen Vater am Bein - und andererseits Cotschs schreiendes Baby, dessen Mutter sich ebenfalls selbstverwirklicht. Wie kann denn Lelle sich bei all dem noch verwirklichen?? Dabei zieht ihr Ex-Lover Johannes - ohne seine neue Freundin! - gerade in eine coole WG, wo ALLES erlaubt ist. Wenn Lelle nicht schon ihren Arthur hätte ... Ach, hey, Leute, warum ist das Leben bloß immer so kompliziert?Der vierte Band der erfolgreichen neuen Lelle-Reihe.
Lese-Probe zu „Leute, das Leben ist wild / Die Lelle-Romane Bd.4 “
Leute, das Leben ist wild von Alexa Hennig von Lange 1
Jeden Abend, kurz vor dem Einschlafen, denke ich: Auf
dieser Welt kann mich nichts mehr schocken. Mit meinen
knapp 17 Jahren habe ich nämlich bereits sämtliche Höhen
und Tiefen durchwandert, die das Leben überhaupt
zu bieten hat. Doch kaum wache ich am nächsten Morgen
auf, erlebe ich die nächste Sensation, die mich aus den
Schuhen haut. Wobei »Sensation« in meinem Fall nicht
zwangsläufig bedeuten muss, dass besonders toll ist, was
mir da schon wieder passiert. Ich würde sogar sagen: Ich
könnte gut mal eine Pause vom Leben gebrauchen.
Ich gucke runter auf meine Armbanduhr, es ist kurz
nach zehn Uhr am Samstagmorgen, und bisher ist merkwürdigerweise
alles gut gegangen. Mal abgesehen davon,
dass mir total heiß ist und ich langsam, aber sicher einen
ziemlichen Sonnenbrand im Gesicht und auf den Armen
bekomme. Seit einer halben Stunde stehe ich in brüllender
Hitze am Straßenrand der Bungalowsiedlung, in der ich
mit meiner Familie wohne. Das heißt: Meine 19-jährige
Schwester Constanze, genannt »Cotsch«, ist inzwischen zu
ihrem 50-jährigen Freund Helmuth gezogen, weil sie jetzt
ein gemeinsames Baby haben - was, wie man sich leicht
vorstellen kann, nicht unbedingt geplant war. Eigentlich
wollte meine Schwester nämlich als studiertes Fotomodell
Weltkarriere machen und sich niemals fest an einen Mann
binden. Wer die Ehe meiner Eltern kennt, weiß warum.
... mehr
Dummerweise habe ich mich, obwohl ich definitiv eher
der hellhäutige Typ bin, im Vorfeld nicht mit Sonnenmilch
eingecremt. Aus Erfahrung weiß ich aber: Ohne Schutzfaktor
200 kann das für mich gehörig nach hinten losgehen.
Wenn nicht bald meine beste Freundin Alina angefahren
kommt, die eigentlich schon längst hätte da sein
wollen, wird meine Haut demnächst Blasen werfen und
sich dann von meinem Gesicht und den Armen abschälen.
Ich gucke über den grauen Asphalt, Richtung Waldessaum,
in der Hoffnung, dass endlich der schwarze Tourbus
um die Kurve biegt, in dem Alina mit den Bandmitgliedern
von Bird's Nest seit zwei Wochen unterwegs ist.
Alina war nämlich mit denen auf Tour, weil sie seit Neuestem
gemeinsam mit den Jungs die Songtexte schreibt.
Die Band und sie haben sich im Frühsommer nach einem
Konzert im Backstage-Bereich kennengelernt, für das ich,
mit Hilfe meiner geheimen Liebe Johannes, Karten besorgt
hatte. Und da Alina der größte lebende Bird's Nest-
Fan weltweit ist und ebenfalls des Öfteren gefährlich nah
am Abgrund des Lebens entlangtaumelt, hat sie ordentlich
was lyrisch zu verarbeiten. Wovon die Band nur profitieren
kann.
Über der Straße flimmert die Luft, im Radio haben sie
heute früh gesagt, dass wir den heißesten Tag des Jahres
erleben. Überall kleben mir die Stechmücken: am Oberarm,
im Nacken und an den Knöcheln. Ich versuche, sie
alle zu erwischen, aber leider sind die meisten schneller
als ich. Allein am Unterarm habe ich fünf juckende
Stiche. Hauptsache, die Viecher stechen mich nicht ins
Gesicht, das sieht dann nämlich leicht bescheuert aus.
Nicht weit von hier gibt es einen modrigen Entenweiher.
Sich zu dieser Jahreszeit diesem Tümpel zu nähern,
würde an Selbstmord grenzen. Da herrscht ein Mücken-
aufkommen, das man glatt als Plage bezeichnen könnte.
Wie eine surrende, tiefschwarze Wolke hängen sie über
dem Wasser. Und ratet mal, wer sich gestern trotzdem
durchs Unterholz geschlagen hat, um dorthin zu gelangen,
und total zerstochen wurde, sodass er anschließend seinen
gesamten Körper mit Kühlgel einschmieren musste?
Exakt: mein Freund Arthur.
Er wohnt direkt neben uns in seinem Reihenhaus, und
zwar ganz alleine, seitdem seine Eltern vor ein paar Jahren
kurz hintereinander ums Leben gekommen sind. Arthur
ist beinahe 20 Jahre alt, was ich, unter uns gesagt, ganz
praktisch finde. Die meisten Mädchen aus meinem Jahrgang
sind mit Jungs aus den Parallelklassen zusammen;
und sie beklagen sich ständig darüber, dass die Typen
unreif sind und keine Bereitschaft zeigen, sich wirklich
ernsthaft auf eine Beziehung einzulassen. Wenn es hart
auf hart kommt, wollen die abends lieber allein mit ihren
Jungs rumziehen. Ihre Freundinnen müssen brav zu
Hause bleiben und dürfen sie nicht auf dem Handy anrufen.
Die Jungs fühlen sich nämlich sonst »unter Druck
gesetzt«. Schönen Dank auch. Den Satz kenne ich schon
von meinem Vater. Damit hat er meine Mutter ganz wunderbar
im Griff.
In jedem Fall hat Arthur gestern irgendwelche Wasserproben
aus diesem modrigen, von Mücken bevölkerten
Tümpel entnommen, um zu beweisen, dass das nahe gelegene
Chemiewerk giftige Substanzen ins Grundwasser
sickern lässt. Arthur will die Welt retten und dafür liebe
ich ihn. Aber so, wie er die Sache angeht, nimmt das ziemlich
professionelle Züge an. In letzter Zeit scheint ihn
nichts mehr zu interessieren, als ständig neue Umwelt-
sünden aufzudecken. Dauernd will er irgendwas beweisen
und auf Missstände hinweisen. Ich rechne ja damit, dass
das irgendwann mal kräftig nach hinten losgeht. Dass jemand
versucht, ihn mundtot zu machen. Ich meine, hier
geht es um viel Geld! Ich sage euch: Eines Tages werden
sie ihn auf seiner Vespa von der Straße abdrängen, sodass
er einen steilen Abhang hinunterrast und seinen tödlichen
Verletzungen erliegt. Arthur zuckt dazu nur mit den
Schultern und meint: »Sollen sie doch! Ich weiß, wofür
ich kämpfe!«
Dennoch findet Arthur ausreichend Gelegenheit, mir
immer wieder zu versichern, ich sei die Liebe seines Lebens.
Er ist froh, dass er sich um diesen wichtigen Punkt
keine Gedanken mehr machen muss. Das schmeichelt
mir natürlich. In gewisser Hinsicht ist er ja auch meine
große Liebe - schließlich sind wir schon seit ein paar Jahren
zusammen. Trotzdem, befürchte ich, werde ich mich
momentan nicht fest an ihn binden können. Wie bereits
erwähnt, bin ich ja ebenfalls in meine geheime Liebe
Johannes verliebt. Es hilft auch nichts, dass ich ihn aus
Vernunft länger nicht mehr gesehen habe. Ich kriege ihn
einfach nicht aus meinem Herzen. Wenn ihr Johannes
kennen würdet, wüsstet ihr, was ich an ihm so toll finde.
Er ist der Typ Mann, den sich jede Frau wünscht. Der
würde nie sagen: »Du setzt mich unter Druck!« Nur leider
habe ich das Pech, dass Arthur ebenfalls so ein Typ
Mann ist.
Arthur würde am liebsten sofort eine Familie gründen,
weil er seine komplett verloren hat. Wäre ich an seiner
Stelle, hätte ich vermutlich das gleiche Bedürfnis. Aber
vielleicht sollte er sich dafür besser eine Freundin suchen,
die ähnliche Ambitionen in punkto Umwelt und Fa-
milie hat wie er. Das habe ich ihm mal in einem schwachen
Moment vorgeschlagen. Schließlich gehe ich noch
zur Schule, und ich sehe ja an meiner Schwester, wie aufreibend
das Leben mit Kind ist.
Da hat Arthur mich sehr lange, sehr irritiert angesehen
und gefragt: »Machst du Witze?«
Ich will ja gar nicht behaupten, dass Umwelt und Familie
nicht total wichtige Themen sind, ich muss nur erst
mal selber mit mir klarkommen und herausfinden, was
ich im Leben will und wen ich liebe. Das kann ich Arthur
natürlich so nicht sagen. Schmeichelhaft wäre es ja nicht
gerade für ihn, wenn er wüsste, dass er eigentlich die
ganze Zeit im Wettstreit mit einem anderen Kandidaten
liegt. Das behalte ich schön für mich. Auch, wenn Arthur
weiß, dass ich mal was mit Johannes hatte. Zu der Zeit war
Arthur allerdings gerade in Afrika und hat für arme Kinder
Hütten und Brunnen gebaut, und niemand wusste,
ob er überhaupt wiederkehrt. Was sollte ich machen? Ich
habe mich allein gelassen gefühlt.
Endlich biegt der schwarz glänzende Tourbus um die
Kurve. Wie eine riesige Raupe wälzt er sich die flimmernde
Straße herunter, direkt auf mich zu. Puffend hält
er neben mir am Straßenrand an und wirbelt ordentlich
Staub auf, der sich über mein verschwitztes Gesicht legt
und mir in die Augen fliegt. Sehr angenehm! Die Türen
schwingen zu den Seiten weg, und Alina steigt blinzelnd
aus, ins gleißende Licht des Vormittags. »Hey, Lelle.«
Bevor ich etwas sagen kann, schließen sich die Türen
schon wieder hinter ihr und der Bus fährt an. Das war
aber ein schneller Abschied. Ich sehe hinauf zu den Fenstern,
kann jedoch nichts erkennen, weil sie komplett verspiegelt
sind. Trotzdem hebe ich pro forma die Hand zum
Gruß, vielleicht guckt ja einer von den Jungs raus. Nicht,
dass die denken, ich sei unhöflich oder so. Außerdem sollen
die ruhig wissen, dass es mich gibt. Ich stehe hier ja
nicht umsonst. Der riesige Bus wälzt sich die schmale
Straße hinunter und verschwindet hinter der nächsten
Kurve. Wirklich nett, dass die Alina hier vorbeigebracht
haben. War bestimmt ein Umweg!
Ich nehme Alina kurz in den Arm und drücke sie an
mich. Nicht zu fest, ich bin echt verschwitzt. Sie ist noch
dünner als ich, was fast nicht geht, weil ich eins der Mädchen
bin, das mit chronischer Magersucht zu kämpfen
hat. Wir sind beide total spillerig. »Was geht?«
Ihre schwarz gefärbten Haare stehen wie Stacheln in
alle Richtungen ab, dahinter wogen die Baumwipfel des
angrenzenden Waldes. Ihre schwarzen Röhrenjeans haben
auf den Oberschenkeln Risse und vorne auf ihrem schwarzen
T-Shirt erstrahlt ein pinkfarbener, aufgeschäumter
Totenkopf. Nieten-Lederbänder an den Handgelenken
und ein breiter Nietengürtel, den sie zweimal um ihre
schmalen Hüften gewickelt hat, runden ihr »darkes« Outfit
ab. Alina ist mir zu dünn und zu blass, ihr Rucksack
hängt schwer über der mickrigen Schulter, und insgesamt
sieht sie ziemlich müde aus, so, als hätte sie lange nicht
mehr das Tageslicht erblickt.
Sie versucht ein Lächeln. »Schön, dich zu sehen.«
Ihre Stimme klingt matt und ihr Blick ist seltsam
stumpf. Die Lider fallen herunter und um ihre Augen liegen
dunkle Schatten. Es ist, als würde plötzlich ein kalter
Wind aufkommen, der sich langsam an unseren Beinen
emporschraubt und sich wie eine durchsichtige Hülle
über unsere nackten Arme legt. Ich fröstle, obwohl ich
inzwischen einen gewaltigen Sonnenbrand habe. Trotz-
dem lächle ich, weil ich immer lächle, um meinen Mitmenschen
Mut zu machen. Den Zwang habe ich von meiner
Mutter übernommen. Die würde sogar noch lächeln,
wenn ihr gerade beide Arme und beide Beine abgehackt
würden. Sie würde lächeln und behaupten: »Alles ist gut.
Macht euch keine Sorgen! Mir geht's blendend.«
Ich ziehe an Alinas T-Shirt-Ärmel, weil ich dringend
aus der Sonne rauswill. Garantiert ist mein Gesicht knallrot
und voller explodierter Sommersprossen - wogegen
ich an sich nichts habe. Aber morgen ist doch meine Geburtstagsparty,
zu der meine geheime Liebe Johannes
kommt. Bei der Gelegenheit will ich nicht mit abgeschälter
Haut herumrennen. Schließlich haben wir uns seit
einem halben Jahr nicht mehr gesehen. Und wer weiß,
wann wir uns das nächste Mal wieder begegnen! Bis dahin
soll er nicht mit der Vorstellung von mir durchs Leben
gehen, wie ich mit abgeschälter Gesichtshaut vor ihm
stand. So, als hätte ich mir UHU draufgestrichen, der sich
jetzt langsam wieder ablöst. Kennt man ja noch von den
Bastel-Sessions in der Grundschule. Leider ist mir extrem
mulmig bei dem Gedanken, dass Arthur und Johannes
sich begegnen werden und die ganze Sache auffliegt. Am
Ende verliere ich beide. Bloß nicht drüber nachdenken.
Ist das denn ein Verbrechen, dass ich beide liebe? Kann
mir das mal bitte jemand verlässlich beantworten?!
Alina rührt sich nicht von der Stelle, als hätte sie sich
wirklich mit Spezialkleber auf dem Gehweg festgeklebt.
»Alles okay?«
Sie zuckt nur müde mit den Schultern. Ich zupfe noch
mal kräftiger an ihrem T-Shirt-Ärmel und dabei sehe ich,
dass sie an ihrem linken Ellenbogen eine ziemlich heftige
Schürfwunde hat, die sich über den gesamten Unterarm
erstreckt, bis hinunter zum Handgelenk. Ich kotze! Augenblicklich
zieht sich sämtliches Blut aus meinen Gliedmaßen
zurück, ich muss echt aufpassen, dass ich nicht aus
den Latschen kippe. »Scheiße, Alina! Was hast du denn
da gemacht?«
Wieder zuckt sie nur mit den Schultern. »Beim Skaten
aus der Halfpipe geflogen.« Plötzlich glitzern in ihren Augen
Tränen. Sie kullern zögernd ihre Wangen hinunter,
weiter über den Hals und versickern schließlich im T-Shirt-
Ausschnitt.
Ich schlucke und sage: »Darum weinst du aber nicht,
oder?«
Alina schüttelt den Kopf, öffnet in Zeitlupe den Mund
und flüstert: »Mir ging es schon mal besser.«
Das glaube ich ihr sofort! Was ist denn da passiert? Ich
meine, Alina gehört nicht unbedingt zu den glücklichsten
Menschen, die unsere Erde bevölkern, aber gerade
scheint es echt ein akutes Problem zu geben. Nicht, dass
sie sich mit der Band überworfen hat und die ihre lyrischen
Ergüsse nicht mochten. »Gab's Schwierigkeiten beim Texten?«
Alina schüttelt den Kopf. »Nee, die Jungs waren total
witzig und supernett. Echt!«
»Was ist dann passiert?«
Sie schnieft und wischt sich mit dem Handrücken trotzig
die Tränen weg. »Da will ich lieber nicht drüber reden.«
»Okay. Akzeptiere ich.«
Aber auch nur schweren Herzens. Natürlich würde ich
trotzdem gerne wissen, was hier abgeht. Alina sieht echt
aus, als hätte sie die dunkle Seite gesehen. Ich nehme
ihr den Rucksack ab, und mein erster Impuls ist es, so-
fort bei Arthur an der Haustür zu klingeln, um ihn zu bitten,
sich mit seinen heilenden Kräften um Alina zu kümmern.
Arthur hat nämlich die seltene Gabe, traurige
Menschen aufzuheitern, sodass sie auch heiter bleiben.
Ich mache mir gerade wirklich ziemliche Sorgen. Alina
sieht total verstört aus. Aber da Arthur vermutlich zurzeit
an seinem Plastikflaschen-Katamaran im Garten bastelt,
will ich ihn nicht stören. Er steht ein bisschen unter Zeitdruck.
Übernächste Woche will er mit diesem selbst konstruierten
Plastikflaschen-Teil zur größten schwimmenden
Müllkippe segeln, die so riesig ist wie ganz Texas und
sich mitten im Pazifik, auf dem Weg nach Australien, befindet.
Total alleine, mit fünf anderen Leuten aus seiner
Umweltorganisation. Unter uns: Wie soll man mit so einem
Menschen eine Beziehung führen? Dauernd veranstaltet
Arthur lebensgefährliche Expeditionen, bei denen
ich nie weiß, ob er überhaupt jemals wiederkommt. Da
brauche ich doch eine zweite Liebe, die mich im Fall der
Fälle auffängt, quasi als Sicherheitsnetz.
Also ziehe ich Alina an der Hand weiter, direkt auf unsere
Haustür zu. Ich stoße die Tür auf und rufe in den
dämmrigen Flur hinein: »Mama, Alina ist da.«
Gleich kommt meine Mutter barfuß und in ihrem mintgrünen
Yoga-Outfit die Treppe herunter. Seit Neuestem
läuft sie nur noch in diesen merkwürdigen kurzen Pluderhosen
herum, weil sie ständig zum Trainieren ins »Studio«
geht. Neulich hat sie mir im Wohnzimmer vorgeführt, wie
lang sie den Handstand beherrscht. Sie wollte gar nicht
wieder damit aufhören. Ich dachte wirklich, ihr Kopf
platzt gleich von dem ganzen angestauten Blut.
Mama hat jetzt eine Top-Figur, allerdings interessiert
das meinen Vater nicht die Bohne. Dabei hatte Mama so
sehr darauf gehofft, dass sie durchs Yoga eine sinnliche
Ausstrahlung bekommt. Ich finde, es hat gewirkt. Aber
Papa kriegt nichts mit. Der kommt abends abgespannt aus
seiner Steuerkanzlei nach Hause, setzt sich kurz zu uns
an den Abendbrottisch und danach verschwindet er zu
seinen »Skulpturen« in den Keller und macht einen auf
Hobbykünstler oder putzt seine Schuhe. Eigentlich wollte
er zeit seines Lebens Bildhauer werden, aber aus »Vernunftgründen
«, wie er es nennt, ist er ein sehr erfolgreicher
Steuerberater geworden, der manisch Schuhe putzt.
Meine Mutter ist deshalb total frustriert, weil sie echt gewillt
war, die Beziehung mit meinem Vater auf ein »neues
Niveau« zu heben. Sie dachte, dass er jetzt, als frischgebackener
Opa, auch mit Yoga anfängt, sich für Spiritualität
interessiert, und dass sich der ganze Ärger, den sie
die letzten Jahrzehnte miteinander hatten, in Wohlgefallen
auflösen würde.
Leider macht Papa bei dem Plan null mit. Noch problematischer
ist allerdings, dass er mit Mamas plötzlicher
Selbstsicherheit überhaupt nicht umgehen kann. Jedes
Mal, wenn sie ihm jetzt sagt, dass sie sich wirklich wünschen
würde, dass er sich mal etwas mehr in die Ehe einbringt,
geht er aus dem Zimmer. »Lass mich bloß mit diesem
dummen Eso-Zeug in Ruhe.« Früher hätte sich das
Mama stillschweigend bieten lassen, heute rennt sie hinterher
und sagt ihm gehörig die Meinung: »Du bist ein emotional
unterentwickelter, trauriger, alter Mann.« Ich schwöre:
Papa war es wesentlich lieber, als Mama noch Hypochonderin
war und ständig Panik hatte, an einem durch
zu viel Stress verursachten Herzinfarkt zugrunde zu gehen.
Meine Mutter lächelt, wie sie immer lächelt, und breitet
ihre Arme aus. »Alina, komm, lass dich fest drücken!«
Und dann schließt sie ihre Arme um meine mickrige
Freundin und presst sie an ihre Yoga-Brust. Meine Mutter
ist der herzlichste Mensch, den man sich vorstellen
kann. Als meine Schwester und ich klein waren, hat sie
uns ununterbrochen auf ihren Schoß gezogen, geküsst,
gedrückt und mit uns gekuschelt, dass es jetzt für mich
fast ein bisschen heftig und verstörend ist, nicht mehr
ganz so viel gedrückt und geherzt zu werden. Vielleicht ist
das auch noch so ein Grund, warum ich Verlangen nach
zwei Jungs gleichzeitig habe: Johannes und Arthur. Kann
doch sein. Ich brauch die doppelte Portion Zärtlichkeit
und Liebe, weil ich die von klein auf gewöhnt bin.
Im Gegensatz übrigens zu Alina. Die hat von ihrer
Mutter immer nur Saures gekriegt. Alina steht stocksteif
da und lässt sich von meiner Mutter knuddeln, dann bekommt
sie auch noch einen Kuss auf die blasse Stirn. Dabei
laufen ihr schon wieder Tränen über die Wangen.
Ich lasse ihren Rucksack auf den Boden neben meiner
Zimmertür sinken und denke, dass sie sich zuerst mal
ihre alten Totenkopf-Vans ausziehen sollte. Schließlich ist
Mama den lieben langen Tag bemüht, dass es bei uns zu
Hause hübsch und sauber aussieht. Als hätte Alina meine
Gedanken telepathisch empfangen, streift sie sich augenblicklich
die ausgelatschten Vans von den Füßen und stellt
sie ordentlich nebeneinander in den Korridor. Dann folgen
wir meiner Mutter durch das helle Wohnzimmer, raus
in den Garten.
2
Draußen setzen wir uns an den alten Holztisch, den
meine Mutter neulich auf dem Flohmarkt erstanden hat.
Mama hatte Lust, ein wenig rustikales Flair im Garten
zu verbreiten. Ich mag den Tisch, er sieht aus, als hätten
schon diverse Generationen daran gespeist. Überhaupt
gibt es für mich kaum einen schöneren Platz als im kühlen
Schatten der riesigen Akazie, die ihre Äste beinahe
über unseren gesamten Garten spannt. Ich würde sogar
sagen: Mit ihrer knochigen Rinde, ihren kleinen, grasgrünen
Blättchen, ihrem starken Stamm ist die Akazie mein
Freund. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, sie spricht
zu mir. Von wegen: »Lelle, halte durch!« So, wie dieser
Baum durchhält. Seine Wurzeln drücken überall die
Backsteine der Terrasse nach oben und wir stolpern ständig
drüber. Über uns in den Zweigen gurrt eine Taube,
und von nebenan hören wir Arthurs Schleifmaschine im
Wechsel mit diesem hohlen Geräusch, das die leeren
Plastik-Flaschen machen, wenn sie übereinanderrollen.
Mama stellt Alina ein Glas mit Apfelschorle hin und die
Kirchturmuhr schlägt elf Uhr. Mama bindet sich einen
kleinen Pferdeschwanz - seit Neuestem lässt sie sich die
Haare lang wachsen - und meint: »Ich muss gleich rüber
zu Constanze und Mimi abholen. Aber erst will ich mal
wissen, warum du so traurig bist, Alina.«
Mimi ist das Baby von meiner Schwester Cotsch. Um das
kümmert sich meine Mutter am Wochenende und nachmittags,
wenn sie aus der Steuerkanzlei zurück ist, wo sie für
meinen Vater halbtags die Quittungen sortiert. Mama war
schon immer Papas unterbezahlte Angestellte. Seit Mimi
auf der Welt ist, überlegt sie allerdings, ob sie nicht noch
mal eine Ausbildung zur Naturheilpraktikerin machen und
eine eigene Praxis eröffnen sollte. Ich fände das super. Nur
Papa bremst das aus, weil er ohne Mamas Mitarbeit echt
aufgeschmissen wäre. Das würde er natürlich nie zugeben.
Mein Vater tut gerne so, als seien alle Menschen außer ihm
unfähig und müssten froh sein, dass es ihn gibt, damit er die
Welt vor dem Untergang retten kann. Leider kriegt er nie
mit, wenn man ihn wirklich mal brauchen könnte.
Heute ist Samstag und darum holt meine Mutter Mimi
schon früher zu uns rüber. Vermutlich absolviert meine
Schwester wieder irgendeinen Model-Job. Ständig wird
sie für stylische Kataloge in Badeanzügen oder funkelnden
Abendroben abgelichtet. Und jedes Mal schmiegen
sich heiße, durchtrainierte Typen in Smokings oder Badehosen
an sie, als wäre meine Schwester so eine Art Göttin.
Ihr Helmuth ist derart stolz darauf, dass er sein komplettes
Haus von oben bis unten mit diesen Katalogbildern
tapeziert hat. Teilweise nimmt das echt bizarre Züge an,
besonders was die verruchten Unterwäsche-Fotos anbelangt,
die er im Flur in dicke Goldrahmen gepackt hat
und dramatisch beleuchtet.
Alina starrt vor sich hin, so, als würde sie mit offenen
Augen schlafen.
Mama setzt sich zu ihr auf die Stuhllehne und stubst
sie freundschaftlich mit dem Ellenbogen an. »Alina, was
ist los? Wie war's mit deinen Jungs? Habt ihr ein paar Hits
geschrieben?«
Sie nickt und schnieft weiter vor sich hin. »Ja, kann
schon sein.«
Alina hat mal für ein paar Monate bei uns gewohnt,
als es bei ihr zu Hause gar nicht mehr ging. Ihre Mutter
flippt nämlich schnell aus und verliert die Kontrolle. Einmal
habe ich das hautnah miterlebt. Ich kann euch sagen:
Das war ziemlich schockierend! Ich wusste gar nicht, wie
bescheuert einige Eltern mit ihren Kindern umspringen.
Die müssten doch eine natürliche Bremse haben. Alina
hätte gerne bei uns wohnen bleiben können, aber dann
hat sie merkwürdigerweise Heimweh nach ihrem Zuhause
bekommen. Also ist sie zurück zu ihren Eltern und
den beiden Yorkshire Terriern, wo ihr sofort wieder die
Hölle heiß gemacht wurde. Keine Woche später war Alina
so am Ende, dass sie gar nicht mehr wusste, wo sie hinsollte.
In der Schulpause hat sie plötzlich zu mir gemeint:
»Ich bringe mich um.« Einfach so: »Ich bringe mich um.«
Ich dachte zuerst, sie macht Scherze. Von wegen! Ihr hättet
ihr Gesicht dabei sehen sollen. Vollkommen ernst und
entschlossen. Seitdem machen Mama und ich uns unterschwellig
Sorgen. Wir hatten ja die Hoffnung, dass sich
Alina mit den Songtexten alles von der Seele schreibt.
Aber irgendwie ist in ihr eine so tief verwurzelte Traurigkeit,
dass Mama meint: »Wir müssen verschärft ein Auge
auf Alina haben.«
Ehrlich gesagt, ich würde ungern miterleben, dass Alina
sich etwas antut. So eine Nummer habe ich nämlich letzten
Sommer hautnah im Krankenhaus miterleben dürfen,
wo ich war, um meine Magersucht auszukurieren. Da hat
sich meine Zimmergenossin Simona aus Verzweiflung die
Pulsadern aufgeschnitten. Alles war voller Blut. Alles! Das
komplette Badezimmer, der Teppich, die Laken. Alles.
Leute, ich sage doch: Ich kenne das Leben - besonders
von der heftigen Seite. Darum versuche ich, vernünftig zu
sein. Was mir so gut wie nie gelingt. Ich habe es ja bereits
erwähnt: Morgen legt Johannes auf meiner Party die Platten
auf. Schon allein bei der Vorstellung kriege ich Magenkrämpfe.
Zum Glück hat Arthur Johannes nur einmal
ganz kurz und auch nur im Dunkeln gesehen - und zwar
bei einer anderen Party, auf der ich mit Johannes hinter
dem DJ-Pult rumgeknutscht habe. Aber ich weiß: Wenn
die Situation eskaliert, bringe ich mich auch um.
Alina trinkt ihre Apfelsaftschorle aus, meine Mutter lächelt
wie so ein Buddha vor sich hin und meint schließlich,
weil von Alina nichts mehr kommt: »Na, da bin ich
ja mal gespannt! Wann erscheint denn das neue Album?«
Alina zuckt nur wieder mit den Achseln. Meine Güte,
langsam geht mir diese Trauer an die Substanz. Irgendwie
hat meine Mutter ein Faible für niedergeschlagene Menschen.
Ihre beste Freundin Rita ist auch so ein Exemplar.
Die wohnt mit ihren beiden Töchtern Alice und Susanna
in einer mondänen Villa am Siedlungsrand. Diese Rita
tut sich ständig unsagbar leid, weil ihr Mann sie nach albtraumhaften
Ehejahren verlassen hat. Außer ihr wundert
sich allerdings niemand darüber. Eher, dass er es so lange
mit ihr ausgehalten hat. Nun hockt Rita alleine in ihrer
riesigen Villa mit Blick über den Park und treibt ihre armen
Töchter zu Höchstleistungen an, um durch sie eine
gewisse Bedeutung zu erlangen.
Alice ist so alt wie ich und spielt virtuos Klavier. Ihre
Finger flirren und hüpfen über die Tasten, dass einem
schwindlig werden kann. Diese Alice hat echt was drauf,
so viel ist mal klar, auch, wenn sie leider überhaupt keinen
Style hat. Unter uns: Modisch würde ich sie gerne mal be-
raten. Das geht gar nicht, wie sie herumläuft - sie sollte
einfach aufhören, sich Zöpfe zu flechten und 80er-Jahre
Samtkleider anzuziehen.
Susanna, die so alt ist wie Cotsch, studiert Physik und
ist jetzt schon ein wissenschaftliches Genie, das wahrscheinlich
in den nächsten zwei Jahren den Physik-Nobelpreis
gewinnt. Darauf freut sich Rita schon, weil sie
denkt, dass sie dann endlich vor der Weltpresse eine Ansprache
halten kann und mit Ruhm und Reichtum überschüttet
wird. Überhaupt scheffelt sie Kohle, wo es nur
geht. Dauernd soll Alice auf Weltreise gehen oder Hauskonzerte
geben, zu der die Nachbarschaft geladen wird
und horrende Eintrittspreise zahlen muss. Da es sich ja
dabei um »Spezial-Auftritte des Wunderkindes« handelt.
Außerdem gibt es schon Merchandising-Produkte von
Alice, die Rita fleißig übers Internet vertreibt: Notenständer,
Halstücher, Stimmgabeln und kleine Plastikflügel,
die eine schwungvolle Melodie klimpern, wenn man sie
aufklappt. Und obwohl das Geschäft mit ihren Wunder-
Töchtern nicht schlecht läuft, sitzt Rita dauernd bei uns
auf dem Sofa rum und lässt sich von meiner Mutter psychologisch
betreuen oder etwas zu essen kochen.
Ich werde mein Leben definitiv später anders angehen
als meine Mutter. Gerade, was Partnerschaften anbelangt,
werde ich hart durchgreifen und auf Gleichberechtigung
pochen. Aber sogar für Papas Fehlverhalten hat Mama
Verständnis. Sie meint: »Er hat Angst vor meiner Stärke.
Dabei will ich doch auch nur mal in den Arm genommen
werden.« Das kann sie echt knicken. Ich kann euch sagen:
Sollte mein späterer Mann einmal solche Unterdrücker-
Anwandlungen bekommen wie mein Vater, werde ich den
sofort verlassen. Wer bin ich denn?
Alina seufzt wieder tief und knetet dramatisch ihre
Hände. Ich blicke derweil auf ihr schwarzes Nietenarmband
und die schwarz lackierten Fingernägel. Dann hoch
zu ihrer enormen Schürfwunde am Unterarm. Schon wieder
durchzuckt mich ein heftiger Schauer, so, als würden
sich sämtliche Organe in mir zusammenklumpen.
Ihre hochgesprayten Haare wehen leicht im Wind. Am
liebsten würde ich Alina unter dem Tisch einen aufmunternden
Tritt gegen das Schienbein in ihrer schwarzen
Röhrenjeans geben. Das spare ich mir besser. Alina hat
ja - wie bereits erwähnt - zu Hause schon ziemlich viel
Keile einstecken müssen.
Sie kaut auf ihrer Unterlippe herum und meint schließlich
trocken: »Ich hab mich in einen von den Roadies verliebt.«
Ich rutsche vor auf die Stuhlkante. »In wen?«
»In einen Roadie! Aber der hat eine Freundin und die
will er nicht verlassen. Ich kann aber nicht mehr ohne ihn
leben.«
Wow! Das sind gewichtige Worte! Und dann weint
Alina vollkommen enthemmt los. Da scheint sich ja ordentlich
was in ihr angestaut zu haben. Ich gucke Mama
an und die schaut Alina mitleidig an, so, als könne sie geradezu
ihr Leid fühlen, als hätte sie selbst auch schon
mal so eine unglückliche Liebe erlebt. Dann fasst sie sich
aber wieder und sagt wie ein echter Liebesprofi: »Hast du
denn seine Telefonnummer?«
Alina nickt und schnieft, sodass ich ihr schließlich von
drinnen die Küchenrolle hole. Das hält ja kein Mensch
aus. Ich reiche ihr ein Stück, und sie schnäuzt sich kräftig
rein, dabei kann sie nicht aufhören zu weinen. Das ist
gut, das reinigt, das befreit; auch, wenn ich selbst nicht
1. Auflage 2010
© 2010 cbt/cbj Verlag, München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Zeichenpool, München
Umschlagfoto: © Shutterstock (Matthew Jacques, Picsfive,
Ruslan Kudrin, Natalya Bidyukova, m.i.g.u.e.l.)
SK • Herstellung: AnG
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-570-16029-9
Printed in Germany
www.cbt-jugendbuch.de
Dummerweise habe ich mich, obwohl ich definitiv eher
der hellhäutige Typ bin, im Vorfeld nicht mit Sonnenmilch
eingecremt. Aus Erfahrung weiß ich aber: Ohne Schutzfaktor
200 kann das für mich gehörig nach hinten losgehen.
Wenn nicht bald meine beste Freundin Alina angefahren
kommt, die eigentlich schon längst hätte da sein
wollen, wird meine Haut demnächst Blasen werfen und
sich dann von meinem Gesicht und den Armen abschälen.
Ich gucke über den grauen Asphalt, Richtung Waldessaum,
in der Hoffnung, dass endlich der schwarze Tourbus
um die Kurve biegt, in dem Alina mit den Bandmitgliedern
von Bird's Nest seit zwei Wochen unterwegs ist.
Alina war nämlich mit denen auf Tour, weil sie seit Neuestem
gemeinsam mit den Jungs die Songtexte schreibt.
Die Band und sie haben sich im Frühsommer nach einem
Konzert im Backstage-Bereich kennengelernt, für das ich,
mit Hilfe meiner geheimen Liebe Johannes, Karten besorgt
hatte. Und da Alina der größte lebende Bird's Nest-
Fan weltweit ist und ebenfalls des Öfteren gefährlich nah
am Abgrund des Lebens entlangtaumelt, hat sie ordentlich
was lyrisch zu verarbeiten. Wovon die Band nur profitieren
kann.
Über der Straße flimmert die Luft, im Radio haben sie
heute früh gesagt, dass wir den heißesten Tag des Jahres
erleben. Überall kleben mir die Stechmücken: am Oberarm,
im Nacken und an den Knöcheln. Ich versuche, sie
alle zu erwischen, aber leider sind die meisten schneller
als ich. Allein am Unterarm habe ich fünf juckende
Stiche. Hauptsache, die Viecher stechen mich nicht ins
Gesicht, das sieht dann nämlich leicht bescheuert aus.
Nicht weit von hier gibt es einen modrigen Entenweiher.
Sich zu dieser Jahreszeit diesem Tümpel zu nähern,
würde an Selbstmord grenzen. Da herrscht ein Mücken-
aufkommen, das man glatt als Plage bezeichnen könnte.
Wie eine surrende, tiefschwarze Wolke hängen sie über
dem Wasser. Und ratet mal, wer sich gestern trotzdem
durchs Unterholz geschlagen hat, um dorthin zu gelangen,
und total zerstochen wurde, sodass er anschließend seinen
gesamten Körper mit Kühlgel einschmieren musste?
Exakt: mein Freund Arthur.
Er wohnt direkt neben uns in seinem Reihenhaus, und
zwar ganz alleine, seitdem seine Eltern vor ein paar Jahren
kurz hintereinander ums Leben gekommen sind. Arthur
ist beinahe 20 Jahre alt, was ich, unter uns gesagt, ganz
praktisch finde. Die meisten Mädchen aus meinem Jahrgang
sind mit Jungs aus den Parallelklassen zusammen;
und sie beklagen sich ständig darüber, dass die Typen
unreif sind und keine Bereitschaft zeigen, sich wirklich
ernsthaft auf eine Beziehung einzulassen. Wenn es hart
auf hart kommt, wollen die abends lieber allein mit ihren
Jungs rumziehen. Ihre Freundinnen müssen brav zu
Hause bleiben und dürfen sie nicht auf dem Handy anrufen.
Die Jungs fühlen sich nämlich sonst »unter Druck
gesetzt«. Schönen Dank auch. Den Satz kenne ich schon
von meinem Vater. Damit hat er meine Mutter ganz wunderbar
im Griff.
In jedem Fall hat Arthur gestern irgendwelche Wasserproben
aus diesem modrigen, von Mücken bevölkerten
Tümpel entnommen, um zu beweisen, dass das nahe gelegene
Chemiewerk giftige Substanzen ins Grundwasser
sickern lässt. Arthur will die Welt retten und dafür liebe
ich ihn. Aber so, wie er die Sache angeht, nimmt das ziemlich
professionelle Züge an. In letzter Zeit scheint ihn
nichts mehr zu interessieren, als ständig neue Umwelt-
sünden aufzudecken. Dauernd will er irgendwas beweisen
und auf Missstände hinweisen. Ich rechne ja damit, dass
das irgendwann mal kräftig nach hinten losgeht. Dass jemand
versucht, ihn mundtot zu machen. Ich meine, hier
geht es um viel Geld! Ich sage euch: Eines Tages werden
sie ihn auf seiner Vespa von der Straße abdrängen, sodass
er einen steilen Abhang hinunterrast und seinen tödlichen
Verletzungen erliegt. Arthur zuckt dazu nur mit den
Schultern und meint: »Sollen sie doch! Ich weiß, wofür
ich kämpfe!«
Dennoch findet Arthur ausreichend Gelegenheit, mir
immer wieder zu versichern, ich sei die Liebe seines Lebens.
Er ist froh, dass er sich um diesen wichtigen Punkt
keine Gedanken mehr machen muss. Das schmeichelt
mir natürlich. In gewisser Hinsicht ist er ja auch meine
große Liebe - schließlich sind wir schon seit ein paar Jahren
zusammen. Trotzdem, befürchte ich, werde ich mich
momentan nicht fest an ihn binden können. Wie bereits
erwähnt, bin ich ja ebenfalls in meine geheime Liebe
Johannes verliebt. Es hilft auch nichts, dass ich ihn aus
Vernunft länger nicht mehr gesehen habe. Ich kriege ihn
einfach nicht aus meinem Herzen. Wenn ihr Johannes
kennen würdet, wüsstet ihr, was ich an ihm so toll finde.
Er ist der Typ Mann, den sich jede Frau wünscht. Der
würde nie sagen: »Du setzt mich unter Druck!« Nur leider
habe ich das Pech, dass Arthur ebenfalls so ein Typ
Mann ist.
Arthur würde am liebsten sofort eine Familie gründen,
weil er seine komplett verloren hat. Wäre ich an seiner
Stelle, hätte ich vermutlich das gleiche Bedürfnis. Aber
vielleicht sollte er sich dafür besser eine Freundin suchen,
die ähnliche Ambitionen in punkto Umwelt und Fa-
milie hat wie er. Das habe ich ihm mal in einem schwachen
Moment vorgeschlagen. Schließlich gehe ich noch
zur Schule, und ich sehe ja an meiner Schwester, wie aufreibend
das Leben mit Kind ist.
Da hat Arthur mich sehr lange, sehr irritiert angesehen
und gefragt: »Machst du Witze?«
Ich will ja gar nicht behaupten, dass Umwelt und Familie
nicht total wichtige Themen sind, ich muss nur erst
mal selber mit mir klarkommen und herausfinden, was
ich im Leben will und wen ich liebe. Das kann ich Arthur
natürlich so nicht sagen. Schmeichelhaft wäre es ja nicht
gerade für ihn, wenn er wüsste, dass er eigentlich die
ganze Zeit im Wettstreit mit einem anderen Kandidaten
liegt. Das behalte ich schön für mich. Auch, wenn Arthur
weiß, dass ich mal was mit Johannes hatte. Zu der Zeit war
Arthur allerdings gerade in Afrika und hat für arme Kinder
Hütten und Brunnen gebaut, und niemand wusste,
ob er überhaupt wiederkehrt. Was sollte ich machen? Ich
habe mich allein gelassen gefühlt.
Endlich biegt der schwarz glänzende Tourbus um die
Kurve. Wie eine riesige Raupe wälzt er sich die flimmernde
Straße herunter, direkt auf mich zu. Puffend hält
er neben mir am Straßenrand an und wirbelt ordentlich
Staub auf, der sich über mein verschwitztes Gesicht legt
und mir in die Augen fliegt. Sehr angenehm! Die Türen
schwingen zu den Seiten weg, und Alina steigt blinzelnd
aus, ins gleißende Licht des Vormittags. »Hey, Lelle.«
Bevor ich etwas sagen kann, schließen sich die Türen
schon wieder hinter ihr und der Bus fährt an. Das war
aber ein schneller Abschied. Ich sehe hinauf zu den Fenstern,
kann jedoch nichts erkennen, weil sie komplett verspiegelt
sind. Trotzdem hebe ich pro forma die Hand zum
Gruß, vielleicht guckt ja einer von den Jungs raus. Nicht,
dass die denken, ich sei unhöflich oder so. Außerdem sollen
die ruhig wissen, dass es mich gibt. Ich stehe hier ja
nicht umsonst. Der riesige Bus wälzt sich die schmale
Straße hinunter und verschwindet hinter der nächsten
Kurve. Wirklich nett, dass die Alina hier vorbeigebracht
haben. War bestimmt ein Umweg!
Ich nehme Alina kurz in den Arm und drücke sie an
mich. Nicht zu fest, ich bin echt verschwitzt. Sie ist noch
dünner als ich, was fast nicht geht, weil ich eins der Mädchen
bin, das mit chronischer Magersucht zu kämpfen
hat. Wir sind beide total spillerig. »Was geht?«
Ihre schwarz gefärbten Haare stehen wie Stacheln in
alle Richtungen ab, dahinter wogen die Baumwipfel des
angrenzenden Waldes. Ihre schwarzen Röhrenjeans haben
auf den Oberschenkeln Risse und vorne auf ihrem schwarzen
T-Shirt erstrahlt ein pinkfarbener, aufgeschäumter
Totenkopf. Nieten-Lederbänder an den Handgelenken
und ein breiter Nietengürtel, den sie zweimal um ihre
schmalen Hüften gewickelt hat, runden ihr »darkes« Outfit
ab. Alina ist mir zu dünn und zu blass, ihr Rucksack
hängt schwer über der mickrigen Schulter, und insgesamt
sieht sie ziemlich müde aus, so, als hätte sie lange nicht
mehr das Tageslicht erblickt.
Sie versucht ein Lächeln. »Schön, dich zu sehen.«
Ihre Stimme klingt matt und ihr Blick ist seltsam
stumpf. Die Lider fallen herunter und um ihre Augen liegen
dunkle Schatten. Es ist, als würde plötzlich ein kalter
Wind aufkommen, der sich langsam an unseren Beinen
emporschraubt und sich wie eine durchsichtige Hülle
über unsere nackten Arme legt. Ich fröstle, obwohl ich
inzwischen einen gewaltigen Sonnenbrand habe. Trotz-
dem lächle ich, weil ich immer lächle, um meinen Mitmenschen
Mut zu machen. Den Zwang habe ich von meiner
Mutter übernommen. Die würde sogar noch lächeln,
wenn ihr gerade beide Arme und beide Beine abgehackt
würden. Sie würde lächeln und behaupten: »Alles ist gut.
Macht euch keine Sorgen! Mir geht's blendend.«
Ich ziehe an Alinas T-Shirt-Ärmel, weil ich dringend
aus der Sonne rauswill. Garantiert ist mein Gesicht knallrot
und voller explodierter Sommersprossen - wogegen
ich an sich nichts habe. Aber morgen ist doch meine Geburtstagsparty,
zu der meine geheime Liebe Johannes
kommt. Bei der Gelegenheit will ich nicht mit abgeschälter
Haut herumrennen. Schließlich haben wir uns seit
einem halben Jahr nicht mehr gesehen. Und wer weiß,
wann wir uns das nächste Mal wieder begegnen! Bis dahin
soll er nicht mit der Vorstellung von mir durchs Leben
gehen, wie ich mit abgeschälter Gesichtshaut vor ihm
stand. So, als hätte ich mir UHU draufgestrichen, der sich
jetzt langsam wieder ablöst. Kennt man ja noch von den
Bastel-Sessions in der Grundschule. Leider ist mir extrem
mulmig bei dem Gedanken, dass Arthur und Johannes
sich begegnen werden und die ganze Sache auffliegt. Am
Ende verliere ich beide. Bloß nicht drüber nachdenken.
Ist das denn ein Verbrechen, dass ich beide liebe? Kann
mir das mal bitte jemand verlässlich beantworten?!
Alina rührt sich nicht von der Stelle, als hätte sie sich
wirklich mit Spezialkleber auf dem Gehweg festgeklebt.
»Alles okay?«
Sie zuckt nur müde mit den Schultern. Ich zupfe noch
mal kräftiger an ihrem T-Shirt-Ärmel und dabei sehe ich,
dass sie an ihrem linken Ellenbogen eine ziemlich heftige
Schürfwunde hat, die sich über den gesamten Unterarm
erstreckt, bis hinunter zum Handgelenk. Ich kotze! Augenblicklich
zieht sich sämtliches Blut aus meinen Gliedmaßen
zurück, ich muss echt aufpassen, dass ich nicht aus
den Latschen kippe. »Scheiße, Alina! Was hast du denn
da gemacht?«
Wieder zuckt sie nur mit den Schultern. »Beim Skaten
aus der Halfpipe geflogen.« Plötzlich glitzern in ihren Augen
Tränen. Sie kullern zögernd ihre Wangen hinunter,
weiter über den Hals und versickern schließlich im T-Shirt-
Ausschnitt.
Ich schlucke und sage: »Darum weinst du aber nicht,
oder?«
Alina schüttelt den Kopf, öffnet in Zeitlupe den Mund
und flüstert: »Mir ging es schon mal besser.«
Das glaube ich ihr sofort! Was ist denn da passiert? Ich
meine, Alina gehört nicht unbedingt zu den glücklichsten
Menschen, die unsere Erde bevölkern, aber gerade
scheint es echt ein akutes Problem zu geben. Nicht, dass
sie sich mit der Band überworfen hat und die ihre lyrischen
Ergüsse nicht mochten. »Gab's Schwierigkeiten beim Texten?«
Alina schüttelt den Kopf. »Nee, die Jungs waren total
witzig und supernett. Echt!«
»Was ist dann passiert?«
Sie schnieft und wischt sich mit dem Handrücken trotzig
die Tränen weg. »Da will ich lieber nicht drüber reden.«
»Okay. Akzeptiere ich.«
Aber auch nur schweren Herzens. Natürlich würde ich
trotzdem gerne wissen, was hier abgeht. Alina sieht echt
aus, als hätte sie die dunkle Seite gesehen. Ich nehme
ihr den Rucksack ab, und mein erster Impuls ist es, so-
fort bei Arthur an der Haustür zu klingeln, um ihn zu bitten,
sich mit seinen heilenden Kräften um Alina zu kümmern.
Arthur hat nämlich die seltene Gabe, traurige
Menschen aufzuheitern, sodass sie auch heiter bleiben.
Ich mache mir gerade wirklich ziemliche Sorgen. Alina
sieht total verstört aus. Aber da Arthur vermutlich zurzeit
an seinem Plastikflaschen-Katamaran im Garten bastelt,
will ich ihn nicht stören. Er steht ein bisschen unter Zeitdruck.
Übernächste Woche will er mit diesem selbst konstruierten
Plastikflaschen-Teil zur größten schwimmenden
Müllkippe segeln, die so riesig ist wie ganz Texas und
sich mitten im Pazifik, auf dem Weg nach Australien, befindet.
Total alleine, mit fünf anderen Leuten aus seiner
Umweltorganisation. Unter uns: Wie soll man mit so einem
Menschen eine Beziehung führen? Dauernd veranstaltet
Arthur lebensgefährliche Expeditionen, bei denen
ich nie weiß, ob er überhaupt jemals wiederkommt. Da
brauche ich doch eine zweite Liebe, die mich im Fall der
Fälle auffängt, quasi als Sicherheitsnetz.
Also ziehe ich Alina an der Hand weiter, direkt auf unsere
Haustür zu. Ich stoße die Tür auf und rufe in den
dämmrigen Flur hinein: »Mama, Alina ist da.«
Gleich kommt meine Mutter barfuß und in ihrem mintgrünen
Yoga-Outfit die Treppe herunter. Seit Neuestem
läuft sie nur noch in diesen merkwürdigen kurzen Pluderhosen
herum, weil sie ständig zum Trainieren ins »Studio«
geht. Neulich hat sie mir im Wohnzimmer vorgeführt, wie
lang sie den Handstand beherrscht. Sie wollte gar nicht
wieder damit aufhören. Ich dachte wirklich, ihr Kopf
platzt gleich von dem ganzen angestauten Blut.
Mama hat jetzt eine Top-Figur, allerdings interessiert
das meinen Vater nicht die Bohne. Dabei hatte Mama so
sehr darauf gehofft, dass sie durchs Yoga eine sinnliche
Ausstrahlung bekommt. Ich finde, es hat gewirkt. Aber
Papa kriegt nichts mit. Der kommt abends abgespannt aus
seiner Steuerkanzlei nach Hause, setzt sich kurz zu uns
an den Abendbrottisch und danach verschwindet er zu
seinen »Skulpturen« in den Keller und macht einen auf
Hobbykünstler oder putzt seine Schuhe. Eigentlich wollte
er zeit seines Lebens Bildhauer werden, aber aus »Vernunftgründen
«, wie er es nennt, ist er ein sehr erfolgreicher
Steuerberater geworden, der manisch Schuhe putzt.
Meine Mutter ist deshalb total frustriert, weil sie echt gewillt
war, die Beziehung mit meinem Vater auf ein »neues
Niveau« zu heben. Sie dachte, dass er jetzt, als frischgebackener
Opa, auch mit Yoga anfängt, sich für Spiritualität
interessiert, und dass sich der ganze Ärger, den sie
die letzten Jahrzehnte miteinander hatten, in Wohlgefallen
auflösen würde.
Leider macht Papa bei dem Plan null mit. Noch problematischer
ist allerdings, dass er mit Mamas plötzlicher
Selbstsicherheit überhaupt nicht umgehen kann. Jedes
Mal, wenn sie ihm jetzt sagt, dass sie sich wirklich wünschen
würde, dass er sich mal etwas mehr in die Ehe einbringt,
geht er aus dem Zimmer. »Lass mich bloß mit diesem
dummen Eso-Zeug in Ruhe.« Früher hätte sich das
Mama stillschweigend bieten lassen, heute rennt sie hinterher
und sagt ihm gehörig die Meinung: »Du bist ein emotional
unterentwickelter, trauriger, alter Mann.« Ich schwöre:
Papa war es wesentlich lieber, als Mama noch Hypochonderin
war und ständig Panik hatte, an einem durch
zu viel Stress verursachten Herzinfarkt zugrunde zu gehen.
Meine Mutter lächelt, wie sie immer lächelt, und breitet
ihre Arme aus. »Alina, komm, lass dich fest drücken!«
Und dann schließt sie ihre Arme um meine mickrige
Freundin und presst sie an ihre Yoga-Brust. Meine Mutter
ist der herzlichste Mensch, den man sich vorstellen
kann. Als meine Schwester und ich klein waren, hat sie
uns ununterbrochen auf ihren Schoß gezogen, geküsst,
gedrückt und mit uns gekuschelt, dass es jetzt für mich
fast ein bisschen heftig und verstörend ist, nicht mehr
ganz so viel gedrückt und geherzt zu werden. Vielleicht ist
das auch noch so ein Grund, warum ich Verlangen nach
zwei Jungs gleichzeitig habe: Johannes und Arthur. Kann
doch sein. Ich brauch die doppelte Portion Zärtlichkeit
und Liebe, weil ich die von klein auf gewöhnt bin.
Im Gegensatz übrigens zu Alina. Die hat von ihrer
Mutter immer nur Saures gekriegt. Alina steht stocksteif
da und lässt sich von meiner Mutter knuddeln, dann bekommt
sie auch noch einen Kuss auf die blasse Stirn. Dabei
laufen ihr schon wieder Tränen über die Wangen.
Ich lasse ihren Rucksack auf den Boden neben meiner
Zimmertür sinken und denke, dass sie sich zuerst mal
ihre alten Totenkopf-Vans ausziehen sollte. Schließlich ist
Mama den lieben langen Tag bemüht, dass es bei uns zu
Hause hübsch und sauber aussieht. Als hätte Alina meine
Gedanken telepathisch empfangen, streift sie sich augenblicklich
die ausgelatschten Vans von den Füßen und stellt
sie ordentlich nebeneinander in den Korridor. Dann folgen
wir meiner Mutter durch das helle Wohnzimmer, raus
in den Garten.
2
Draußen setzen wir uns an den alten Holztisch, den
meine Mutter neulich auf dem Flohmarkt erstanden hat.
Mama hatte Lust, ein wenig rustikales Flair im Garten
zu verbreiten. Ich mag den Tisch, er sieht aus, als hätten
schon diverse Generationen daran gespeist. Überhaupt
gibt es für mich kaum einen schöneren Platz als im kühlen
Schatten der riesigen Akazie, die ihre Äste beinahe
über unseren gesamten Garten spannt. Ich würde sogar
sagen: Mit ihrer knochigen Rinde, ihren kleinen, grasgrünen
Blättchen, ihrem starken Stamm ist die Akazie mein
Freund. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, sie spricht
zu mir. Von wegen: »Lelle, halte durch!« So, wie dieser
Baum durchhält. Seine Wurzeln drücken überall die
Backsteine der Terrasse nach oben und wir stolpern ständig
drüber. Über uns in den Zweigen gurrt eine Taube,
und von nebenan hören wir Arthurs Schleifmaschine im
Wechsel mit diesem hohlen Geräusch, das die leeren
Plastik-Flaschen machen, wenn sie übereinanderrollen.
Mama stellt Alina ein Glas mit Apfelschorle hin und die
Kirchturmuhr schlägt elf Uhr. Mama bindet sich einen
kleinen Pferdeschwanz - seit Neuestem lässt sie sich die
Haare lang wachsen - und meint: »Ich muss gleich rüber
zu Constanze und Mimi abholen. Aber erst will ich mal
wissen, warum du so traurig bist, Alina.«
Mimi ist das Baby von meiner Schwester Cotsch. Um das
kümmert sich meine Mutter am Wochenende und nachmittags,
wenn sie aus der Steuerkanzlei zurück ist, wo sie für
meinen Vater halbtags die Quittungen sortiert. Mama war
schon immer Papas unterbezahlte Angestellte. Seit Mimi
auf der Welt ist, überlegt sie allerdings, ob sie nicht noch
mal eine Ausbildung zur Naturheilpraktikerin machen und
eine eigene Praxis eröffnen sollte. Ich fände das super. Nur
Papa bremst das aus, weil er ohne Mamas Mitarbeit echt
aufgeschmissen wäre. Das würde er natürlich nie zugeben.
Mein Vater tut gerne so, als seien alle Menschen außer ihm
unfähig und müssten froh sein, dass es ihn gibt, damit er die
Welt vor dem Untergang retten kann. Leider kriegt er nie
mit, wenn man ihn wirklich mal brauchen könnte.
Heute ist Samstag und darum holt meine Mutter Mimi
schon früher zu uns rüber. Vermutlich absolviert meine
Schwester wieder irgendeinen Model-Job. Ständig wird
sie für stylische Kataloge in Badeanzügen oder funkelnden
Abendroben abgelichtet. Und jedes Mal schmiegen
sich heiße, durchtrainierte Typen in Smokings oder Badehosen
an sie, als wäre meine Schwester so eine Art Göttin.
Ihr Helmuth ist derart stolz darauf, dass er sein komplettes
Haus von oben bis unten mit diesen Katalogbildern
tapeziert hat. Teilweise nimmt das echt bizarre Züge an,
besonders was die verruchten Unterwäsche-Fotos anbelangt,
die er im Flur in dicke Goldrahmen gepackt hat
und dramatisch beleuchtet.
Alina starrt vor sich hin, so, als würde sie mit offenen
Augen schlafen.
Mama setzt sich zu ihr auf die Stuhllehne und stubst
sie freundschaftlich mit dem Ellenbogen an. »Alina, was
ist los? Wie war's mit deinen Jungs? Habt ihr ein paar Hits
geschrieben?«
Sie nickt und schnieft weiter vor sich hin. »Ja, kann
schon sein.«
Alina hat mal für ein paar Monate bei uns gewohnt,
als es bei ihr zu Hause gar nicht mehr ging. Ihre Mutter
flippt nämlich schnell aus und verliert die Kontrolle. Einmal
habe ich das hautnah miterlebt. Ich kann euch sagen:
Das war ziemlich schockierend! Ich wusste gar nicht, wie
bescheuert einige Eltern mit ihren Kindern umspringen.
Die müssten doch eine natürliche Bremse haben. Alina
hätte gerne bei uns wohnen bleiben können, aber dann
hat sie merkwürdigerweise Heimweh nach ihrem Zuhause
bekommen. Also ist sie zurück zu ihren Eltern und
den beiden Yorkshire Terriern, wo ihr sofort wieder die
Hölle heiß gemacht wurde. Keine Woche später war Alina
so am Ende, dass sie gar nicht mehr wusste, wo sie hinsollte.
In der Schulpause hat sie plötzlich zu mir gemeint:
»Ich bringe mich um.« Einfach so: »Ich bringe mich um.«
Ich dachte zuerst, sie macht Scherze. Von wegen! Ihr hättet
ihr Gesicht dabei sehen sollen. Vollkommen ernst und
entschlossen. Seitdem machen Mama und ich uns unterschwellig
Sorgen. Wir hatten ja die Hoffnung, dass sich
Alina mit den Songtexten alles von der Seele schreibt.
Aber irgendwie ist in ihr eine so tief verwurzelte Traurigkeit,
dass Mama meint: »Wir müssen verschärft ein Auge
auf Alina haben.«
Ehrlich gesagt, ich würde ungern miterleben, dass Alina
sich etwas antut. So eine Nummer habe ich nämlich letzten
Sommer hautnah im Krankenhaus miterleben dürfen,
wo ich war, um meine Magersucht auszukurieren. Da hat
sich meine Zimmergenossin Simona aus Verzweiflung die
Pulsadern aufgeschnitten. Alles war voller Blut. Alles! Das
komplette Badezimmer, der Teppich, die Laken. Alles.
Leute, ich sage doch: Ich kenne das Leben - besonders
von der heftigen Seite. Darum versuche ich, vernünftig zu
sein. Was mir so gut wie nie gelingt. Ich habe es ja bereits
erwähnt: Morgen legt Johannes auf meiner Party die Platten
auf. Schon allein bei der Vorstellung kriege ich Magenkrämpfe.
Zum Glück hat Arthur Johannes nur einmal
ganz kurz und auch nur im Dunkeln gesehen - und zwar
bei einer anderen Party, auf der ich mit Johannes hinter
dem DJ-Pult rumgeknutscht habe. Aber ich weiß: Wenn
die Situation eskaliert, bringe ich mich auch um.
Alina trinkt ihre Apfelsaftschorle aus, meine Mutter lächelt
wie so ein Buddha vor sich hin und meint schließlich,
weil von Alina nichts mehr kommt: »Na, da bin ich
ja mal gespannt! Wann erscheint denn das neue Album?«
Alina zuckt nur wieder mit den Achseln. Meine Güte,
langsam geht mir diese Trauer an die Substanz. Irgendwie
hat meine Mutter ein Faible für niedergeschlagene Menschen.
Ihre beste Freundin Rita ist auch so ein Exemplar.
Die wohnt mit ihren beiden Töchtern Alice und Susanna
in einer mondänen Villa am Siedlungsrand. Diese Rita
tut sich ständig unsagbar leid, weil ihr Mann sie nach albtraumhaften
Ehejahren verlassen hat. Außer ihr wundert
sich allerdings niemand darüber. Eher, dass er es so lange
mit ihr ausgehalten hat. Nun hockt Rita alleine in ihrer
riesigen Villa mit Blick über den Park und treibt ihre armen
Töchter zu Höchstleistungen an, um durch sie eine
gewisse Bedeutung zu erlangen.
Alice ist so alt wie ich und spielt virtuos Klavier. Ihre
Finger flirren und hüpfen über die Tasten, dass einem
schwindlig werden kann. Diese Alice hat echt was drauf,
so viel ist mal klar, auch, wenn sie leider überhaupt keinen
Style hat. Unter uns: Modisch würde ich sie gerne mal be-
raten. Das geht gar nicht, wie sie herumläuft - sie sollte
einfach aufhören, sich Zöpfe zu flechten und 80er-Jahre
Samtkleider anzuziehen.
Susanna, die so alt ist wie Cotsch, studiert Physik und
ist jetzt schon ein wissenschaftliches Genie, das wahrscheinlich
in den nächsten zwei Jahren den Physik-Nobelpreis
gewinnt. Darauf freut sich Rita schon, weil sie
denkt, dass sie dann endlich vor der Weltpresse eine Ansprache
halten kann und mit Ruhm und Reichtum überschüttet
wird. Überhaupt scheffelt sie Kohle, wo es nur
geht. Dauernd soll Alice auf Weltreise gehen oder Hauskonzerte
geben, zu der die Nachbarschaft geladen wird
und horrende Eintrittspreise zahlen muss. Da es sich ja
dabei um »Spezial-Auftritte des Wunderkindes« handelt.
Außerdem gibt es schon Merchandising-Produkte von
Alice, die Rita fleißig übers Internet vertreibt: Notenständer,
Halstücher, Stimmgabeln und kleine Plastikflügel,
die eine schwungvolle Melodie klimpern, wenn man sie
aufklappt. Und obwohl das Geschäft mit ihren Wunder-
Töchtern nicht schlecht läuft, sitzt Rita dauernd bei uns
auf dem Sofa rum und lässt sich von meiner Mutter psychologisch
betreuen oder etwas zu essen kochen.
Ich werde mein Leben definitiv später anders angehen
als meine Mutter. Gerade, was Partnerschaften anbelangt,
werde ich hart durchgreifen und auf Gleichberechtigung
pochen. Aber sogar für Papas Fehlverhalten hat Mama
Verständnis. Sie meint: »Er hat Angst vor meiner Stärke.
Dabei will ich doch auch nur mal in den Arm genommen
werden.« Das kann sie echt knicken. Ich kann euch sagen:
Sollte mein späterer Mann einmal solche Unterdrücker-
Anwandlungen bekommen wie mein Vater, werde ich den
sofort verlassen. Wer bin ich denn?
Alina seufzt wieder tief und knetet dramatisch ihre
Hände. Ich blicke derweil auf ihr schwarzes Nietenarmband
und die schwarz lackierten Fingernägel. Dann hoch
zu ihrer enormen Schürfwunde am Unterarm. Schon wieder
durchzuckt mich ein heftiger Schauer, so, als würden
sich sämtliche Organe in mir zusammenklumpen.
Ihre hochgesprayten Haare wehen leicht im Wind. Am
liebsten würde ich Alina unter dem Tisch einen aufmunternden
Tritt gegen das Schienbein in ihrer schwarzen
Röhrenjeans geben. Das spare ich mir besser. Alina hat
ja - wie bereits erwähnt - zu Hause schon ziemlich viel
Keile einstecken müssen.
Sie kaut auf ihrer Unterlippe herum und meint schließlich
trocken: »Ich hab mich in einen von den Roadies verliebt.«
Ich rutsche vor auf die Stuhlkante. »In wen?«
»In einen Roadie! Aber der hat eine Freundin und die
will er nicht verlassen. Ich kann aber nicht mehr ohne ihn
leben.«
Wow! Das sind gewichtige Worte! Und dann weint
Alina vollkommen enthemmt los. Da scheint sich ja ordentlich
was in ihr angestaut zu haben. Ich gucke Mama
an und die schaut Alina mitleidig an, so, als könne sie geradezu
ihr Leid fühlen, als hätte sie selbst auch schon
mal so eine unglückliche Liebe erlebt. Dann fasst sie sich
aber wieder und sagt wie ein echter Liebesprofi: »Hast du
denn seine Telefonnummer?«
Alina nickt und schnieft, sodass ich ihr schließlich von
drinnen die Küchenrolle hole. Das hält ja kein Mensch
aus. Ich reiche ihr ein Stück, und sie schnäuzt sich kräftig
rein, dabei kann sie nicht aufhören zu weinen. Das ist
gut, das reinigt, das befreit; auch, wenn ich selbst nicht
1. Auflage 2010
© 2010 cbt/cbj Verlag, München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Zeichenpool, München
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Ruslan Kudrin, Natalya Bidyukova, m.i.g.u.e.l.)
SK • Herstellung: AnG
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Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-570-16029-9
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Autoren-Porträt von Alexa Hennig Von Lange
Alexa Hennig von Lange wurde 1973 geboren und begann bereits mit acht Jahren zu schreiben. 1997 erschien ihr Debütroman Relax, mit dem sie über Nacht zu einer der erfolgreichsten Autorinnen und zur Stimme ihrer Generation wurde. 2002 bekam sie den Deutschen Jugendliteraturpreis. Es folgten zahlreiche Romane für Erwachsene wie Jugendliche und Kinder, außerdem Erzählungen und Theaterstücke. Alexa Hennig von Lange lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Alexa Hennig Von Lange
- Altersempfehlung: 12 - 15 Jahre
- 2010, 206 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: cbt
- ISBN-10: 3570160297
- ISBN-13: 9783570160299
Rezension zu „Leute, das Leben ist wild / Die Lelle-Romane Bd.4 “
"Dieser vierte Band aus der Lelle-Reihe von Alexa Hennig von Lange bietet erneut alles, was das Teenager-Herz begehrt - am Ende möchte man einfach nur noch mehr hören von der einzigartigen Lelle."
Kommentar zu "Leute, das Leben ist wild / Die Lelle-Romane Bd.4"
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