Liebe und du leidest nicht
Eine Anleitung zum Glücklichsein<br />»Es wird zu viel gelitten an der Liebe«, so beginnt das erfolgreiche Buch von Walter Riso. Ein Phänomen, das so alt zu sein scheint wie die Menschheit. Was läuft da schief? Wie liebt man richtig?...
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Produktinformationen zu „Liebe und du leidest nicht “
Eine Anleitung zum Glücklichsein<br />»Es wird zu viel gelitten an der Liebe«, so beginnt das erfolgreiche Buch von Walter Riso. Ein Phänomen, das so alt zu sein scheint wie die Menschheit. Was läuft da schief? Wie liebt man richtig? Dieses Buch ist sachlich, praktisch, erklärend, informierend und erfrischend konstruktiv. Riso sagt nicht: »Alles wird gut.«, sondern er fordert den Leser, provoziert ihn, reicht ihm jedoch auch immer wieder die Hand. Maßgeblich für eine gelungene Beziehung sind für Walter Riso drei Komponenten: Sexualität, Freundschaft und Mitgefühl, sofern sie in einem harmonischen Verhältnis stehen. Die klare und verständliche Sprache Risos wirkt bei der Komplexität der Thematik überzeugend und regt den Leser zum Mitdenken an. Riso fordert den Leser immer wieder auf, sein Problem mit mehr Rationalität zu betrachten, und hilft ihm mit Ansätzen der kognitiven Verhaltenstherapie, sich seiner Situation bewusster zu werden.<br />
<br />Für alle, die nicht nur einfache Lebenshilfe suchen, sondern bereit sind, sich selbst weiterzuentwickeln.<br />
Klappentext zu „Liebe und du leidest nicht “
Eine Anleitung zum Glücklichsein»Es wird zu viel gelitten an der Liebe«, so beginnt das erfolgreiche Buch von Walter Riso. Ein Phänomen, das so alt zu sein scheint wie die Menschheit. Was läuft da schief? Wie liebt man richtig? Dieses Buch ist sachlich, praktisch, erklärend, informierend und erfrischend konstruktiv. Riso sagt nicht: »Alles wird gut.«, sondern er fordert den Leser, provoziert ihn, reicht ihm jedoch auch immer wieder die Hand. Maßgeblich für eine gelungene Beziehung sind für Walter Riso drei Komponenten: Sexualität, Freundschaft und Mitgefühl, sofern sie in einem harmonischen Verhältnis stehen. Die klare und verständliche Sprache Risos wirkt bei der Komplexität der Thematik überzeugend und regt den Leser zum Mitdenken an. Riso fordert den Leser immer wieder auf, sein Problem mit mehr Rationalität zu betrachten, und hilft ihm mit Ansätzen der kognitiven Verhaltenstherapie, sich seiner Situation bewusster zu werden.
Für alle, die nicht nur einfache Lebenshilfe suchen, sondern bereit sind, sich selbst weiterzuentwickeln.
Lese-Probe zu „Liebe und du leidest nicht “
Liebe und du leidest nicht von Walter Riso Aus dem Spanischen von Sigrun Zühlke
Prolog
alter Risos Liebe und du leidest nicht berührt mich
auf ganz besondere Weise. Es weckt alte Gefühle
und Erinnerungen, Ideen, die ich im Laufe der Jahre ver-
treten, aber fast vergessen hatte, frischt Kenntnisse auf,
ruft Zweifel hervor und festigt Vorstellungen. Was Riso
zu sagen hat, hallt in mir wider wie eine Stimme, die so-
wohl neu als auch alt ist, manchmal auch anders klingt, je-
doch immer vertraut. Sein Buch rief mir eine Begebenheit
ins Gedächtnis, die ich längst vergessen hatte.
Es hatte alles bei einer Wanderung angefangen, die wir
als Jugendliche unternahmen. In der Morgendämmerung
waren wir schon weit hinter den Hügeln, die die Stadt
umgaben. Wir waren eine lärmende, laute und fröhliche
Gruppe, täuschten Sicherheit und Coolness vor, auch
wenn die meisten von uns darum besorgt waren, wie
ihnen wohl ihre neue Sportkleidung stand, sich bemüh-
ten, möglichst lässig über Hindernisse auf unserem Weg
zu springen, sich bang fragten, ob ihnen diese oder jene
Eroberung gelingen würde, und fürchteten, ihr Verhal-
ten auf der Wanderung könne später abfällig kommen-
tiert werden. Der eindrucksvolle Sonnenaufgang, die
frische Luft, die Natur in ihrer ganzen Pracht um uns
herum, der Schein des Lagerfeuers, der Bär, den wir er
blickten (von dem wir heute noch nicht wissen, ob wir
ihn wirklich gesehen oder uns das nur eingebildet
haben), versetzte uns den ganzen Tag lang in Hoch-
stimmung und Wohlgefühl.
... mehr
Aber zu dem guten Klima des Tages trug auch die Tatsache
bei, dass sich unter uns ein frisch verliebtes Pärchen
befand, das erst seit einem Monat zusammen war. Die beiden
strahlten Körperlichkeit, Zärtlichkeit, Freundlichkeit
und Achtsamkeit aus: Eros, Philia, Agape, wie es im vorliegenden
Buch heißt - Worte und Begriffe, die wir damals
natürlich noch nicht kannten. Und dennoch trübte etwas
am Ende den herrlichen Tag: Beim Abschied brach das
Mädchen in Weinen aus, ja, sie vergoss ein wahres Meer
aus Tränen, das aus ihrem tiefsten Inneren kam, wahrhaftig,
leidenschaftlich und ansteckend. Und warum dieser
Schmerz? Auf unsere drängenden Fragen antwortete sie:
„Das hier ist alles so schön, dass es nicht andauern kann,
es wird irgendwann vorbei sein." Wir trösteten sie, soweit
es uns möglich war.
Allen unseren guten Wünschen zum Trotz bewahrheiteten
sich ihre Ängste später. Die Tränen kehrten
zurück, der Schmerz hielt Einzug, die Wut, die tiefe Enttäuschung.
Die Liebe war zu Ende gegangen, wurde zu
einem „nie wieder", war „verflucht", verwandelte sich
in Bitterkeit. Das Mädchen hatte Recht gehabt: Das
Wunderbare war dahin, die Überraschung, die Leidenschaft
und das aufregend Neue waren für immer verschwunden.
Bewusst oder unbewusst begreifen wir die Liebe als vollkommen,
halten sie für immer während und wollen nicht
zulassen, dass sie sich verändert.
Diese Geschichte ist umso trauriger, als man diese Zuneigung
vor dem „Entlieben" hätte retten und zu etwas Wie-
sem und Reifem hätte heranwachsen lassen können, wenn
jemand den beiden eine etwas realistischere Auffassung
von der Liebe vermittelt hätte, so wie es Liebe und du
leidest nicht tut.
Das Buch schafft Raum zum Nachdenken über die grundlegenden
Dimensionen der Liebe, wie man sie erfahren
und genießen kann, wie man sie dauerhaft gestalten und
auch dem Leiden an ihr begegnen kann, falls es einmal
dazu kommt.
Ich bin mir natürlich im Klaren darüber, dass der Autor,
angesichts des schier unerschöpflichen Themas
„Liebe" niemals den Anspruch erheben würde, es umfassend
behandeln zu wollen. Doch der Ansatz der
„drei Dimensionen, in denen wir lieben" - Eros, Philia
und Agape - erscheint mir besonders wichtig, weil er
uns nicht nur zu einer gesunden Form der Zuneigung
anleitet, sondern uns letztendlich auch möglicht, „die
Liebe zu erlernen".
Es ist ein ernsthaftes, konsequentes und anschauliches
Buch, ohne Zugeständnisse ans strikt Unterhaltsame, aber
dennoch mit einem vielleicht ungewollten Hauch von
Poesie und, was am wichtigsten ist, von einer Klarheit und
Schlichtheit, die so schwer zu erreichen ist und die aus
Weisheit und dem aufrichtigen Wunsch entsteht, mit
vielen Menschen in einen Dialog zu treten.
Dieses Buch, das uns von der Liebe und ihrer Bedeutung
erzählt und von der Möglichkeit, nicht daran zu leiden
und den etwaigen Schmerz daran zu hindern, kommt
genau zum richtigen Zeitpunkt.
Möge Liebe und du leidest nicht vom Leser gut aufgenommen
werden.
Doctora Cecilia Cardinal de Martín
Ärztin und Sexualtherapeutin
Einleitung
Es wird zu viel gelitten an der Liebe, das ist die Wahrheit.
Sogar diejenigen, die behaupten, eine perfekte Beziehung
zu führen, hegen manchmal tief im Inneren versteckte
Zweifel, Unsicherheiten oder Ängste über die Zukunft ihres
Gefühlslebens. Man weiß ja nie ... Wer hätte nicht
schon einmal gelitten, weil er mit dem falschen Partner
zusammen war, weil das gegenseitige Begehren einen
Tiefpunkt erreicht hatte oder einfach, weil zu wenig Zärtlichkeit
da war? Nichts ist so empfindlich wie die Liebe,
nichts so faszinierend, nichts so lebensnotwendig. Auf die
Liebe zu verzichten bedeutet, reduzierter oder gar nicht mehr zu leben.
Die Liebe ist vielseitig. Gefühlsmäßige Erfahrungen unterliegen
zahlreichen Einflüssen, die auf vielfältige Weise
miteinander verflochten sind. Zweifellos ist es einfacher,
Liebe zu empfinden, als sie zu erklären, und niemand hat
uns je beigebracht, zu lieben und geliebt zu werden, zumindest
nicht in allen Facetten. Gefühle in unzähligen
Ausdrucksformen stürmen auf uns ein und durchdringen uns.
Man wird nun einwenden, die Liebe sei nicht dazu da, um
rational „verstanden" zu werden; man müsse sie einfach
empfinden und genießen, und Romantik sei mit Logik
nun einmal nicht vereinbar. Irrtum! Eine solche Haltung
ist nicht nur einfältig, sie ist sogar gefährlich, denn eine
der Hauptursachen des sogenannten „Liebeskummers"
besteht gerade darin, dass wir im Laufe unseres Lebens-
irrationale und wirklichkeitsfremde Vorstellungen über
Gefühle entwickelt haben.
Irrtümliche Vorstellungen über die Liebe gehören zu den
Hauptgründen für seelisches Leiden. Aber die Liebe rationalisieren?
Ja, doch nicht allzu sehr, nur gerade so viel,
wie es nötig ist, um keiner Täuschung zu erliegen.
Ersehnte Liebe (das Lustprinzip) und bedachte Liebe (das
Realitätsprinzip), die eine wie die andere, Denken und
Fühlen in adäquatem Verhältnis. Wir sollten die Liebe
nicht nur genießen, sondern sie auch in unser System aus
Überzeugungen und Werten integrieren. Es geht darum,
den „Liebesquotienten" zu erhöhen und das Herz mit
dem Kopf so zu verbinden, dass wir unseren Gefühlen auf
heilsame Weise ihren Lauf lassen können.
Anders ausgedrückt: Wir müssen die Liebe ordnen und regeln,
um sie freundlicher und nervenschonender zu
gestalten. Ich will damit nicht raten, wir sollten sie einschränken
oder ihr die Flügel stutzen - ganz im Gegenteil,
es geht darum, ihr das Fliegen erst richtig beizubringen.
Was meinen wir eigentlich, wenn wir von Liebe sprechen,
wenn wir sagen, dass wir verliebt sind? Wir haben viele
Bezeichnungen für die Liebe, und jede hat eine andere
Bedeutung: Leidenschaft, Zärtlichkeit, Freundschaft,
Erotik, Bindung, Verliebtheit, Sympathie, Zuneigung,
Mitgefühl und Begehren. Es gelingt uns weder, genau zu
definieren, was Liebe eigentlich ist, noch uns auf eine einheitliche
Terminologie festzulegen. Für den einen ist Liebe
das Erleben von Leidenschaft, für den anderen sind Liebe
und Freundschaft dasselbe, und wieder ein anderer asso-
ziiert Liebe mit Mitgefühl oder uneingeschränkter, selbstloser
Hingabe. Und wer hat Recht? Derjenige, für den die
sexuelle Anziehung im Vordergrund steht, derjenige, der
die Freundschaft in den Mittelpunkt stellt, oder derjenige,
der meint, wahre Liebe sei etwas Spirituelles?
Ich denke - gemeinsam mit den Philosophen André
Comte-Sponville und Jean Guitton -, die Liebe lässt sich
besser verstehen, wenn man davon ausgeht, dass sie über
drei grundlegende Dimensionen verfügt. Wenn diese
Dimensionen auf die richtige Art und Weise zusammenspielen,
dann sprechen wir von einer ganzheitlichen und
funktionierenden Liebe. Aufgrund ihrer griechischen
Wurzeln nennen wir diese drei Dimensionen der Liebe:
Eros (Liebe, die nimmt und sich befriedigt), Philia (Liebe,
die teilt und sich freut) und Agape (Liebe, die freigiebig
ist und mitfühlt).
Vor ein paar Jahren habe ich in einer anderen Veröffentlichung
eine ähnliche dreigeteilte Struktur der Liebe vorgeschlagen:
Liebe vom Typ I (vornehmlich emotional),
womit ich das Verliebtsein meinte, vom Typ II (vornehmlich
kognitiv/rational), wobei ich mich auf die partnerschaftliche
Liebe bezog, und vom Typ III (vornehmlich
biologisch bedingt), wie es beispielsweise die Mutterliebe
ist. Zweifellos ist die oben angegebene Klassifikation
vollständiger und vielschichtiger, sie ist besser auf das
praktische Leben anzuwenden und profunder.
Eine ganzheitliche, gesunde und erfüllende Liebe, die uns
Frieden und Wohlbefinden statt Leiden beschert, setzt
eine ausgewogene Einheit der drei erwähnten Dimen-
sionen voraus: Begehren (Eros), Freundschaft (Philia) und
Zärtlichkeit/Mitgefühl (Agape). Dies ist die dreifaltige
Bedingtheit der Liebe, die sich unausweichlich selbst immer
wieder erneuert.
Ein Paar, das eine funktionierende Beziehung führt, muss
nicht fünfmal am Tag Sex haben (Qualität geht über
Quantität), braucht nicht in jedem Punkt einer Meinung
sein (leichte Diskrepanzen festigen und bestätigen die
Individualität) und lebt auch nicht unbedingt eine ewige
Romanze (zu viel Zärtlichkeit übersättigt). Intelligente
Liebe ist wie ein Menü, das je nach Notwendigkeit aktiviert
wird: alles zu seiner Zeit, im richtigen Maß und
harmonisch aufeinander abgestimmt.
Auch wenn ich im Laufe des Buches noch ausführlicher
auf jede der drei erwähnten Dimensionen eingehen werde,
will ich die Themen doch kurz anreißen, um die spätere
Lektüre zu erleichtern.
Eros
Eros ist sexuelles Begehren, Besitzergreifen, Sichverlieben,
leidenschaftliche Liebe. Das Wichtigste hierbei ist
das ICH, das fordert und begehrt. Das Gegenüber, das
DU, wird kaum in Betracht gezogen. Eros ist die egoistische
und lüsterne Facette der Liebe: „Ich möchte dich
besitzen", „Du sollst mir gehören", „Ich liebe dich für
mich". Eros ist von Natur aus streitbar und dualistisch, er
hebt uns in den Himmel und stürzt uns im selben Augenblick
in die Hölle. Er ist die Liebe, die schmerzt, die mit
Wahnsinn und Kontrollverlust assoziiert wird. Doch wir
können auf Eros nicht verzichten; das Begehren ist die
vitale Antriebskraft einer jeden Beziehung, unabhängig
davon, ob es als reiner Sex oder als Erotik in Erscheinung
tritt. Gut eingesetzt, fördert Eros nicht nur die Philia eines
Paares (Freundschaft mit Begehren), sondern offenbart
sich auch auf liebenswerte Weise, wenn zwei Egoismen
aufeinandertreffen, einander ergänzen und voneinander
profitieren. Eros allein reicht jedoch nicht aus, um eine
ganzheitliche Liebe zu gestalten, denn er lebt im ständigen
Verlangen nach etwas, immer fehlt ihm etwas. Eros ist
Platons Vorstellung von der Liebe.
Philia
Sie ist die Freundschaft, in unserem Fall die „Freundschaft
eines Paares", die sogenannte „eheliche Liebe" oder
die Freundschaft zwischen Beziehungspartnern. Philia
geht über das ICH hinaus, um den anderen als Subjekt mit-
einzubeziehen: ICH und DU, auch wenn das ICH noch
immer im Vordergrund steht. Trotz dieses Fortschritts ist
das gegenseitige Wohlwollen hier noch begrenzt, denn
Freundschaft stellt immer noch eine Form der Selbstliebe
dar: Man liebt sich selbst durch den Freund. Das zentrale
Gefühl ist dabei nicht der Gefallen, den man am Besitzen
findet, am Erheben des Anspruchs, sondern die Freude
am Teilen: die Gegenseitigkeit, das Gut-miteinander-Auskommen,
die Seelenruhe. Philia verlangt keine absolute
Übereinstimmung (die ohnehin nie zu erreichen ist, nicht
einmal mit den besten Freunden), sondern begnügt sich
mit einer gewissen Deckungsgleichheit von Interessen,
einer gemeinsamen Vorstellung vom Leben zu zweit.
Während Eros abflaut und wieder zu neuem Leben erwacht,
vertieft sich Philia mit den Jahren, wenn alles gut
läuft. Dennoch schließt Philia Eros niemals aus: Sie beruhigt
ihn, sie stellt ihn in einen weniger lüsternen, weniger
besitzergreifenden Kontext, aber sie löscht ihn nicht aus.
In allen stabilen Beziehungen greifen wir mehr auf Philia
als auf Eros zurück, dennoch sind beide unverzichtbar,
um eine Verbindung zu festigen. Wenn Eros aktiv wird,
dann verwandeln wir uns in wollüstige, hemmungslose
Wesen, sind „Objekt" und „Subjekt" zugleich: Objekt, da
wir verschlungen werden, Subjekt, da wir selbst verschlingen.
Treten Philia und Eros gemeinsam auf, so genießen
wir den angenehmen Luxus, die Liebe mit unserem besten
Freund oder der besten Freundin zu erleben. Philia ist
beispielsweise die Freundschaft von Aristoteles und
Cicero - übertragen auf ein Paar.
Agape
Agape ist die Selbstlosigkeit, die Zärtlichkeit, die Sanftmut,
die Gewaltlosigkeit. Sie ist weder das alles auslöschende
erotische ICH noch das ICH und DU der freundschaftlichen
Liebe, sondern die hingebungsvolle Liebe:
Das DU steht hier ganz und gar im Mittelpunkt. Agape ist
der reinste Aspekt der Liebe, sie ist Wohlwollen ohne jegliche
egoistische Komponente. Es liegt auf der Hand, dass
ich damit keine irreale und idealisierte Liebe meine, denn
auch Agape unterliegt gewissen Bedingungen; vielmehr
spreche ich von der Fähigkeit, auf die eigene Macht zu verzichten,
um sich mit der Schwäche des geliebten Menschen
zu verbinden. Hier geht es weder um erotischen Genuss
noch um die freundschaftliche Gelassenheit, sondern um
pures Mitgefühl: der Schmerz, den wir mit dem geliebten
Menschen teilen, wenn er leidet, wenn er uns braucht, uns
ruft - es ist die Disziplin der Liebe, die keiner Anstrengung
bedarf. Agape prägt daher häufig (wenn auch nicht
immer) die letzte Etappe in der Entwicklung der Liebe,
wobei sie jedoch ihre beiden Vorgänger weder ersetzt
noch auslöscht. Sie schließt sie mit ein und vervollständigt
sie. Wie wir im Laufe meiner Ausführungen sehen werden,
kann es sowohl „agapischen" Sex geben (Eros und
Agape) als auch selbstlose Freundschaft (Philia und
Agape). Kurz gesagt: Agape ist die Liebe von Jesus,
Buddha, Simone Weil und Krishnamurti.
Zwischen zwei Personen gibt es also nicht nur eine einzige
Form der Liebe, sondern sie verfügt über mindestens drei
Dimensionen, und schon die Veränderung einer einzigen
kann das wichtige Gleichgewicht der Zuneigung ins Wanken
bringen und dem Leiden Tür und Tor öffnen. Die
emotionale Veränderung kann von Eros ausgehen (zum
Beispiel, wenn wir merken, dass wir nicht begehrt werden
oder dass wir unseren Partner nicht mehr begehren), von
Philia (zum Beispiel, wenn die Langeweile immer schwerer
auf uns lastet und die Heiterkeit verkümmert), von
Agape (zum Beispiel, wenn mangelnder Respekt und
wachsender Egoismus zunehmen) oder von jeder möglichen
Kombination, die sich als dysfunktional erweist.
Manche Menschen versuchen, sich mit einer unvollständigen
Liebe abzufinden, aber früher oder später wird dieses
Defizit die Beziehung und den persönlichen Seelenfrieden
beeinträchtigen. Ist Liebe ohne Begehren in einer Zweierbeziehung
möglich? Das bezweifle ich, und wenn doch,
dann handelt es sich nicht um wirkliche Liebe. Mit einem
Feind zusammenleben? Unerträglich. Sich nicht um das
Wohlergehen des geliebten Menschen kümmern? Viel zu
grausam.
Ich bleibe dabei: Wahre Liebe kann es nur dann geben,
wenn Begehren, Freundschaft und Mitgefühl vorhanden
sind und sich miteinander verbinden. Unvollständige
Liebe schmerzt und macht krank.
Ich kenne Menschen, die die drei Dimensionen der Liebe
so sehr voneinander getrennt leben, dass sie zu emotionalen
„Frankensteins" geworden sind. Eros: ein- oder
zweimal die Woche mit dem Liebhaber oder der Liebhaberin.
Philia: zu Hause zusammen mit der Ehefrau oder
dem Ehemann. Und Agape: sonntags in der Kirche. Je
weiter die einzelnen Komponenten der Liebe auseinanderdriften,
desto stärker wird das Gefühl der Leere und der
Lieblosigkeit.
In anderen Fällen stimmen die Bedürfnisse und Erwartungen
der Beteiligten nicht überein, und die Komponenten
der Liebe verlieren sich in einem Knäuel aus Verwirrung
und Missverständnis. Solange wir kein rationales
kognitives Schema zur Verfügung haben, das uns hilft zu
verstehen, was da eigentlich geschieht, wird es uns nicht
möglich sein, dieses Problem zu lösen.
Adriana und Mario waren seit elf Jahren verheiratet. Sie
führten eine scheinbar harmonische Ehe, zumindest war
dies das Bild, das sie vor anderen abgaben, aber allmählich
und zunächst unbemerkt hatte die Liebe Risse bekommen.
Mario empfand sein Sexualleben als wenig befriedigend
(er brauchte mehr und besseren Sex), und
Adriana fühlte sich emotional allein gelassen (sie
brauchte einen Freund, mit dem sie sich austauschen
konnte). Beide waren in einem Teufelskreis gefangen, der
ihnen nicht wirklich bewusst war: Sie war nicht in der
Lage, Eros die Tore zu öffnen, wenn zuvor nicht die
Mindestbedingungen der ehelichen Freundschaft erfüllt
waren, und er verweigerte jegliche freundschaftliche
Annäherung (Philia), wenn Eros nicht im Spiel war. Die
psychologische Falle wirkte sich nachteilig auf Agape
aus, da sich beide, frustriert von dem Mangel, den sie
empfanden, kaum noch für das Wohlergehen des jeweils
anderen interessierten. Unterm Strich: weder Eros noch
Philia noch Agape.
Die Lösung war nicht einfach, denn sie setzte voraus, dass
beide Partner nicht auf ihren Forderungen beharrten, sondern
an das Wohlergehen des anderen dachten, also Agape
in sich förderten, damit sich Sexualität und Freundschaft
sowohl im als auch außerhalb des Bettes wieder entfalten
konnten. Konkreter gesagt: Mario musste seine Philia
verbessern, unabhängig davon, ob Adriana als sein Eros
fungieren konnte, und Adriana musste ihren Eros verbessern,
unabhängig davon, ob Mario sich kommunikativer
und freundschaftlicher zeigte.
Wie es in einem Lied aus den Sechzigerjahren hieß: „Die
halbe Welt wartet mit einer Blume in der Hand, während
die andere Hälfte der Welt auf diese Blume hofft." Stolz
macht bewegungsunfähig.
Nur mit professioneller Hilfe gelang es den beiden, jeden
einzelnen emotionalen Aspekt neu zu gestalten und im
richtigen Maß zu integrieren. Um eine befriedigende Beziehung
zu entwickeln, an der sie nicht litten, mussten
Adriana und Mario lernen, Informationen auf eine neue
Art zu verarbeiten. Die therapeutischen Ziele lauteten wie
folgt:
- die grundlegenden Dimensionen der Liebe (Eros, Philia
und Agape) identifizieren und erkennen, wie sie angeordnet
sind;
- jede einzelne kultivieren, bis sie für beide Partner in zufrieden
stellender Intensität vorhanden waren;
- sie auf ausgewogene und flexible Weise zusammenführen,
sodass sie in angemessenem Umfang verwirklicht
werden konnten.
Den Eheleuten gelang es nach und nach, ein neues Verständnis
von der Liebe zu erreichen, was es ihnen ermöglichte,
im Nachhinein die notwendigen Veränderungen
vorzunehmen. Sie entdeckten, dass emotionale Erfahrungen
eine ganz besondere Lesart haben, die man ohne großes
Leiden auf das Leben zu zweit übertragen kann.
Dieses Buch richtet sich an alle, die in ihrer emotionalen
Entwicklung vorankommen möchten, sei es, um die posi-
tiven Aspekte einer Beziehung noch zu verstärken, sei es,
um unnötiges Leiden an der Liebe zu beenden. Zwar wird
der Leser keine magischen Rezepte vorfinden (die gibt es
nicht, und schon gar nicht in der Liebe), aber er wird die
Gelegenheit bekommen, über sein Gefühlsleben und sich
selbst in seinen Beziehungen zu anderen Menschen nachzudenken.
Wenn die „drei Dimensionen, in denen wir lieben" zu
einer ganzheitlichen Liebe verschmelzen - so die Grundidee
-, können wir die Liebe nicht nur mehr genießen,
sondern werden auch weniger an ihr leiden.
Liebe muss dann nicht mehr Leiden erzeugen, wenn wir
imstande sind, uns von den irrationalen Vorstellungen,
die unsere Kultur uns eingegeben hat, zu lösen. Buddha
sagte, der Ursprung allen seelischen Leidens läge im
Nichtwissen. Auch andere spirituelle Denker und Lehrer
haben darauf aufmerksam gemacht, wie wichtig es ist,
richtig zu denken, damit wir uns nicht schlecht fühlen.
Sind wir denn so unwissend in der Liebe? Ich wage zu behaupten,
ja. Gefühlsanalphabeten gar? Das glaube ich
nicht, aber vielleicht leiden wir unter Dyslexie, sind einfach
schlechte „Leser" und Interpreten.
Dieses Buch ist der Versuch, das weiter auszuführen, was
ich bereits in Amor o dependar? (etwa: Liebe oder Abhängigkeit?)
thematisiert habe. Es geht nicht nur darum,
ohne Abhängigkeiten (ein Hauptgrund für seelisches Leiden)
zu lieben, was an sich schon eine wichtige Errungenschaft
ist, sondern dem ganzen unnötigen Leid, das mit
der Liebe verbunden ist, ein Ende zu bereiten.
Der Text besteht aus neun Kapiteln, die in drei Teile zusammengefasst
sind: Teil I: Eros - Liebe, die schmerzt (in
dem die überwältigende Natur der Verliebtheit erkundet
wird, das Verlangen, die Erotik und die Pathologie des
Eros); Teil II: Philia - Von der Manie zur Sympathie (in
dem die Freundschaft innerhalb einer Beziehung und ihre
Komponenten betrachtet werden) und Teil III: Agape -
Von der Sympathie zum Mitgefühl (in dem es um
Gewaltlosigkeit und Mitgefühl geht).
Jedes Kapitel endet mit einem Abschnitt (Um nicht zu
leiden ...), in dem der Inhalt des Kapitels auf verständliche
Weise in die Praxis umgesetzt wird und Anregungen
dafür gegeben werden, was man tun kann, um nicht an
der Liebe zu leiden.
Letztendlich versucht dieses Buch, Denkanstöße zum
Thema Liebe aus verschiedenen Disziplinen miteinander
zu verbinden, beispielsweise der Psychologie, der Anthropologie,
der Soziologie und der Philosophie, und das auf
eine leicht verständliche Art und mit dem wissenschaftlichen
Niveau und Tiefgang, den das Thema verlangt.
Eros -
Liebe, die schmerzt
Alle Leidenschaften sind gut,
sofern man ihrer Herr bleibt,
alle sind schlecht,
sofern man sich ihrer Herrschaft unterwirft.
Rousseau
Alle Liebenden sind geschickt darin,
sich ihr Unglück selbst zu schmieden.
Balzac
Wir alle wissen, was es heißt, unter dem Einfluss der
Verliebtheit zu stehen, dieses leidenschaftlichen und
süchtig machenden Gefühls, das all unser Vermögen und unser
Können zu schwächen scheint. Wir wissen es, weil unser
Körper sich dann alles merkt. In jedem Winkel unserer emotionalen
Erinnerung ist diese elementarste aller Gefühlsregungen
eingraviert, der „süße Wahnsinn" oder „die göttliche
Verrücktheit", von der die Griechen sprechen, diese
Mischung aus Schmerz und Lust, in der das Wohlgefallen
jedes Ausmaß des Leidens zu rechtfertigen scheint. Wie
sollte man auch jenen Kitzel der Sinne vergessen können, wie
sollte man diese Erfahrung nicht wiederholen wollen, ohne
Übertreibung, ergeben wie ein glückliches Opferlamm?
Eros ist vor allem eine flüchtige Liebe, turbulent und widersprüchlich.
„Bald blüht und gedeiht er, wenn er die Fülle
des Erstrebten erlangt hat, bald stirbt er dahin; immer aber
erwacht er wieder zum Leben ...", schreibt Platon.1 Eros
wird geboren und verlöscht von Zeit zu Zeit, und wenn
alles gut geht, wird er irgendwann aufs Neue entfacht.
Lieben, ohne zu leiden? Schwierig, wenn wir uns zu sehr
auf Eros verlassen, wenn wir uns zu sehr an ihn klammern.
„Wieso, Herr Doktor, finden Sie denn die Liebe, die
ich empfinde, so schlecht?", fragte mich einmal eine durch
eine leidenschaftliche, aber unerwiderte Liebe verstörte
Teenagerin. Meine Antwort war nicht besonders ermutigend:
„Weil das keine Liebe, sondern nur Verliebtheit
ist." Die leidenschaftliche Liebe ist ihrer Natur nach dualistisch,
sie kommt und geht, ist Licht und Schatten, wie
auch Octavio Paz2 bestätigt.
Eros ist besitzergreifend, dominant, lüstern und, trotz
alledem, unerlässlich. Eine Liebe, die sich hauptsächlich
an der Selbstbelohnung orientiert, dies aber mithilfe des
anderen, weil auch die fremde Erregung erregend wirkt:
Ich erfreue mich an deiner Lust, die mir gilt, die mir gehört.
Es geht nicht darum, dich zu lieben, sondern, dich
zu wollen, im Sinne von Lust auf dich zu haben, wie auf
einen Nachtisch. Wie auf den einzigen Nachtisch, wenn
du das möchtest und ich es kann.
Die nicht-egoistische und reife Liebe erfordert zwei aktive
Subjekte, das heißt, zwei Menschen mit Stimme und
Stimmrecht. Natürlich verzichten wir auch manchmal auf
dieses Vorrecht und akzeptieren entspannt und spielerisch,
das „Objekt der Begierde" des geliebten Menschen
zu sein; denn was ist schon dabei, wenn beide damit einverstanden
sind? Was macht es, wenn wir für einen spielerischen
Moment lang „Objekt" sind (geliebtes Objekt,
versteht sich), um später wieder zur wohlwollenden Liebe,
zur demokratischen und freundschaftlichen Zuneigung
zurückzukehren? Zur Liebe braucht es immer zwei, sogar
in der Fantasie, aber ohne dass einer davon sich selbst aufgeben
müsste.
Eine 52 Jahre alte Frau erklärte mir einmal augenzwinkernd:
„Ich weiß schon, wenn er mich bittet, einen Minirock
anzuziehen und für ihn einen Striptease hinzulegen,
dann begehrt er mich mehr, als er mich liebt. Ich weiß,
dass ich mich in diesem Augenblick für ihn in einen Fetisch
verwandele. Aber wissen Sie was? Er verwandelt sich
dabei auch für mich in einen. Mir gefällt es, ihn so erregt
zu sehen und zu wissen, dass ich ihn so ungezwungen und
freizügig verführen kann, ohne jede Prüderie. Dann
komme ich mir vor wie die unverschämteste Verführerin
der Welt ... Und ihn betrachte ich für ein Weilchen als
meinen Herrn und Meister. Na und? Hinterher kehren
wir in die Realität zurück, glücklich und erschöpft. Er als
Voyeur, ich als Exhibitionistin - erscheint Ihnen das nicht
auch als eine gute Verbindung?" Aber sicher, zweifellos.
Die „leidenschaftliche Liebe" gab es in fast allen Gesellschaften.
3 Zum Beispiel fand man 55 anonyme Liebesgedichte
aus dem alten Ägypten, die auf das Jahr 1300 vor
Christus4 datiert wurden. Das folgende Gedicht, das auf
einem der Pergamente entdeckt wurde, zeigt, dass die
Romantik sich im Laufe der Geschichte nicht allzu sehr
geändert zu haben scheint:
Ihr Haar aus glänzendem Lapislazuli,
ihre Arme, die heller glänzen als Gold.
Ihre Finger erscheinen mir wie Blütenblätter,
wie Blätter der Lotusblume.
Ihre Flanken sind geformt, wie es sein soll,
ihre Beine über die Maßen schön.
Ihr Gang ist edel
(wahres Gehen),
Mein Herz wird ihr Sklave sein,
wenn sie mich in die Arme schließt.
Die Ägypter kannten also Eros sehr gut. Das zeigen auch
die Begriffe, die sie verwendeten, um die Liebe zu be-
schreiben: „verlängertes Begehren", „süße Falle", „Krankheit,
nach der man sich sehnt".
Die Griechen ihrerseits hatten viele Bezeichnungen für
Eros, unter anderem: „chronische Krankheit", „instinktives
Verlangen nach Lust", „ungezügelter Appetit", „von den
Göttern inspiriertes Delirium", „prophetischer Wahnsinn",
„Dämon", „fruchtbares Leiden", „großartigste und trügerische
Liebe".
Ein junger Mann in meiner Sprechstunde erklärte seine
schmerzhafte Liebe folgendermaßen: „Es tut mir weh, sie
zu lieben, das ist wie eine Krankheit, ein Fluch. Niemals
finde ich Ruhe. Wenn ich sie an meiner Seite habe, bin ich
glücklich, aber irgendwo in mir ist da immer so etwas wie
ein Stachel, der mich daran erinnert, dass ich nicht sie bin,
dass sie jemand anderes ist. Sie kann weggehen, aufhören,
mich zu lieben, sterben oder meiner einfach überdrüssig
werden ... Immer fehlt mir irgendwas, auch wenn sie mir
gehört." Fruchtbares Leiden, süße Falle oder postmoderne
Angst - das Phänomen ist stets dasselbe, und es tut immer
gleich weh. Auch wenn die Vorstellung von der Liebe im
Laufe der Geschichte bestimmte Wandlungen erfahren hat,
so scheint doch das Empfinden der „leidenschaftlichen
Liebe" sich nicht allzu sehr verändert zu haben.
Ohne den Blick auf den realen Alltag, in welchem wir
uns bewegen, zu verlieren, werde ich nun drei Aspekte
des Eros analysieren, die uns zwangsläufig leiden lassen:
seine Grenzenlosigkeit, das erotische Begehren und
einige Charakteristika des pathologischen oder krankhaften
Eros.
Kapitel 1
Die entgrenzte Natur des
Eros: die Verliebtheit
Carlos war ein ernster und umsichtiger Mann von 35 Jahren,
der in meine Sprechstunde kam, weil es ihm an sozialen
Fähigkeiten mangelte und er zudem Depressionen
hatte, da er emotional vereinsamt war. Seine missmutige
und verschlossene Art hatte ihn bisher keine Partnerin
finden lassen. Er lachte nie, konnte weder Witze erzählen
noch sich daran freuen, und kleidete sich überdies von
Kopf bis Fuß in Schwarz.
Kaum hatten wir mit der Therapie begonnen, bat er mich
darum, ein Thema anzuschneiden, das ihn sehr beschäftigte.
Er hatte eine Frau kennengelernt, die ihm gefiel, und
er wusste nicht, wie er einen Flirt anfangen sollte. Daraufhin
gab ich ihm ein paar Ratschläge, wie er seine potenzielle
Partnerin ansprechen könnte. Entgegen allen Erwartungen
wurde ich drei Wochen später Zeuge von
etwas, das man einen Fall von „emotionaler Mutation"
nennen könnte.
An diesem Tag kam Carlos wie ausgewechselt zu unserem
Termin. Er war ein vollkommen anderer Mensch,
als habe man ihn an eine Hunderttausend-Volt-Batterie
angeschlossen. Er konnte nicht aufhören zu lächeln,
und sein Gesicht, das vorher dem einer stählernen
Sphinx geglichen hatte, zeigte jetzt den offenen und
spontanen Ausdruck der Begeisterung. Seine Bewe-
gungen waren viel gelöster, und er hatte seine gewohnte
dunkle Kleidung gegen legere Jeans und ein kariertes
Hemd eingetauscht. In seinem Blick war ein Leuchten,
er roch nach Rasierwasser und war auf nette und ansteckende
Weise gesprächig. „Es ist passiert", sagte er zufrieden.
„Ich habe mich verliebt ... Ich habe mich tatsächlich
verliebt."
Dann wartete er wie versteinert auf meine Antwort, wobei
er mir fest in die Augen sah, weshalb mir keine andere
Möglichkeit blieb, als ihn zu beglückwünschen, ohne
wirklich zu wissen, ob meine Glückwünsche angebracht
waren oder nicht. Daraufhin machte er einen Schritt zurück
und sagte: „Ich hätte niemals geglaubt, dass die
perfekte Frau existiert, aber es gibt sie wirklich. Und es
beruht auf Gegenseitigkeit! Sie hat mir gesagt, dass sie
mich mag. Wir kennen uns erst seit drei Wochen, aber es
kommt mir vor, als gehöre sie schon immer zu mir ...
Glauben Sie an Seelenverwandtschaft, an ein vorherbestimmtes
Schicksal? Sie finden das bestimmt merkwürdig.
Etwas ist mit meiner Sexualität passiert. Vorher war ich
wie ein Eisberg, und jetzt masturbiere ich jeden Tag und
denke dabei an sie. Ich trage sie hier (er zeigte auf sein
Herz), hier (er zeigte auf seinen Kopf) und hier (er zeigte
auf seinen Unterleib) ... (Lachen) ... Ich kann einfach nicht
aufhören, sie anzusehen, mit ihr zu reden ... (Lachen) ...
Kann es sein, dass ich träume? Kneifen Sie mich mal!
Bitte! Kneifen Sie mich! ... (Ich kniff ihn) ... Sehen Sie?
Merken Sie es? Es ist wahr, es ist kein Traum. Ich will sie
nur nicht langweilen. Aber ich denke den ganzen Tag an
sie. Zum Beispiel bin ich immer bereit, sie zu begleiten,
wenn sie irgendwohin will ... (Lachen) ... Was meinen Sie?
Das ist die Liebe, nicht wahr?" Nach dieser Sitzung habe
ich nie wieder etwas von ihm gehört.
Die psychologische Struktur der Verliebtheit (wobei ich
hier leidenschaftliche, obsessive Liebe, leidenschaftliches
Verlangen und Eros synonym verwende) scheint bestimmte
allgemeingültige Merkmale aufzuweisen, die aus
einer Mischung aus chronischer Romantik, Euphorie und
Erregung bestehen (ich brauche wohl nicht zu betonen,
dass Carlos alle drei Symptome aufwies).6, 7, 8, 9, 10 Sehen wir
uns jedes für sich an.
Die Idealisierung des geliebten Menschen. Wir überhöhen
die Qualitäten der geliebten Person im Vergleich zu ihren
Schwächen dermaßen, dass wir ihre Fehler völlig übersehen
oder einfach nicht imstande sind, das Objekt unserer
Anbetung kritisch zu betrachten.11, 12, 13 Die Illusion des
Schönen, die diese Art Liebe erzeugt, hat schon Stendhal
als die „Kristallisierung der Liebe" beschrieben - als ein
wunderschönes Luftschloss, in dem die Zeit stehen geblieben ist.
Ausschließlichkeit und vollkommene Treue.14, 15, 16 Wer verliebt
ist, ist in keiner Weise anfällig für Untreue, allerdings
weder aus Überzeugung noch aus Prinzip, sondern aus
rein biologischen Gründen: Kopf und Körper sind ganz
und gar auf den geliebten Menschen konzentriert, es gibt
keinen Platz für jemand anderen. „Ich bin nur für ihn
Frau, ohne ihn bin ich gar nichts", sagte eine Bekannte mir
einmal, stolz auf ihre Abhängigkeit.
Intensive Gefühle von Verbundenheit und sexueller Anziehung.
Obwohl die meisten Menschen zwischen Wohlbefinden
und sexuellem Genuss unterscheiden, vereint die
Verliebtheit beides unterschiedslos in sich. Begehren und
Gefühl verschmelzen miteinander und lassen die beiden
„verliebten" Individuen denken, Liebe und Sex gehörten
immer zusammen.17 Auch wenn Männer eher als Frauen
zu „gefühllosem" Sex neigen18, verwischen sich diese Unterschiede
zwischen den Geschlechtern, sobald Eros entfacht
ist. Dann sind wir weder vom Mars noch von der
Venus, sondern nichts als leidenschaftliche, durch die
Liebe verwirrte Erdlinge, die von ihrem sexuellen Verlangen
zum Äußersten getrieben werden.
Die Überzeugung, dass die Liebe ewig anhält. Die Idee
einer unsterblichen, ewigen und unzerstörbaren Liebe, einer
Art Phönix, der immer wieder aus der Asche des Entliebens
und des Grolls aufersteht, ist eine weit verbreitete
Ansicht unter denen, die in die Liebe verliebt sind.19, 20
Vielleicht drücken einige Boleros genau das aus, was die
Mehrheit der Menschen empfindet: „Uhr, zeig die Stunden
nicht an, lass diese Nacht ewig dauern ...", die emotionale
Unendlichkeit, eine Liebe, deren Intensität und Spannung
nie abzuflauen scheint. Die Beklemmung, die Eros
normalerweise begleitet, beruht nicht nur auf dem Sich-
sehnen nach dem anderen, wie wir noch sehen werden,
sondern auch auf dem unabänderlichen Gefühl, dass früher
oder später entweder der Tod oder aber das Leben dem
Idyll ein Ende bereiten wird.
Zwanghaftes Denken an das geliebte Wesen. Obwohl die
Gedanken an den geliebten Menschen aufdringlich und
hartnäckig sind, werden sie nicht immer als lästig empfunden,
sondern nehmen eher die Form eines sich selbst
befriedigenden „Wiederkäuens" an, eine faszinierende Erinnerung,
von der der Verliebte nicht lassen will. Was man
sich ins Gedächtnis zurückruft, hängt von der jeweiligen
Stimmung ab: Je größer die Freude ist, desto mehr positive
Erinnerungen haben wir; und, andererseits, je trauriger
wir sind, desto mehr negative Erinnerungen werden in
uns wach.21, 22 Teilweise lässt sich sogar die zwischenmenschliche,
emotionale Zufriedenheit gerade auf unsere
Fähigkeit zurückführen, das Schlechte zu vergessen.23
„Ich versuch's ja immer wieder, aber ich kann's nicht. Ich
erinnere mich nur an das Schöne zwischen uns!", sagte
mir einmal eine Frau, die versuchte, sich von einem unpassenden
Partner zu lösen.
Der Wunsch nach Vereinigung und völliger Verschmelzung
mit dem geliebten Menschen. Das Verlangen, das die
Verliebtheit steuert, geht darüber hinaus, mit der geliebten
Person nur zusammen sein zu wollen. Der verliebte
Mensch will „eins mit dem anderen sein". Eine verheiratete
Frau, die nie untreu gewesen war, verliebte sich Hals
über Kopf in den Geschäftspartner ihres Mannes. Die
Qual, die sie wegen ihrer „unmöglichen Liebe" empfand,
war so groß, dass sie medikamentös behandelt und einige
Tage in ein Sanatorium aufgenommen werden musste.
Während einem meiner Besuche drückte sie ihre Gefühle
folgendermaßen aus: „Ich weiß jetzt, was ich tun will ...
Denken Sie jetzt nicht, ich wäre verrückt, aber ich weiß
jetzt, wie ich meine Not lindern kann. Ich muss ihn verschlucken,
ich will ihn verschlingen ..." Dieses „anthropophage"
Bedürfnis, das Trennung unter keinen Umständen
akzeptieren kann, verweist, wie Fromm24
schreibt, auf existenzielle Einsamkeit. Meine Patientin
drückte auf eine delirante Weise ihr Bedürfnis nach einer
unerreichbaren emotionalen Sicherheit aus: „Eins sein,
auch wenn wir zwei sind."
Die Bereitschaft, jedes Risiko einzugehen, um die Beziehung
aufrechtzuerhalten. Es gibt keine Grenzen, die leidenschaftliche
Liebe wägt keine Konsequenzen ab. Die
sogenannte „Tapferkeit", die Verliebte antreibt, ist meist
nichts anderes als die Unkenntnis oder Unfähigkeit, die
negativen Folgen zu ermessen, ähnlich wie es bei gewissen
mentalen Störungen der Fall ist.25,26 Dieses Wegfallen der
Selbstkontrolle und die Schwierigkeiten damit, rationale
Entscheidungen zu treffen, können im Extremfall zu Abhängigkeit
führen und ein Krankheitsbild erzeugen, in
dem sich Depression und Sucht mischen.27, 28, 29
Die Verliebtheit wird außerdem auch noch von einigen
chemischen Faktoren beeinflusst, die das typische Verhal-
ten zumindest teilweise erklären. Man hat entdeckt, dass
die romantische Erregung direkt mit dem Phenyletinamin
in Verbindung steht, einer süchtig machenden, stimulierenden
Substanz, die Euphorie und Wohlgefühl hervorruft.
Zur Verblüffung einiger Romantiker hat man
außerdem erkannt, welche Rolle einige Transmitter (Dopamin,
Serotonin und Noradrenalin) im Gehirn spielen,
die auch mit psychischen Krankheiten in Verbindung stehen,
wie beispielsweise manisch-depressiven Störungen
und Angststörungen.32, 33
Andererseits ist bewiesen, dass wir uns nicht nur über die
Augen, sondern auch über die Nase verlieben. Es gibt flüchtige
Stoffe, Pheromone, die, vom Organismus ausgeschieden,
wie biochemische Signale für Anziehung und sexuelles
Interesse zu wirken scheinen: die Verführung durch ein
Aroma, durch die personalisierte Essenz, die zum Teil das
Phänomen der Liebe „auf den ersten Blick" erklären
könnte.34, 35 Ich kenne mehr als nur einen Fall, wo die
Unvereinbarkeit mehr geruchsbedingt als psychisch war.
Die Biochemie der erotischen Liebe könnte man folgendermaßen
zusammenfassen:
a) Wollust oder die brennende Begierde nach Sex, wofür
das Testosteron verantwortlich ist, und
b) Anziehung oder Liebe in der euphorischen Phase, die
durch erhöhte Spiegel von Dopamin und Noradrenalin
und niedrige Serotoninwerte verursacht wird.36, 37
Eros ist also hochkomplex. In seiner Natur liegen sowohl
Verlangen und Leidenschaft als auch eine merkwürdige
Mischung aus lustvollem Schmerz und schmerzhafter
Lust, Euphorie, Besitzstreben, biologischer Übererregung
(biochemisch und hormonell) und eine Desorganisation
des gesamten Systems der Informationsverarbeitung.
Eros wählt Sie, nicht Sie ihn.
Um nicht zu leiden ...
Genießen Sie die Verliebtheit, aber lassen Sie nicht zu,
dass Ihre Individualität und Ihre seelische Gesundheit
davon beeinträchtigt werden
k Was kann man also tun, um die Qualen der Verliebtheit
zu lindern? Ist es möglich, die Seele auf solch einen Anschlag
auf das Herz vorzubereiten? Wir können unsere Abwehrkräfte
gegen das Leiden steigern. Das bedeutet nicht,
die Sensibilität für den Genuss und die Lust am Verliebtsein
zu verlieren, sondern ihm einen Hauch von Rationalität
zu verleihen, eine intelligente Bremse, um Eros gelassener
zu erleben und nicht verletzt zu werden (zumindest
nicht so tief, wie es den meisten Menschen passiert, wie
wir noch sehen werden). Vor dem Verlieben, währenddessen
und hinterher nachdenken: das Verlangen rationalisieren,
zumindest dann, wenn es nötig ist.
Wenn Eros unerwartet zuschlägt, ist das Ganze schwerer
zu kontrollieren. Es ist reine Zeitverschwendung, einen
Betrunkenen oder Ecstasy-Abhängigen, der im Zustand
der Euphorie ist, von den negativen Auswirkungen des
Konsums überzeugen zu wollen. Wenn Sie allerdings bereits
vorher ein Verteidigungsschema aufgebaut haben,
wird es sich ganz automatisch aktivieren und den Schlag
abfangen. So vorbereitet, können Sie das Gefühl auf gesündere
Weise verarbeiten. Natürlich geht es dabei nicht
darum, einen „Anti-Eros-Verhaltensstil" zu entwickeln, das
Bollwerk der Schizoiden, der Prüden oder der Feiglinge.
Die ruhige Analyse entspannt den Geist, ohne ihm seine
Stärke zu nehmen.
Wenn Sie Eros in Ihr Leben lassen wollen und ihn ohne
Angst genießen möchten, müssen Sie ein paar Gegenmittel
parat haben und dürfen diese, einmal zusammengestellt,
auch nicht vergessen. Man kann sich der Verliebtheit
„fast" völlig hingeben, aber dieses „fast" bedeutet,
dass man ein kleines Stückchen seiner Seele frei lässt von
diesem Gefühl, aufnahmebereit und wachsam, wie Mütter,
die zwar bei der kleinsten Bewegung ihres Babys
aufwachen, nicht aber, wenn es donnert. Besondere Aufmerksamkeit,
kortikale Vorsicht, Pawlows Theorie im
Dienste der emotionalen Verteidigung.
Dies ist möglich, wenn man das Prinzip der verantwortlichen
Rationalität anwendet. Sie sind keine Gefühlsmaschine,
die Liebe verschlingt, auch wenn Sie das vielleicht
gern hätten. Ihr rationales Denken wird nicht
zulassen, dass Sie sich wie ein Abhängiger verhalten, wie
jemand, der verzweifelt Gefühlen nachjagt. Um richtig
fühlen zu können, muss man richtig denken können. Das
Gefühl entsteht nicht aus einem leeren Raum heraus,
sondern es spielen Glaubenssätze, Wertesysteme, Lebensphilosophie
und innere Einstellungen mit hinein. Sie
sind niemals „reine Liebe". Verantwortliche Rationalität
bedeutet, die Vernunft in Maßen und klug einzusetzen,
ohne etwas zu unterdrücken, aber auch ohne das Herz
völlig loszulassen. Ihr Alarmsystem wird dafür sorgen,
dass Sie die Beziehung auf gesunde Weise genießen können.
Verliebtheit beeinflusst nur die Seelen negativ, die
anfällig für das Leiden sind.
k Wer hat denn gesagt, dass es für Eros keine Grenzen
geben sollte? Wenn Ihr Geliebter von Ihnen verlangen
würde, Sie sollten sich prostituieren, weil er Geld brauchte,
würden Sie das tun? Wäre das nicht der Punkt, an dem die
leidenschaftliche Liebe mit der Realität konfrontiert wird?
Liebe rechtfertigt nicht alles, sonst wäre sie Gott.
Es gibt eine Reihe rationaler Überzeugungen oder passender
Entwürfe, die Sie im Voraus entwickeln und verinnerlichen
können, um einen Art kognitiven Sicherheitsgurt
gegenüber dem Ansturm der Verliebtheit zu schaffen.
Nichtsdestotrotz sollte man die Lust daran, zu lieben und
geliebt zu werden, nicht aufgeben, sondern nur wissen,
wann Gefahr besteht und wann nicht: Sie benötigen emotionale
Weisheit, die Fähigkeit zu unterscheiden. Jedes
Mal, wenn Sie fühlen, spüren oder ahnen, dass Sie sich in
diese oder jene Person verlieben könnten oder wenn Sie
schon ganz eindeutig unter dem Einfluss von Eros stehen,
dann sollten Sie sich die folgenden fünf Grundsätze ins
Gedächtnis rufen. Am besten wäre es, wenn Sie in Ruhe
über diese Themen nachdenken und Ihre eigene Einstellung
dazu finden würden, die hoffentlich rational ausfällt,
damit Sie mit der Zeit Ihren eigenen emotionalen Stil finden
können. Üben Sie sie ein, damit sie Ihnen zur Selbstverständlichkeit
werden. Machen Sie sie zu Ihrem eigenen
Denken.
1. Idealisieren Sie die geliebte Person nicht
Verfälschen Sie die Tatsachen nicht dadurch, dass Sie
das Gute überbetonen und das Schlechte herunterspielen.
Damit meine ich nicht, dass Sie grundsätzlich niemandem
trauen sollten, sondern dass Sie versuchen
sollten, ein mehr oder weniger objektives Gleichgewicht
zu finden. Der Schlüssel dazu: Seien Sie realistisch.
Auch wenn der Gegenstand Ihrer Verliebtheit Sie
fasziniert - werfen Sie sich ihm nicht zu Füßen. Auch
wenn die Betreffende eine Göttin zu sein scheint, machen
Sie sich nicht zu ihrem Sklaven! Mit der Zeit findet
man heraus, wie der andere wirklich ist, aber nur, wenn
man diese Zeit objektiv und ohne Selbstbetrug erlebt.
Wenn Sie von Anfang an eine realistische Haltung einnehmen,
spätestens aber von dem Moment an, in dem Sie
merken, dass Sie sich verliebt haben, dann kann Eros
Ihre Wahrnehmung nicht verzerren. Wenn man am Anfang
einer leidenschaftlichen Beziehung keine Fehler
findet, dann fällt das kaum ins Gewicht, denn die
Hormone beeinträchtigen das Denkvermögen und die
Beobachtungsgabe. Aber wenn Sie dabei Ihre Seelenruhe
bewahren, das heißt, wenn es Ihnen gelingt, trotz
der Sinnestäuschung aufmerksam zu bleiben, dann erfinden
Sie weder ein Götzenbild noch ein Monster der
Perfektion.
Außerdem - wollen Sie wirklich einen Partner oder
eine Partnerin wie Bo Derek in Ten? Wenn ja, dann sollten
Sie Ihr Bedürfnis nach Anerkennung einmal kritisch
hinterfragen. Vergessen Sie nicht: Am Anfang einer Romanze
sieht immer alles rosig aus, da verbergen wir alle
unsere Fehler und streichen unsere Vorzüge heraus. Das
sage ich nicht, um Sie zu entmutigen, sondern damit Sie
sich auf eine wirkliche Liebe aus Fleisch und Blut einlassen
können. Den „Super-Partner" gibt es nur in der
Werbung!
Jemanden zu idealisieren bedeutet, dass einem der
Mensch, so wie er ist, nicht genügt. Außerdem löst die Idealisierung
einen Rückschlageffekt aus: Wenn die Wirkung
nachlässt, kehrt man in die unvollkommene Wirklichkeit
des geliebten Menschen zurück und in die wohlbekannte
Desillusion. Eros kann nur eine begrenzte Zeit lang verschönern,
und deshalb ist es besser, die Sinneseindrücke
ein wenig „abzukühlen". Fazit: Alarmstufe Rot, höchste Aufmerksamkeit
und realistische Wahrnehmung. Und dann
machen Sie alles, worauf Sie Lust haben.
2. Verliebt zu sein bedeutet nicht, Ihre Rolle in der
Gesellschaft und alle anderen Bereiche Ihres Lebens
zu vernachlässigen
k Wenn Eros auf der Bildfläche erscheint, dürfen Sie
nicht aus der Welt verschwinden und alles, was Ihnen
Spaß macht, aufgeben. Womit ich nicht zur Untreue raten
will, denn im Zustand absoluter Verliebtheit reizt
einen sowieso niemand anderes; dieses Risiko ist also
gering. Sie sollten vielmehr darauf achten, nicht in soziale
Isolation zu geraten oder gar die anderen Seiten
Ihres Lebens zu vergessen. Wenn Sie denken: „Er füllt
mich ganz aus", „Sie gibt meinem Dasein erst einen
Sinn", dann sind Sie auf keinem guten Weg. Wer sagt
denn, man müsse wegen einer neuen Romanze seine früheren
Freunde oder Freundinnen aufgeben oder seine
Arbeit vernachlässigen? Woher kommt die Annahme,
verliebt zu sein würde bedeuten, auf alles, was einem
bisher wichtig war, zu verzichten? Eros verführt uns zu
dem absurden Gedanken, dass das Glück nicht vollkommen
ist, wenn wir nicht ständig mit dem geliebten
Menschen zusammen sind.
Sie sollten von Anfang an für sich und Ihren Partner
klarstellen, dass Ihr Leben sich nicht grundsätzlich ändern
wird - wie Sie sind, Ihre Vorlieben, Hobbys und
Überzeugungen. Anpassung ist auf beiden Seiten vonnöten,
aber respektvoll; das bedeutet zwar, „das Leben
neu zu strukturieren", aber nicht, alles Bisherige aufzugeben
und vollkommen neu anzufangen. Ihr Partner ist
kein zweiter Messias, deshalb besteht auch keine Notwendigkeit,
alles zu zerschlagen, was Sie jahrelang aufgebaut
haben. Ich habe mehr als nur einen Verliebten
kennengelernt, der unter erotischem Einfluss seine
Persönlichkeit zu ändern versuchte, als wäre Eros eine
außerweltliche Offenbarung. Wir sollten es nicht übertreiben.
Es ist eine Sache, in Küssen und Zärtlichkeiten
dahinzuschmelzen, eine andere, das eigene „Ich" zu
demontieren.
Also, wenn Eros Sie zu kitzeln beginnt, stellen Sie ein
paar Dinge von vornherein klar: meines, deines und unseres.
Wenn Sie es für einen Liebesbeweis halten, alle anderen
Dinge Ihres Lebens zu missachten, dann führen Sie
sich vor Augen: Wir sprechen hier von reiner Verliebtheit
und nicht von Philia, die rationaler ist. Sollten Sie Ihre Berufung
im Geben sehen (Agape), was an sich nicht schlecht
ist, dann warten Sie ein Weilchen, bis Eros zur Ruhe
kommt. Anfangs verkleidet sich die Lust häufig als Überzeugung.
Eros schenkt Lust, raubt aber dafür Denkvermögen
und Unabhängigkeit, weswegen alle „romantischen
Entscheidungen" per definitionem zweifelhaft sind.
Sagen Sie Ihrem neuen Partner: „Willkommen in meinem
Leben, das ist, was ich habe, das ist, was ich bin, das ist,
was ich verteidigen werde, und dies ist, worüber ich willens
bin zu verhandeln."
Fazit: Lieben Sie, ohne sich völlig vom anderen in Anspruch
nehmen zu lassen. Ihre eigene Art zu sein dür-
fen Sie in niemandes Armen verlieren. Ihre Freunde,
Hobbys oder was auch immer Ihnen etwas bedeutet
dürfen Sie nicht vernachlässigen. Nur so können Sie
Eros zufrieden stellen und gleichzeitig unter Kontrolle
halten. Lassen Sie sich als Ganzes lieben und begehren
oder überhaupt nicht.
3. Eros vergeht, nicht unbedingt für immer, aber er
klingt mit der Zeit ab: Machen Sie sich also keine zu
großen Illusionen
k Noch einmal die Realität: Die Magie dauert nicht länger
an, als von der Natur gewollt. Eros kann sich in etwas anderes
verwandeln, kann sogar eine Zeit lang seinen ursprünglichen
Zauber behalten, aber die Verliebtheit neigt
dazu, an Intensität einzubüßen. Daher darf es Sie nicht
überraschen, wenn einer der Partner (wenn Sie Glück haben,
Sie zuerst) anfängt, eine gewisse Ernüchterung zu
verspüren. Wenn Ihnen etwas daran liegt, können Sie aber
ungeachtet dessen Fundamente legen, damit etwas Neues
und Bedeutsames gedeiht, wenn Eros seine Raserei einstellt.
Natürlich will ich Ihnen damit nicht empfehlen, Ihr
romantisches Erlebnis mit dem Gedanken zu belasten,
dass es jederzeit zu Ende sein kann. Es geht schlicht und
einfach darum, mit den Füßen auf dem Boden zu bleiben.
Ein gesunder Vorsatz: „Ich genieße es, solange es anhält,
ohne mich allzu sehr aus der Bahn werfen zu lassen."
Die Chemie verliert unwillkürlich an Wirkung, das hat
mit Ihnen selbst im Grunde nichts zu tun; aber Sie können
die Grundlagen dafür schaffen, dass Eros sich in Philia
wandelt. „Für immer" ist ein ganz schlechter Ausdruck,
ebenso wie „alles", „nie" oder „nichts". Diese Worte charakterisieren
ein absolutistisches und dichotomisches
Denken, das sich nur zwischen Extremen bewegt, ohne
die Nuancen wahrzunehmen.
4. Lassen Sie nicht zu, dass die Person, die Sie lieben,
Ihre Seele beherrscht wie ein Virus
k Die ganze Zeit an IHN oder SIE denken zu müssen,
raubt Ihnen Energie und macht Sie zum Idioten. Kämpfen
Sie gegen die Besessenheit an. Zu lieben bedeutet nicht,
eine Zwangsstörung zu entwickeln. Sie können zweihundertmal
„Halt!" sagen, jemanden anrufen, auf die Straße
gehen, schreien wie ein Verrückter oder etwas Unterhaltsames
lesen, wenn Sie das beunruhigende Gefühl heimsucht,
doch das Wichtigste ist, sich bewusst zu werden,
wie viel Raum diese Romanze in Ihrem Denken einnimmt.
Am besten eignet sich dafür ein Freund (oder eine
Freundin), der die Rolle des Spielverderbers übernimmt,
der Sie ohne Rücksicht in die Realität zurückbringt, der
Ihnen aufzeigt, was Sie falsch machen oder wie weit Sie
sich von Ihrem Normalzustand entfernt haben.
Eine meiner Patientinnen schloss mit ihrer besten Freundin
folgenden Pakt: „Ich erzähle dir jedes Mal, wenn ich es
nicht schaffe, ihn mir aus dem Kopf zu schlagen, oder
wenn ich merke, dass ich übertreibe.
© Weltbild
Aber zu dem guten Klima des Tages trug auch die Tatsache
bei, dass sich unter uns ein frisch verliebtes Pärchen
befand, das erst seit einem Monat zusammen war. Die beiden
strahlten Körperlichkeit, Zärtlichkeit, Freundlichkeit
und Achtsamkeit aus: Eros, Philia, Agape, wie es im vorliegenden
Buch heißt - Worte und Begriffe, die wir damals
natürlich noch nicht kannten. Und dennoch trübte etwas
am Ende den herrlichen Tag: Beim Abschied brach das
Mädchen in Weinen aus, ja, sie vergoss ein wahres Meer
aus Tränen, das aus ihrem tiefsten Inneren kam, wahrhaftig,
leidenschaftlich und ansteckend. Und warum dieser
Schmerz? Auf unsere drängenden Fragen antwortete sie:
„Das hier ist alles so schön, dass es nicht andauern kann,
es wird irgendwann vorbei sein." Wir trösteten sie, soweit
es uns möglich war.
Allen unseren guten Wünschen zum Trotz bewahrheiteten
sich ihre Ängste später. Die Tränen kehrten
zurück, der Schmerz hielt Einzug, die Wut, die tiefe Enttäuschung.
Die Liebe war zu Ende gegangen, wurde zu
einem „nie wieder", war „verflucht", verwandelte sich
in Bitterkeit. Das Mädchen hatte Recht gehabt: Das
Wunderbare war dahin, die Überraschung, die Leidenschaft
und das aufregend Neue waren für immer verschwunden.
Bewusst oder unbewusst begreifen wir die Liebe als vollkommen,
halten sie für immer während und wollen nicht
zulassen, dass sie sich verändert.
Diese Geschichte ist umso trauriger, als man diese Zuneigung
vor dem „Entlieben" hätte retten und zu etwas Wie-
sem und Reifem hätte heranwachsen lassen können, wenn
jemand den beiden eine etwas realistischere Auffassung
von der Liebe vermittelt hätte, so wie es Liebe und du
leidest nicht tut.
Das Buch schafft Raum zum Nachdenken über die grundlegenden
Dimensionen der Liebe, wie man sie erfahren
und genießen kann, wie man sie dauerhaft gestalten und
auch dem Leiden an ihr begegnen kann, falls es einmal
dazu kommt.
Ich bin mir natürlich im Klaren darüber, dass der Autor,
angesichts des schier unerschöpflichen Themas
„Liebe" niemals den Anspruch erheben würde, es umfassend
behandeln zu wollen. Doch der Ansatz der
„drei Dimensionen, in denen wir lieben" - Eros, Philia
und Agape - erscheint mir besonders wichtig, weil er
uns nicht nur zu einer gesunden Form der Zuneigung
anleitet, sondern uns letztendlich auch möglicht, „die
Liebe zu erlernen".
Es ist ein ernsthaftes, konsequentes und anschauliches
Buch, ohne Zugeständnisse ans strikt Unterhaltsame, aber
dennoch mit einem vielleicht ungewollten Hauch von
Poesie und, was am wichtigsten ist, von einer Klarheit und
Schlichtheit, die so schwer zu erreichen ist und die aus
Weisheit und dem aufrichtigen Wunsch entsteht, mit
vielen Menschen in einen Dialog zu treten.
Dieses Buch, das uns von der Liebe und ihrer Bedeutung
erzählt und von der Möglichkeit, nicht daran zu leiden
und den etwaigen Schmerz daran zu hindern, kommt
genau zum richtigen Zeitpunkt.
Möge Liebe und du leidest nicht vom Leser gut aufgenommen
werden.
Doctora Cecilia Cardinal de Martín
Ärztin und Sexualtherapeutin
Einleitung
Es wird zu viel gelitten an der Liebe, das ist die Wahrheit.
Sogar diejenigen, die behaupten, eine perfekte Beziehung
zu führen, hegen manchmal tief im Inneren versteckte
Zweifel, Unsicherheiten oder Ängste über die Zukunft ihres
Gefühlslebens. Man weiß ja nie ... Wer hätte nicht
schon einmal gelitten, weil er mit dem falschen Partner
zusammen war, weil das gegenseitige Begehren einen
Tiefpunkt erreicht hatte oder einfach, weil zu wenig Zärtlichkeit
da war? Nichts ist so empfindlich wie die Liebe,
nichts so faszinierend, nichts so lebensnotwendig. Auf die
Liebe zu verzichten bedeutet, reduzierter oder gar nicht mehr zu leben.
Die Liebe ist vielseitig. Gefühlsmäßige Erfahrungen unterliegen
zahlreichen Einflüssen, die auf vielfältige Weise
miteinander verflochten sind. Zweifellos ist es einfacher,
Liebe zu empfinden, als sie zu erklären, und niemand hat
uns je beigebracht, zu lieben und geliebt zu werden, zumindest
nicht in allen Facetten. Gefühle in unzähligen
Ausdrucksformen stürmen auf uns ein und durchdringen uns.
Man wird nun einwenden, die Liebe sei nicht dazu da, um
rational „verstanden" zu werden; man müsse sie einfach
empfinden und genießen, und Romantik sei mit Logik
nun einmal nicht vereinbar. Irrtum! Eine solche Haltung
ist nicht nur einfältig, sie ist sogar gefährlich, denn eine
der Hauptursachen des sogenannten „Liebeskummers"
besteht gerade darin, dass wir im Laufe unseres Lebens-
irrationale und wirklichkeitsfremde Vorstellungen über
Gefühle entwickelt haben.
Irrtümliche Vorstellungen über die Liebe gehören zu den
Hauptgründen für seelisches Leiden. Aber die Liebe rationalisieren?
Ja, doch nicht allzu sehr, nur gerade so viel,
wie es nötig ist, um keiner Täuschung zu erliegen.
Ersehnte Liebe (das Lustprinzip) und bedachte Liebe (das
Realitätsprinzip), die eine wie die andere, Denken und
Fühlen in adäquatem Verhältnis. Wir sollten die Liebe
nicht nur genießen, sondern sie auch in unser System aus
Überzeugungen und Werten integrieren. Es geht darum,
den „Liebesquotienten" zu erhöhen und das Herz mit
dem Kopf so zu verbinden, dass wir unseren Gefühlen auf
heilsame Weise ihren Lauf lassen können.
Anders ausgedrückt: Wir müssen die Liebe ordnen und regeln,
um sie freundlicher und nervenschonender zu
gestalten. Ich will damit nicht raten, wir sollten sie einschränken
oder ihr die Flügel stutzen - ganz im Gegenteil,
es geht darum, ihr das Fliegen erst richtig beizubringen.
Was meinen wir eigentlich, wenn wir von Liebe sprechen,
wenn wir sagen, dass wir verliebt sind? Wir haben viele
Bezeichnungen für die Liebe, und jede hat eine andere
Bedeutung: Leidenschaft, Zärtlichkeit, Freundschaft,
Erotik, Bindung, Verliebtheit, Sympathie, Zuneigung,
Mitgefühl und Begehren. Es gelingt uns weder, genau zu
definieren, was Liebe eigentlich ist, noch uns auf eine einheitliche
Terminologie festzulegen. Für den einen ist Liebe
das Erleben von Leidenschaft, für den anderen sind Liebe
und Freundschaft dasselbe, und wieder ein anderer asso-
ziiert Liebe mit Mitgefühl oder uneingeschränkter, selbstloser
Hingabe. Und wer hat Recht? Derjenige, für den die
sexuelle Anziehung im Vordergrund steht, derjenige, der
die Freundschaft in den Mittelpunkt stellt, oder derjenige,
der meint, wahre Liebe sei etwas Spirituelles?
Ich denke - gemeinsam mit den Philosophen André
Comte-Sponville und Jean Guitton -, die Liebe lässt sich
besser verstehen, wenn man davon ausgeht, dass sie über
drei grundlegende Dimensionen verfügt. Wenn diese
Dimensionen auf die richtige Art und Weise zusammenspielen,
dann sprechen wir von einer ganzheitlichen und
funktionierenden Liebe. Aufgrund ihrer griechischen
Wurzeln nennen wir diese drei Dimensionen der Liebe:
Eros (Liebe, die nimmt und sich befriedigt), Philia (Liebe,
die teilt und sich freut) und Agape (Liebe, die freigiebig
ist und mitfühlt).
Vor ein paar Jahren habe ich in einer anderen Veröffentlichung
eine ähnliche dreigeteilte Struktur der Liebe vorgeschlagen:
Liebe vom Typ I (vornehmlich emotional),
womit ich das Verliebtsein meinte, vom Typ II (vornehmlich
kognitiv/rational), wobei ich mich auf die partnerschaftliche
Liebe bezog, und vom Typ III (vornehmlich
biologisch bedingt), wie es beispielsweise die Mutterliebe
ist. Zweifellos ist die oben angegebene Klassifikation
vollständiger und vielschichtiger, sie ist besser auf das
praktische Leben anzuwenden und profunder.
Eine ganzheitliche, gesunde und erfüllende Liebe, die uns
Frieden und Wohlbefinden statt Leiden beschert, setzt
eine ausgewogene Einheit der drei erwähnten Dimen-
sionen voraus: Begehren (Eros), Freundschaft (Philia) und
Zärtlichkeit/Mitgefühl (Agape). Dies ist die dreifaltige
Bedingtheit der Liebe, die sich unausweichlich selbst immer
wieder erneuert.
Ein Paar, das eine funktionierende Beziehung führt, muss
nicht fünfmal am Tag Sex haben (Qualität geht über
Quantität), braucht nicht in jedem Punkt einer Meinung
sein (leichte Diskrepanzen festigen und bestätigen die
Individualität) und lebt auch nicht unbedingt eine ewige
Romanze (zu viel Zärtlichkeit übersättigt). Intelligente
Liebe ist wie ein Menü, das je nach Notwendigkeit aktiviert
wird: alles zu seiner Zeit, im richtigen Maß und
harmonisch aufeinander abgestimmt.
Auch wenn ich im Laufe des Buches noch ausführlicher
auf jede der drei erwähnten Dimensionen eingehen werde,
will ich die Themen doch kurz anreißen, um die spätere
Lektüre zu erleichtern.
Eros
Eros ist sexuelles Begehren, Besitzergreifen, Sichverlieben,
leidenschaftliche Liebe. Das Wichtigste hierbei ist
das ICH, das fordert und begehrt. Das Gegenüber, das
DU, wird kaum in Betracht gezogen. Eros ist die egoistische
und lüsterne Facette der Liebe: „Ich möchte dich
besitzen", „Du sollst mir gehören", „Ich liebe dich für
mich". Eros ist von Natur aus streitbar und dualistisch, er
hebt uns in den Himmel und stürzt uns im selben Augenblick
in die Hölle. Er ist die Liebe, die schmerzt, die mit
Wahnsinn und Kontrollverlust assoziiert wird. Doch wir
können auf Eros nicht verzichten; das Begehren ist die
vitale Antriebskraft einer jeden Beziehung, unabhängig
davon, ob es als reiner Sex oder als Erotik in Erscheinung
tritt. Gut eingesetzt, fördert Eros nicht nur die Philia eines
Paares (Freundschaft mit Begehren), sondern offenbart
sich auch auf liebenswerte Weise, wenn zwei Egoismen
aufeinandertreffen, einander ergänzen und voneinander
profitieren. Eros allein reicht jedoch nicht aus, um eine
ganzheitliche Liebe zu gestalten, denn er lebt im ständigen
Verlangen nach etwas, immer fehlt ihm etwas. Eros ist
Platons Vorstellung von der Liebe.
Philia
Sie ist die Freundschaft, in unserem Fall die „Freundschaft
eines Paares", die sogenannte „eheliche Liebe" oder
die Freundschaft zwischen Beziehungspartnern. Philia
geht über das ICH hinaus, um den anderen als Subjekt mit-
einzubeziehen: ICH und DU, auch wenn das ICH noch
immer im Vordergrund steht. Trotz dieses Fortschritts ist
das gegenseitige Wohlwollen hier noch begrenzt, denn
Freundschaft stellt immer noch eine Form der Selbstliebe
dar: Man liebt sich selbst durch den Freund. Das zentrale
Gefühl ist dabei nicht der Gefallen, den man am Besitzen
findet, am Erheben des Anspruchs, sondern die Freude
am Teilen: die Gegenseitigkeit, das Gut-miteinander-Auskommen,
die Seelenruhe. Philia verlangt keine absolute
Übereinstimmung (die ohnehin nie zu erreichen ist, nicht
einmal mit den besten Freunden), sondern begnügt sich
mit einer gewissen Deckungsgleichheit von Interessen,
einer gemeinsamen Vorstellung vom Leben zu zweit.
Während Eros abflaut und wieder zu neuem Leben erwacht,
vertieft sich Philia mit den Jahren, wenn alles gut
läuft. Dennoch schließt Philia Eros niemals aus: Sie beruhigt
ihn, sie stellt ihn in einen weniger lüsternen, weniger
besitzergreifenden Kontext, aber sie löscht ihn nicht aus.
In allen stabilen Beziehungen greifen wir mehr auf Philia
als auf Eros zurück, dennoch sind beide unverzichtbar,
um eine Verbindung zu festigen. Wenn Eros aktiv wird,
dann verwandeln wir uns in wollüstige, hemmungslose
Wesen, sind „Objekt" und „Subjekt" zugleich: Objekt, da
wir verschlungen werden, Subjekt, da wir selbst verschlingen.
Treten Philia und Eros gemeinsam auf, so genießen
wir den angenehmen Luxus, die Liebe mit unserem besten
Freund oder der besten Freundin zu erleben. Philia ist
beispielsweise die Freundschaft von Aristoteles und
Cicero - übertragen auf ein Paar.
Agape
Agape ist die Selbstlosigkeit, die Zärtlichkeit, die Sanftmut,
die Gewaltlosigkeit. Sie ist weder das alles auslöschende
erotische ICH noch das ICH und DU der freundschaftlichen
Liebe, sondern die hingebungsvolle Liebe:
Das DU steht hier ganz und gar im Mittelpunkt. Agape ist
der reinste Aspekt der Liebe, sie ist Wohlwollen ohne jegliche
egoistische Komponente. Es liegt auf der Hand, dass
ich damit keine irreale und idealisierte Liebe meine, denn
auch Agape unterliegt gewissen Bedingungen; vielmehr
spreche ich von der Fähigkeit, auf die eigene Macht zu verzichten,
um sich mit der Schwäche des geliebten Menschen
zu verbinden. Hier geht es weder um erotischen Genuss
noch um die freundschaftliche Gelassenheit, sondern um
pures Mitgefühl: der Schmerz, den wir mit dem geliebten
Menschen teilen, wenn er leidet, wenn er uns braucht, uns
ruft - es ist die Disziplin der Liebe, die keiner Anstrengung
bedarf. Agape prägt daher häufig (wenn auch nicht
immer) die letzte Etappe in der Entwicklung der Liebe,
wobei sie jedoch ihre beiden Vorgänger weder ersetzt
noch auslöscht. Sie schließt sie mit ein und vervollständigt
sie. Wie wir im Laufe meiner Ausführungen sehen werden,
kann es sowohl „agapischen" Sex geben (Eros und
Agape) als auch selbstlose Freundschaft (Philia und
Agape). Kurz gesagt: Agape ist die Liebe von Jesus,
Buddha, Simone Weil und Krishnamurti.
Zwischen zwei Personen gibt es also nicht nur eine einzige
Form der Liebe, sondern sie verfügt über mindestens drei
Dimensionen, und schon die Veränderung einer einzigen
kann das wichtige Gleichgewicht der Zuneigung ins Wanken
bringen und dem Leiden Tür und Tor öffnen. Die
emotionale Veränderung kann von Eros ausgehen (zum
Beispiel, wenn wir merken, dass wir nicht begehrt werden
oder dass wir unseren Partner nicht mehr begehren), von
Philia (zum Beispiel, wenn die Langeweile immer schwerer
auf uns lastet und die Heiterkeit verkümmert), von
Agape (zum Beispiel, wenn mangelnder Respekt und
wachsender Egoismus zunehmen) oder von jeder möglichen
Kombination, die sich als dysfunktional erweist.
Manche Menschen versuchen, sich mit einer unvollständigen
Liebe abzufinden, aber früher oder später wird dieses
Defizit die Beziehung und den persönlichen Seelenfrieden
beeinträchtigen. Ist Liebe ohne Begehren in einer Zweierbeziehung
möglich? Das bezweifle ich, und wenn doch,
dann handelt es sich nicht um wirkliche Liebe. Mit einem
Feind zusammenleben? Unerträglich. Sich nicht um das
Wohlergehen des geliebten Menschen kümmern? Viel zu
grausam.
Ich bleibe dabei: Wahre Liebe kann es nur dann geben,
wenn Begehren, Freundschaft und Mitgefühl vorhanden
sind und sich miteinander verbinden. Unvollständige
Liebe schmerzt und macht krank.
Ich kenne Menschen, die die drei Dimensionen der Liebe
so sehr voneinander getrennt leben, dass sie zu emotionalen
„Frankensteins" geworden sind. Eros: ein- oder
zweimal die Woche mit dem Liebhaber oder der Liebhaberin.
Philia: zu Hause zusammen mit der Ehefrau oder
dem Ehemann. Und Agape: sonntags in der Kirche. Je
weiter die einzelnen Komponenten der Liebe auseinanderdriften,
desto stärker wird das Gefühl der Leere und der
Lieblosigkeit.
In anderen Fällen stimmen die Bedürfnisse und Erwartungen
der Beteiligten nicht überein, und die Komponenten
der Liebe verlieren sich in einem Knäuel aus Verwirrung
und Missverständnis. Solange wir kein rationales
kognitives Schema zur Verfügung haben, das uns hilft zu
verstehen, was da eigentlich geschieht, wird es uns nicht
möglich sein, dieses Problem zu lösen.
Adriana und Mario waren seit elf Jahren verheiratet. Sie
führten eine scheinbar harmonische Ehe, zumindest war
dies das Bild, das sie vor anderen abgaben, aber allmählich
und zunächst unbemerkt hatte die Liebe Risse bekommen.
Mario empfand sein Sexualleben als wenig befriedigend
(er brauchte mehr und besseren Sex), und
Adriana fühlte sich emotional allein gelassen (sie
brauchte einen Freund, mit dem sie sich austauschen
konnte). Beide waren in einem Teufelskreis gefangen, der
ihnen nicht wirklich bewusst war: Sie war nicht in der
Lage, Eros die Tore zu öffnen, wenn zuvor nicht die
Mindestbedingungen der ehelichen Freundschaft erfüllt
waren, und er verweigerte jegliche freundschaftliche
Annäherung (Philia), wenn Eros nicht im Spiel war. Die
psychologische Falle wirkte sich nachteilig auf Agape
aus, da sich beide, frustriert von dem Mangel, den sie
empfanden, kaum noch für das Wohlergehen des jeweils
anderen interessierten. Unterm Strich: weder Eros noch
Philia noch Agape.
Die Lösung war nicht einfach, denn sie setzte voraus, dass
beide Partner nicht auf ihren Forderungen beharrten, sondern
an das Wohlergehen des anderen dachten, also Agape
in sich förderten, damit sich Sexualität und Freundschaft
sowohl im als auch außerhalb des Bettes wieder entfalten
konnten. Konkreter gesagt: Mario musste seine Philia
verbessern, unabhängig davon, ob Adriana als sein Eros
fungieren konnte, und Adriana musste ihren Eros verbessern,
unabhängig davon, ob Mario sich kommunikativer
und freundschaftlicher zeigte.
Wie es in einem Lied aus den Sechzigerjahren hieß: „Die
halbe Welt wartet mit einer Blume in der Hand, während
die andere Hälfte der Welt auf diese Blume hofft." Stolz
macht bewegungsunfähig.
Nur mit professioneller Hilfe gelang es den beiden, jeden
einzelnen emotionalen Aspekt neu zu gestalten und im
richtigen Maß zu integrieren. Um eine befriedigende Beziehung
zu entwickeln, an der sie nicht litten, mussten
Adriana und Mario lernen, Informationen auf eine neue
Art zu verarbeiten. Die therapeutischen Ziele lauteten wie
folgt:
- die grundlegenden Dimensionen der Liebe (Eros, Philia
und Agape) identifizieren und erkennen, wie sie angeordnet
sind;
- jede einzelne kultivieren, bis sie für beide Partner in zufrieden
stellender Intensität vorhanden waren;
- sie auf ausgewogene und flexible Weise zusammenführen,
sodass sie in angemessenem Umfang verwirklicht
werden konnten.
Den Eheleuten gelang es nach und nach, ein neues Verständnis
von der Liebe zu erreichen, was es ihnen ermöglichte,
im Nachhinein die notwendigen Veränderungen
vorzunehmen. Sie entdeckten, dass emotionale Erfahrungen
eine ganz besondere Lesart haben, die man ohne großes
Leiden auf das Leben zu zweit übertragen kann.
Dieses Buch richtet sich an alle, die in ihrer emotionalen
Entwicklung vorankommen möchten, sei es, um die posi-
tiven Aspekte einer Beziehung noch zu verstärken, sei es,
um unnötiges Leiden an der Liebe zu beenden. Zwar wird
der Leser keine magischen Rezepte vorfinden (die gibt es
nicht, und schon gar nicht in der Liebe), aber er wird die
Gelegenheit bekommen, über sein Gefühlsleben und sich
selbst in seinen Beziehungen zu anderen Menschen nachzudenken.
Wenn die „drei Dimensionen, in denen wir lieben" zu
einer ganzheitlichen Liebe verschmelzen - so die Grundidee
-, können wir die Liebe nicht nur mehr genießen,
sondern werden auch weniger an ihr leiden.
Liebe muss dann nicht mehr Leiden erzeugen, wenn wir
imstande sind, uns von den irrationalen Vorstellungen,
die unsere Kultur uns eingegeben hat, zu lösen. Buddha
sagte, der Ursprung allen seelischen Leidens läge im
Nichtwissen. Auch andere spirituelle Denker und Lehrer
haben darauf aufmerksam gemacht, wie wichtig es ist,
richtig zu denken, damit wir uns nicht schlecht fühlen.
Sind wir denn so unwissend in der Liebe? Ich wage zu behaupten,
ja. Gefühlsanalphabeten gar? Das glaube ich
nicht, aber vielleicht leiden wir unter Dyslexie, sind einfach
schlechte „Leser" und Interpreten.
Dieses Buch ist der Versuch, das weiter auszuführen, was
ich bereits in Amor o dependar? (etwa: Liebe oder Abhängigkeit?)
thematisiert habe. Es geht nicht nur darum,
ohne Abhängigkeiten (ein Hauptgrund für seelisches Leiden)
zu lieben, was an sich schon eine wichtige Errungenschaft
ist, sondern dem ganzen unnötigen Leid, das mit
der Liebe verbunden ist, ein Ende zu bereiten.
Der Text besteht aus neun Kapiteln, die in drei Teile zusammengefasst
sind: Teil I: Eros - Liebe, die schmerzt (in
dem die überwältigende Natur der Verliebtheit erkundet
wird, das Verlangen, die Erotik und die Pathologie des
Eros); Teil II: Philia - Von der Manie zur Sympathie (in
dem die Freundschaft innerhalb einer Beziehung und ihre
Komponenten betrachtet werden) und Teil III: Agape -
Von der Sympathie zum Mitgefühl (in dem es um
Gewaltlosigkeit und Mitgefühl geht).
Jedes Kapitel endet mit einem Abschnitt (Um nicht zu
leiden ...), in dem der Inhalt des Kapitels auf verständliche
Weise in die Praxis umgesetzt wird und Anregungen
dafür gegeben werden, was man tun kann, um nicht an
der Liebe zu leiden.
Letztendlich versucht dieses Buch, Denkanstöße zum
Thema Liebe aus verschiedenen Disziplinen miteinander
zu verbinden, beispielsweise der Psychologie, der Anthropologie,
der Soziologie und der Philosophie, und das auf
eine leicht verständliche Art und mit dem wissenschaftlichen
Niveau und Tiefgang, den das Thema verlangt.
Eros -
Liebe, die schmerzt
Alle Leidenschaften sind gut,
sofern man ihrer Herr bleibt,
alle sind schlecht,
sofern man sich ihrer Herrschaft unterwirft.
Rousseau
Alle Liebenden sind geschickt darin,
sich ihr Unglück selbst zu schmieden.
Balzac
Wir alle wissen, was es heißt, unter dem Einfluss der
Verliebtheit zu stehen, dieses leidenschaftlichen und
süchtig machenden Gefühls, das all unser Vermögen und unser
Können zu schwächen scheint. Wir wissen es, weil unser
Körper sich dann alles merkt. In jedem Winkel unserer emotionalen
Erinnerung ist diese elementarste aller Gefühlsregungen
eingraviert, der „süße Wahnsinn" oder „die göttliche
Verrücktheit", von der die Griechen sprechen, diese
Mischung aus Schmerz und Lust, in der das Wohlgefallen
jedes Ausmaß des Leidens zu rechtfertigen scheint. Wie
sollte man auch jenen Kitzel der Sinne vergessen können, wie
sollte man diese Erfahrung nicht wiederholen wollen, ohne
Übertreibung, ergeben wie ein glückliches Opferlamm?
Eros ist vor allem eine flüchtige Liebe, turbulent und widersprüchlich.
„Bald blüht und gedeiht er, wenn er die Fülle
des Erstrebten erlangt hat, bald stirbt er dahin; immer aber
erwacht er wieder zum Leben ...", schreibt Platon.1 Eros
wird geboren und verlöscht von Zeit zu Zeit, und wenn
alles gut geht, wird er irgendwann aufs Neue entfacht.
Lieben, ohne zu leiden? Schwierig, wenn wir uns zu sehr
auf Eros verlassen, wenn wir uns zu sehr an ihn klammern.
„Wieso, Herr Doktor, finden Sie denn die Liebe, die
ich empfinde, so schlecht?", fragte mich einmal eine durch
eine leidenschaftliche, aber unerwiderte Liebe verstörte
Teenagerin. Meine Antwort war nicht besonders ermutigend:
„Weil das keine Liebe, sondern nur Verliebtheit
ist." Die leidenschaftliche Liebe ist ihrer Natur nach dualistisch,
sie kommt und geht, ist Licht und Schatten, wie
auch Octavio Paz2 bestätigt.
Eros ist besitzergreifend, dominant, lüstern und, trotz
alledem, unerlässlich. Eine Liebe, die sich hauptsächlich
an der Selbstbelohnung orientiert, dies aber mithilfe des
anderen, weil auch die fremde Erregung erregend wirkt:
Ich erfreue mich an deiner Lust, die mir gilt, die mir gehört.
Es geht nicht darum, dich zu lieben, sondern, dich
zu wollen, im Sinne von Lust auf dich zu haben, wie auf
einen Nachtisch. Wie auf den einzigen Nachtisch, wenn
du das möchtest und ich es kann.
Die nicht-egoistische und reife Liebe erfordert zwei aktive
Subjekte, das heißt, zwei Menschen mit Stimme und
Stimmrecht. Natürlich verzichten wir auch manchmal auf
dieses Vorrecht und akzeptieren entspannt und spielerisch,
das „Objekt der Begierde" des geliebten Menschen
zu sein; denn was ist schon dabei, wenn beide damit einverstanden
sind? Was macht es, wenn wir für einen spielerischen
Moment lang „Objekt" sind (geliebtes Objekt,
versteht sich), um später wieder zur wohlwollenden Liebe,
zur demokratischen und freundschaftlichen Zuneigung
zurückzukehren? Zur Liebe braucht es immer zwei, sogar
in der Fantasie, aber ohne dass einer davon sich selbst aufgeben
müsste.
Eine 52 Jahre alte Frau erklärte mir einmal augenzwinkernd:
„Ich weiß schon, wenn er mich bittet, einen Minirock
anzuziehen und für ihn einen Striptease hinzulegen,
dann begehrt er mich mehr, als er mich liebt. Ich weiß,
dass ich mich in diesem Augenblick für ihn in einen Fetisch
verwandele. Aber wissen Sie was? Er verwandelt sich
dabei auch für mich in einen. Mir gefällt es, ihn so erregt
zu sehen und zu wissen, dass ich ihn so ungezwungen und
freizügig verführen kann, ohne jede Prüderie. Dann
komme ich mir vor wie die unverschämteste Verführerin
der Welt ... Und ihn betrachte ich für ein Weilchen als
meinen Herrn und Meister. Na und? Hinterher kehren
wir in die Realität zurück, glücklich und erschöpft. Er als
Voyeur, ich als Exhibitionistin - erscheint Ihnen das nicht
auch als eine gute Verbindung?" Aber sicher, zweifellos.
Die „leidenschaftliche Liebe" gab es in fast allen Gesellschaften.
3 Zum Beispiel fand man 55 anonyme Liebesgedichte
aus dem alten Ägypten, die auf das Jahr 1300 vor
Christus4 datiert wurden. Das folgende Gedicht, das auf
einem der Pergamente entdeckt wurde, zeigt, dass die
Romantik sich im Laufe der Geschichte nicht allzu sehr
geändert zu haben scheint:
Ihr Haar aus glänzendem Lapislazuli,
ihre Arme, die heller glänzen als Gold.
Ihre Finger erscheinen mir wie Blütenblätter,
wie Blätter der Lotusblume.
Ihre Flanken sind geformt, wie es sein soll,
ihre Beine über die Maßen schön.
Ihr Gang ist edel
(wahres Gehen),
Mein Herz wird ihr Sklave sein,
wenn sie mich in die Arme schließt.
Die Ägypter kannten also Eros sehr gut. Das zeigen auch
die Begriffe, die sie verwendeten, um die Liebe zu be-
schreiben: „verlängertes Begehren", „süße Falle", „Krankheit,
nach der man sich sehnt".
Die Griechen ihrerseits hatten viele Bezeichnungen für
Eros, unter anderem: „chronische Krankheit", „instinktives
Verlangen nach Lust", „ungezügelter Appetit", „von den
Göttern inspiriertes Delirium", „prophetischer Wahnsinn",
„Dämon", „fruchtbares Leiden", „großartigste und trügerische
Liebe".
Ein junger Mann in meiner Sprechstunde erklärte seine
schmerzhafte Liebe folgendermaßen: „Es tut mir weh, sie
zu lieben, das ist wie eine Krankheit, ein Fluch. Niemals
finde ich Ruhe. Wenn ich sie an meiner Seite habe, bin ich
glücklich, aber irgendwo in mir ist da immer so etwas wie
ein Stachel, der mich daran erinnert, dass ich nicht sie bin,
dass sie jemand anderes ist. Sie kann weggehen, aufhören,
mich zu lieben, sterben oder meiner einfach überdrüssig
werden ... Immer fehlt mir irgendwas, auch wenn sie mir
gehört." Fruchtbares Leiden, süße Falle oder postmoderne
Angst - das Phänomen ist stets dasselbe, und es tut immer
gleich weh. Auch wenn die Vorstellung von der Liebe im
Laufe der Geschichte bestimmte Wandlungen erfahren hat,
so scheint doch das Empfinden der „leidenschaftlichen
Liebe" sich nicht allzu sehr verändert zu haben.
Ohne den Blick auf den realen Alltag, in welchem wir
uns bewegen, zu verlieren, werde ich nun drei Aspekte
des Eros analysieren, die uns zwangsläufig leiden lassen:
seine Grenzenlosigkeit, das erotische Begehren und
einige Charakteristika des pathologischen oder krankhaften
Eros.
Kapitel 1
Die entgrenzte Natur des
Eros: die Verliebtheit
Carlos war ein ernster und umsichtiger Mann von 35 Jahren,
der in meine Sprechstunde kam, weil es ihm an sozialen
Fähigkeiten mangelte und er zudem Depressionen
hatte, da er emotional vereinsamt war. Seine missmutige
und verschlossene Art hatte ihn bisher keine Partnerin
finden lassen. Er lachte nie, konnte weder Witze erzählen
noch sich daran freuen, und kleidete sich überdies von
Kopf bis Fuß in Schwarz.
Kaum hatten wir mit der Therapie begonnen, bat er mich
darum, ein Thema anzuschneiden, das ihn sehr beschäftigte.
Er hatte eine Frau kennengelernt, die ihm gefiel, und
er wusste nicht, wie er einen Flirt anfangen sollte. Daraufhin
gab ich ihm ein paar Ratschläge, wie er seine potenzielle
Partnerin ansprechen könnte. Entgegen allen Erwartungen
wurde ich drei Wochen später Zeuge von
etwas, das man einen Fall von „emotionaler Mutation"
nennen könnte.
An diesem Tag kam Carlos wie ausgewechselt zu unserem
Termin. Er war ein vollkommen anderer Mensch,
als habe man ihn an eine Hunderttausend-Volt-Batterie
angeschlossen. Er konnte nicht aufhören zu lächeln,
und sein Gesicht, das vorher dem einer stählernen
Sphinx geglichen hatte, zeigte jetzt den offenen und
spontanen Ausdruck der Begeisterung. Seine Bewe-
gungen waren viel gelöster, und er hatte seine gewohnte
dunkle Kleidung gegen legere Jeans und ein kariertes
Hemd eingetauscht. In seinem Blick war ein Leuchten,
er roch nach Rasierwasser und war auf nette und ansteckende
Weise gesprächig. „Es ist passiert", sagte er zufrieden.
„Ich habe mich verliebt ... Ich habe mich tatsächlich
verliebt."
Dann wartete er wie versteinert auf meine Antwort, wobei
er mir fest in die Augen sah, weshalb mir keine andere
Möglichkeit blieb, als ihn zu beglückwünschen, ohne
wirklich zu wissen, ob meine Glückwünsche angebracht
waren oder nicht. Daraufhin machte er einen Schritt zurück
und sagte: „Ich hätte niemals geglaubt, dass die
perfekte Frau existiert, aber es gibt sie wirklich. Und es
beruht auf Gegenseitigkeit! Sie hat mir gesagt, dass sie
mich mag. Wir kennen uns erst seit drei Wochen, aber es
kommt mir vor, als gehöre sie schon immer zu mir ...
Glauben Sie an Seelenverwandtschaft, an ein vorherbestimmtes
Schicksal? Sie finden das bestimmt merkwürdig.
Etwas ist mit meiner Sexualität passiert. Vorher war ich
wie ein Eisberg, und jetzt masturbiere ich jeden Tag und
denke dabei an sie. Ich trage sie hier (er zeigte auf sein
Herz), hier (er zeigte auf seinen Kopf) und hier (er zeigte
auf seinen Unterleib) ... (Lachen) ... Ich kann einfach nicht
aufhören, sie anzusehen, mit ihr zu reden ... (Lachen) ...
Kann es sein, dass ich träume? Kneifen Sie mich mal!
Bitte! Kneifen Sie mich! ... (Ich kniff ihn) ... Sehen Sie?
Merken Sie es? Es ist wahr, es ist kein Traum. Ich will sie
nur nicht langweilen. Aber ich denke den ganzen Tag an
sie. Zum Beispiel bin ich immer bereit, sie zu begleiten,
wenn sie irgendwohin will ... (Lachen) ... Was meinen Sie?
Das ist die Liebe, nicht wahr?" Nach dieser Sitzung habe
ich nie wieder etwas von ihm gehört.
Die psychologische Struktur der Verliebtheit (wobei ich
hier leidenschaftliche, obsessive Liebe, leidenschaftliches
Verlangen und Eros synonym verwende) scheint bestimmte
allgemeingültige Merkmale aufzuweisen, die aus
einer Mischung aus chronischer Romantik, Euphorie und
Erregung bestehen (ich brauche wohl nicht zu betonen,
dass Carlos alle drei Symptome aufwies).6, 7, 8, 9, 10 Sehen wir
uns jedes für sich an.
Die Idealisierung des geliebten Menschen. Wir überhöhen
die Qualitäten der geliebten Person im Vergleich zu ihren
Schwächen dermaßen, dass wir ihre Fehler völlig übersehen
oder einfach nicht imstande sind, das Objekt unserer
Anbetung kritisch zu betrachten.11, 12, 13 Die Illusion des
Schönen, die diese Art Liebe erzeugt, hat schon Stendhal
als die „Kristallisierung der Liebe" beschrieben - als ein
wunderschönes Luftschloss, in dem die Zeit stehen geblieben ist.
Ausschließlichkeit und vollkommene Treue.14, 15, 16 Wer verliebt
ist, ist in keiner Weise anfällig für Untreue, allerdings
weder aus Überzeugung noch aus Prinzip, sondern aus
rein biologischen Gründen: Kopf und Körper sind ganz
und gar auf den geliebten Menschen konzentriert, es gibt
keinen Platz für jemand anderen. „Ich bin nur für ihn
Frau, ohne ihn bin ich gar nichts", sagte eine Bekannte mir
einmal, stolz auf ihre Abhängigkeit.
Intensive Gefühle von Verbundenheit und sexueller Anziehung.
Obwohl die meisten Menschen zwischen Wohlbefinden
und sexuellem Genuss unterscheiden, vereint die
Verliebtheit beides unterschiedslos in sich. Begehren und
Gefühl verschmelzen miteinander und lassen die beiden
„verliebten" Individuen denken, Liebe und Sex gehörten
immer zusammen.17 Auch wenn Männer eher als Frauen
zu „gefühllosem" Sex neigen18, verwischen sich diese Unterschiede
zwischen den Geschlechtern, sobald Eros entfacht
ist. Dann sind wir weder vom Mars noch von der
Venus, sondern nichts als leidenschaftliche, durch die
Liebe verwirrte Erdlinge, die von ihrem sexuellen Verlangen
zum Äußersten getrieben werden.
Die Überzeugung, dass die Liebe ewig anhält. Die Idee
einer unsterblichen, ewigen und unzerstörbaren Liebe, einer
Art Phönix, der immer wieder aus der Asche des Entliebens
und des Grolls aufersteht, ist eine weit verbreitete
Ansicht unter denen, die in die Liebe verliebt sind.19, 20
Vielleicht drücken einige Boleros genau das aus, was die
Mehrheit der Menschen empfindet: „Uhr, zeig die Stunden
nicht an, lass diese Nacht ewig dauern ...", die emotionale
Unendlichkeit, eine Liebe, deren Intensität und Spannung
nie abzuflauen scheint. Die Beklemmung, die Eros
normalerweise begleitet, beruht nicht nur auf dem Sich-
sehnen nach dem anderen, wie wir noch sehen werden,
sondern auch auf dem unabänderlichen Gefühl, dass früher
oder später entweder der Tod oder aber das Leben dem
Idyll ein Ende bereiten wird.
Zwanghaftes Denken an das geliebte Wesen. Obwohl die
Gedanken an den geliebten Menschen aufdringlich und
hartnäckig sind, werden sie nicht immer als lästig empfunden,
sondern nehmen eher die Form eines sich selbst
befriedigenden „Wiederkäuens" an, eine faszinierende Erinnerung,
von der der Verliebte nicht lassen will. Was man
sich ins Gedächtnis zurückruft, hängt von der jeweiligen
Stimmung ab: Je größer die Freude ist, desto mehr positive
Erinnerungen haben wir; und, andererseits, je trauriger
wir sind, desto mehr negative Erinnerungen werden in
uns wach.21, 22 Teilweise lässt sich sogar die zwischenmenschliche,
emotionale Zufriedenheit gerade auf unsere
Fähigkeit zurückführen, das Schlechte zu vergessen.23
„Ich versuch's ja immer wieder, aber ich kann's nicht. Ich
erinnere mich nur an das Schöne zwischen uns!", sagte
mir einmal eine Frau, die versuchte, sich von einem unpassenden
Partner zu lösen.
Der Wunsch nach Vereinigung und völliger Verschmelzung
mit dem geliebten Menschen. Das Verlangen, das die
Verliebtheit steuert, geht darüber hinaus, mit der geliebten
Person nur zusammen sein zu wollen. Der verliebte
Mensch will „eins mit dem anderen sein". Eine verheiratete
Frau, die nie untreu gewesen war, verliebte sich Hals
über Kopf in den Geschäftspartner ihres Mannes. Die
Qual, die sie wegen ihrer „unmöglichen Liebe" empfand,
war so groß, dass sie medikamentös behandelt und einige
Tage in ein Sanatorium aufgenommen werden musste.
Während einem meiner Besuche drückte sie ihre Gefühle
folgendermaßen aus: „Ich weiß jetzt, was ich tun will ...
Denken Sie jetzt nicht, ich wäre verrückt, aber ich weiß
jetzt, wie ich meine Not lindern kann. Ich muss ihn verschlucken,
ich will ihn verschlingen ..." Dieses „anthropophage"
Bedürfnis, das Trennung unter keinen Umständen
akzeptieren kann, verweist, wie Fromm24
schreibt, auf existenzielle Einsamkeit. Meine Patientin
drückte auf eine delirante Weise ihr Bedürfnis nach einer
unerreichbaren emotionalen Sicherheit aus: „Eins sein,
auch wenn wir zwei sind."
Die Bereitschaft, jedes Risiko einzugehen, um die Beziehung
aufrechtzuerhalten. Es gibt keine Grenzen, die leidenschaftliche
Liebe wägt keine Konsequenzen ab. Die
sogenannte „Tapferkeit", die Verliebte antreibt, ist meist
nichts anderes als die Unkenntnis oder Unfähigkeit, die
negativen Folgen zu ermessen, ähnlich wie es bei gewissen
mentalen Störungen der Fall ist.25,26 Dieses Wegfallen der
Selbstkontrolle und die Schwierigkeiten damit, rationale
Entscheidungen zu treffen, können im Extremfall zu Abhängigkeit
führen und ein Krankheitsbild erzeugen, in
dem sich Depression und Sucht mischen.27, 28, 29
Die Verliebtheit wird außerdem auch noch von einigen
chemischen Faktoren beeinflusst, die das typische Verhal-
ten zumindest teilweise erklären. Man hat entdeckt, dass
die romantische Erregung direkt mit dem Phenyletinamin
in Verbindung steht, einer süchtig machenden, stimulierenden
Substanz, die Euphorie und Wohlgefühl hervorruft.
Zur Verblüffung einiger Romantiker hat man
außerdem erkannt, welche Rolle einige Transmitter (Dopamin,
Serotonin und Noradrenalin) im Gehirn spielen,
die auch mit psychischen Krankheiten in Verbindung stehen,
wie beispielsweise manisch-depressiven Störungen
und Angststörungen.32, 33
Andererseits ist bewiesen, dass wir uns nicht nur über die
Augen, sondern auch über die Nase verlieben. Es gibt flüchtige
Stoffe, Pheromone, die, vom Organismus ausgeschieden,
wie biochemische Signale für Anziehung und sexuelles
Interesse zu wirken scheinen: die Verführung durch ein
Aroma, durch die personalisierte Essenz, die zum Teil das
Phänomen der Liebe „auf den ersten Blick" erklären
könnte.34, 35 Ich kenne mehr als nur einen Fall, wo die
Unvereinbarkeit mehr geruchsbedingt als psychisch war.
Die Biochemie der erotischen Liebe könnte man folgendermaßen
zusammenfassen:
a) Wollust oder die brennende Begierde nach Sex, wofür
das Testosteron verantwortlich ist, und
b) Anziehung oder Liebe in der euphorischen Phase, die
durch erhöhte Spiegel von Dopamin und Noradrenalin
und niedrige Serotoninwerte verursacht wird.36, 37
Eros ist also hochkomplex. In seiner Natur liegen sowohl
Verlangen und Leidenschaft als auch eine merkwürdige
Mischung aus lustvollem Schmerz und schmerzhafter
Lust, Euphorie, Besitzstreben, biologischer Übererregung
(biochemisch und hormonell) und eine Desorganisation
des gesamten Systems der Informationsverarbeitung.
Eros wählt Sie, nicht Sie ihn.
Um nicht zu leiden ...
Genießen Sie die Verliebtheit, aber lassen Sie nicht zu,
dass Ihre Individualität und Ihre seelische Gesundheit
davon beeinträchtigt werden
k Was kann man also tun, um die Qualen der Verliebtheit
zu lindern? Ist es möglich, die Seele auf solch einen Anschlag
auf das Herz vorzubereiten? Wir können unsere Abwehrkräfte
gegen das Leiden steigern. Das bedeutet nicht,
die Sensibilität für den Genuss und die Lust am Verliebtsein
zu verlieren, sondern ihm einen Hauch von Rationalität
zu verleihen, eine intelligente Bremse, um Eros gelassener
zu erleben und nicht verletzt zu werden (zumindest
nicht so tief, wie es den meisten Menschen passiert, wie
wir noch sehen werden). Vor dem Verlieben, währenddessen
und hinterher nachdenken: das Verlangen rationalisieren,
zumindest dann, wenn es nötig ist.
Wenn Eros unerwartet zuschlägt, ist das Ganze schwerer
zu kontrollieren. Es ist reine Zeitverschwendung, einen
Betrunkenen oder Ecstasy-Abhängigen, der im Zustand
der Euphorie ist, von den negativen Auswirkungen des
Konsums überzeugen zu wollen. Wenn Sie allerdings bereits
vorher ein Verteidigungsschema aufgebaut haben,
wird es sich ganz automatisch aktivieren und den Schlag
abfangen. So vorbereitet, können Sie das Gefühl auf gesündere
Weise verarbeiten. Natürlich geht es dabei nicht
darum, einen „Anti-Eros-Verhaltensstil" zu entwickeln, das
Bollwerk der Schizoiden, der Prüden oder der Feiglinge.
Die ruhige Analyse entspannt den Geist, ohne ihm seine
Stärke zu nehmen.
Wenn Sie Eros in Ihr Leben lassen wollen und ihn ohne
Angst genießen möchten, müssen Sie ein paar Gegenmittel
parat haben und dürfen diese, einmal zusammengestellt,
auch nicht vergessen. Man kann sich der Verliebtheit
„fast" völlig hingeben, aber dieses „fast" bedeutet,
dass man ein kleines Stückchen seiner Seele frei lässt von
diesem Gefühl, aufnahmebereit und wachsam, wie Mütter,
die zwar bei der kleinsten Bewegung ihres Babys
aufwachen, nicht aber, wenn es donnert. Besondere Aufmerksamkeit,
kortikale Vorsicht, Pawlows Theorie im
Dienste der emotionalen Verteidigung.
Dies ist möglich, wenn man das Prinzip der verantwortlichen
Rationalität anwendet. Sie sind keine Gefühlsmaschine,
die Liebe verschlingt, auch wenn Sie das vielleicht
gern hätten. Ihr rationales Denken wird nicht
zulassen, dass Sie sich wie ein Abhängiger verhalten, wie
jemand, der verzweifelt Gefühlen nachjagt. Um richtig
fühlen zu können, muss man richtig denken können. Das
Gefühl entsteht nicht aus einem leeren Raum heraus,
sondern es spielen Glaubenssätze, Wertesysteme, Lebensphilosophie
und innere Einstellungen mit hinein. Sie
sind niemals „reine Liebe". Verantwortliche Rationalität
bedeutet, die Vernunft in Maßen und klug einzusetzen,
ohne etwas zu unterdrücken, aber auch ohne das Herz
völlig loszulassen. Ihr Alarmsystem wird dafür sorgen,
dass Sie die Beziehung auf gesunde Weise genießen können.
Verliebtheit beeinflusst nur die Seelen negativ, die
anfällig für das Leiden sind.
k Wer hat denn gesagt, dass es für Eros keine Grenzen
geben sollte? Wenn Ihr Geliebter von Ihnen verlangen
würde, Sie sollten sich prostituieren, weil er Geld brauchte,
würden Sie das tun? Wäre das nicht der Punkt, an dem die
leidenschaftliche Liebe mit der Realität konfrontiert wird?
Liebe rechtfertigt nicht alles, sonst wäre sie Gott.
Es gibt eine Reihe rationaler Überzeugungen oder passender
Entwürfe, die Sie im Voraus entwickeln und verinnerlichen
können, um einen Art kognitiven Sicherheitsgurt
gegenüber dem Ansturm der Verliebtheit zu schaffen.
Nichtsdestotrotz sollte man die Lust daran, zu lieben und
geliebt zu werden, nicht aufgeben, sondern nur wissen,
wann Gefahr besteht und wann nicht: Sie benötigen emotionale
Weisheit, die Fähigkeit zu unterscheiden. Jedes
Mal, wenn Sie fühlen, spüren oder ahnen, dass Sie sich in
diese oder jene Person verlieben könnten oder wenn Sie
schon ganz eindeutig unter dem Einfluss von Eros stehen,
dann sollten Sie sich die folgenden fünf Grundsätze ins
Gedächtnis rufen. Am besten wäre es, wenn Sie in Ruhe
über diese Themen nachdenken und Ihre eigene Einstellung
dazu finden würden, die hoffentlich rational ausfällt,
damit Sie mit der Zeit Ihren eigenen emotionalen Stil finden
können. Üben Sie sie ein, damit sie Ihnen zur Selbstverständlichkeit
werden. Machen Sie sie zu Ihrem eigenen
Denken.
1. Idealisieren Sie die geliebte Person nicht
Verfälschen Sie die Tatsachen nicht dadurch, dass Sie
das Gute überbetonen und das Schlechte herunterspielen.
Damit meine ich nicht, dass Sie grundsätzlich niemandem
trauen sollten, sondern dass Sie versuchen
sollten, ein mehr oder weniger objektives Gleichgewicht
zu finden. Der Schlüssel dazu: Seien Sie realistisch.
Auch wenn der Gegenstand Ihrer Verliebtheit Sie
fasziniert - werfen Sie sich ihm nicht zu Füßen. Auch
wenn die Betreffende eine Göttin zu sein scheint, machen
Sie sich nicht zu ihrem Sklaven! Mit der Zeit findet
man heraus, wie der andere wirklich ist, aber nur, wenn
man diese Zeit objektiv und ohne Selbstbetrug erlebt.
Wenn Sie von Anfang an eine realistische Haltung einnehmen,
spätestens aber von dem Moment an, in dem Sie
merken, dass Sie sich verliebt haben, dann kann Eros
Ihre Wahrnehmung nicht verzerren. Wenn man am Anfang
einer leidenschaftlichen Beziehung keine Fehler
findet, dann fällt das kaum ins Gewicht, denn die
Hormone beeinträchtigen das Denkvermögen und die
Beobachtungsgabe. Aber wenn Sie dabei Ihre Seelenruhe
bewahren, das heißt, wenn es Ihnen gelingt, trotz
der Sinnestäuschung aufmerksam zu bleiben, dann erfinden
Sie weder ein Götzenbild noch ein Monster der
Perfektion.
Außerdem - wollen Sie wirklich einen Partner oder
eine Partnerin wie Bo Derek in Ten? Wenn ja, dann sollten
Sie Ihr Bedürfnis nach Anerkennung einmal kritisch
hinterfragen. Vergessen Sie nicht: Am Anfang einer Romanze
sieht immer alles rosig aus, da verbergen wir alle
unsere Fehler und streichen unsere Vorzüge heraus. Das
sage ich nicht, um Sie zu entmutigen, sondern damit Sie
sich auf eine wirkliche Liebe aus Fleisch und Blut einlassen
können. Den „Super-Partner" gibt es nur in der
Werbung!
Jemanden zu idealisieren bedeutet, dass einem der
Mensch, so wie er ist, nicht genügt. Außerdem löst die Idealisierung
einen Rückschlageffekt aus: Wenn die Wirkung
nachlässt, kehrt man in die unvollkommene Wirklichkeit
des geliebten Menschen zurück und in die wohlbekannte
Desillusion. Eros kann nur eine begrenzte Zeit lang verschönern,
und deshalb ist es besser, die Sinneseindrücke
ein wenig „abzukühlen". Fazit: Alarmstufe Rot, höchste Aufmerksamkeit
und realistische Wahrnehmung. Und dann
machen Sie alles, worauf Sie Lust haben.
2. Verliebt zu sein bedeutet nicht, Ihre Rolle in der
Gesellschaft und alle anderen Bereiche Ihres Lebens
zu vernachlässigen
k Wenn Eros auf der Bildfläche erscheint, dürfen Sie
nicht aus der Welt verschwinden und alles, was Ihnen
Spaß macht, aufgeben. Womit ich nicht zur Untreue raten
will, denn im Zustand absoluter Verliebtheit reizt
einen sowieso niemand anderes; dieses Risiko ist also
gering. Sie sollten vielmehr darauf achten, nicht in soziale
Isolation zu geraten oder gar die anderen Seiten
Ihres Lebens zu vergessen. Wenn Sie denken: „Er füllt
mich ganz aus", „Sie gibt meinem Dasein erst einen
Sinn", dann sind Sie auf keinem guten Weg. Wer sagt
denn, man müsse wegen einer neuen Romanze seine früheren
Freunde oder Freundinnen aufgeben oder seine
Arbeit vernachlässigen? Woher kommt die Annahme,
verliebt zu sein würde bedeuten, auf alles, was einem
bisher wichtig war, zu verzichten? Eros verführt uns zu
dem absurden Gedanken, dass das Glück nicht vollkommen
ist, wenn wir nicht ständig mit dem geliebten
Menschen zusammen sind.
Sie sollten von Anfang an für sich und Ihren Partner
klarstellen, dass Ihr Leben sich nicht grundsätzlich ändern
wird - wie Sie sind, Ihre Vorlieben, Hobbys und
Überzeugungen. Anpassung ist auf beiden Seiten vonnöten,
aber respektvoll; das bedeutet zwar, „das Leben
neu zu strukturieren", aber nicht, alles Bisherige aufzugeben
und vollkommen neu anzufangen. Ihr Partner ist
kein zweiter Messias, deshalb besteht auch keine Notwendigkeit,
alles zu zerschlagen, was Sie jahrelang aufgebaut
haben. Ich habe mehr als nur einen Verliebten
kennengelernt, der unter erotischem Einfluss seine
Persönlichkeit zu ändern versuchte, als wäre Eros eine
außerweltliche Offenbarung. Wir sollten es nicht übertreiben.
Es ist eine Sache, in Küssen und Zärtlichkeiten
dahinzuschmelzen, eine andere, das eigene „Ich" zu
demontieren.
Also, wenn Eros Sie zu kitzeln beginnt, stellen Sie ein
paar Dinge von vornherein klar: meines, deines und unseres.
Wenn Sie es für einen Liebesbeweis halten, alle anderen
Dinge Ihres Lebens zu missachten, dann führen Sie
sich vor Augen: Wir sprechen hier von reiner Verliebtheit
und nicht von Philia, die rationaler ist. Sollten Sie Ihre Berufung
im Geben sehen (Agape), was an sich nicht schlecht
ist, dann warten Sie ein Weilchen, bis Eros zur Ruhe
kommt. Anfangs verkleidet sich die Lust häufig als Überzeugung.
Eros schenkt Lust, raubt aber dafür Denkvermögen
und Unabhängigkeit, weswegen alle „romantischen
Entscheidungen" per definitionem zweifelhaft sind.
Sagen Sie Ihrem neuen Partner: „Willkommen in meinem
Leben, das ist, was ich habe, das ist, was ich bin, das ist,
was ich verteidigen werde, und dies ist, worüber ich willens
bin zu verhandeln."
Fazit: Lieben Sie, ohne sich völlig vom anderen in Anspruch
nehmen zu lassen. Ihre eigene Art zu sein dür-
fen Sie in niemandes Armen verlieren. Ihre Freunde,
Hobbys oder was auch immer Ihnen etwas bedeutet
dürfen Sie nicht vernachlässigen. Nur so können Sie
Eros zufrieden stellen und gleichzeitig unter Kontrolle
halten. Lassen Sie sich als Ganzes lieben und begehren
oder überhaupt nicht.
3. Eros vergeht, nicht unbedingt für immer, aber er
klingt mit der Zeit ab: Machen Sie sich also keine zu
großen Illusionen
k Noch einmal die Realität: Die Magie dauert nicht länger
an, als von der Natur gewollt. Eros kann sich in etwas anderes
verwandeln, kann sogar eine Zeit lang seinen ursprünglichen
Zauber behalten, aber die Verliebtheit neigt
dazu, an Intensität einzubüßen. Daher darf es Sie nicht
überraschen, wenn einer der Partner (wenn Sie Glück haben,
Sie zuerst) anfängt, eine gewisse Ernüchterung zu
verspüren. Wenn Ihnen etwas daran liegt, können Sie aber
ungeachtet dessen Fundamente legen, damit etwas Neues
und Bedeutsames gedeiht, wenn Eros seine Raserei einstellt.
Natürlich will ich Ihnen damit nicht empfehlen, Ihr
romantisches Erlebnis mit dem Gedanken zu belasten,
dass es jederzeit zu Ende sein kann. Es geht schlicht und
einfach darum, mit den Füßen auf dem Boden zu bleiben.
Ein gesunder Vorsatz: „Ich genieße es, solange es anhält,
ohne mich allzu sehr aus der Bahn werfen zu lassen."
Die Chemie verliert unwillkürlich an Wirkung, das hat
mit Ihnen selbst im Grunde nichts zu tun; aber Sie können
die Grundlagen dafür schaffen, dass Eros sich in Philia
wandelt. „Für immer" ist ein ganz schlechter Ausdruck,
ebenso wie „alles", „nie" oder „nichts". Diese Worte charakterisieren
ein absolutistisches und dichotomisches
Denken, das sich nur zwischen Extremen bewegt, ohne
die Nuancen wahrzunehmen.
4. Lassen Sie nicht zu, dass die Person, die Sie lieben,
Ihre Seele beherrscht wie ein Virus
k Die ganze Zeit an IHN oder SIE denken zu müssen,
raubt Ihnen Energie und macht Sie zum Idioten. Kämpfen
Sie gegen die Besessenheit an. Zu lieben bedeutet nicht,
eine Zwangsstörung zu entwickeln. Sie können zweihundertmal
„Halt!" sagen, jemanden anrufen, auf die Straße
gehen, schreien wie ein Verrückter oder etwas Unterhaltsames
lesen, wenn Sie das beunruhigende Gefühl heimsucht,
doch das Wichtigste ist, sich bewusst zu werden,
wie viel Raum diese Romanze in Ihrem Denken einnimmt.
Am besten eignet sich dafür ein Freund (oder eine
Freundin), der die Rolle des Spielverderbers übernimmt,
der Sie ohne Rücksicht in die Realität zurückbringt, der
Ihnen aufzeigt, was Sie falsch machen oder wie weit Sie
sich von Ihrem Normalzustand entfernt haben.
Eine meiner Patientinnen schloss mit ihrer besten Freundin
folgenden Pakt: „Ich erzähle dir jedes Mal, wenn ich es
nicht schaffe, ihn mir aus dem Kopf zu schlagen, oder
wenn ich merke, dass ich übertreibe.
© Weltbild
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Autoren-Porträt von Walter Riso
Walter Riso, geboren 1951, ist gebürtiger Italiener und emigrierte als Kind mit seiner Familie nach Argentinien. Seit Ende der 1970er lebt er in Bogotá, Kolumbien. Er ist Psychotherapeut mit dem Spezialgebiet der kognitiven Verhaltenstherapie und hat zudem Psychologie, Theaterwissenschaft, Philosophie und Bioethik studiert.Die Themen seiner populären Lebenshilferatgeber drehen sich allesamt um Beziehung, Partnerschaft und Liebe.
Bibliographische Angaben
- Autor: Walter Riso
- 2009, 240 Seiten, Maße: 13 x 19,3 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Zühlke, Sigrun
- Übersetzer: Sigrun Zühlke
- Verlag: Irisiana
- ISBN-10: 3424150355
- ISBN-13: 9783424150353
Rezension zu „Liebe und du leidest nicht “
"Er will mit der irrigen Vorstellung vom Latin Lover, die in uns allen ist, aufräumen."
Kommentar zu "Liebe und du leidest nicht"
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