Der Insektensammler / Lincoln Rhyme Bd.3
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Als das Team endlich das Versteck des Jungen in den undurchdringlichen Sümpfen ausfindig macht, geschieht das Unfassbare: Amelia wechselt die Fronten - und stellt sich auf die Seite des Entführers ...
Im Paquenoke Sumpf ist ein junges Mädchen entführt worden. Der Tat verdächtig ist der 16-jährige Garrett Hanlon, ein abstoßender Einzelgänger, der seit dem Tod der Eltern und der kleinen Schwester bei Pflegeeltern lebt. Er beschäftigt sich fanatisch mit giftigen Insekten, weshalb man ihn im Ort - halb ängstlich, halb abfällig - nur "den Insektensammler" nennt.
Davon ahnen Lincoln Rhyme und Amelia Sachs jedoch noch nichts, als sie in Avery, North Carolina, eintreffen. Rhyme, der seit einem Unfall im Polizeidienst vor vielen Jahren fast vollständig gelähmt ist, hat sich endlich dazu entschlossen, sich in einer Spezialklinik einer riskanten Operation zu unterziehen, die ihm möglicherweise einen Teil seiner Bewegungsfähigkeit zurückgeben kann. Da ein Exkollege aus New York nun hier in Avery arbeitet, sieht er kurz auf dem Polizeirevier vorbei, um diesen zu begrüßen - und wird sofort von Sheriff Jim Bell über den aufsehenerregenden Entführungsfall informiert. Für Bell ist Rhyme ein Geschenk des Himmels: Sein analytischer Verstand, sein scharfes Auge und seine legendären Erfahrungen bei der Lösung von Gewaltverbrechen könnten helfen, das Schlimmste zu verhindern.
Angeblich habe ein gewisser Garrett Hanlon am Morgen einen Jogger überfallen und mit einer Schaufel erschlagen und dann die junge Mary Beth, die im Sumpf archäologische Grabungen durchführte, gekidnappt. Es sei mit allem zu rechnen, wahrscheinlich habe Garrett das Mädchen bereits vergewaltigt und getötet, schlussfolgert der Sheriff. Überdies sei dies nicht der erste unnatürliche Todesfall, der in den letzten Jahren im Sumpf passiert sei - darunter auch ein Mädchen, das von Wespen zu Tode gestochen wurde. Bell, der bereits Einsatzbeamte und eine Krankenschwester ins Sumpfgelände geschickt hat, bittet Rhyme dringend darum, mit ihm zum Tatort zu kommen und die örtlichen Polizisten zu unterstützen.
Am Paquenoke erwartet sie das Chaos. In der Zwischenzeit
Die ganze Zeit über ist in Amelia intuitiv die Gewissheit entstanden, dass Garrett nicht der psychopathische Verbrecher ist, als den man ihn darstellt, sondern ein verängstiger junger Mann, der sich vor irgendetwas zu schützen versucht und selbst auf der Suche nach Antworten ist. Als eine Gruppe "rechtschaffener Bürger" ihn gewaltsam aus dem Gefängnis befreien will, um zuerst das Versteck der Geisel aus ihm herauszuprügeln und ihn dann zu lynchen, reagiert Amelia spontan. Sie greift sich eine Waffe, überwältigt einen Beamten, hält die zu allem entschlossenen Männer in Schach, befreit Garrett - und flieht mit ihm zurück in die Sümpfe.
Nun umkreisen sich Jäger und Gejagte - wobei die jeweiligen Seiten durchaus flexibel sind. Rhyme, der wie vor den Kopf geschlagen ist, aber Amelia intensiv genug kennt, um nach wie vor an einen guten Grund für ihr Verhalten zu glauben, versucht die Polizisten zu Ruhe und vernünftigem, zielgerichtetem Verhalten zu bewegen. Dieselben aufgewiegelten Bürger, die zuvor schon Garrett in ihre Gewalt bringen wollten, nehmen wiederum ebenfalls die Fährte von Amelia und ihrem undurchsichtigen Schützling auf. D
Der Insektensammler von Jeffery Deaver
LESEPROBE
Nördlich des Paquo
Eins
Sie kam hierher, um Blumen an der Stelle niederzulegen, wo der Junge getötetund das Mädchen entführt worden war.
Sie kam hierher, weil sie eine dickliche junge Frau mit narbigem Gesicht warund nicht viele Freunde hatte.
Sie kam her, weil man es von ihr erwartete.
Sie kam, weil sie es wollte.
Schwitzend und schwerfällig lief die sechsundzwanzigjährige Lydia Johansson aufdem unbefestigten Bankett der Route 112 entlang, an der sie ihren Honda Accordgeparkt hatte, und stieg dann vorsichtig die Böschung zu dem sumpfigen Uferhinab, wo der Blackwater Canal in die trüben Fluten des Paquenoke mündete.
Sie kam hierher, weil sie dachte, es gehöre sich so.
Sie kam her, obwohl sie Angst hatte.
Die Sonne war erst vor kurzem aufgegangen, aber seit Jahren war es in NorthCarolina im August nicht mehr so heiß gewesen, und Lydia hatte ihre weißeSchwesterntracht schon fast durchgeschwitzt, als sie auf die von Weiden,Tupelo- und breitblättrigen Lorbeerbäumen umstandene Lichtung am Flussuferzuging. Mühelos fand sie die gesuchte Stelle - das gelbe Absperrband derPolizei stach sofort ins Auge.
Frühmorgendliche Geräusche. Haubentaucher; ein Tier, das ganz in der Nähe imdichten Unterholz herumstöberte; der heiße Wind, der durch Schilf und Sumpfgrasstrich.
Herrgott, ich fürchte mich, dachte sie. Nur zu deutlich standen ihr all diegrusligen Szenen aus den Romanen von Stephen King und Dean Koontz vor Augen,die sie spätabends mit ihrem Bettgefährten las - einem Becher Eiscreme.
Wieder raschelte es im Unterholz. Sie zögerte, blickte sich um. Dann ging sieweiter.
»He.« Eine Männerstimme. Ganz in der Nähe.
Lydia keuchte und fuhr herum. Fast hatte sie die Blumen fallen lassen. »Hast dumich erschreckt, Jesse.«
»Tut mir Leid.« Jesse Corn stand hinter einer Trauerweide nahe der abgesperrtenLichtung. Lydia bemerkte, dass sie beide wie gebannt auf das Gleiche starrten:den weiß schimmernden Umriss einer Gestalt am Boden, dort, wo man die Leichedes Jungen gefunden hatte. Rund um die Stelle, wo der Kopf eingezeichnet war,befand sich ein dunkler Fleck - altes Blut, wie sie als Krankenschwester soforterkannte.
»Hier ist es also passiert«, flüsterte sie.
»So isses.« Jesse wischte sich über die Stirn und strich eine herabhängendeblonde Haarsträhne zurück. Seine Uniform - die beigefarbene Kluft der Polizeides Paquenoke County - war staubig und zerknittert. Dunkle Schweißfleckenbreiteten sich unter den Armen aus. Er war dreißig und auf eine jungenhafte Artsüß. »Seit wann bist du schon hier?«, fragte sie.
»Weiß ich nicht genau. Seit fünf etwa.«
»Ich hab ein anderes Auto gesehen«, sagte sie. »Droben an der Straße. Ist Jimhier?«
»Nö. Ed Schaeffer. Er is auf der andern Seite vom Fluss.« Jesse deutete mit demKopf auf die Blumen. »Die sind hübsch.«
Lydia zögerte einen Moment, dann blickte sie auf die Margeriten, die sie in derHand hatte. »Zwei neunundvierzig. Hab sie gestern Abend besorgt. Weil ich nichtgewusst habe, ob so früh schon jemand auf hat. Na ja, Dell's vielleicht, aberdort gibt's keine Blumen.« Wieso fing sie an, dummes Zeug zu faseln? Wiederblickte sie sich um. »Keine Spur von Mary Beth?«
Jesse schüttelte den Kopf. »Nicht die geringste.«
»Von ihm auch nicht, soll das vermutlich heißen.«
»Von ihm auch nicht.« Jesse schaute auf seine Uhr. Dann hinaus auf das dunkleWasser, den dichten Schilfgürtel, das undurchdringliche Gras, den verfaulendenBootssteg.
Lydia fand es nicht sehr beruhigend, dass ein Bezirks-Deputy, der einenschweren Revolver trug, anscheinend genauso nervös war wie sie selbst. Jessestieg den mit Gras überwucherten Hang zur Straße hinauf. Er hielt inne, warfeinen weiteren Blick auf die Blumen. »Nur zwo neunundneunzig?«
»Zwei neunundvierzig. Bei Food Lion.«
»Das is günstig«, sagte der junge Polizist, während er mit zusammengekniffenenAugen auf das dichte Meer aus Gras blickte. Er wandte sich wieder der Böschungzu. »Ich bin droben beim Streifenwagen.«
Lydia Johansson ging näher zum Tatort. Sie stellte sich Jesus vor und dieEngel, und sie betete ein paar Minuten. Sie betete für die Seele von BillyStail, der erst gestern Morgen an ebendieser Stelle von seiner sterblichenHülle erlöst worden war. Sie betete darum, dass das Leid, das Tanner's Cornerheimgesucht hatte, bald vorübergehen möge.
Sie betete auch für sich.
Wieder drangen Geräusche aus dem Unterholz. Ein Knacken, Geraschel.
Inzwischen war es heller, aber auch bei Sonnenschein wirkte Blackwater Landingnicht viel freundlicher. Der Fluss war hier ziemlich tief, gesäumt von modrigenschwarzen Weiden und dicken Zedern und Zypressen - einige waren abgestorben,andere noch nicht, aber alle mit Moos und den würgenden Ranken der Kupoubohneüberwuchert. Im Nordosten, nicht weit von hier, lag der Great Dismal Swamp, undwie alle Expfadfinderinnen im Paquenoke County kannte sie sämtliche alten Sagenum dieses Sumpfgebiet: die Geschichte von der Frau vom See, dem Eisenbahnerohne Kopf Aber nicht diese Gestalten waren es, die ihr zu schaffen machten;hier, in Blackwater Landing, ging ebenfalls ein Gespenst um - der Junge, derMary Beth McConnell entführt hatte.
Lydia öffnete ihre Handtasche und zündete sich mit zittrigen Händen eineZigarette an. Beruhigte sich etwas und spazierte am Ufer entlang. Blieb nebeneinem Streifen aus hohem Schilf und Rohrkolben stehen, die sich im sengendenWind bogen.
Sie hörte, wie oben an der Straße ein Auto angelassen wurde. Jesse fuhr dochnicht etwa ab? Beunruhigt blickte Lydia die Böschung hinauf, sah aber, dass derWagen nicht wegfuhr. Vermutlich lässt er bloß die Klimaanlage laufen, dachtesie. Als sie sich wieder dem Wasser zuwandte, fiel ihr auf, dass die Rohrkolbenund das Schilf immer noch wogten, sich bogen, raschelten.
Als ob dort jemand wäre, der sich auf das gelbe Absperrband zubewegte und sichdabei dicht am Boden hielt.
Aber nein, natürlich nicht. Es ist nur der Wind, sagte sie sich. Und andächtiglegte sie die Blumen in die Gabel einer knorrigen schwarzen Weide unweit desgrausigen Umrisses der Leiche und der Blutlache, die so schwarz war wie dasWasser des Flusses. Wieder setzte sie zu einem Gebet an.
Auf der anderen Seite des Paquenoke lehnte sich Deputy Ed Schaeffer an eineEiche und achtete nicht auf die Stechmücken, die seine bloßen Arme umschwirrten.Er ging in die Hocke und suchte den Waldboden erneut nach Spuren des Jungen ab.
Er musste sich an einem Ast abstützen; ihm war schwindlig vor Erschöpfung. Wiedie meisten Deputys seiner Dienststelle war er seit fast vierundzwanzig Stundenauf den Beinen und suchte nach Mary Beth McConnell und dem Jungen, der sieentführt hatte. Aber während die anderen heimgefahren waren, um sich zuduschen, etwas zu essen und ein paar Stunden zu schlafen, war Ed vor Ortgeblieben. Er war der älteste Deputy des Bezirks und der massigste obendrein(einundfünfzig Jahre alt und einhundertzwanzig Kilogramm schwer, größtenteilsüberflüssiges Fett), aber Müdigkeit, Hunger und steife Glieder hinderten ihnnicht daran, weiter Ausschau nach dem Mädchen zu halten.
Wieder musterte der Deputy den Boden.
Er drückte auf die Sendetaste seines Funkgeräts. »Jesse, ich bin's. Bist duda?«
»Schieß los.«
»Hier sind Fußspuren«, flüsterte er. »Sie sind frisch. Höchstens eine Stundealt.«
»Meinst du, die sind von ihm?«
»Von wem denn sonst? So früh am Morgen, auf dieser Seite des Paquo?«
»Sieht so aus, als hättest du Recht gehabt«, sagte Jesse Corn. »Ich wollt's jaerst nicht glauben, aber du hast vielleicht doch den Nagel auf den Kopfgetroffen.«
Ed war der Meinung gewesen, dass der Junge hierher zurückkommen werde. Nichtwegen des altbekannten Klischees, wonach der Täter stets zum Tatortzurückkehrt, sondern weil Blackwater Landing seit jeher sein Jagdrevier und erin den letzten Jahren immer hierher gekommen war, wenn er in Schwierigkeitengewesen war.
Ed schaute sich um, ängstlich jetzt, da die Erschöpfung und die Beschwerdenverflogen waren. Mit bangem Blick betrachtete er das heillose Gewirr vonBlättern, Ranken und Ästen rundum. Herrgott, dachte der Deputy, der Junge isthier irgendwo. Er sprach wieder in das Funkgerät. »Die Spur führt scheint's indeine Richtung, aber ganz sicher bin ich mir nicht. Er ist hauptsächlich aufdem Laub gelaufen. Sperr die Augen auf. Ich schau nach, woher er gekommen ist.«
Mit knackenden Knien richtete Ed sich auf und folgte den Fußspuren des Jungenso leise, wie es bei seinem Gewicht ging, in die Richtung, aus der sie kamen -tiefer in den Wald hinein, weg vom Fluss.
Nach rund dreißig Metern sah er, dass sie zu einem alten Unterstand führten -einer grauen Hütte, groß genug für drei bis vier Jäger. Die Schießschartenwaren dunkel, der Verschlag wirkte leer und verlassen. Okay, dachte er. OkayVermutlich ist er nicht da drin. Aber trotzdem.
Schwer atmend zog Ed Schaeffer seine Waffe, was er seit fast anderthalb Jahrennicht mehr getan hatte. Er hielt den Revolver mit schweißnasser Hand und rücktevor, ließ den Blick fortwährend vom Unterstand zum Boden wandern, bedachtejeden Schritt und achtete darauf, dass er sich so lautlos wie möglich näherte.
Hat der Junge eine Schusswaffe?, fragte er sich, als ihm klar wurde, dass erhier so ungedeckt war wie ein Soldat auf freiem Feld. Er stellte sich vor, dassin den Schießscharten da vorn jeden Moment ein Gewehrlauf auftauchen könnte,der auf ihn gerichtet war. Es wurde ihm mulmig zu Mute. Tief geduckt rannte erdie letzten fünf Meter, bis er neben der Hütte war. Er drückte sich an dasverwitterte Holz, rang mühsam nach Atem und lauschte eine ganze Weile. Drinnenwar nichts zu hören, nur das leise Summen von irgendwelchen Insekten.
Okay, sagte er sich. Schau dich um.
Ed raffte sich auf, ehe ihn der Mut verließ, und blickte durch eineSchießscharte.
Niemand da.
Dann schielte er auf den Boden. Er grinste über das ganze Gesicht, als er sah,was dort lag. »Jesse«, rief er aufgeregt in sein Funkgerät.
»Was is?«
»Ich bin bei einem Unterstand, etwa fünfhundert Meter nördlich vom Fluss. Ichglaub, der Junge hat hier übernachtet. Da drin liegen ein paar leereLebensmittelpackungen und Wasserflaschen. Außerdem eine Rolle Klebeband. Undrat mal, was noch? Eine Landkarte.«
»Eine Karte?«
»Genau. Anscheinend von der Gegend hier. Vielleicht finden wir dadurch raus, woer Mary Beth hingebracht hat. Was hältst du davon?«
Aber Ed Schaeffer erfuhr nicht mehr, was sein Kollege zu diesem Fahndungserfolgzu sagen hatte. Der Schrei einer Frau schrillte durch den Wald, und Jesse CornsFunkgerät verstummte.
Lydia Johansson torkelte zurück und schrie erneut auf, als der Junge aus demhohen Schilf sprang und sie mit grobem Griff an den Armen packte.
»Ach du lieber Gott, bitte tu mir nichts!«, bettelte sie.
»Halt's Maul«, fauchte er sie leise an, schaute sich hektisch um, warf ihreinen bösen Blick zu. Er war groß und schlaksig, wie fast alle Jungs in diesenkleinen Städten in Carolina, und er war stark. Seine Haut war rot undverquollen - allem Anschein nach war er in Giftsumach geraten -, und die kurzenstoppeligen Haare sahen aus, als hätte er sie selbst geschnitten.
»Ich hab bloß Blumen hergebracht das ist alles! Ich hab nicht -«
»Schscht«, murmelte der Junge.
Aber gleichzeitig grub er seine langen, schmutzigen Nägel schmerzhaft in ihrenArm, und Lydia schrie erneut auf. Wütend presste er ihr die Hand auf den Mund.Sie spürte, wie er sich an sie drückte, nahm den säuerlich abgestandenenSchweißgeruch wahr, den er ausströmte.
Sie wandte den Kopf ab. »Du tust mir weh!«, sagte sie mit weinerlicher Stimme.
»Halt den Mund!« Seine Stimme schnappte über, und Speicheltropfen flogen ihrins Gesicht. Er schüttelte sie wütend wie einen ungehorsamen Hund. Er verlorbei dem Gerangel einen seiner Turnschuhe, aber er achtete nicht darauf, sondernhielt ihr wieder den Mund zu, bis sie sich nicht mehr wehrte.
»Lydia? Wo bist du?«, rief Jesse Corn oben von der Straße aus.
»Schscht«, warnte der Junge sie erneut und sah sie mit weit aufgerissenen Augenund irrem Blick an. »Wenn du schreist, tu ich dir richtig weh. Verstanden? Hastdu verstanden?« Er griff in seine Hosentasche und zeigte ihr ein Messer.
Sie nickte.
Er zog sie zum Fluss.
Nein, nicht dorthin. Bitte nicht, flehte sie ihren Schutzengel an. Lass nichtzu, dass er mich dort hinbringt.
Nördlich des Paquo
Lydia blickte zurück und sah Jesse Corn, der knapp hundert Meter weiter hintenam Straßenrand stand, mit einer Hand die Augen vor der tief stehenden Sonne abschirmteund Ausschau hielt. »Lydia?«, rief er.
Der Junge zerrte sie weiter. »Herrgott, komm schon!«
»Hey!«, schrie Jesse, als er sie endlich sah, und lief die Böschung hinab.
Aber sie waren bereits am Flussufer, wo der Junge einen kleinen Kahn unterSchilf und Gras versteckt hatte. Er schubste Lydia in das Boot und stieß ab,legte sich in die Riemen und ruderte zum anderen Ufer. Er legte an und zerrtesie heraus. Dann schleifte er sie in den Wald.
»Wo willst du hin?«, flüsterte sie.
»Zu Mary Beth. Ich bring dich zu ihr.«
»Wieso?«, wisperte Lydia schluchzend. »Wieso mich?«
Aber er sagte nichts mehr, schnipste nur geistesabwesend mit den Fingernägelnund zog sie mit sich.
»Ed«, meldete sich Jesse Corn über Funk. Er klang verzweifelt. »Er hat Lydia.Er ist mir entwischt.«
»Er hat was?« Keuchend vor Anstrengung, blieb Ed Schaeffer stehen. Er war inRichtung Fluss gerannt, als er den Schrei gehört hatte.
»Lydia Johansson. Sie hat er jetzt auch.«
»Scheiße«, grummelte der schwergewichtige Deputy, der normalerweise ebensoselten fluchte, wie er die Schusswaffe zog. »Warum macht er das?«
»Er spinnt«, sagte Jesse. »Deswegen. Er is über den Fluss und in deine Richtungunterwegs.«
»Okay.« Ed dachte einen Moment lang nach. »Er kommt vermutlich hierher zurück,um das Zeug aus dem Unterstand zu holen. Ich versteck mich drin und schnapp ihnmir, wenn er reinkommt. Hat er eine Knarre?«
»Konnte ich nicht sehen.«
Ed seufzte. »Okay, na schön Komm rüber, so schnell du kannst. Sag auch JimBescheid.«
»Schon passiert.«
Ed ließ die Sendetaste los und blickte durch das Unterholz in Richtung Fluss.Nirgendwo eine Spur von dem Jungen und seinem neuen Opfer. Keuchend rannte Edzurück zum Unterstand und trat gegen die Tür. Krachend flog sie nach innen auf,und Ed stürmte hinein und kauerte sich vor die Schießscharte.
Er war so aufgeregt und angespannt, so damit beschäftigt, wie er sich denJungen schnappen wollte, wenn er herkam, dass er zuerst gar nicht auf die zwei,drei kleinen, gelbschwarzen Tupfen achtete, die vor seinem Gesicht hin und herschossen. Oder auf das Kribbeln, das am Nacken einsetzte und sich am Rückgratentlang nach unten ausbreitete.
Doch dann schlug das Kribbeln in grellen, glühenden Schmerz um, auf denSchultern, entlang der Arme und darunter. »O Gott«, schrie er, sprang hoch undstarrte entsetzt auf die schwärmenden Insekten - wild gewordene Hornissen -,die über ihn herfielen. Panisch versuchte er sie abzustreifen, aber damitreizte er die Tiere nur noch mehr. Sie stachen ihn in die Unterarme, in dieHände, in die Fingerspitzen. Er schrie gellend. Es war der schlimmste Schmerz,den er je erlebt hatte - schlimmer als ein Beinbruch, schlimmer als dieVerbrennungen, die er sich seinerzeit zugezogen hatte, als er dieschmiedeeiserne Pfanne vom Herd genommen hatte, ohne zu bemerken, dass Jane dieKochplatte angelassen hatte.
Dann wurde es dunkel in dem Unterstand, als eine Wolke Hornissen aus dem großengrauen Nest in der Ecke schwärmte, das durch die auffliegende Tür zerquetschtworden war. Zu Hunderten fielen sie über ihn her. Sie hängten sich in seineHaare, ließen sich auf seinen Armen nieder, in seinen Ohren, krabbelten untersein Hemd und in die Hosenbeine, als ob sie wüssten, dass es sinnlos war, durchdie Kleidung zu stechen, und die bloße Haut suchten. Er stürmte zur Tür, rissdas kurzärmlige Uniformhemd herunter und sah voller Entsetzen, dass sich Massenvon glänzenden Leibern an seine Brust, seinen Bauch klammerten. Er versuchtegar nicht mehr, sie abzustreifen, sondern rannte einfach los, in den Waldhinein.
»Jesse, Jesse, Jesse!«, schrie er, bis ihm klar wurde, dass er nur ein Flüsternhervorbrachte, dass seine Kehle wegen der Stiche an seinem Hals wie zugeschnürtwar.
Lauf, sagte er sich. Lauf zum Fluss.
Und er rannte los. Er rannte so schnell, wie er in seinem ganzen Leben nochnicht gerannt war, brach mit weit ausholenden Schritten durch den Wald. Weiterlauf weiter, befahl er sich. Bleib nicht stehen.
© Blanvalet
Übersetzung: Hans-Peter Kraft
Autoren-Porträt von Jeffery Deaver
Jeffery Deaver gilt als einer der weltweit besten Autorenintelligenter psychologischer Thriller. Seit dem ersten großen Erfolg alsSchriftsteller hat er sich aus seinem Beruf als Rechtsanwalt zurückgezogen undlebt nun abwechselnd in Virginia und Kalifornien. Seine Bücher wurden in 12Sprachen übersetzt und haben ihm bereits zahlreiche renommierte Auszeichnungeneingebracht.
Die kongeniale Verfilmung seines Romans Die Assistentin" unter dem Titel DerKnochenjäger" (mit Denzel Washington und Angelina Joliein den Hauptrollen) war weltweit ein sensationeller Kinoerfolg und hat demfaszinierenden Ermittler- und Liebespaar Lincoln Rhymeund Amelia Sachs eine riesige Fangemeinde erobert.
- Autor: Jeffery Deaver
- 2003, 6. Aufl., 476 Seiten, Maße: 11,5 x 18,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Hans-Peter Kraft
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442359058
- ISBN-13: 9783442359059
- Erscheinungsdatum: 01.05.2003
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