Linie 14 - letzte Reihe - ich
Kann ein Linienbus ein Zuhause sein? Können endlose Zahlenreihen zu einem Betäubungsmittel werden? Kann man die Zeit zurückdrehen, wenn man nur genug Erinnerungen anhäuft?
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Linie 14 - letzte Reihe - ich “
Kann ein Linienbus ein Zuhause sein? Können endlose Zahlenreihen zu einem Betäubungsmittel werden? Kann man die Zeit zurückdrehen, wenn man nur genug Erinnerungen anhäuft?
Klappentext zu „Linie 14 - letzte Reihe - ich “
Die Erzählungen in diesem Buch handeln von Menschen, in deren Leben es viele Fragen gibt, viele Unsicherheiten, viele große und kleine Wunden. Sie verstricken sich in Vergangenem oder kämpfen verbissen gegen das Heute an. Oft genug haben sie ihrem Leben nichts entgegen zu setzen. Auf manche von ihnen wartet ein Ausweg, auf manche ein Abgrund - und auf manche nur die nächste Haltestelle.
Lese-Probe zu „Linie 14 - letzte Reihe - ich “
Linie 14- letzte Reihe- ich von Nadine d'Arachart und Sarah WedlerDie Nachmittage vergehen am langsamsten, weil man sie nicht klar umreißen kann. Wann beginnt ein Nachmittag? Wann geht er in den Abend über? Den Sonnenuntergang kann er von hier aus nicht sehen, der findet auf der anderen Seite statt, zur Bucht hin gelegen. Dass die Tage enden, merkt er nur daran, dass die Grautöne im Hof einander ablösen. Er kann keinen davon benennen, doch er kennt sie alle, als wären sie alte Freunde. Auch die Wände hier sind ihm Vertraute geworden. Das zu kurze Bett, das kalkige Wasser, die zerteilten Schatten an der Wand. Sogar der sabbernde Verrückte von gegenüber. Sein Gebrabbel ist wie ein Werbejingle, der immer wiederkehrt und einem zeigt, dass alles seinen gewohnten Gang geht.
»Ist doch sinnlos, dein Gekritzel. Verstehst du, Kumpel? Macht gar keinen Sinn.«
Wenn er ihm sagt, dass er die Klappe halten soll, tut er es fast liebevoll. Über die Jahre lernt man selbst die schlechtesten Nachbarn zu schätzen, weil schlechte Nachbarn immer noch besser sind als gar keine.
Um 18 Uhr kommt das Abendessen. Das Abendessen ist der Höhepunkt des Tages. Das Füllen des Magens als Ersatz für Freiheit, für Liebe, für Spaß und selbst für Rausch. Für das Abendessen legt er Stift und Papier aus der Hand, konzentriert sich nur auf die Mahlzeit, auf jeden Bissen, jede Geschmacksnuance. Durch den ganzen Korridor schallt das Klappern und Scheppern von Besteck. Schließt man einen Moment die Augen, kann man sich vorstellen, man sei nicht hier, sondern vielleicht in einem Restaurant. Vielleicht im Urlaub.
Nicht mehr lange, sagt er sich. Du kannst schon die Stunden zählen.
... mehr
Aufs Essen folgt die große Stille. Alle sind satt und müde. Er weiß nicht, ob sie in den anderen Zimmern auch aus den Fenstern starren, doch er stellt es sich so vor. Das Starren hilft, sich wegzudenken und an diesem Ort ist es wichtig, sich wegdenken zu können. Mit den Jahren gewinnt man Übung darin, man lässt die Unruhe hinter sich und hört auf, sich wie ein eingesperrtes Tier zu fühlen. Man spinnt sich Legenden zurecht, macht sich selbst zum Helden im eigenen Film. Freiheitskämpfer, Ritter, Verfolgter. Alles ist möglich im Kopf, nur die Wahrheit wird ausgesperrt.
Ein paar Minuten Träumerei gönnt er sich, wissend, dass es das letzte Mal ist. Dann setzt er sich träge auf, nimmt Block und Stift zur Hand und macht sich wieder ans Schreiben. Der Block ist zerfleddert, die Ecken der Blätter sind verknickt und rascheln bei jedem Auf- und Zuschlagen wie Herbstlaub.
Es ist nicht der erste Block, den er für diesen Brief verbraucht. Es ist nicht der erste Tag, der fast komplett für diesen Brief draufgeht. Er hat vor langer Zeit mit dem Schreiben begonnen, gleich nachdem er sich Papier und einen Stift erkämpft hatte. Gleich nachdem er die Wärter davon hatte überzeugen können, dass er sich den Stift weder in die Kehle noch in die Brust rammen noch sich damit die Pulsadern aufritzen würde. Es gab Männer hier, die hatten dergleichen getan. Seltsame Auswüchse waren das, von Langeweile, von Müdigkeit, von Verzweiflung, Reue, oder auch dem Gegenteil von Reue - wie auch immer das heißen mochte.
Er aber braucht den Stift nur für seinen Brief an Mary.
Um 20 Uhr schalten sie das Licht aus. Jeden Tag, sommers wie winters. Auf dem Gang marschieren sie auf und ab und schauen durch die Luken in den Türen, die gerade mal breit genug für zwei flache Hände sind. Wenn man duschen darf (einmal die Woche), seinen Anwalt trifft (anfangs selten, später gar nicht mehr) oder Besuch bekommt (in seinem Fall nie), legen sie einem durch diesen Schlitz in der Tür die Handschellen an. Hinterrücks. Erst dann kommen sie rein. Sie haben Angst, dabei sind sie die mit den Schlagstöcken, den Pfeffersprays und den Knarren. Das Gefährlichste, was man hier drinnen, auf der anderen Seite der Tür, haben kann, ist ein Stift.
Er atmet schwer durch, legt sein Schreibzeug weg und sich selber ins Bett. Schlafkleidung gibt es hier nicht. Hier gibt es nur Kleidung. Hier gibt es nur Dinge, die einem zeigen, wie wertlos man ist. Wie wertlos man sich gemacht hat. Er fragt sich, ob er sich wieder wertvoll machen kann, wenn er erst hier weg ist. Ob es dazu noch einen Weg für ihn gibt. Er stellt sich vor, wie es sein wird, die Zelle hinter sich zu lassen und zu wissen, dass er nie mehr zurückkehren muss. Er fragt sich, was Mary sagen wird ... Mit dem Gedanken an sie schläft er ein.
Das Frühstück ist nur ein kleiner Tageshöhepunkt, aber heute ist es ein großer, denn er weiß, dass es das Letzte ist. Er fragt sich, was er morgen frühstücken wird. Und ob überhaupt. Nach dem Essen nimmt er Block und Stift zur Hand. Er ist fast fertig. Er wird noch fertig werden, bis er gehen darf. Er stellt sich vor, wie er Mary den Brief gibt, einen Berg aus Papier, in dem sie ertrinken könnte. Wenn sie es lesen würde, würde sie ihn zweifellos verstehen. Alles, was er getan hat. Alles was er je falsch gemacht hat. Er schiebt den Gedanken fort. Er weiß längst, dass er den Brief hier lassen und dass Mary ihn nie zu Gesicht bekommen wird.
Mary. Viel zu oft denkt er an ihren letzten, bittersüßen Sommer. Kaum zu glauben, dass diese schweißverschwommenen Monate, die er noch so genau vor Augen hat - die er noch spüren, riechen und schmecken kann - schon so lange her sind. Kaum zu glauben, welchen Lauf die Dinge genommen haben. Wie er von sich selbst überrumpelt worden ist.
»Zeit, dass du fertig wirst, Kumpel ... Zeit, dass dein Gekritzel ein Ende nimmt ...«
»Halt die Klappe, Dave.« Er fragt sich, ob er diesen Satz vermissen wird, der so selbstverständlich wie Atmen geworden ist.
Am Anfang war er sauer auf die Wärter, die sich auf dem Flur über seine Schreiberei lustig machten. Hätten sie das nicht gemacht, hätte Dave nie erfahren, was er hier tat. Dann hätten die anderen ihn nicht »den Poet« und »Edgar Allen Poe« nennen können, wann immer er durch den Gang geführt wurde. Spott hatte ihn schon immer wütend gemacht. Egal. Wenn er heute durch den Gang geführt werden wird, wird er wissen, dass er ihnen allen etwas voraus hat. Dass er die schmutzige, kleine Zelle nie wieder sehen muss.
Das Essen kommt pünktlich und dampfend heiß. Es wird heute
anders serviert als sonst. Behutsamer.
»Mister Jackson. In 30 Minuten ist es soweit. Ihre Mahlzeit.«
Er blickt auf und entdeckt erst jetzt die gefüllten Teller, die seinen Tisch bedecken. Hühnchen und Maisbrot, Kartoffelecken und Vanillepudding. Dazu zwei Dosen Coca-Cola. Genau, wie er es bestellt hatte.
»Ich schreibe nur noch diesen Absatz zu Ende.«
Sie sind pünktlich. Er ist gerade mit dem Schreiben fertig, als sie ihn abholen. Zum Essen ist er nicht mehr gekommen. Am Schluss sind ihm einfach noch so viele Dinge eingefallen. So Vieles, das ungesagt war.
»Eigentlich habe ich diesen Brief für meine Frau geschrieben. Aber ich denke, ich lasse ihn hier. Ich werde ihr das wohl besser alles selbst erklären.«
»Mister Jackson. Wir wissen doch beide, dass Ihre Frau nicht mehr lebt.«
Dave aus der Zelle gegenüber lacht meckernd in sich hinein. »Hast ihr den Garaus gemacht! Den Garaus!«
Er verlässt die Zelle, ohne sich noch einmal umzudrehen. Auch heute sind seine Hände hinter dem Rücken gefesselt. Doch heute ruft ihm niemand etwas hinterher. Es wäre ihm egal gewesen. Mary, denkt er. Ich komme endlich nach Hause.
© Copyright Projektverlag Bochum/Freiburg 2013
Aufs Essen folgt die große Stille. Alle sind satt und müde. Er weiß nicht, ob sie in den anderen Zimmern auch aus den Fenstern starren, doch er stellt es sich so vor. Das Starren hilft, sich wegzudenken und an diesem Ort ist es wichtig, sich wegdenken zu können. Mit den Jahren gewinnt man Übung darin, man lässt die Unruhe hinter sich und hört auf, sich wie ein eingesperrtes Tier zu fühlen. Man spinnt sich Legenden zurecht, macht sich selbst zum Helden im eigenen Film. Freiheitskämpfer, Ritter, Verfolgter. Alles ist möglich im Kopf, nur die Wahrheit wird ausgesperrt.
Ein paar Minuten Träumerei gönnt er sich, wissend, dass es das letzte Mal ist. Dann setzt er sich träge auf, nimmt Block und Stift zur Hand und macht sich wieder ans Schreiben. Der Block ist zerfleddert, die Ecken der Blätter sind verknickt und rascheln bei jedem Auf- und Zuschlagen wie Herbstlaub.
Es ist nicht der erste Block, den er für diesen Brief verbraucht. Es ist nicht der erste Tag, der fast komplett für diesen Brief draufgeht. Er hat vor langer Zeit mit dem Schreiben begonnen, gleich nachdem er sich Papier und einen Stift erkämpft hatte. Gleich nachdem er die Wärter davon hatte überzeugen können, dass er sich den Stift weder in die Kehle noch in die Brust rammen noch sich damit die Pulsadern aufritzen würde. Es gab Männer hier, die hatten dergleichen getan. Seltsame Auswüchse waren das, von Langeweile, von Müdigkeit, von Verzweiflung, Reue, oder auch dem Gegenteil von Reue - wie auch immer das heißen mochte.
Er aber braucht den Stift nur für seinen Brief an Mary.
Um 20 Uhr schalten sie das Licht aus. Jeden Tag, sommers wie winters. Auf dem Gang marschieren sie auf und ab und schauen durch die Luken in den Türen, die gerade mal breit genug für zwei flache Hände sind. Wenn man duschen darf (einmal die Woche), seinen Anwalt trifft (anfangs selten, später gar nicht mehr) oder Besuch bekommt (in seinem Fall nie), legen sie einem durch diesen Schlitz in der Tür die Handschellen an. Hinterrücks. Erst dann kommen sie rein. Sie haben Angst, dabei sind sie die mit den Schlagstöcken, den Pfeffersprays und den Knarren. Das Gefährlichste, was man hier drinnen, auf der anderen Seite der Tür, haben kann, ist ein Stift.
Er atmet schwer durch, legt sein Schreibzeug weg und sich selber ins Bett. Schlafkleidung gibt es hier nicht. Hier gibt es nur Kleidung. Hier gibt es nur Dinge, die einem zeigen, wie wertlos man ist. Wie wertlos man sich gemacht hat. Er fragt sich, ob er sich wieder wertvoll machen kann, wenn er erst hier weg ist. Ob es dazu noch einen Weg für ihn gibt. Er stellt sich vor, wie es sein wird, die Zelle hinter sich zu lassen und zu wissen, dass er nie mehr zurückkehren muss. Er fragt sich, was Mary sagen wird ... Mit dem Gedanken an sie schläft er ein.
Das Frühstück ist nur ein kleiner Tageshöhepunkt, aber heute ist es ein großer, denn er weiß, dass es das Letzte ist. Er fragt sich, was er morgen frühstücken wird. Und ob überhaupt. Nach dem Essen nimmt er Block und Stift zur Hand. Er ist fast fertig. Er wird noch fertig werden, bis er gehen darf. Er stellt sich vor, wie er Mary den Brief gibt, einen Berg aus Papier, in dem sie ertrinken könnte. Wenn sie es lesen würde, würde sie ihn zweifellos verstehen. Alles, was er getan hat. Alles was er je falsch gemacht hat. Er schiebt den Gedanken fort. Er weiß längst, dass er den Brief hier lassen und dass Mary ihn nie zu Gesicht bekommen wird.
Mary. Viel zu oft denkt er an ihren letzten, bittersüßen Sommer. Kaum zu glauben, dass diese schweißverschwommenen Monate, die er noch so genau vor Augen hat - die er noch spüren, riechen und schmecken kann - schon so lange her sind. Kaum zu glauben, welchen Lauf die Dinge genommen haben. Wie er von sich selbst überrumpelt worden ist.
»Zeit, dass du fertig wirst, Kumpel ... Zeit, dass dein Gekritzel ein Ende nimmt ...«
»Halt die Klappe, Dave.« Er fragt sich, ob er diesen Satz vermissen wird, der so selbstverständlich wie Atmen geworden ist.
Am Anfang war er sauer auf die Wärter, die sich auf dem Flur über seine Schreiberei lustig machten. Hätten sie das nicht gemacht, hätte Dave nie erfahren, was er hier tat. Dann hätten die anderen ihn nicht »den Poet« und »Edgar Allen Poe« nennen können, wann immer er durch den Gang geführt wurde. Spott hatte ihn schon immer wütend gemacht. Egal. Wenn er heute durch den Gang geführt werden wird, wird er wissen, dass er ihnen allen etwas voraus hat. Dass er die schmutzige, kleine Zelle nie wieder sehen muss.
Das Essen kommt pünktlich und dampfend heiß. Es wird heute
anders serviert als sonst. Behutsamer.
»Mister Jackson. In 30 Minuten ist es soweit. Ihre Mahlzeit.«
Er blickt auf und entdeckt erst jetzt die gefüllten Teller, die seinen Tisch bedecken. Hühnchen und Maisbrot, Kartoffelecken und Vanillepudding. Dazu zwei Dosen Coca-Cola. Genau, wie er es bestellt hatte.
»Ich schreibe nur noch diesen Absatz zu Ende.«
Sie sind pünktlich. Er ist gerade mit dem Schreiben fertig, als sie ihn abholen. Zum Essen ist er nicht mehr gekommen. Am Schluss sind ihm einfach noch so viele Dinge eingefallen. So Vieles, das ungesagt war.
»Eigentlich habe ich diesen Brief für meine Frau geschrieben. Aber ich denke, ich lasse ihn hier. Ich werde ihr das wohl besser alles selbst erklären.«
»Mister Jackson. Wir wissen doch beide, dass Ihre Frau nicht mehr lebt.«
Dave aus der Zelle gegenüber lacht meckernd in sich hinein. »Hast ihr den Garaus gemacht! Den Garaus!«
Er verlässt die Zelle, ohne sich noch einmal umzudrehen. Auch heute sind seine Hände hinter dem Rücken gefesselt. Doch heute ruft ihm niemand etwas hinterher. Es wäre ihm egal gewesen. Mary, denkt er. Ich komme endlich nach Hause.
© Copyright Projektverlag Bochum/Freiburg 2013
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Autoren-Porträt von Nadine d' Arachart, Sarah Wedler
Nadine d'Arachart und Sarah Wedler, geboren 1985 und 1986 in Hattingen, schreiben seit mehr als zehn Jahren gemeinsam. Neben zahlreichen Veröffentlichungen in Anthologien und Jahrbüchern erhielten sie verschiedene Preise für ihre Kurzgeschichten und Drehbuchideen. 2011 nahmen sie am Finale des open mike Berlin teil. Zuletzt wurden sie im November 2012 mit dem Förderpreis zum Literaturpreis Ruhr ausgezeichnet. Ihr erster Krimi "Die Muse des Mörders" ist im Frühjahr 2012 erschienen. Ihr zweites Buch, der Thriller "Abgründe" wurde im April 2012 als E-Book veröffentlicht.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Nadine d' Arachart , Sarah Wedler
- 2015, 117 Seiten, Maße: 15,1 x 21,1 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Projekt, Bochum
- ISBN-10: 3897332825
- ISBN-13: 9783897332829
- Erscheinungsdatum: 15.03.2013
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