Lipska, A: Sündenfall
Schlafende Geister soll man nicht wecken ...
Die junge Londoner Polizistin Natalie Kershaw steht vor ihrem ersten Mordfall, als eine Frauenleiche aus der Themse geborgen wird. Und es bleibt nicht bei einem Opfer. Gleichzeitig wird der polnische...
Die junge Londoner Polizistin Natalie Kershaw steht vor ihrem ersten Mordfall, als eine Frauenleiche aus der Themse geborgen wird. Und es bleibt nicht bei einem Opfer. Gleichzeitig wird der polnische...
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Produktinformationen zu „Lipska, A: Sündenfall “
Schlafende Geister soll man nicht wecken ...
Die junge Londoner Polizistin Natalie Kershaw steht vor ihrem ersten Mordfall, als eine Frauenleiche aus der Themse geborgen wird. Und es bleibt nicht bei einem Opfer. Gleichzeitig wird der polnische Privatdetektiv Janusz Kiszka gebeten, eine verschwundene, junge Kellnerin zu suchen. Schnell muss er feststellen, dass dies kein gewöhnlicher Vermisstenfall ist. Zeugen verschwinden und werden grausam ermordet. Als im Mund eines weiteren Mordopfers Janusz' Visitenkarte gefunden wird, erkennt er, dass er einen mächtigen, zu allem entschlossenen Gegner herausgefordert hat ...
Die junge Londoner Polizistin Natalie Kershaw steht vor ihrem ersten Mordfall, als eine Frauenleiche aus der Themse geborgen wird. Und es bleibt nicht bei einem Opfer. Gleichzeitig wird der polnische Privatdetektiv Janusz Kiszka gebeten, eine verschwundene, junge Kellnerin zu suchen. Schnell muss er feststellen, dass dies kein gewöhnlicher Vermisstenfall ist. Zeugen verschwinden und werden grausam ermordet. Als im Mund eines weiteren Mordopfers Janusz' Visitenkarte gefunden wird, erkennt er, dass er einen mächtigen, zu allem entschlossenen Gegner herausgefordert hat ...
Klappentext zu „Lipska, A: Sündenfall “
Schlafende Geister soll man nicht wecken ...Die junge Londoner Polizistin Natalie Kershaw steht vor ihrem ersten Mordfall, als eine Frauenleiche aus der Themse geborgen wird. Und es bleibt nicht bei einem Opfer. Gleichzeitig wird der polnische Privatdetektiv Janusz Kiszka gebeten, eine verschwundene, junge Kellnerin zu suchen. Schnell muss er feststellen, dass dies kein gewöhnlicher Vermisstenfall ist. Zeugen verschwinden und werden grausam ermordet. Als im Mund eines weiteren Mordopfers Janusz Visitenkarte gefunden wird, erkennt er, dass er einen mächtigen, zu allem entschlossenen Gegner herausgefordert hat ...
Lese-Probe zu „Lipska, A: Sündenfall “
Sündenfall von Anya LipskaPROLOG
Wenn ich es bis zur untersten Stufe schaffe, komme ich vielleicht ans Treppengeländer und kann mich mit dem heilen Arm hochziehen. Meine Beine lassen sich nicht bewegen. Ich muss mir beim Fallen den Rücken gebrochen haben.
Ich wusste, was ich riskierte, als ich dem Jungen sagte, wer ich bin. Mir war klar, dass er mich dann vielleicht umbringen würde. Aber es ging nicht anders. Wie sonst hätte ich ihn darauf hinweisen sollen, dass wir einen gemeinsamen Freund haben? Zuerst hat er mir nicht geglaubt und konnte sich auch nicht an mein Gesicht erinnern. Also musste ich laut werden und ihm regelrecht entgegenschreien, was wir damals mit ihm gemacht haben - unfassbar, wie vergesslich die Leute sein können!
Es wirkte. Etwas an seinem Blick veränderte sich.
Ich wollte ihm erklären, es täte mir zwar leid, dass er ein solches Opfer habe bringen müssen, aber schließlich seien es gefährliche Zeiten für unser Land gewesen. Wenn wir weich geworden wären, nun, dann wären wieder Panzer durch die Straßen gerollt - nur diesmal nicht unsere eigenen.
Allerdings sah er das anders. Und so landete ich in einer Lache meiner eigenen Pisse auf dem Kellerboden.
Doch das war es wert. Der Junge las das Dokument. Er will Rache. Das sah ich in seinen Augen. Und das heißt, dass ich auch meine kriege.
Wenn ich es nur bis zur untersten Stufe schaffe.
EINS
Janusz knallte den jungen Mann mit so viel Wucht gegen die frisch verputzte und gestrichene Wand der Wohnung, dass er die Leitungen knacken hörte. Dann drehte er dem Nichtsnutz den Kragen seines Sweatshirts am Hals zusammen.
... mehr
»Ehrenwort, Janusz!« - wieder ein Stoß. »Tut mir leid, Pan Kiszka. Der Bauunternehmer hat mich noch nicht bezahlt, aber in zwei Tagen kriege ich einen Tausender. Das schwöre ich bei den Wundmalen Christi.«
Als Janusz innehielt, um Luft zu holen, und die freie Hand gegen die Wand stützte, erkannte er sein Spiegelbild in der dreifach verglasten Fensterscheibe neben Slaweks Schulter. Er sah einen kräftigen, noch verhältnismäßig jungen Mann, breitschultrig, muskulös und mit einem markanten Kiefer - allerdings schon mit den unverkennbaren ersten Anzeichen gebeugter Schultern und einem Grauschleier im dichten, dunklen Haar. Naprawde, allmählich wurde er zu alt für solche Sachen.
Vorsichtig streckte er die Wirbelsäule, hielt Slaweks Kragen aber weiterhin fest umklammert. Dabei blickte er sich im Raum um, eine frisch renovierte, »luxuriöse« Einzimmerwohnung in einem Hochhaus, mit Blick auf die Mondlandschaft der Baustelle, wo gerade das Olympiagelände entstand. Fenster vom Boden bis zur Decke rahmten das schwarze Skelett des halb fertigen Stadions ein, das, bewacht von Kränen, wie eine riesige Teetasse siebzehn Stockwerke unter ihnen ruhte. Wenn das Haus erst fertig war, würde allein die Aussicht den saftigen Preis noch um zusätzliche vierzig- oder fünfzigtausend in die Höhe treiben.
Nicht zu fassen. Nach dem zu urteilen, was er bis jetzt von Stratford kannte - und das war, weil inzwischen eine ganze Menge Polen auf der Olympiabaustelle arbeiteten, viel zu viel für seinen Geschmack -, fand er es einfach nur scheußlich hier. Da die deutsche Luftwaffe die Gegend, zusammen mit dem Großteil des East End, im Krieg plattgemacht hatte, hatten die damaligen Stadtplaner beschlossen, den Ortskern neu zu gestalten - und zwar in Form eines aus Beton gegossenen Einkaufszentrums in der Mitte eines riesigen, dreispurigen Kreisverkehrs. Das Ergebnis erinnerte Janusz an den Schrott, mit dem die Kommunisten in den Fünfzigern und Sechzigern halb Polen zugepflastert hatten.
Slawek war zwei Wochen mit den Zahlungen im Rückstand und laberte wie immer nichts als Mist. Der Bohrhammer, den Janusz ihm vor über einem Monat geliefert hatte, lehnte - noch immer mit der Aufschrift »Eigentum des Transportministeriums « versehen - an dem gewaltigen, cremefarbenen Smeg im amerikanischen Stil. Janusz wusste, dass dem Kühlschrank ebenso wie den übrigen funkelnden Küchengeräten die Seriennummer des Herstellers fehlte, denn er hatte sie selbst vor der Übergabe mit dem Dreieckschleifer entfernt.
»Je schneller ich mit dem Auftrag durch bin, desto früher werde ich bezahlt - und dann kriegst du deine Kohle«, nutzte der junge Mann die Waffenruhe aus.
Janusz hatte genügend Jahre seiner Jugend auf Baustellen verbracht, um zu erkennen, dass hier trotz des oberflächlichen Glanzes gepfuscht worden war. Er hätte sich damals einen Satz heiße Ohren eingefangen, wenn er so schlampig verputzt oder für die Dunstabzugshaube keine verzinkten Schrauben verwendet hätte, denn diese hier würden rosten, sobald sie mit den ersten Küchendämpfen in Berührung kamen. Trotzdem schien die Wohnung fast fertig zu sein. Er seufzte. Sosehr er das Geld auch brauchte, er musste zugeben, dass Slaweks Einwand etwas für sich hatte.
Also schubste er ihn noch einmal halbherzig gegen die Wand. »Slawek, du bist ein fauler Wichser.« Allerdings bemerkte Slawek, dass sich der Tonfall des kräftigen Mannes verändert hatte, und wirklich ließ dieser ihn im nächsten Moment mit einer angewiderten Geste los.
»Noch eine Woche. Wenn du mich dann wieder verarschst, müssen dir die Docs den Bohrer aus dem Hintern ziehen.«
»Tak, tak. Ich weiß das wirklich zu schätzen, Pan Kiszka.« Slawek machte beinahe Luftsprünge, als er Janusz zur Tür folgte. »Kann ich vielleicht etwas für Sie tun? Als Dankeschön?«
Janusz lachte brüllend auf. »Dich würde ich nicht mal ein Katzentürchen einbauen lassen!«, erwiderte er, über die Schulter gewandt. Slaweks letztes Renovierungsprojekt, ein dreigeschossiges georgianisches Stadthaus in Notting Hill, war in polnischen Kreisen inzwischen zur Legende geworden: Er hatte eine tragende Wand eingerissen und auf diese Weise den ersten georgianischen Bungalow des Bezirks geschaffen. Die Behörden - ganz zu schweigen vom Kunden, einem ziemlich unzufriedenen russischen Milliardär - suchten noch immer nach ihm. Slawek verzog empört das Gesicht.
»Ein Fehler macht noch keinen schlechten Bauarbeiter«, rief er den Flur hinunter, während sich die Aufzugtüren hinter Janusz schlossen.
Drei Stockwerke tiefer stieg eine Gruppe lachender junger Männer mit Werkzeugen und Farbeimern zu. Janusz sah, dass sie alle ultrakurze Haare hatten, ein Zeichen für den kürzlich abgeleisteten Militärdienst. Viele junge Polen gingen noch freiwillig zum Militär, obwohl die Wehrpflicht im vergangenen Jahr abgeschafft worden war.
Beim Anblick des älteren Mannes wurden die Jugendlichen still und nickten Janusz zu. »Dzien dobry, Panu«, begrüßten sie ihn respektvoll. Gute Jungen, dachte er, doch schon wenige Sekunden später sorgten ihr Stimmengewirr, die Enge des Aufzugs und die Wand in seinem Rücken dafür, dass sich das vertraute Angstgefühl in seiner Magengrube wieder meldete. Sein Atem wurde flach, und der Geruch nach Lösungsmitteln schien ihm die Luft aus der Lunge zu saugen.
Während der Aufzug weiterfuhr, blickte der größte der Männer Janusz grinsend an, und dieser hatte plötzlich das mulmige Gefühl, sein jüngeres Selbst vor sich zu sehen. Die noch unfertigen Züge, die schlaksigen Gliedmaßen und die leichtsinnige Zuversicht. Im nächsten Moment stand ihm ohne Vorwarnung ein anderes, noch unwillkommeneres Bild vor Augen: Izas sommersprossiges Gesicht, als sie lachend die Treppe der Universität hinunterlief. Er kniff die Augen zu und schob die anderen Erinnerungen beiseite.
Die behelmte Phalanx der ZOMO-Milizen, die durch den Schneesturm vorrückten. Das widerwärtige Klatschen der mit Blei gefüllten Knüppel auf menschliche Körper.
Inzwischen ging Janusz' Atem stoßweise. Er drückte auf den Knopf für das nächste Stockwerk und drängte sich, eine Entschuldigung murmelnd, an den überraschten Jungen vorbei zur Tür. Die restlichen fünf Stockwerke hinunter in die Vorhalle legte er im Laufschritt zurück. Draußen auf der Straße atmete er in tiefen Zügen die kühle Frühlingsluft ein.
Kurwa mac! Warum nur dieser Ansturm junger Polen, die ihn ständig an die Vergangenheit erinnerten?
»Verdammte Ausländer«, sagte er, woraufhin ihn eine alte Dame, die an der Bushaltestelle wartete, erstaunt ansah. Janusz unterdrückte ein Grinsen und nuschelte eine Entschuldigung. Während Janusz die mit Kreide auf eine Tafel geschriebene Speisekarte studierte, schnupperte er die köstlichen Düfte, die aus der Küche des Cafés heranwehten.
»Panu?«, fragte das blonde, mondgesichtige Mädchen hinter der Theke und zückte Papier und Stift.
»Ist der bigos bei euch hausgemacht oder aus der Dose?«, fragte er, worauf sie tat, als wolle sie ihm eine Kopfnuss geben. Er duckte sich grinsend und ging mit einem Glas Zitronentee - echter, nicht dieses fiese Zeug aus Pulver - zu dem einzigen freien Tisch am von Küchendünsten beschlagenen Fenster.
Das Polska Kuchnia - die Polnische Küche - befand sich zwar fast einen Kilometer von der Olympiabaustelle entfernt, war aber stets gut besucht, da sich die Bauarbeiter in ihrer zementfleckigen Arbeitskleidung hier an den schweren, sättigenden Gerichten ihrer Heimat gütlich tun konnten: pierogi, golabki, flaki. Diese Männer waren es, die die Blaupausen der Architekten Wirklichkeit werden ließen: das Stadion, das Velodrom, das olympische Dorf und die hoch aufragenden Apartmenthäuser, die rings um das zweihundert Hektar große Gelände aus dem Boden schossen.
Das junge Paar, dem das Lokal gehörte, hatte versucht, es gemütlicher einzurichten als die üblichen Imbissbuden im East End: Es gab karierte Tischdecken, bunte Brotkörbe und sogar einen Krokus in einem Marmeladenglas auf jedem Tisch. Janusz fand, dass man sich hier fast wie in einem kleinen Restaurant im Tatra-Gebirge fühlen konnte, wären die vorbeirumpelnden Lastwagen nicht gewesen.
Als das Mädchen gerade seinen Jägereintopf servierte - und er sah wirklich lecker aus, weil nicht nur das übliche Schweinefleisch und kielbasa aus dem Sauerkraut lugten, sondern auch Scheiben gebratener Ente -, flog die Tür zur Straße auf: Oskar, wie er leibte und lebte.
Der gedrungene Mann hatte schütteres Haar und eine breite Brust. Er sah sich, offenbar streitlustig, im Café um, bis er seine Opfer gefunden hatte - eine Gruppe junger Männer, die lachend und Witze reißend vor den Überresten ihrer Mahlzeit saßen. Oskar baute sich breitbeinig vor ihnen auf und ließ eine polnische Schimpfkanonade los.
»Was, im Namen der Heiligen Jungfrau, habt ihr noch hier zu suchen, ihr Hurensöhne?«, brüllte er. »Was habe ich euch gestern gepredigt? Wenn ihr noch einmal zu spät kommt, habe ich wieder den Bauunternehmer an der Strippe, der droht, mir die Eier abzureißen.«
Die Jungen sprangen so hastig auf, dass einige in ihrer Eile, die Tür zu erreichen, über die Beine ihrer Stühle stolperten. Die übrigen Gäste blickten laut lachend von ihren Tellern auf und weideten sich an dem Spektakel. Oskar war nicht mehr zu bremsen.
»Glaub bloß nicht, dass ich deine hässliche Fresse nicht gesehen habe, Karol, du Schwanzlutscher. Auch wenn deine Mama dich nach dem verdammten Papst benannt hat, Gott schenke seiner Seele Frieden« - er bekreuzigte sich, ohne Luft zu holen -, »habe ich die Granitarbeitsplatte nicht vergessen, die du auf dem Gewissen hast. Am Zahltag fick ich dich in den dupa.«
Nachdem sich der letzte Sünder gesenkten Hauptes getrollt hatte, atmete Oskar zufrieden durch. Im nächsten Moment entdeckte er Janusz, und ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Czesc, Janek!«
Janusz stand auf, um seinen Freund zu begrüßen, und hielt ihm, ohne nachzudenken, die Hand hin. Brüllend vor Lachen umarmte Oskar ihn fest und küsste ihn dreimal auf beide Wangen, ohne auf die ausgestreckte Hand zu achten. Janusz räusperte sich. Obwohl eine überschwängliche Begrüßung wie diese unter Polen üblich war, empfand er sie nach zwei Jahrzehnten in England als peinlich.
Oskar stützte die eine Hand in die Hüfte, deutete mit der anderen ein affektiertes Händeschütteln an und setzte sich. »Du bist schon zu lange in England, Kumpel. Wenn das so weitergeht, treibst du es irgendwann noch mit Kerlen!« Er kicherte über seinen eigenen Witz.
Janusz lächelte gequält. Er liebte Oskar wie einen ungeratenen kleinen Bruder, denn sie waren seit dem ersten Tag ihres Militärdienstes 1980 Freunde - doch er konnte einem auch ordentlich auf die Nerven gehen. Janusz hatte das Bild noch deutlich vor Augen. Ein regnerischer Tag hinter dem Stacheldraht von Lager 117 in der Kaschubischen Seenplatte. Die in Reih und Glied stehenden Wehrpflichtigen wirkten mit ihren frisch geschorenen Köpfen und den mindestens zwei Nummern zu großen Uniformen eher wie zerzauste Jungvögel als wie Soldaten. Er spürte, dass Wut in ihm aufstieg. Mit siebzehn hätten er und Oskar - hätten alle diese jungen Männer - voller Träume sein sollen. Doch stattdessen erwartete sie nun eine endlose, Monate dauernde Ausbildung, um der Bedrohung durch einen Einmarsch westlicher Imperialisten begegnen zu können. Und was kam danach? Kriegsrecht, Ausgangssperren und Rationierungen ... die triste Realität des Sozialismus eben.
Oskar wies mit pummeliger Hand auf den Tisch, an dem seine arbeitsscheuen Leute gesessen hatten. »Aber mal im Ernst«, sagte er. »Diese Bürschlein wissen ja nicht, was sie heutzutage für ein Luxusleben führen. Die haben keine Ahnung, wie es in den Achtzigern auf den Baustellen zuging. Zwölfstundenschichten, keine Arbeitsschutzbestimmungen. Ganz zu schweigen von einer Stunde Mittagspause. Wir hatten ja nicht einmal Zeit für einen Imbiss.«
Janusz brummte zustimmend. »Und wer auf eine Schutzbrille oder einen Gehörschutz bestand, musste sich die Dinger selbst kaufen«, fügte er hinzu und riss sich ein Stück Brot ab.
Oskar wischte mit dem Ärmel ein Guckloch in der beschlagenen Scheibe frei und beobachtete den Verkehr. »Erinnerst du dich noch an diesen chuj?«, fragte er. »Den irischen Polier auf der M25-Baustelle, der uns behandelt hat wie den letzten Dreck?«
»Meinst du vielleicht den, dem du in die Thermosflasche gepinkelt hast?«, erwiderte Janusz mit hochgezogener Augenbraue.
»Ja, genau den«, antwortete Oskar, und ein engelsgleiches Lächeln breitete sich auf seinem runden Gesicht aus.
»Himmel, Arsch und Wolkenbruch«, fügte er mit einem Blick auf Janusz' Teller hinzu. »Was isst du da für einen Mist?« Er wandte sich an das Mädchen, das gerade gekommen war, um die Bestellung entgegenzunehmen. »Ich nehme auch den bigos, Schatz. Sieht lecker aus.«
Nachdem sie fort war, verspeiste Janusz den letzten Bissen und schob seinen Teller weg. »Vielleicht ein bisschen zu viel Paprika, und die Ente war ein wenig zu gut durchgebraten. Aber nicht schlecht«, entgegnete er mit dem Nicken eines Kenners. Er zog seine Zigarrenschachtel heraus, doch als ihm die hirnverbrannten Nichtrauchergesetze einfielen, griff er stattdessen nach einem Zahnstocher.
»Hör zu, Oskar, ich will den Schnaps immer noch, aber ich habe da ein Problem. Kannst du vielleicht ein paar Wochen auf das Geld warten?«
»Lass mich raten«, entgegnete Oskar, den Mund voll köstlichem Roggenbrot. »Slawek, dieser Schwachkopf, hat dich schon wieder zum kutas gemacht.«
Er trank einen Schluck von Janusz' Zitronentee und schüttelte den Kopf. »Sechs Kisten kann ich dir vorstrecken, Kumpel, doch mehr nicht. Im Moment bin ich ein bisschen klamm.« Ein verschwörerisches Lächeln huschte über seine Lippen. »Ich habe gerade fünfhundert nach Hause geschickt, damit Madam einen neuen Wohnzimmerteppich kaufen kann.«
»Ich dachte, du sparst, weil du endgültig zurück nach Hause willst«, erwiderte Janusz. »Wenn du Gosia dein ganzes smalz für Teppiche ausgeben lässt, sitzt du für immer und ewig hier fest.«
Oskar rülpste nachdenklich. »Wie hat mein Vater immer gesagt? ›Die Frau weint vor der Hochzeit, der Mann danach.‹«
Das Mädchen stellte einen Teller mit bigos vor Oskar hin, dessen Augen sich in kindlicher Begeisterung weiteten. »Ente!«, nuschelte er, sobald er den Mund voll hatte.
Seit Janusz Oskar kannte, hatte dieser geschuftet wie ein Sklave, um Gosia und die Kinder zu ernähren. Gemeinsam hatten sie sich in den Achtzigern auf den Autobahn-Baustellen die Nächte um die Ohren geschlagen und sich in Zwölfstundenschichten kaputtgearbeitet. Doch wenn Janusz am nächsten Tag während des Berufsverkehrs noch im Bett lag, stand Oskar schon wieder auf einem Rastplatz an der A4 und verhökerte Treibhausrosen an Autofahrer auf dem Weg in den Feierabend. Selbst jetzt fand er neben seiner Stelle als Polier für eines der größten Bauunternehmen auf der Olympiabaustelle noch die Zeit für das, was er eine »Getränke-Importfirma« nannte.
Diese bestand aus einem halben Dutzend maroder Transporter, die mit der Fähre über den Ärmelkanal pendelten und Kisten mit billigem Schnaps und stangenweise Zigaretten heranschafften, um sie an Händler wie Janusz weiterzuverkaufen. Der Schnaps landete hinter den Tresen von Privatclubs, wo sich niemand an dem Aufkleber »NICHT FÜR DEN WIEDERVERKAUF « stieß, insbesondere deshalb, weil die Flaschen zusätzlich einen Vorteil verhießen: »EXPORTQUALITÄT«.
»Pass auf«, sagte Oskar mit einem spitzbübischen Funkeln in den Augen. »Wenn du knapp bei Kasse bist, kann ich dir jederzeit eine Schicht auf der Baustelle besorgen.« Er ließ die Gabel fallen, packte Janusz' Hand, drehte sie um und betrachtete die Handfläche. »Kurwa! Von der vielen Geschäftemacherei hast du Hände gekriegt wie ein Schulmädchen! Bei ehrlicher Arbeit würdest du nach fünf Minuten zusammenklappen.« Er balancierte eine mit bigos überhäufte Gabel zum Mund. »Willst du später vorbeikommen und Fußball schauen?«
»Heute kann ich nicht«, erwiderte Janusz. »Ich habe eine Karte für einen Vortrag am Royal Institute. Einer der Physiker vom CERN-Projekt.«
Oskar runzelte die Stirn. »Ist das nicht dieser riesige Doughnut aus Metall in der Schweiz - wo ständig die Sicherungen durchbrennen? «, fragte er. »Irgendwas mit dem Urknall?«
Janusz nickte - das war das Einfachste.
»Angeblich soll dem Universum ja eines Tages die Luft ausgehen«, verkündete Oskar mit einem weisen Nicken und klatschte in die Hände, um seine Worte zu unterstreichen. »Puff - bis es nur noch so groß ist wie ein Wasserball.« Ehe er seine kosmologischen Erkenntnisse weiter ausführen konnte, ging klappernd die Tür des Cafés auf, und drei magere, kurz geschorene Jugendliche kamen herein. Sie verschwanden fast unter ihren Rucksäcken. Ihre lauten Stimmen sollten zwar Selbstbewusstsein vortäuschen, doch die Art und Weise, wie das Trio zusammenrückte, bis sich ihre Schultern fast berührten, verriet die wahre Geschichte. Grünschnäbel, dachte Janusz. Gerade der Ryanair-Maschine Nummer 0830 aus Warschau entstiegen. Als der größte von ihnen Oskar bemerkte, war seine Erleichterung fast mit Händen zu greifen.
Die Jungen traten an den Tisch und begrüßten die beiden Männer höflich. Nachdem Oskar sich die fettigen Lippen abgewischt und die karierte Serviette zusammengeknüllt hatte, tippte er eine Nummer in sein Mobiltelefon.
»Czesc, Wassily, du alter Igelficker«, brüllte er. »Suchst du noch Leute zum Ausschachten? Ich habe hier drei Schönheiten für dich, echte Muskelmänner.« Er zwinkerte Janusz zu. Die Jungs wechselten ängstliche Blicke und zuckten die Achseln. »Ich bringe sie dir jetzt vorbei.«
Seufzend stemmte Oskar sich mit kräftigen Armen vom Tisch hoch. »Manche von uns müssen eben noch Männerarbeit machen«, meinte er zu Janusz. »Ich reserviere ein Dutzend Kisten für dich, kolego, aber wenn du bis morgen Geld für mehr auftreiben kannst, gib mir Bescheid.«
Gefolgt von seinen neuen Rekruten, steuerte Oskar auf die Tür zu, drehte sich aber noch einmal um.
»Weißt du noch, was wir immer gesagt haben, als wir als Rekrut Arsch zitternd in der Kaserne saßen?«, rief er Janusz zu. »Das Leben ist wie Klopapier ...«
»... lang und beschissen«, beendete Janusz den Satz.
Das Rechteck aus Eichenholz öffnete sich, und Janusz neigte den Kopf hinüber.
»Ich möchte die heilige Beichte ablegen, denn ich habe mich gegen Gott versündigt.«
Er rutschte auf dem knarzenden Sitz herum und stieß einen grollenden Raucherhusten aus. Durch das Drahtgitter konnte er Pater Piotr Pietruzkis gütiges Profil und seinen zerzausten weißen Haarschopf erkennen.
»Seit meiner letzten Beichte sind drei Monate vergangen«, fügte er hinzu.
»Sechs, faktycznie«, verbesserte ihn der Priester. »Ich hatte gehofft, dich wenigstens bei der Mitternachtsmesse zu sehen.«
»Es tut mir leid, Pater. Ich hatte ... eine Menge zu erledigen.«
Er bemerkte nicht, wie er die rechte Hand zur Faust ballte, bis sich die aufgeschürften Knöchel weiß verfärbten.
Der Priester zupfte sich am Ohrläppchen, eine vertraute Geste. Allerdings wusste Janusz nicht, ob sie Schicksalsergebenheit oder Ungeduld ausdrücken sollte. Er hatte den alten Mann wirklich gern. Pater Piotr hatte sich immer um ihn gekümmert - seit jenem Morgen vor über zwanzig Jahren, als Janusz nach einer achtundvierzigstündigen Sauftour hier erschienen war, vom Regen durchweicht, mit wildem Blick und nach Wodka riechend.
Damals, in einer Zeit, als es noch kein Polski Sklep in jeder innerstädtischen Hauptstraße gegeben hatte, waren heimwehkranke Polen nach St. Stanislaus gepilgert, das versteckt in einer Seitengasse in Islington stand. Die katholischen Kirchen der Engländer, modern und aus Stahl und Beton erbaut, wirkten abweisend auf sie. St. Stanislaus hingegen war ein massives Steingebäude aus dem neunzehnten Jahrhundert und so rundlich wie die Wange einer Mutter. Und da die masa auf Polnisch stattfand, fühlte man sich beinahe wie zu Hause. Dass man im Laden in der Krypta echte kielbasa, Käsekuchen und mit Schokolade überzogene Pflaumen kaufen konnte, schadete auch nicht.
Inzwischen war Janusz nicht einmal sicher, ob er überhaupt noch an diesen ganzen Hokuspokus glaubte. Weshalb also kam er weiterhin hierher? Wahrscheinlich zum Teil, weil er die Kirche als den letzten verbliebenen Stützpfeiler des alten Polens empfand, einen Ort, wo Respekt und Ehre die höchsten Werte darstellten. Vielleicht auch, weil Pater Piotr dem betrunkenen Jungen damals ein Bett besorgt, ihm Zitronentee eingeflößt und ihn später an einen Polier vermittelt hatte, der Bauarbeiter suchte.
Obwohl das auch hieß, dass der alte Mistkerl sich seitdem ständig in sein Leben einmischte.
»Gab es in letzter Zeit gewalttätige Zwischenfälle?«, erkundigte sich der Priester.
»Ein Idiot, der seine Frau geschlagen hat. Sie hat mich um Hilfe gebeten.«
»Und?«
»Ich bin schließlich Kavalier. Also habe ich ihr geholfen. Danach hat er beschlossen, sich ein anderes Hobby zu suchen.« Janusz zuckte die Achseln und unterdrückte das Lächeln, das um seine Lippen spielte. Es war besser, nicht zu erwähnen, dass er mit der Frau ein Verhältnis hatte.
Der alte Priester seufzte. Dieses seiner Schäfchen würde wohl nie auf den Pfad der Tugend finden. Doch obwohl seine Methoden manchmal fragwürdig waren, hatte es das Herz am rechten Fleck.
»Gibt es sonst noch etwas, das deine unsterbliche Seele belastet? « Janusz hörte einen Hauch von Sarkasmus heraus.
»Fleischliche Sünden, Pater.« Plötzlich stand ihm ein Bild vor Augen: ein zerwühltes Bett und das rosige S eines nackten Frauenrückens. Kasia, eingerahmt von einem Rechteck aus Licht. »Das Normale eben.«
»Solche Dinge sind nicht normalnie. Du bist ein verheirateter Mann, und dieses Sakrament ist unauflöslich!« Der Priester klopfte tatsächlich bei jeder Silbe mit den Fingerknöcheln an das Gitter.
Der alte Mann hatte - und das kam bei ihm nur selten vor - die Stimme erhoben, was ein Raunen vor dem Beichtstuhl auslöste. Janusz wusste, dass dort draußen eine Horde alter Damen wartete, um ihre eingebildeten Sünden zu beichten. Vielleicht hatte der Priester ja recht, doch was sollte er tun? Marta und er hatten ihrer Ehe schon vor langer Zeit die Letzte Ölung gegeben, und zum Mönch eignete er sich einfach nicht.
»Ja, Pater.« Janusz neigte den Kopf ein kleines Stück. An diesem Dialog hatte sich im Laufe der Jahre kaum etwas geändert. Ja, es war lästig, sich Vorträge halten lassen zu müssen, es vermittelte jedoch gleichzeitig - ebenso wie der Geruch der Kirche nach Weihrauch, abgebrannten Kerzendochten und altem Staub - auf merkwürdige Weise Geborgenheit.
»Ich weiß, dass du und Marta euch schon vor langer Zeit auseinandergelebt habt«, fuhr Pater Pietruzki leiser, aber noch immer mit fester Stimme, fort. »Doch ihr müsst es weiter versuchen. Schon wegen des Jungen. Baut eine Brücke zueinander, hmm?«
Janusz bewegte den Kopf, was, wie er hoffte, als Nicken gedeutet werden würde. Der Priester wartete auf eine weniger mehrdeutige Äußerung - allerdings vergeblich.
»Sprich drei Ave-Maria und das Bußgebet«, sagte er und segnete Janusz mit der rechten Hand. »Wir treffen uns in einer halben Stunde im Eagle.«
Janusz stand auf und duckte sich, um den Beichtstuhl zu verlassen. Das Knacken der Stufe klang wie ein Schuss. Die Damen draußen raschelten nervös wie aufgeschreckte Vögel.
»Dzien dobry, Panie.« Er verbeugte sich und erkannte viele der Gesichter wieder. Die Frauen erwiderten mit hohen Stimmen den Gruß. Doch eine von ihnen, die in der Mitte der Bankreihe saß, packte ihn am Arm, als er vorbeigehen wollte.
Es gab kein Entrinnen. Pani Rulewskas majestätische Haltung sowie die respektvolle Art, mit der die anderen Frauen sie behandelten, wiesen sie als deren Anführerin aus, obwohl sie mit Ende fünfzig einige Jahrzehnte jünger war als sie. Janusz blieb stehen und senkte den Kopf.
Sie trug ein dunkelrotes Kostüm aus einem anschmiegsamen, weichen Stoff, das, wie er feststellte, makellos geschneidert war. Ihm fiel ein, dass sie eine Fabrik für Designerkleidung im East End besaß. Sie ließ es ihre Mitmenschen nicht vergessen, dass ein von ihren polnischen Näherinnen angefertigtes Kleid einst die Schultern von Prinzessin Diana geziert hatte.
»Also, Pan Kiszka, ich hoffe, dass wir bei dem bevorstehenden patriotischen Ereignis auf Ihre Unterstützung hoffen können «, verkündete sie mit ziemlich durchdringender Stimme.
Patriotisches Ereignis? Janusz verspürte denselben Anflug von Panik wie damals mit acht Jahren, als die nächste Zeile des Katechismus plötzlich wie weggeblasen gewesen war.
»Die Wahl?«, ergänzte sie. »Auf die älteren Leute kann man sich ja verlassen, aber mit der Jugend ist es eine andere Sache. So weit weg von zu Hause und ihren Familien lassen sie sich von straszne englischen Sitten anstecken. Alkohol, Sex, Drogen ...« Pani Rulewska schüttelte den Kopf. »Das ist nicht mehr das England, das wir einmal geliebt haben.«
Die anderen Frauen nickten und murmelten zustimmend. Auch Janusz nickte, und zwar nicht nur aus Höflichkeit: Das England, in das er vor einem Vierteljahrhundert gekommen war, mochte grauer und langweiliger gewesen sein. Aber gleichzeitig auch freundlicher und zivilisierter. »Oder werde ich langsam ein alter, verknöcherter Spießer?«, fragte er sich.
»Sie sind bekannt und werden geachtet - von den meisten jedenfalls ...«, schränkte sie ihr Lob ein. »Sie können die jungen Menschen erreichen und ihnen erklären, wie der neue Präsident das Land wiederaufbauen und Arbeitsplätze für alle schaffen wird, damit sie zurück nach Hause können, wo sie hingehören.«
Obwohl Janusz Politikern instinktiv misstraute, glaubte er, dass die Partia Renasans Polen vielleicht einen Ausweg aus der Misere aufzeigen konnte, in der das Land nach zwanzig Jahren Demokratie steckte. Gut, die von jahrzehntelangen kommunistischen Fehlentscheidungen gebeutelte Wirtschaft war wieder auf dem aufsteigenden Ast, doch es gab noch immer nicht genügend Arbeitsplätze, um den Massenexodus junger Leute ins Ausland, zumeist nach Großbritannien, aufzuhalten. Die eleganten Plätze aus der Habsburgerzeit waren unter dem Ansturm von Fastfoodketten und Horden von Junggesellenabschied feiernden Engländern fast nicht mehr wiederzuerkennen, und wenn es nicht bald gelang, Polens junge Generation aus dem
Exil nach Hause zu locken, würde das Land rasch seine Identität verlieren.
Janusz gefielen die großen Ziele der Partei; ein gewaltiges Wiederaufbauprogramm, um Arbeitsplätze zu schaffen und die Auswanderer nach Hause zu holen - und auch die Art und Weise, wie sie die Kirche, die Gewerkschaften und die Intelligenzia, die in den Achtzigern unter der Solidarnosc-Fahne gemeinsam das kommunistische Regime bezwungen hatten, wieder an einen Tisch holte. Die Partei hatte bereits den Sejm und den Senat erobert, und alles deutete darauf hin, dass ihr Chef, Edward Zamorski - ein hoch geachteter Solidarnosc-Veteran, der während des Kampfes für die Demokratie wiederholt im Gefängnis gesessen hatte und gefoltert worden war - der nächste Präsident werden würde.
Das war ja alles schön und gut, doch in einem T-Shirt mit Parteilogo von Tür zu Tür zu gehen war nicht wirklich Janusz' Sache. Also murmelte er ein paar ausweichende Floskeln, redete sich, typisch Mann, auf berufliche Überlastung heraus, verbeugte sich mit äußerster Höflichkeit vor den alten Damen und machte sich rasch aus dem Staub. Den ganzen Weg den Mittelgang entlang spürte er ihre Blicke in seinem Rücken.
Vor der letzten Nische blieb er unter dem milden Blick einer blau gewandeten, von einem schimmernden Wald von Teelichtern in roten Hüllen erleuchteten Gipsmadonna stehen, bat um Vergebung für seine Notlüge und bekreuzigte sich.
Da bis zum abendlichen Ansturm noch eine gute Stunde Zeit blieb, war im Eagle and Child auf der anderen Seite des Islington Green nur das Klirren der Gläser zu hören, die gerade gespült und gestapelt wurden.
Janusz bestellte eine Flasche Tyskie für sich und einen Büffelgraswodka für den Priester. Als er vor über zwanzig Jahren nach London gekommen war, waren diese exotischen Getränke außerhalb der polnischen Gemeinde unbekannt gewesen, doch das hatte sich seit der Masseneinwanderung junger Polen nach dem EU-Beitritt drastisch geändert. Janusz konnte sich noch immer ein Lachen nicht verkneifen, wenn er hörte, wie sich Engländer mit der Bestellung von Wyborowa, Okocim oder Zubrówka abmühten.
Er nahm die Getränke mit in den »Biergarten«, eine graue, mit Brandlöchern übersäte und von einigen struppigen Büscheln Pampasgras eingerahmte Terrasse, wo er sich unter einen Heizpilz setzte. Es war zwar ein kühler Tag, doch ein Bier ohne Zigarre war eben kein richtiges Bier.
»Noch mehr fleischliche Sünden?«, sagte Pater Piotr Pietruzki und klopfte Janusz, der sich gerade eine Zigarre anzündete, auf die Schulter. Der alte Mann war auch in seiner Freizeit freundlich und schalkhaft.
»Auf deine Gesundheit«, fuhr er fort und trank einen Schluck Wodka, um sich aufzuwärmen. »Also, wie laufen ... die ›Geschäfte‹? « Die spöttischen Anführungszeichen waren deutlich zu hören.
»Nicht so gut. Liquiditätsprobleme ... bis ich bei einigen Dreckskerlen, die Schulden bei mir haben, mein Geld eintreiben kann.«
Der Priester musterte Janusz über den Rand seines Glases hinweg.
»Nur mithilfe meiner Überredungskünste, Pater.« Ein versöhnliches Grinsen huschte über sein breites Gesicht.
»Wenn ich daran denke, dass du einmal Jahrgangsbester warst. Und das nicht an irgendeiner Universität, sondern an der Jagiellonska! «, stellte der Priester zum wohl hundertsten Mal fest.
Janusz gestattete sich ein kurzes Augenrollen.
»So ein wacher Verstand, hat Professor Zygurski mir erzählt«, fuhr der Priester kopfschüttelnd fort. »Natürlich wäre die Theologie den Naturwissenschaften vorzuziehen gewesen, aber dennoch: was für eine Vergeudung gottgegebener Talente.«
»Es waren nicht die richtigen Zeiten, um Aufsätze zu schreiben «, entgegnete Janusz. »Wie hätte ich auf meinem Hintern in einem gemütlichen Hörsaal sitzen und Schrödingers Katze erörtern können, während auf den Straßen Menschen totgeschlagen wurden?« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und fügte mit finsterer Miene hinzu: »Aber vielleicht hätte es ja für die beschissenen Bunsenbrenner noch einen besseren Verwendungszweck gegeben.«
Der Priester zupfte sich am Ohrläppchen und beschloss, den Kraftausdruck zu überhören.
Die frühen Achtziger waren für alle ein Umbruch und gefährlich gewesen, dachte er - vor allem für die Jugend. Obwohl die von Solidarnosc organisierten Demonstrationen im Großen und Ganzen dem Prinzip des gewaltlosen Widerstandes gefolgt waren, hatte das kommunistische Regime wie vorausgesehen mit Knüppeln und Gewehren darauf geantwortet. Möglicherweise wäre Janusz ja ein ebenso guter oder sogar erfolgreicherer Physiker als sein Vater geworden - ein hoch angesehener Professor an der Universität von Danzig. Doch kurz nachdem General Jaruzelski das Kriegsrecht ausgerufen hatte, hatte der junge Mann das Studium abgebrochen und sich in den abenteuerlichen Kampf für die Demokratie gestürzt, der auf den Straßen tobte.
Und dann, ebenso Hals über Kopf, war er nach England verschwunden und hatte die junge Frau im Stich gelassen, die er erst wenige Wochen zuvor geheiratet hatte. Als er in St. Stanislaus erschien, war er eindeutig eine gequälte Seele gewesen, und obwohl er sich Pater Pietruzki nie anvertraut hatte, stand eines fest: Was auch immer damals geschehen sein mochte, es lastete bis heute auf ihm.
Der Priester betrachtete den kräftigen Mann mit den traurigen Augen, der ihm gegenübersaß. Dieses Kind Gottes würde wohl niemals ein sonderlich frommer Katholik werden, doch eines wusste Pater Piotr genau: Er hatte eine christliche Seele. Und wenn die neue Regierung - mit Gottes Willen - gewählt war, würden Männer wie er hoffentlich nach Hause zurückkehren, um ihr Land aufzubauen.
Er beugte sich vor und berührte Janusz an der Hand.
»Vielleicht habe ich einen kleinen Auftrag für dich«, sagte er. »Etwas, das honorowy ist, damit du nicht auf die schiefe Bahn gerätst und auch einmal deinen Verstand benutzt. Pani Tosik hat mich in der Beichte darauf angesprochen.«
Janusz zog eine Augenbraue hoch.
»Und hat mir ausdrücklich gestattet, außerhalb des heiligen Beichtstuhls darüber zu sprechen. Eines der Mädchen, eine Kellnerin in ihrem Restaurant, ist verschwunden.«
»Mit der Kasse?«
»Nein, nein, sie ist ein gottesfürchtiges Mädchen«, erwiderte der Priester. »Sie hat immer die masa besucht. Sie ist erst seit ein paar Wochen hier, bedient im Lokal und arbeitet gelegentlich als Model.« Wieder zog Janusz die Augenbraue hoch und grinste hinter seiner Rauchwolke.
»Ja, eine sehr schöne junge Frau, aber ein gutes Mädchen und fleißig. Vor zwei Wochen hat sie sich in Luft aufgelöst, und Pani Tosik ist außer sich vor Sorge. Naturalnie will sie nicht die Polizei einschalten.«
Janusz nickte verständnisvoll. Ob Polen nun von Natur aus obrigkeitsfeindlich eingestellt waren oder ob es an vierzig Jahren brutaler Fremdherrschaft lag - jedenfalls neigten sie nicht dazu, Polizisten den roten Teppich auszurollen.
»Und? Vielleicht hat sie ja einen Freund gefunden, der mit dem Umbauen von Lofts ein Vermögen verdient«, antwortete er und schnippte eine dicke Aschensäule von seiner Zigarre.
»Mag sein, doch ihre Mutter zu Hause hat nichts von dem Mädchen gehört, und Pani Tosik hat ein schrecklich schlechtes Gewissen. Sie möchte sie unbedingt finden.« Er sah Janusz in die Augen. »Und sie bezahlt gut.« Janusz konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, so verschmitzt war der Augenausdruck des alten Mannes, als er seinen Trumpf spielte.
Einen Vermissten aufzuspüren war Schwerstarbeit und erforderte außerdem, dass man Ewigkeiten mit der U-Bahn durch die Stadt kurven musste, was Janusz verabscheute. Doch es war allgemein bekannt, dass Pani Tosik schwerreich war, und er konnte das Geld sehr gut gebrauchen.
Pater Pietruzki leerte sein Glas und stand auf, um zum Tresen zu gehen.
»Jedenfalls habe ich dich vorgeschlagen - Gott, vergib mir.«
© Goldmann
Aus dem Englischen von Karin Dufner
»Ehrenwort, Janusz!« - wieder ein Stoß. »Tut mir leid, Pan Kiszka. Der Bauunternehmer hat mich noch nicht bezahlt, aber in zwei Tagen kriege ich einen Tausender. Das schwöre ich bei den Wundmalen Christi.«
Als Janusz innehielt, um Luft zu holen, und die freie Hand gegen die Wand stützte, erkannte er sein Spiegelbild in der dreifach verglasten Fensterscheibe neben Slaweks Schulter. Er sah einen kräftigen, noch verhältnismäßig jungen Mann, breitschultrig, muskulös und mit einem markanten Kiefer - allerdings schon mit den unverkennbaren ersten Anzeichen gebeugter Schultern und einem Grauschleier im dichten, dunklen Haar. Naprawde, allmählich wurde er zu alt für solche Sachen.
Vorsichtig streckte er die Wirbelsäule, hielt Slaweks Kragen aber weiterhin fest umklammert. Dabei blickte er sich im Raum um, eine frisch renovierte, »luxuriöse« Einzimmerwohnung in einem Hochhaus, mit Blick auf die Mondlandschaft der Baustelle, wo gerade das Olympiagelände entstand. Fenster vom Boden bis zur Decke rahmten das schwarze Skelett des halb fertigen Stadions ein, das, bewacht von Kränen, wie eine riesige Teetasse siebzehn Stockwerke unter ihnen ruhte. Wenn das Haus erst fertig war, würde allein die Aussicht den saftigen Preis noch um zusätzliche vierzig- oder fünfzigtausend in die Höhe treiben.
Nicht zu fassen. Nach dem zu urteilen, was er bis jetzt von Stratford kannte - und das war, weil inzwischen eine ganze Menge Polen auf der Olympiabaustelle arbeiteten, viel zu viel für seinen Geschmack -, fand er es einfach nur scheußlich hier. Da die deutsche Luftwaffe die Gegend, zusammen mit dem Großteil des East End, im Krieg plattgemacht hatte, hatten die damaligen Stadtplaner beschlossen, den Ortskern neu zu gestalten - und zwar in Form eines aus Beton gegossenen Einkaufszentrums in der Mitte eines riesigen, dreispurigen Kreisverkehrs. Das Ergebnis erinnerte Janusz an den Schrott, mit dem die Kommunisten in den Fünfzigern und Sechzigern halb Polen zugepflastert hatten.
Slawek war zwei Wochen mit den Zahlungen im Rückstand und laberte wie immer nichts als Mist. Der Bohrhammer, den Janusz ihm vor über einem Monat geliefert hatte, lehnte - noch immer mit der Aufschrift »Eigentum des Transportministeriums « versehen - an dem gewaltigen, cremefarbenen Smeg im amerikanischen Stil. Janusz wusste, dass dem Kühlschrank ebenso wie den übrigen funkelnden Küchengeräten die Seriennummer des Herstellers fehlte, denn er hatte sie selbst vor der Übergabe mit dem Dreieckschleifer entfernt.
»Je schneller ich mit dem Auftrag durch bin, desto früher werde ich bezahlt - und dann kriegst du deine Kohle«, nutzte der junge Mann die Waffenruhe aus.
Janusz hatte genügend Jahre seiner Jugend auf Baustellen verbracht, um zu erkennen, dass hier trotz des oberflächlichen Glanzes gepfuscht worden war. Er hätte sich damals einen Satz heiße Ohren eingefangen, wenn er so schlampig verputzt oder für die Dunstabzugshaube keine verzinkten Schrauben verwendet hätte, denn diese hier würden rosten, sobald sie mit den ersten Küchendämpfen in Berührung kamen. Trotzdem schien die Wohnung fast fertig zu sein. Er seufzte. Sosehr er das Geld auch brauchte, er musste zugeben, dass Slaweks Einwand etwas für sich hatte.
Also schubste er ihn noch einmal halbherzig gegen die Wand. »Slawek, du bist ein fauler Wichser.« Allerdings bemerkte Slawek, dass sich der Tonfall des kräftigen Mannes verändert hatte, und wirklich ließ dieser ihn im nächsten Moment mit einer angewiderten Geste los.
»Noch eine Woche. Wenn du mich dann wieder verarschst, müssen dir die Docs den Bohrer aus dem Hintern ziehen.«
»Tak, tak. Ich weiß das wirklich zu schätzen, Pan Kiszka.« Slawek machte beinahe Luftsprünge, als er Janusz zur Tür folgte. »Kann ich vielleicht etwas für Sie tun? Als Dankeschön?«
Janusz lachte brüllend auf. »Dich würde ich nicht mal ein Katzentürchen einbauen lassen!«, erwiderte er, über die Schulter gewandt. Slaweks letztes Renovierungsprojekt, ein dreigeschossiges georgianisches Stadthaus in Notting Hill, war in polnischen Kreisen inzwischen zur Legende geworden: Er hatte eine tragende Wand eingerissen und auf diese Weise den ersten georgianischen Bungalow des Bezirks geschaffen. Die Behörden - ganz zu schweigen vom Kunden, einem ziemlich unzufriedenen russischen Milliardär - suchten noch immer nach ihm. Slawek verzog empört das Gesicht.
»Ein Fehler macht noch keinen schlechten Bauarbeiter«, rief er den Flur hinunter, während sich die Aufzugtüren hinter Janusz schlossen.
Drei Stockwerke tiefer stieg eine Gruppe lachender junger Männer mit Werkzeugen und Farbeimern zu. Janusz sah, dass sie alle ultrakurze Haare hatten, ein Zeichen für den kürzlich abgeleisteten Militärdienst. Viele junge Polen gingen noch freiwillig zum Militär, obwohl die Wehrpflicht im vergangenen Jahr abgeschafft worden war.
Beim Anblick des älteren Mannes wurden die Jugendlichen still und nickten Janusz zu. »Dzien dobry, Panu«, begrüßten sie ihn respektvoll. Gute Jungen, dachte er, doch schon wenige Sekunden später sorgten ihr Stimmengewirr, die Enge des Aufzugs und die Wand in seinem Rücken dafür, dass sich das vertraute Angstgefühl in seiner Magengrube wieder meldete. Sein Atem wurde flach, und der Geruch nach Lösungsmitteln schien ihm die Luft aus der Lunge zu saugen.
Während der Aufzug weiterfuhr, blickte der größte der Männer Janusz grinsend an, und dieser hatte plötzlich das mulmige Gefühl, sein jüngeres Selbst vor sich zu sehen. Die noch unfertigen Züge, die schlaksigen Gliedmaßen und die leichtsinnige Zuversicht. Im nächsten Moment stand ihm ohne Vorwarnung ein anderes, noch unwillkommeneres Bild vor Augen: Izas sommersprossiges Gesicht, als sie lachend die Treppe der Universität hinunterlief. Er kniff die Augen zu und schob die anderen Erinnerungen beiseite.
Die behelmte Phalanx der ZOMO-Milizen, die durch den Schneesturm vorrückten. Das widerwärtige Klatschen der mit Blei gefüllten Knüppel auf menschliche Körper.
Inzwischen ging Janusz' Atem stoßweise. Er drückte auf den Knopf für das nächste Stockwerk und drängte sich, eine Entschuldigung murmelnd, an den überraschten Jungen vorbei zur Tür. Die restlichen fünf Stockwerke hinunter in die Vorhalle legte er im Laufschritt zurück. Draußen auf der Straße atmete er in tiefen Zügen die kühle Frühlingsluft ein.
Kurwa mac! Warum nur dieser Ansturm junger Polen, die ihn ständig an die Vergangenheit erinnerten?
»Verdammte Ausländer«, sagte er, woraufhin ihn eine alte Dame, die an der Bushaltestelle wartete, erstaunt ansah. Janusz unterdrückte ein Grinsen und nuschelte eine Entschuldigung. Während Janusz die mit Kreide auf eine Tafel geschriebene Speisekarte studierte, schnupperte er die köstlichen Düfte, die aus der Küche des Cafés heranwehten.
»Panu?«, fragte das blonde, mondgesichtige Mädchen hinter der Theke und zückte Papier und Stift.
»Ist der bigos bei euch hausgemacht oder aus der Dose?«, fragte er, worauf sie tat, als wolle sie ihm eine Kopfnuss geben. Er duckte sich grinsend und ging mit einem Glas Zitronentee - echter, nicht dieses fiese Zeug aus Pulver - zu dem einzigen freien Tisch am von Küchendünsten beschlagenen Fenster.
Das Polska Kuchnia - die Polnische Küche - befand sich zwar fast einen Kilometer von der Olympiabaustelle entfernt, war aber stets gut besucht, da sich die Bauarbeiter in ihrer zementfleckigen Arbeitskleidung hier an den schweren, sättigenden Gerichten ihrer Heimat gütlich tun konnten: pierogi, golabki, flaki. Diese Männer waren es, die die Blaupausen der Architekten Wirklichkeit werden ließen: das Stadion, das Velodrom, das olympische Dorf und die hoch aufragenden Apartmenthäuser, die rings um das zweihundert Hektar große Gelände aus dem Boden schossen.
Das junge Paar, dem das Lokal gehörte, hatte versucht, es gemütlicher einzurichten als die üblichen Imbissbuden im East End: Es gab karierte Tischdecken, bunte Brotkörbe und sogar einen Krokus in einem Marmeladenglas auf jedem Tisch. Janusz fand, dass man sich hier fast wie in einem kleinen Restaurant im Tatra-Gebirge fühlen konnte, wären die vorbeirumpelnden Lastwagen nicht gewesen.
Als das Mädchen gerade seinen Jägereintopf servierte - und er sah wirklich lecker aus, weil nicht nur das übliche Schweinefleisch und kielbasa aus dem Sauerkraut lugten, sondern auch Scheiben gebratener Ente -, flog die Tür zur Straße auf: Oskar, wie er leibte und lebte.
Der gedrungene Mann hatte schütteres Haar und eine breite Brust. Er sah sich, offenbar streitlustig, im Café um, bis er seine Opfer gefunden hatte - eine Gruppe junger Männer, die lachend und Witze reißend vor den Überresten ihrer Mahlzeit saßen. Oskar baute sich breitbeinig vor ihnen auf und ließ eine polnische Schimpfkanonade los.
»Was, im Namen der Heiligen Jungfrau, habt ihr noch hier zu suchen, ihr Hurensöhne?«, brüllte er. »Was habe ich euch gestern gepredigt? Wenn ihr noch einmal zu spät kommt, habe ich wieder den Bauunternehmer an der Strippe, der droht, mir die Eier abzureißen.«
Die Jungen sprangen so hastig auf, dass einige in ihrer Eile, die Tür zu erreichen, über die Beine ihrer Stühle stolperten. Die übrigen Gäste blickten laut lachend von ihren Tellern auf und weideten sich an dem Spektakel. Oskar war nicht mehr zu bremsen.
»Glaub bloß nicht, dass ich deine hässliche Fresse nicht gesehen habe, Karol, du Schwanzlutscher. Auch wenn deine Mama dich nach dem verdammten Papst benannt hat, Gott schenke seiner Seele Frieden« - er bekreuzigte sich, ohne Luft zu holen -, »habe ich die Granitarbeitsplatte nicht vergessen, die du auf dem Gewissen hast. Am Zahltag fick ich dich in den dupa.«
Nachdem sich der letzte Sünder gesenkten Hauptes getrollt hatte, atmete Oskar zufrieden durch. Im nächsten Moment entdeckte er Janusz, und ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Czesc, Janek!«
Janusz stand auf, um seinen Freund zu begrüßen, und hielt ihm, ohne nachzudenken, die Hand hin. Brüllend vor Lachen umarmte Oskar ihn fest und küsste ihn dreimal auf beide Wangen, ohne auf die ausgestreckte Hand zu achten. Janusz räusperte sich. Obwohl eine überschwängliche Begrüßung wie diese unter Polen üblich war, empfand er sie nach zwei Jahrzehnten in England als peinlich.
Oskar stützte die eine Hand in die Hüfte, deutete mit der anderen ein affektiertes Händeschütteln an und setzte sich. »Du bist schon zu lange in England, Kumpel. Wenn das so weitergeht, treibst du es irgendwann noch mit Kerlen!« Er kicherte über seinen eigenen Witz.
Janusz lächelte gequält. Er liebte Oskar wie einen ungeratenen kleinen Bruder, denn sie waren seit dem ersten Tag ihres Militärdienstes 1980 Freunde - doch er konnte einem auch ordentlich auf die Nerven gehen. Janusz hatte das Bild noch deutlich vor Augen. Ein regnerischer Tag hinter dem Stacheldraht von Lager 117 in der Kaschubischen Seenplatte. Die in Reih und Glied stehenden Wehrpflichtigen wirkten mit ihren frisch geschorenen Köpfen und den mindestens zwei Nummern zu großen Uniformen eher wie zerzauste Jungvögel als wie Soldaten. Er spürte, dass Wut in ihm aufstieg. Mit siebzehn hätten er und Oskar - hätten alle diese jungen Männer - voller Träume sein sollen. Doch stattdessen erwartete sie nun eine endlose, Monate dauernde Ausbildung, um der Bedrohung durch einen Einmarsch westlicher Imperialisten begegnen zu können. Und was kam danach? Kriegsrecht, Ausgangssperren und Rationierungen ... die triste Realität des Sozialismus eben.
Oskar wies mit pummeliger Hand auf den Tisch, an dem seine arbeitsscheuen Leute gesessen hatten. »Aber mal im Ernst«, sagte er. »Diese Bürschlein wissen ja nicht, was sie heutzutage für ein Luxusleben führen. Die haben keine Ahnung, wie es in den Achtzigern auf den Baustellen zuging. Zwölfstundenschichten, keine Arbeitsschutzbestimmungen. Ganz zu schweigen von einer Stunde Mittagspause. Wir hatten ja nicht einmal Zeit für einen Imbiss.«
Janusz brummte zustimmend. »Und wer auf eine Schutzbrille oder einen Gehörschutz bestand, musste sich die Dinger selbst kaufen«, fügte er hinzu und riss sich ein Stück Brot ab.
Oskar wischte mit dem Ärmel ein Guckloch in der beschlagenen Scheibe frei und beobachtete den Verkehr. »Erinnerst du dich noch an diesen chuj?«, fragte er. »Den irischen Polier auf der M25-Baustelle, der uns behandelt hat wie den letzten Dreck?«
»Meinst du vielleicht den, dem du in die Thermosflasche gepinkelt hast?«, erwiderte Janusz mit hochgezogener Augenbraue.
»Ja, genau den«, antwortete Oskar, und ein engelsgleiches Lächeln breitete sich auf seinem runden Gesicht aus.
»Himmel, Arsch und Wolkenbruch«, fügte er mit einem Blick auf Janusz' Teller hinzu. »Was isst du da für einen Mist?« Er wandte sich an das Mädchen, das gerade gekommen war, um die Bestellung entgegenzunehmen. »Ich nehme auch den bigos, Schatz. Sieht lecker aus.«
Nachdem sie fort war, verspeiste Janusz den letzten Bissen und schob seinen Teller weg. »Vielleicht ein bisschen zu viel Paprika, und die Ente war ein wenig zu gut durchgebraten. Aber nicht schlecht«, entgegnete er mit dem Nicken eines Kenners. Er zog seine Zigarrenschachtel heraus, doch als ihm die hirnverbrannten Nichtrauchergesetze einfielen, griff er stattdessen nach einem Zahnstocher.
»Hör zu, Oskar, ich will den Schnaps immer noch, aber ich habe da ein Problem. Kannst du vielleicht ein paar Wochen auf das Geld warten?«
»Lass mich raten«, entgegnete Oskar, den Mund voll köstlichem Roggenbrot. »Slawek, dieser Schwachkopf, hat dich schon wieder zum kutas gemacht.«
Er trank einen Schluck von Janusz' Zitronentee und schüttelte den Kopf. »Sechs Kisten kann ich dir vorstrecken, Kumpel, doch mehr nicht. Im Moment bin ich ein bisschen klamm.« Ein verschwörerisches Lächeln huschte über seine Lippen. »Ich habe gerade fünfhundert nach Hause geschickt, damit Madam einen neuen Wohnzimmerteppich kaufen kann.«
»Ich dachte, du sparst, weil du endgültig zurück nach Hause willst«, erwiderte Janusz. »Wenn du Gosia dein ganzes smalz für Teppiche ausgeben lässt, sitzt du für immer und ewig hier fest.«
Oskar rülpste nachdenklich. »Wie hat mein Vater immer gesagt? ›Die Frau weint vor der Hochzeit, der Mann danach.‹«
Das Mädchen stellte einen Teller mit bigos vor Oskar hin, dessen Augen sich in kindlicher Begeisterung weiteten. »Ente!«, nuschelte er, sobald er den Mund voll hatte.
Seit Janusz Oskar kannte, hatte dieser geschuftet wie ein Sklave, um Gosia und die Kinder zu ernähren. Gemeinsam hatten sie sich in den Achtzigern auf den Autobahn-Baustellen die Nächte um die Ohren geschlagen und sich in Zwölfstundenschichten kaputtgearbeitet. Doch wenn Janusz am nächsten Tag während des Berufsverkehrs noch im Bett lag, stand Oskar schon wieder auf einem Rastplatz an der A4 und verhökerte Treibhausrosen an Autofahrer auf dem Weg in den Feierabend. Selbst jetzt fand er neben seiner Stelle als Polier für eines der größten Bauunternehmen auf der Olympiabaustelle noch die Zeit für das, was er eine »Getränke-Importfirma« nannte.
Diese bestand aus einem halben Dutzend maroder Transporter, die mit der Fähre über den Ärmelkanal pendelten und Kisten mit billigem Schnaps und stangenweise Zigaretten heranschafften, um sie an Händler wie Janusz weiterzuverkaufen. Der Schnaps landete hinter den Tresen von Privatclubs, wo sich niemand an dem Aufkleber »NICHT FÜR DEN WIEDERVERKAUF « stieß, insbesondere deshalb, weil die Flaschen zusätzlich einen Vorteil verhießen: »EXPORTQUALITÄT«.
»Pass auf«, sagte Oskar mit einem spitzbübischen Funkeln in den Augen. »Wenn du knapp bei Kasse bist, kann ich dir jederzeit eine Schicht auf der Baustelle besorgen.« Er ließ die Gabel fallen, packte Janusz' Hand, drehte sie um und betrachtete die Handfläche. »Kurwa! Von der vielen Geschäftemacherei hast du Hände gekriegt wie ein Schulmädchen! Bei ehrlicher Arbeit würdest du nach fünf Minuten zusammenklappen.« Er balancierte eine mit bigos überhäufte Gabel zum Mund. »Willst du später vorbeikommen und Fußball schauen?«
»Heute kann ich nicht«, erwiderte Janusz. »Ich habe eine Karte für einen Vortrag am Royal Institute. Einer der Physiker vom CERN-Projekt.«
Oskar runzelte die Stirn. »Ist das nicht dieser riesige Doughnut aus Metall in der Schweiz - wo ständig die Sicherungen durchbrennen? «, fragte er. »Irgendwas mit dem Urknall?«
Janusz nickte - das war das Einfachste.
»Angeblich soll dem Universum ja eines Tages die Luft ausgehen«, verkündete Oskar mit einem weisen Nicken und klatschte in die Hände, um seine Worte zu unterstreichen. »Puff - bis es nur noch so groß ist wie ein Wasserball.« Ehe er seine kosmologischen Erkenntnisse weiter ausführen konnte, ging klappernd die Tür des Cafés auf, und drei magere, kurz geschorene Jugendliche kamen herein. Sie verschwanden fast unter ihren Rucksäcken. Ihre lauten Stimmen sollten zwar Selbstbewusstsein vortäuschen, doch die Art und Weise, wie das Trio zusammenrückte, bis sich ihre Schultern fast berührten, verriet die wahre Geschichte. Grünschnäbel, dachte Janusz. Gerade der Ryanair-Maschine Nummer 0830 aus Warschau entstiegen. Als der größte von ihnen Oskar bemerkte, war seine Erleichterung fast mit Händen zu greifen.
Die Jungen traten an den Tisch und begrüßten die beiden Männer höflich. Nachdem Oskar sich die fettigen Lippen abgewischt und die karierte Serviette zusammengeknüllt hatte, tippte er eine Nummer in sein Mobiltelefon.
»Czesc, Wassily, du alter Igelficker«, brüllte er. »Suchst du noch Leute zum Ausschachten? Ich habe hier drei Schönheiten für dich, echte Muskelmänner.« Er zwinkerte Janusz zu. Die Jungs wechselten ängstliche Blicke und zuckten die Achseln. »Ich bringe sie dir jetzt vorbei.«
Seufzend stemmte Oskar sich mit kräftigen Armen vom Tisch hoch. »Manche von uns müssen eben noch Männerarbeit machen«, meinte er zu Janusz. »Ich reserviere ein Dutzend Kisten für dich, kolego, aber wenn du bis morgen Geld für mehr auftreiben kannst, gib mir Bescheid.«
Gefolgt von seinen neuen Rekruten, steuerte Oskar auf die Tür zu, drehte sich aber noch einmal um.
»Weißt du noch, was wir immer gesagt haben, als wir als Rekrut Arsch zitternd in der Kaserne saßen?«, rief er Janusz zu. »Das Leben ist wie Klopapier ...«
»... lang und beschissen«, beendete Janusz den Satz.
Das Rechteck aus Eichenholz öffnete sich, und Janusz neigte den Kopf hinüber.
»Ich möchte die heilige Beichte ablegen, denn ich habe mich gegen Gott versündigt.«
Er rutschte auf dem knarzenden Sitz herum und stieß einen grollenden Raucherhusten aus. Durch das Drahtgitter konnte er Pater Piotr Pietruzkis gütiges Profil und seinen zerzausten weißen Haarschopf erkennen.
»Seit meiner letzten Beichte sind drei Monate vergangen«, fügte er hinzu.
»Sechs, faktycznie«, verbesserte ihn der Priester. »Ich hatte gehofft, dich wenigstens bei der Mitternachtsmesse zu sehen.«
»Es tut mir leid, Pater. Ich hatte ... eine Menge zu erledigen.«
Er bemerkte nicht, wie er die rechte Hand zur Faust ballte, bis sich die aufgeschürften Knöchel weiß verfärbten.
Der Priester zupfte sich am Ohrläppchen, eine vertraute Geste. Allerdings wusste Janusz nicht, ob sie Schicksalsergebenheit oder Ungeduld ausdrücken sollte. Er hatte den alten Mann wirklich gern. Pater Piotr hatte sich immer um ihn gekümmert - seit jenem Morgen vor über zwanzig Jahren, als Janusz nach einer achtundvierzigstündigen Sauftour hier erschienen war, vom Regen durchweicht, mit wildem Blick und nach Wodka riechend.
Damals, in einer Zeit, als es noch kein Polski Sklep in jeder innerstädtischen Hauptstraße gegeben hatte, waren heimwehkranke Polen nach St. Stanislaus gepilgert, das versteckt in einer Seitengasse in Islington stand. Die katholischen Kirchen der Engländer, modern und aus Stahl und Beton erbaut, wirkten abweisend auf sie. St. Stanislaus hingegen war ein massives Steingebäude aus dem neunzehnten Jahrhundert und so rundlich wie die Wange einer Mutter. Und da die masa auf Polnisch stattfand, fühlte man sich beinahe wie zu Hause. Dass man im Laden in der Krypta echte kielbasa, Käsekuchen und mit Schokolade überzogene Pflaumen kaufen konnte, schadete auch nicht.
Inzwischen war Janusz nicht einmal sicher, ob er überhaupt noch an diesen ganzen Hokuspokus glaubte. Weshalb also kam er weiterhin hierher? Wahrscheinlich zum Teil, weil er die Kirche als den letzten verbliebenen Stützpfeiler des alten Polens empfand, einen Ort, wo Respekt und Ehre die höchsten Werte darstellten. Vielleicht auch, weil Pater Piotr dem betrunkenen Jungen damals ein Bett besorgt, ihm Zitronentee eingeflößt und ihn später an einen Polier vermittelt hatte, der Bauarbeiter suchte.
Obwohl das auch hieß, dass der alte Mistkerl sich seitdem ständig in sein Leben einmischte.
»Gab es in letzter Zeit gewalttätige Zwischenfälle?«, erkundigte sich der Priester.
»Ein Idiot, der seine Frau geschlagen hat. Sie hat mich um Hilfe gebeten.«
»Und?«
»Ich bin schließlich Kavalier. Also habe ich ihr geholfen. Danach hat er beschlossen, sich ein anderes Hobby zu suchen.« Janusz zuckte die Achseln und unterdrückte das Lächeln, das um seine Lippen spielte. Es war besser, nicht zu erwähnen, dass er mit der Frau ein Verhältnis hatte.
Der alte Priester seufzte. Dieses seiner Schäfchen würde wohl nie auf den Pfad der Tugend finden. Doch obwohl seine Methoden manchmal fragwürdig waren, hatte es das Herz am rechten Fleck.
»Gibt es sonst noch etwas, das deine unsterbliche Seele belastet? « Janusz hörte einen Hauch von Sarkasmus heraus.
»Fleischliche Sünden, Pater.« Plötzlich stand ihm ein Bild vor Augen: ein zerwühltes Bett und das rosige S eines nackten Frauenrückens. Kasia, eingerahmt von einem Rechteck aus Licht. »Das Normale eben.«
»Solche Dinge sind nicht normalnie. Du bist ein verheirateter Mann, und dieses Sakrament ist unauflöslich!« Der Priester klopfte tatsächlich bei jeder Silbe mit den Fingerknöcheln an das Gitter.
Der alte Mann hatte - und das kam bei ihm nur selten vor - die Stimme erhoben, was ein Raunen vor dem Beichtstuhl auslöste. Janusz wusste, dass dort draußen eine Horde alter Damen wartete, um ihre eingebildeten Sünden zu beichten. Vielleicht hatte der Priester ja recht, doch was sollte er tun? Marta und er hatten ihrer Ehe schon vor langer Zeit die Letzte Ölung gegeben, und zum Mönch eignete er sich einfach nicht.
»Ja, Pater.« Janusz neigte den Kopf ein kleines Stück. An diesem Dialog hatte sich im Laufe der Jahre kaum etwas geändert. Ja, es war lästig, sich Vorträge halten lassen zu müssen, es vermittelte jedoch gleichzeitig - ebenso wie der Geruch der Kirche nach Weihrauch, abgebrannten Kerzendochten und altem Staub - auf merkwürdige Weise Geborgenheit.
»Ich weiß, dass du und Marta euch schon vor langer Zeit auseinandergelebt habt«, fuhr Pater Pietruzki leiser, aber noch immer mit fester Stimme, fort. »Doch ihr müsst es weiter versuchen. Schon wegen des Jungen. Baut eine Brücke zueinander, hmm?«
Janusz bewegte den Kopf, was, wie er hoffte, als Nicken gedeutet werden würde. Der Priester wartete auf eine weniger mehrdeutige Äußerung - allerdings vergeblich.
»Sprich drei Ave-Maria und das Bußgebet«, sagte er und segnete Janusz mit der rechten Hand. »Wir treffen uns in einer halben Stunde im Eagle.«
Janusz stand auf und duckte sich, um den Beichtstuhl zu verlassen. Das Knacken der Stufe klang wie ein Schuss. Die Damen draußen raschelten nervös wie aufgeschreckte Vögel.
»Dzien dobry, Panie.« Er verbeugte sich und erkannte viele der Gesichter wieder. Die Frauen erwiderten mit hohen Stimmen den Gruß. Doch eine von ihnen, die in der Mitte der Bankreihe saß, packte ihn am Arm, als er vorbeigehen wollte.
Es gab kein Entrinnen. Pani Rulewskas majestätische Haltung sowie die respektvolle Art, mit der die anderen Frauen sie behandelten, wiesen sie als deren Anführerin aus, obwohl sie mit Ende fünfzig einige Jahrzehnte jünger war als sie. Janusz blieb stehen und senkte den Kopf.
Sie trug ein dunkelrotes Kostüm aus einem anschmiegsamen, weichen Stoff, das, wie er feststellte, makellos geschneidert war. Ihm fiel ein, dass sie eine Fabrik für Designerkleidung im East End besaß. Sie ließ es ihre Mitmenschen nicht vergessen, dass ein von ihren polnischen Näherinnen angefertigtes Kleid einst die Schultern von Prinzessin Diana geziert hatte.
»Also, Pan Kiszka, ich hoffe, dass wir bei dem bevorstehenden patriotischen Ereignis auf Ihre Unterstützung hoffen können «, verkündete sie mit ziemlich durchdringender Stimme.
Patriotisches Ereignis? Janusz verspürte denselben Anflug von Panik wie damals mit acht Jahren, als die nächste Zeile des Katechismus plötzlich wie weggeblasen gewesen war.
»Die Wahl?«, ergänzte sie. »Auf die älteren Leute kann man sich ja verlassen, aber mit der Jugend ist es eine andere Sache. So weit weg von zu Hause und ihren Familien lassen sie sich von straszne englischen Sitten anstecken. Alkohol, Sex, Drogen ...« Pani Rulewska schüttelte den Kopf. »Das ist nicht mehr das England, das wir einmal geliebt haben.«
Die anderen Frauen nickten und murmelten zustimmend. Auch Janusz nickte, und zwar nicht nur aus Höflichkeit: Das England, in das er vor einem Vierteljahrhundert gekommen war, mochte grauer und langweiliger gewesen sein. Aber gleichzeitig auch freundlicher und zivilisierter. »Oder werde ich langsam ein alter, verknöcherter Spießer?«, fragte er sich.
»Sie sind bekannt und werden geachtet - von den meisten jedenfalls ...«, schränkte sie ihr Lob ein. »Sie können die jungen Menschen erreichen und ihnen erklären, wie der neue Präsident das Land wiederaufbauen und Arbeitsplätze für alle schaffen wird, damit sie zurück nach Hause können, wo sie hingehören.«
Obwohl Janusz Politikern instinktiv misstraute, glaubte er, dass die Partia Renasans Polen vielleicht einen Ausweg aus der Misere aufzeigen konnte, in der das Land nach zwanzig Jahren Demokratie steckte. Gut, die von jahrzehntelangen kommunistischen Fehlentscheidungen gebeutelte Wirtschaft war wieder auf dem aufsteigenden Ast, doch es gab noch immer nicht genügend Arbeitsplätze, um den Massenexodus junger Leute ins Ausland, zumeist nach Großbritannien, aufzuhalten. Die eleganten Plätze aus der Habsburgerzeit waren unter dem Ansturm von Fastfoodketten und Horden von Junggesellenabschied feiernden Engländern fast nicht mehr wiederzuerkennen, und wenn es nicht bald gelang, Polens junge Generation aus dem
Exil nach Hause zu locken, würde das Land rasch seine Identität verlieren.
Janusz gefielen die großen Ziele der Partei; ein gewaltiges Wiederaufbauprogramm, um Arbeitsplätze zu schaffen und die Auswanderer nach Hause zu holen - und auch die Art und Weise, wie sie die Kirche, die Gewerkschaften und die Intelligenzia, die in den Achtzigern unter der Solidarnosc-Fahne gemeinsam das kommunistische Regime bezwungen hatten, wieder an einen Tisch holte. Die Partei hatte bereits den Sejm und den Senat erobert, und alles deutete darauf hin, dass ihr Chef, Edward Zamorski - ein hoch geachteter Solidarnosc-Veteran, der während des Kampfes für die Demokratie wiederholt im Gefängnis gesessen hatte und gefoltert worden war - der nächste Präsident werden würde.
Das war ja alles schön und gut, doch in einem T-Shirt mit Parteilogo von Tür zu Tür zu gehen war nicht wirklich Janusz' Sache. Also murmelte er ein paar ausweichende Floskeln, redete sich, typisch Mann, auf berufliche Überlastung heraus, verbeugte sich mit äußerster Höflichkeit vor den alten Damen und machte sich rasch aus dem Staub. Den ganzen Weg den Mittelgang entlang spürte er ihre Blicke in seinem Rücken.
Vor der letzten Nische blieb er unter dem milden Blick einer blau gewandeten, von einem schimmernden Wald von Teelichtern in roten Hüllen erleuchteten Gipsmadonna stehen, bat um Vergebung für seine Notlüge und bekreuzigte sich.
Da bis zum abendlichen Ansturm noch eine gute Stunde Zeit blieb, war im Eagle and Child auf der anderen Seite des Islington Green nur das Klirren der Gläser zu hören, die gerade gespült und gestapelt wurden.
Janusz bestellte eine Flasche Tyskie für sich und einen Büffelgraswodka für den Priester. Als er vor über zwanzig Jahren nach London gekommen war, waren diese exotischen Getränke außerhalb der polnischen Gemeinde unbekannt gewesen, doch das hatte sich seit der Masseneinwanderung junger Polen nach dem EU-Beitritt drastisch geändert. Janusz konnte sich noch immer ein Lachen nicht verkneifen, wenn er hörte, wie sich Engländer mit der Bestellung von Wyborowa, Okocim oder Zubrówka abmühten.
Er nahm die Getränke mit in den »Biergarten«, eine graue, mit Brandlöchern übersäte und von einigen struppigen Büscheln Pampasgras eingerahmte Terrasse, wo er sich unter einen Heizpilz setzte. Es war zwar ein kühler Tag, doch ein Bier ohne Zigarre war eben kein richtiges Bier.
»Noch mehr fleischliche Sünden?«, sagte Pater Piotr Pietruzki und klopfte Janusz, der sich gerade eine Zigarre anzündete, auf die Schulter. Der alte Mann war auch in seiner Freizeit freundlich und schalkhaft.
»Auf deine Gesundheit«, fuhr er fort und trank einen Schluck Wodka, um sich aufzuwärmen. »Also, wie laufen ... die ›Geschäfte‹? « Die spöttischen Anführungszeichen waren deutlich zu hören.
»Nicht so gut. Liquiditätsprobleme ... bis ich bei einigen Dreckskerlen, die Schulden bei mir haben, mein Geld eintreiben kann.«
Der Priester musterte Janusz über den Rand seines Glases hinweg.
»Nur mithilfe meiner Überredungskünste, Pater.« Ein versöhnliches Grinsen huschte über sein breites Gesicht.
»Wenn ich daran denke, dass du einmal Jahrgangsbester warst. Und das nicht an irgendeiner Universität, sondern an der Jagiellonska! «, stellte der Priester zum wohl hundertsten Mal fest.
Janusz gestattete sich ein kurzes Augenrollen.
»So ein wacher Verstand, hat Professor Zygurski mir erzählt«, fuhr der Priester kopfschüttelnd fort. »Natürlich wäre die Theologie den Naturwissenschaften vorzuziehen gewesen, aber dennoch: was für eine Vergeudung gottgegebener Talente.«
»Es waren nicht die richtigen Zeiten, um Aufsätze zu schreiben «, entgegnete Janusz. »Wie hätte ich auf meinem Hintern in einem gemütlichen Hörsaal sitzen und Schrödingers Katze erörtern können, während auf den Straßen Menschen totgeschlagen wurden?« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und fügte mit finsterer Miene hinzu: »Aber vielleicht hätte es ja für die beschissenen Bunsenbrenner noch einen besseren Verwendungszweck gegeben.«
Der Priester zupfte sich am Ohrläppchen und beschloss, den Kraftausdruck zu überhören.
Die frühen Achtziger waren für alle ein Umbruch und gefährlich gewesen, dachte er - vor allem für die Jugend. Obwohl die von Solidarnosc organisierten Demonstrationen im Großen und Ganzen dem Prinzip des gewaltlosen Widerstandes gefolgt waren, hatte das kommunistische Regime wie vorausgesehen mit Knüppeln und Gewehren darauf geantwortet. Möglicherweise wäre Janusz ja ein ebenso guter oder sogar erfolgreicherer Physiker als sein Vater geworden - ein hoch angesehener Professor an der Universität von Danzig. Doch kurz nachdem General Jaruzelski das Kriegsrecht ausgerufen hatte, hatte der junge Mann das Studium abgebrochen und sich in den abenteuerlichen Kampf für die Demokratie gestürzt, der auf den Straßen tobte.
Und dann, ebenso Hals über Kopf, war er nach England verschwunden und hatte die junge Frau im Stich gelassen, die er erst wenige Wochen zuvor geheiratet hatte. Als er in St. Stanislaus erschien, war er eindeutig eine gequälte Seele gewesen, und obwohl er sich Pater Pietruzki nie anvertraut hatte, stand eines fest: Was auch immer damals geschehen sein mochte, es lastete bis heute auf ihm.
Der Priester betrachtete den kräftigen Mann mit den traurigen Augen, der ihm gegenübersaß. Dieses Kind Gottes würde wohl niemals ein sonderlich frommer Katholik werden, doch eines wusste Pater Piotr genau: Er hatte eine christliche Seele. Und wenn die neue Regierung - mit Gottes Willen - gewählt war, würden Männer wie er hoffentlich nach Hause zurückkehren, um ihr Land aufzubauen.
Er beugte sich vor und berührte Janusz an der Hand.
»Vielleicht habe ich einen kleinen Auftrag für dich«, sagte er. »Etwas, das honorowy ist, damit du nicht auf die schiefe Bahn gerätst und auch einmal deinen Verstand benutzt. Pani Tosik hat mich in der Beichte darauf angesprochen.«
Janusz zog eine Augenbraue hoch.
»Und hat mir ausdrücklich gestattet, außerhalb des heiligen Beichtstuhls darüber zu sprechen. Eines der Mädchen, eine Kellnerin in ihrem Restaurant, ist verschwunden.«
»Mit der Kasse?«
»Nein, nein, sie ist ein gottesfürchtiges Mädchen«, erwiderte der Priester. »Sie hat immer die masa besucht. Sie ist erst seit ein paar Wochen hier, bedient im Lokal und arbeitet gelegentlich als Model.« Wieder zog Janusz die Augenbraue hoch und grinste hinter seiner Rauchwolke.
»Ja, eine sehr schöne junge Frau, aber ein gutes Mädchen und fleißig. Vor zwei Wochen hat sie sich in Luft aufgelöst, und Pani Tosik ist außer sich vor Sorge. Naturalnie will sie nicht die Polizei einschalten.«
Janusz nickte verständnisvoll. Ob Polen nun von Natur aus obrigkeitsfeindlich eingestellt waren oder ob es an vierzig Jahren brutaler Fremdherrschaft lag - jedenfalls neigten sie nicht dazu, Polizisten den roten Teppich auszurollen.
»Und? Vielleicht hat sie ja einen Freund gefunden, der mit dem Umbauen von Lofts ein Vermögen verdient«, antwortete er und schnippte eine dicke Aschensäule von seiner Zigarre.
»Mag sein, doch ihre Mutter zu Hause hat nichts von dem Mädchen gehört, und Pani Tosik hat ein schrecklich schlechtes Gewissen. Sie möchte sie unbedingt finden.« Er sah Janusz in die Augen. »Und sie bezahlt gut.« Janusz konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, so verschmitzt war der Augenausdruck des alten Mannes, als er seinen Trumpf spielte.
Einen Vermissten aufzuspüren war Schwerstarbeit und erforderte außerdem, dass man Ewigkeiten mit der U-Bahn durch die Stadt kurven musste, was Janusz verabscheute. Doch es war allgemein bekannt, dass Pani Tosik schwerreich war, und er konnte das Geld sehr gut gebrauchen.
Pater Pietruzki leerte sein Glas und stand auf, um zum Tresen zu gehen.
»Jedenfalls habe ich dich vorgeschlagen - Gott, vergib mir.«
© Goldmann
Aus dem Englischen von Karin Dufner
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Autoren-Porträt von Anya Lipska
Karin Dufner, geb. 1962 in München, lebt in Meerbusch bei Düsseldorf und arbeitet als Übersetzerin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Anya Lipska
- 2012, 440 Seiten, Maße: 11,8 x 18,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Karin Dufner
- Verlag: Arkana
- ISBN-10: 3442477654
- ISBN-13: 9783442477654
- Erscheinungsdatum: 17.12.2012
Rezension zu „Lipska, A: Sündenfall “
"Ein exzellenter Kriminalroman. Unvorhersehbar und mit großer psychologischer Raffinesse."
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