Im Herzen die Sünde / Lydia Strong Bd.1
Thriller. Deutsche Erstausgabe
Er weiß, welche Sünde du in deinem Herzen verbirgst, und er kennt keine Gnade ...
Lydia Strong, Bestsellerautorin von Büchern über wahre Kriminalfälle, ist auch privat immer wieder auf Verbrecherjagd. Vor vielen Jahren konnte...
Lydia Strong, Bestsellerautorin von Büchern über wahre Kriminalfälle, ist auch privat immer wieder auf Verbrecherjagd. Vor vielen Jahren konnte...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Im Herzen die Sünde / Lydia Strong Bd.1 “
Er weiß, welche Sünde du in deinem Herzen verbirgst, und er kennt keine Gnade ...
Lydia Strong, Bestsellerautorin von Büchern über wahre Kriminalfälle, ist auch privat immer wieder auf Verbrecherjagd. Vor vielen Jahren konnte das FBI mit ihrer Hilfe einen Serienkiller fassen, der auch Lydias eigene Mutter auf dem Gewissen hatte. Und nun scheint sie erneut einem Mörder auf der Spur zu sein: In einem Ort nahe Santa Fe sind drei Menschen verschwunden, was niemand zu bemerken scheint. Lydia allerdings ist überzeugt: Die drei Außenseiter wurden Opfer eines Mörders. Mit Privatermittler Jeffrey Mark übernimmt sie den Fall und wird bald selbst erbarmungslos gejagt ...
Lydia Strong, Bestsellerautorin von Büchern über wahre Kriminalfälle, ist auch privat immer wieder auf Verbrecherjagd. Vor vielen Jahren konnte das FBI mit ihrer Hilfe einen Serienkiller fassen, der auch Lydias eigene Mutter auf dem Gewissen hatte. Und nun scheint sie erneut einem Mörder auf der Spur zu sein: In einem Ort nahe Santa Fe sind drei Menschen verschwunden, was niemand zu bemerken scheint. Lydia allerdings ist überzeugt: Die drei Außenseiter wurden Opfer eines Mörders. Mit Privatermittler Jeffrey Mark übernimmt sie den Fall und wird bald selbst erbarmungslos gejagt ...
Klappentext zu „Im Herzen die Sünde / Lydia Strong Bd.1 “
Er weiß, welche Sünde du in deinem Herzen verbirgst, und er kennt keine Gnade ...Lydia Strong, Bestsellerautorin von Büchern über wahre Kriminalfälle, ist auch privat immer wieder auf Verbrecherjagd. Vor vielen Jahren konnte das FBI mit ihrer Hilfe einen Serienkiller fassen, der auch Lydias eigene Mutter auf dem Gewissen hatte. Und nun scheint sie erneut einem Mörder auf der Spur zu sein: In einem Ort nahe Santa Fe sind drei Menschen verschwunden, was niemand zu bemerken scheint. Lydia allerdings ist überzeugt: Die drei Außenseiter wurden Opfer eines Mörders. Mit Privatermittler Jeffrey Mark übernimmt sie den Fall und wird bald selbst erbarmungslos gejagt ...
Lese-Probe zu „Im Herzen die Sünde / Lydia Strong Bd.1 “
Im Herzen die Sünde von Lisa Unger als Lisa Miscione Deutsch von Eva Bonné
VORWORT VON LISA UNGER
Als ich Lydia Strong zum ersten Mal begegnete, war ich neunzehn Jahre alt. Damals wohnte ich in New Yorks East Village, war mit einem Polizisten zusammen und besuchte das Eugene Lang College, die Eingangsstufe des Neuen Instituts für Sozialforschung. Ich saß in einem Auto unter einer U-Bahn-Brücke in der Bronx und wartete - auf was, weiß ich nicht mehr. Aber an jenem Tag sah ich zum ersten Mal in meinen Gedanken eine Frau an einer Kirche vorbeijoggen. Die Kirche befand sich in New Mexico. Über die Frau wusste ich nur, dass sie einen tiefen seelischen Schmerz in sich trug. Zu laufen war ihr Trost, Religion und Droge zugleich. Sie hieß Lydia.
... mehr
Ich fischte eine Papierserviette und einen Stift aus dem Handschuhfach und schrieb die ersten Zeilen von Im Herzen die Sünde nieder. Es sollte zehn Jahre dauern, bis ich den Roman vollendete, weil die Zeit zwischen meinem neunzehnten und neunundzwanzigsten Geburtstag von harter Arbeit und turbulenten Veränderungen geprägt war und ich meinen Traum, Schriftstellerin zu werden, vernachlässigte. Aber Lydia war eine treue Seele; sie wartete. Obwohl ich unbedingt einen Roman schreiben wollte, eine erstklassige Ausbildung genossen und in einem Verlag Karriere gemacht hatte, wusste ich nicht viel über das Leben, als ich an meinem ersten Buch arbeitete. Ich glaube, kaum jemand hat eine Vorstellung davon, was es bedeutet, einen Roman zu schreiben, ohne einen eigenen Versuch gewagt zu haben. (Und auch später beim zweiten und dritten Buch fühlt es sich so an, als erlerne man das Schreiben wieder aufs Neue.) Ich wusste nur eins: Ich war bezaubert von dieser Frau, die einen großen Teil meiner Gedanken beherrschte. Ihre dunklen Obsessionen zogen mich in ihren Bann. Ich war fasziniert von ihrer Vergangenheit und den Rätseln ihrer Gegenwart. Warum gestattete sie sich nicht einfach, den Mann zu lieben, der ihr so viel Liebe entgegenbrachte? Unaufhörlich taten sich neue Fragen auf, und im Lauf der zehn Jahre war ich immer dann am glücklichsten, wenn ich mich auf die Suche nach Antworten begab.
Zu meinem großen Glück nahm sich bereits meines allerersten Buchs die wunderbare Agentin Elaine Markson an, die recht schnell einen Verlag für Im Herzen die Sünde und die noch ungeschriebene Fortsetzung fand. Die folgenden Jahre verbrachte ich mit Lydia Strong und den schillernden Figuren, die ihr begegneten. Ich genoss jeden dunklen Augenblick, jede schwierige Wendung des Schicksals, die ihnen widerfuhr.
Ich folgte Lydia von New Mexico nach New York, nach Albanien, Miami und wieder zurück. Wir stapften durch Manhattans stillgelegte U-Bahn-Tunnel und durch die Wildnis Floridas, wir erkundeten eine rätselhafte Kirche in der Bronx und eine fiktionale Stadt namens Haunted. Es war eine aufregende Reise, und ich schrieb, als stünden meine Hände in Flammen.
Ich freue mich, dass meine ersten Werke, die ich noch unter meinem Mädchennamen Lisa Miscione verfasste, eine wunderbare Heimat bei Broadway Paperbacks gefunden haben und einen Platz in den Buchregalen bekommen. Am meisten freut es mich natürlich, dass sie es bis in Ihre Hände geschafft haben. Ich kenne zahlreiche Autoren, die ihre Erstlingswerke am liebsten vor der Welt verstecken würden, weil sie seither Riesenschritte in ihrer Entwicklung als Schriftsteller vollzogen haben. Das ist nur verständlich, denn natürlich würden wir am liebsten die Zeit zurückdrehen und alles noch einmal besser schreiben.
Aber in meinem Herzen haben diese mit so vielen Schwächen behafteten, manchmal komischen und immer komplizierten Figuren und ihre verrückten und wilden Geschichten einen besonderen Platz. Bis heute denke ich an sie und hege selbst für die finsteren unter ihnen zärtliche Gefühle. Die Arbeit an jedem einzelnen dieser Bücher war mir ein Vergnügen, und ich hoffe, Sie genießen die Zeit mit den folgenden Seiten so sehr wie ich. Vielen Dank fürs Lesen.
EINS
Lydia Strong lief. Sie lief, bis sie Krämpfe bekam und ihre Lunge brannte. Sie lief, bis sie nicht mehr konnte, und dann noch ein Stückchen weiter. Sie lief, als müsste sie sich etwas beweisen, als käme sie lieber um, als aufzugeben. Sie lief die Einfahrt an ihrem Haus hinunter, das am Fuß des Sangre-de-Cristo-Gebirges nördlich von Santa Festand, und über den steinigen, unbefestigten Weg, der bis zur Kirche des Ortes Angel Fire führte.
Wenn sie lief, war sie woanders und fand zu sich selbst. Sie ließ ihre Ängste und Zweifel hinter sich, ihre Sorgen, ihre Arbeit. Erst in der Bewegung kam sie zur Ruhe. Dann wurde sie zu einem Wesen, das nur als körperliche Hülle existierte und nichts mehr fühlte außer das Verlangen zu laufen, immer weiter. Sie bestand nur noch aus Beinen und Lunge. Es schmerzte, aber es tat gut. Das Ritual des Laufens war für Lydia zu einer Ersatzreligion geworden. Sie schloss die Existenz eines Gottes oder einer gottesähnlichen Macht nicht aus, aber die Kirche ... nein, an die Kirche glaubte sie nicht. Und dennoch spürte sie, als sie an diesem frühen Augustmorgen wie fast jeden Tag an dem kleinen, weiß verputzten Bau vorbeitrabte, einen Stich im Herzen. Die Kirche zum Heiligen Namen ragte stolz und gebieterisch neben der Schotterstraße auf. Wie ein weißer, unbeweglicher Mond erhob sie sich aus Unkraut und Staub. Seit hundert Jahren, massiv und unbeeindruckt, als hätte sie sich aus der Erde heraufgeschoben wie ein Fels. Selbstbewusst reckte die Kirche ihre Mauern der aufgehenden Sonne entgegen, die sie mit orange-, rosa- und lilafarbenem Licht übergoss.
Als Kind war Lydia jeden Sonntag mit ihrer Mutter in die Messe gegangen. Der feierliche Höhepunkt der Woche, denn ihre Mutter war eine strenggläubige Christin gewesen. Marion Strongs religiöser Eifer hatte die kleine Lydia angesteckt. Sie liebte ihre Mutter über alles und wollte sein wie sie. Sie war glücklich darüber, ihr schönstes Kleid tragen zu dürfen. Stolz lief sie neben ihrer Mutter her. Bestimmt hielt man sie für eine Erwachsene, so laut klackerten ihre Absätze auf dem Gehweg.
In der Kirche gab ihre Mutter ihr vier Vierteldollar- münzen. Zwei für die beiden Kerzen, die sie im Gedenken an ihre verstorbenen Großeltern anzündete, und zwei für die Kollekte. Sie nahmen in einer Bank in der Mitte Platz, und Lydia wartete ungeduldig darauf, endlich singen zu können. Wenn die Orgel erklang und die Lieder angestimmt wurden, fiel die kleine Lydia aus Leibeskräften mit ein. Sie kannte fast alle Texte auswendig. Ihre Mutter sang in einem glockenhellen, wohlklingenden Sopran und schaute zufrieden auf ihre Tochter herab. Lydia fühlte sich geborgen. Alle waren aus demselben Grund hier. Alle sangen, lachten, reichten einander die Hand: »Friede sei mit dir.«
Später dann entwickelte Lydia sich zu einem aufmüpfigen Teenager, der sich gegen die Obrigkeit auflehnte und die Kirche »aus Prinzip« ablehnte. Damals war sie gedankenlos gewesen, aber heute fragte Lydia sich manchmal, ob ihre Mutter sie an den Sonntagen vermisst hatte. Marion hatte sie nie gezwungen mitzukommen, und genauso wenig hatte sie ihrer Tochter ein schlechtes Gewissen gemacht. Sie schüttelte nur bekümmert den Kopf. Lydia erinnerte sich an den feinen Riss zwischen ihnen, der sich in den folgenden Jahren zu einer tiefen Kluft vergrößerte.
Nach dem Tod ihrer Mutter hatte Lydia versucht, sich zurückzubesinnen. Der schwere Verlust hatte ein Loch in ihr Herz gerissen, durch das der Wind pfiff. Aber der Gottesdienst tröstete und erfüllte sie nicht, sondern kam ihr sinnlos vor. Nicht mehr so schön wie früher. Als ihr klar wurde, dass sie noch nie ohne ihre Mutter in der Kirche gewesen war, dass sie beim Eintreten immer Marions Hand gehalten hatte, wurde sie unendlich traurig. Anstatt ihr über den bitteren Verlust hinwegzuhelfen, erinnerte der Kirchenbesuch sie umso mehr an die Lücke, die ihre Mutter hinterlassen hatte. Wenn sie nach ihrem Glauben gefragt wurde, antwortete Lydia: »Ich jogge.«
Immer wenn sie an der kleinen, weißen Kirche an der Schotterstraße vorbeilief, sah sie das Gesicht ihrer Mutter, hörte das Klacken ihrer Absätze. An diesem Morgen im August, als die Sonne noch nicht aufgegangen und die Wüstenluft noch kühl war, bildete Lydia sich sogar ein, die Stimme ihrer Mutter im Wind zu hören. Sie hielt an, drehte sich um, lief auf der Stelle weiter. Ihr angestrengtes Keuchen war so laut, dass sie erst wieder zu Atem kommen musste, um überhaupt etwas anderes zu hören. Aber da war nur der Sand unter ihren Füßen und das Rauschen in den Bäumen. In der Ferne schrie eine Krähe, aber ihr Krächzen verlor sich im Wind und in den Bergen. Es klang bekümmert und ängstlich.
ZWEI
In den Wochen vor dem Todestag ihrer Mutter plagte Lydia eine unerklärliche Ruhelosigkeit. Sie konnte nicht mehr schlafen und nicht mehr arbeiten. Im Laufe der letzten fünfzehn Jahre war das Gefühl nicht abgeflaut, sondern schlimmer geworden. Nachts lief sie durch die Gegend, fuhr ziellos mit dem Auto herum und tat Dinge, die sie lieber verdrängte. Eine ganze Armee von Psychiatern hatte sich an ihr die Zähne ausgebissen. An die Ärzte und ihre verschreibungspflichtigen Wundermittel glaubte Lydia schon lange nicht mehr. Es war, als hätte sie ihr Portemonnaie oder die Haustürschlüssel verlegt. Sie kam erst zur Ruhe, wenn sie das verlorene Objekt gefunden hatte. Die Angst quälte sie, dass sie es nie im Leben wiederfinden würde, obwohl sie nicht genau wusste, was sie eigentlich verloren hatte. Trotzdem gab sie die Suche nicht auf. Sie bemühte sich schon lange nicht mehr, das Phänomen zu erklären, sie hatte sich damit abgefunden.
An diesem Abend zwang ihre Ruhelosigkeit sie, um zwei Minuten vor Mitternacht das Haus zu verlassen und zum zweiten Mal an diesem Tag an der Kirche zum Heiligen Namen vorbeizulaufen. Sie hatte sich im Bett hin und her gewälzt, und dann war es über sie gekommen. Lydia hatte versucht, das Gefühl zu ignorieren, einen klaren Kopf zu behalten, sich zum Einschlafen zu zwingen. Aber ihre Beine sehnten sich nach der Straße, und auch ihre Seele wollte hinaus, verzehrte sich nach der Strapaze und der anschließenden Erschöpfung, wenn sie ihren Körper wieder einmal an seine Grenzen gebracht hatte.
Es war, als würde sie an einer unsichtbaren Schnur aus dem Bett gezogen. Hastig schlüpfte sie in ihre Trainingsklamotten. Je eher sie draußen war, desto schneller wich die Rastlosigkeit. Sobald ihre ausgetretenen Nikes die Straße berührten und sie nur noch ihren stoßweise gehenden Atem hörte, war sie frei.
An der Kirche hielt sie inne. Alles war wie am Morgen, nur dass die Sterne am Himmel standen. Lydia beschwor albtraumhafte Szenen herauf, die sich hinter der schweren Holztür abspielten: Opfergaben für eine exotische Gottheit; abgeschlachtete Tiere mit aufgeschlitztem Hals, dunkelrotes Blut auf schneeweißem Fell; überreife, fremdartige Früchte, die nicht mit Messern zerteilt, sondern von gierigen Fingern zerrissen wurden und deren Samen und klebriger Saft den Altar besudelten. Dazu unzählige Blumen - Rosen so rot, dass sie beinahe schwarz wirkten, Gladiolen in Orange, Weiß und Hellrot mit aufgerissenen Blumenmündern. Dicht gedrängt, ein Überfluss an dekadenter, faulig-feuchter, sterbender Schönheit. Nichts war zu hören als das Summen der Fliegen, vielleicht noch gedämpfter Gesang aus dem Nebenraum. Lydia wollte der Vision nicht auf den Grund gehen, aber es blieb ihr nichts anderes übrig.
Mehrmals täglich driftete sie in ihre Fantasien ab, träumte von bizarren Szenen. So war es, seit sie denken konnte.
Ein Geräusch holte sie in die Gegenwart zurück, und sie fand sich im Mondlicht vor der Kirche wieder.
Da war es wieder. Eine Art Schlurfen, das von der Rückseite der Kirche zu kommen schien. Lydia fühlte sich magisch angezogen, ihre Neugier war geweckt. Lauf weiter. Ignoriere es einfach, was immer es ist - ein Tier, der Pater vielleicht. Es ist unwichtig. Aber Lydia folgte dem Geräusch. Sie wollte wissen, was in der Dunkelheit vor sich ging.
Über der geöffneten Hintertür der Kirche hing eine Laterne, deren schwacher Schein einen Garten erleuchtete. Obwohl sie fast täglich an der Kirche vorbeilief, hatte Lydia ihn noch nie bemerkt. Er war überraschend üppig und voller unbekannter Pflanzen und wucherte über den niedrigen, weißen Zaun, der ihn umgab. Mitten hindurch führte ein geschlängelter Pfad in Form einer Acht. Die exotischen Blumen, aufrecht und stolz wie luxuriös gekleidete Damen der feinen Gesellschaft, die sich ihrer Schönheit bewusst sind, leuchteten in Orange, Lila, Purpurrot und Smaragdgrün. Sie wiegten sich in der leichten Brise, und ihr betörender Duft drang in Lydias Nase.
Durch die geöffnete Tür der Kirche sah Lydia einen Mann. Er war groß und schlank, hatte rabenschwarze Locken und bewegte sich auf ungewöhnliche Art. Vor jedem Schritt streckte er zögerlich die Hand aus. Er schob sich langsam vorwärts und tastete nach einem Hocker, der vor dem Altar stand. Lydia näherte sich der Tür und sah seinen leeren Blick. Er schien seine Augen nicht zu brauchen, denn er orientierte sich allein, indem er hörte und fühlte. Er war blind.
Lydia fiel ein, ihn schon früher gesehen zu haben; dass er blind war, hatte sie seinerzeit jedoch nicht bemerkt. Die Kirche zum Heiligen Namen hatte sie fasziniert, lange bevor sie ihr Haus gekauft hatte. Sie hatte im Eldorado Hotel in Santa Fe gewohnt und war auf der Suche nach einem Haus nach Angel Fire gekommen. Sie hatte sich an einem Sonntagmorgen auf den gewundenen Landstraßen verirrt und die Kirche zufällig entdeckt. Die Gemeindemitglieder versammelten sich gerade zur Messe. Lydia hatte, ohne nachzudenken, angehalten, war aus dem Auto gestiegen und in die Kirche gegangen. Sie hatte sich eingeredet, sie nehme nur deshalb am Gottesdienst teil, weil sie sich ein Bild von ihren zukünftigen Nachbarn machen wolle. Dabei hatte sie kaum auf die Gläubigen geachtet, sondern nur auf den schlichten Innenraum aus Stein und Holz. Ein Mann spielte Gitarre, und die Musik bewegte Lydia zutiefst. Sie stand in der Nähe der Eingangstür, und nachdem sie eine Weile zugehört hatte, schlich sie hinaus. Vor der Kirche überreichte ein Mann mit einem Besen Lydia eine religiöse Broschüre, und sie bedankte sich. Einige Stunden später hatte ihr die Maklerin das Haus gezeigt, für das Lydia sich später entschied. Sie wollte es als Zweitwohnsitz nutzen, als Rückzugsort, denn meistens war sie in New York.
Nach dem Hauskauf hatte sie die kleine Kirche nie wieder betreten. Sie hatte das Haus vor eineinhalb Jahren erstanden und insgesamt drei Monate dort verbracht. So lange wie jetzt war sie noch nie hier gewesen, seit fast fünf Wochen schon. Nun stand sie in der Dunkelheit und fragte sich, ob der Blinde sie bemerkt hatte. Aber offenbar war er zu beschäftigt, seine Gitarre zu polieren, die neben dem Hocker auf einem Tischchen lag. Dann nahm er das Instrument auf die Knie, stimmte es kurz und fing zu spielen an. Obwohl die Musik wunderschön war, fühlte Lydia sich plötzlich wie eine Einbrecherin. Sie drehte sich um und lief davon. Noch lange vernahm sie den Klang der Gitarre, denn in den stillen Wüstennächten ist jedes Geräusch kilometerweit zu hören.
Als sie die lange, gewundene Einfahrt zu ihrem Haus erreichte, fühlte sie sich schon besser. Sie verlangsamte ihre Schritte und ging furchtlos die stille, dunkle Baumreihe entlang, die die Einfahrt säumte. Obwohl sie mehr als einmal im Leben mit brutaler Gewalt konfrontiert worden war, sorgte sie sich kaum um ihre körperliche Unversehrtheit. Es war, als hätte das Böse seine Macht über sie verloren, weil sie ihm schon zu oft begegnet war - zuerst als Kind, später als Journalistin, Sachbuchautorin und Beraterin für das Detektivbüro Mark, Hanley und Striker. Gewaltverbrechen war ihr Spezialgebiet. Die meisten Leute fürchteten sich vor der Dunkelheit, weil sie nicht wussten, was dort lauerte. Lydia hingegen wusste es nur zu gut.
Als sie fast am Haus war, ging der Bewegungsmelder an, und bernsteinfarbenes Licht durchflutete den Garten. Etwas raschelte im Gebüsch. Lydia lief ums Haus herum, tippte den Zahlencode an der Tür ein und stieg aus den schlammverschmierten Joggingschuhen, bevor sie das Foyer mit dem hellen Holzboden betrat. Sie schloss die Tür hinter sich und gab einen weiteren Code ein, um den Alarm wieder zu aktivieren. Die Außenbeleuchtung erlosch. Lydia machte sich nicht die Mühe, das Licht einzuschalten, bevor sie die Wendeltreppe zum Schlafzimmer hinaufstieg, die feuchten Kleider auszog und sich auf dem Bett ausstreckte. Eigentlich hatte sie duschen wollen, aber dann wurde sie von einem tiefen, festen Schlaf übermannt.
Später im Traum kehrte sie noch einmal in den Garten hinter der Kirche zurück. Normalerweise zog sie sich in den Schlaf zurück wie in einen dunklen, stillen Kokon. Das Alltagsleben verfolgte sie nie, traumatische Erlebnisse nur äußerst selten bis in ihre Träume. Nur nachts war sie unbelastet und frei.
Im Traum stand sie wieder vor dem Garten und sah den Mann in der Kirche Gitarre spielen. Sie konnte jedoch nichts hören, so als wäre sie durch eine dicke Glaswand von dem Blinden getrennt. Anstatt davonzulaufen, öffnete sie das Gartentor und trat ein. Sie lief den Pfad entlang. Die Blumen hatten sich verändert. Sie wiegten sich geheimnisvoll, fast lauernd in der milden Nachtluft. Die Blüten tuschelten über sie und verbreiteten gemeine Lügen, die jedoch umso glaubwürdiger erscheinen würden, je heftiger Lydia widersprach. Sollten sie doch tuscheln. Vergiss die blöden Blumen, dachte sie.
Sie lief bis zur geöffneten Tür. Der Blinde drehte den Kopf. Er hat mich gehört. Auf einmal wurde sein Blick klar; er konnte sie sehen.
»Sie ist hier«, sagte er mit einem freundlichen Lächeln.
Lydia strahlte ihn erleichtert an.
»Oh, Sie können wieder sehen! Das freut mich für Sie.«
»Wichtig ist nur«, sagte der Mann, »was Sie sehen.«
Sie folgte seinem Blick und entdeckte ihre Mutter. Sie sah nicht so aus wie früher, sondern so, wie Lydia sie zum letzten Mal gesehen hatte.
Ihre Arme waren über dem Kopf gefesselt, und ihre blutigen Handgelenke und die vielen blauen Flecken zeugten von ihrem verzweifelten Kampf. Ihre Lippen hatten sich zu dem wohlbekannten liebevollen Lächeln verzogen, aber ihre Augen waren verdreht und ihr Teint gespenstisch weiß. Man hatte ihr die Kehle durchgeschnitten, und weil sie noch atmete, trat blubbernd Blut aus der Wunde. Ihre Füße waren gefesselt, und ihr blutdurchtränkter Slip bis zu den Knöcheln heruntergezogen. Ihr weißes Nachthemd war zerfetzt und mit Dreck, Blut und Sperma besudelt. Sie war nur fünfundvierzig Jahre alt geworden.
Lydia wollte den Mund aufmachen, aber die Wut und das Grauen würgten sie, genau wie vor fünfzehn Jahren.
»Mom«, stieß Lydia hervor, »ich will dir helfen.«
»Nein, Liebes«, antwortete sie, »ich will dir helfen.«
Der blinde Mann spielte Gitarre. Lydia fing zu schreien an.
DREI
Das letzte Glühen hinter der New Yorker Skyline war längst verblasst, als er zum ersten Mal an diesem Tag an Lydia dachte. Jeffrey Mark klappte den Aktenordner zu, nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen. Im Büro von Mark, Hanley und Striker war es still. Nichts war zu hören als das Brummen eines Staubsaugers am anderen Ende des Korridors. Es roch nach verbranntem Kaffee; jemand hatte vergessen, die Maschine abzuschalten.
Jeffrey wirbelte auf seinem Drehstuhl herum, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Millionen von kleinen Rechtecken aus Licht ragten in den sternenlosen Nachthimmel auf. Eine Million Lügen, eine Million gebrochene Herzen, eine Million unaufgeklärte Verbrechen. Wieder einmal fragte er sich, wo sie steckte und warum sie nicht angerufen hatte. Nach fünfzehn Jahren sollte er sich eigentlich daran gewöhnt haben, aber stattdessen konnte er es jedes Mal schwerer ertragen. Er starrte sein Spiegelbild in der schwarzen Fensterscheibe an. Er sah müder und älter aus, als er sich eingestehen wollte.
Er erinnerte sich an die erste Begegnung mit Lydia Strong vor fünfzehn Jahren. Er war damals fünfundzwanzig Jahre alt gewesen. Der Mord an ihrer Mutter war sein erster Fall beim FBI. Marion Strong war eine von dreizehn Frauen, die binnen drei Jahren im Großraum New York umgebracht worden waren. Der Serienkiller hatte jedes Opfer in seinem Haus ermordet, so dass die Kinder es am Nachmittag fanden. Alle Opfer waren alleinerziehende Mütter gewesen und hatten mindestens ein Kind im Teenageralter gehabt.
Man hatte Jeffrey auf den Fall angesetzt, weil kein anderer seiner Kollegen mit Roger Dooley zusammenarbeiten wollte. Dooley war ein Polizeiveteran mit mehr als fünfundzwanzig Jahren Berufserfahrung, einer schwierigen Persönlichkeit und einem Hang zum Perfektionismus. Er wusch sich nur selten, stank nach Fast Food und gescheiterten Beziehungen und war, selbst wenn er gute Laune hatte, der unfreundlichste, zynischste Mann, den Jeff kannte. Drei Jahre lang führte sie jeder neue Hinweis in eine Sackgasse, und irgendwann wurde klar, dass Dooley vor seinem Ruhestand keinen weiteren Fall mehr auf den Schreibtisch bekommen würde. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, seine glänzende Karriere mit einer Niederlage zu beschließen. Er war ein Arschloch, und Jeff hasste ihn dafür, aber gleichzeitig war er ein begnadeter Ermittler. Jeff hatte alles, was er wusste, von Dooley gelernt.
Dem Mörder wären sie damals nie auf die Schliche gekommen, hätte sich nicht die fünfzehnjährige Lydia eingemischt. Sie hatte einen Sinn für Details und eine lebhafte Fantasie. Tage vor dem Tod ihrer Mutter war ihr ein Fremder auf dem Parkplatz des Supermarkts aufgefallen. Er hatte leuchtend rotes Haar gehabt, hatte neben seinem Auto gestanden - einem rot-weißen Flitzer, der Lydia an ihre Lieblingsserie Starsky & Hutch erinnerte - und Lydias Mutter angestiert.
»Guck mal, Mom, der Mann beobachtet uns«, hatte sie gesagt.
»Lydia, schau da nicht so hin. Steig ins Auto«, erwiderte ihre Mutter in strengem Tonfall. Manchmal trieb Lydias blühende Fantasie sie zur Weißglut, und auch diesmal war das Kind schon wieder in seinem Tagtraum gefangen. Lydia stellte sich vor, der Mann verfolge sie. Mit blauem Kajalstift kritzelte sie sein Nummernschild auf die Rückseite eines Zettels, den ihre Freundin ihr im Unterricht zugesteckt hatte. Sie spielte nur, auch wenn der Fremde ihr tatsächlich irgendwie bekannt vorkam. Kein Wunder - er hatte Lydia und ihre Mutter monatelang ausspioniert.
Bei der Tatortbegehung hatte sie den Detectives auch erzählt, dass ein Ohrring ihrer Mutter fehlte. Nicht von dem Paar, das Marion bei ihrem Tod getragen hatte, sondern aus der Schmuckkiste. Ein Granatstecker, den Lydia sich am Vortag heimlich ausgeborgt und vorsichtig in den Schmuckkoffer zurückgelegt hatte.
»Sie ist ein Naturtalent«, hatte Dooley zerknirscht gesagt.
Stunden später hatten sie den Fahrzeughalter ermittelt: Jed McIntyre, einen freiberuflichen Ingenieur aus Nyack, New York. Als die Polizei seine Wohnung stürmte, saß er in Unterwäsche und mit einem Bier in der Hand vor dem Fernseher. Lächelnd ließ er sich abführen.
»Ihr Idioten«, sagte er immer wieder, »ihr Idioten.«
Bei der Hausdurchsuchung fand man dreizehn Fotoalben mit Bildern der Opfer, dazu einen großen Schmuckkoffer mit zwanzig kleinen, mit Samt ausgeschlagenen Fächern. In dreizehn lag jeweils ein Ohrring wie eine winzige, funkelnde Trophäe.
Eine Woche später identifizierte Lydia Jed McIntyre bei der Gegenüberstellung, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie wirkte ruhig, war aber in Wahrheit kurz davor, den Verstand zu verlieren. Jeffrey machte sich Sorgen um sie. Er nahm sie mit in sein Büro, um ihr die Begegnung mit dem Rudel von Reportern zu ersparen, die sie auf Schritt und Tritt verfolgten.
»Ich muss allein sein«, sagte sie, »nur ganz kurz.«
Als er hinausgegangen war und am Ende des Korridors stand, ging ihm ihr Schrei, den er bis heute nicht vergessen konnte, durch Mark und Bein. Er rannte in sein Büro zurück, wo Lydia schluchzend am Boden kauerte. Er ging auf die Knie, nahm sie in die Arme und wiegte sie, bis sie sich beruhigt hatte. Sie war starr vor Angst und vor Trauer, und sie weinte nach ihrer Mutter.
Manchmal, wenn er beim Abendessen oder bei der Arbeit in ihre grauen Augen sah, erinnerte er sich an jenen Moment. Dann dachte er an ihr zartes, von der Anstrengung verzerrtes Gesicht. Ihre Augen waren damals halb geschlossen gewesen, sie hatte kaum geblinzelt. Man hätte sie für Reptilienaugen halten können, hätten sie nicht so hellwach geleuchtet. Für eine Heranwachsende hatte Lydia seltsam gefasst und reif gewirkt. Während der Befragung zitterte ihre Stimme nicht, auch wenn sie jeden Blickkontakt vermied. Sie saß neben ihrem Großvater, der einen Arm um sie gelegt hatte und stumm vor sich hinweinte.
Inzwischen war eine erfolgreiche und preisgekrönte Journalistin und Autorin aus ihr geworden. Manchmal arbeitete sie sogar für Jeffreys Firma. Trotzdem spürte er bis heute, welche Dämonen sie verfolgten. Er sah das kleine Mädchen in ihr, das sein Trauma nie wirklich überwunden hatte und sich im Unbewussten der erwachsenen Frau versteckte. Er wusste, eines Tages würde es aufbegehren und wieder zum Vorschein kommen. Er hoffte nur, dass er dann in der Nähe war.
Seit Wochen versuchte er, Lydia über Handy oder in ihrem Apartment an der Upper West Side zu erreichen. Der Telefonanschluss in ihrem Haus in der Nähe von Santa Fe schien nicht mehr zu funktionieren. Jeff wunderte sich nicht darüber, da Lydia ihre Rufnummern häufig wechselte. Wenn er gewollt hätte, hätte er sie aufstöbern können, doch er stellte ihr nicht nach. Er wollte ihr die Möglichkeit lassen, freiwillig zu ihm zu kommen.
Vor fünf Jahren hatte er beim FBI gekündigt, um zusammen mit zwei Exkollegen ein eigenes Ermittlerteam zu gründen. Die Privatdetektei Mark, Hanley und Striker residierte zunächst in einer Einzimmerwohnung im East Village. Angefangen hatten sie mit einem Telefon, einem Computer, einem guten Draht zum FBI und ein paar Informanten draußen auf der Straße, doch im Laufe der Jahre hatten Jeff Mark, Jacob Hanley und Christian Striker die Firma zu dem gemacht, was sie heute war: großzügige Räumlichkeiten im Obergeschoss eines Wolkenkratzers in der 57. Straße, über hundert Angestellte und ein Jahresumsatz, von dem Jeff zu Beginn nicht zu träumen gewagt hätte. Anfangs hatten sie jene traurigen Fälle übernommen, die kein anderer wollte und die die Polizei für aussichtslos hielt: Kindesentführungen, Sozialbetrug. Hanley hatte ein gutes Gespür für vermisste Personen. Striker hatte sich auf Observierungen spezialisiert. Jeffrey, Exsoldat und FBI-Agent durch und durch, befasste sich am liebsten mit Beweisen, mit Indizien, mit der Tatortanalyse. Seiner Ansicht nach waren Fakten das einzig Verlässliche, und das galt ausnahmslos und für alle Fälle. Zeugen logen, und das Bauchgefühl konnte täuschen, Fakten hingegen führten, richtig interpretiert, stets zur Wahrheit. Die kleine Firma hatte sich innerhalb der staatlichen Strafverfolgungsbehörden schnell einen Namen gemacht, und nun meldeten sich FBI und Polizei, wann immer ihnen die Hände gebunden waren, wenn eine Spur zu versanden und die offiziellen Ermittlungen zu scheitern drohten.
Durch Lydia hatte sich die Firma den Ruf erworben, auch scheinbar unlösbare Fälle zu knacken. Ihr NewYork- Times-Bestseller über die Cheerleader-Morde - eine Mordserie, die sie und Jeff gemeinsam aufgeklärt hatten - katapultierte Mark, Hanley und Striker über Nacht ins Rampenlicht.
Jeffrey, Jacob und Christian waren seinerzeit nach New Orleans geflogen, um das Verschwinden von vier Schülerinnen zu untersuchen. Die lokalen Medien sprachen später von den »Cheerleader-Morden«, weil die Mädchen - alle mit blondem Haar und blauen oder grünen Augen - demselben Cheerleader-Team angehört hatten. Es waren die hübschesten, beliebtesten Mädchen der Schule gewesen, Mädchen aus intakten Elternhäusern, mit guten Noten und gutem Benehmen. Als Jeff erste Fotos gesehen hatte, meinte er sofort zu wissen, was den Killer angezogen hatte: Die Mädchen sahen einander ungewöhnlich ähnlich, hatten seidiges, schulterlanges Haar, ein breites Lächeln und makellose Haut. Sie sahen wie Schwestern aus.
Nach vier Wochen mussten die Ermittler vom Tod der vier vermissten Mädchen ausgehen. Jeffrey und seine Kollegen nahmen an, dass der Entführer Verbindungen zur Schule hatte. Vermutlich war er Sportlehrer, Busfahrer oder Hausmeister. Mehrere Verdächtige wurden observiert. Besonders im Fokus stand ein geistig zurückgebliebener Hausmeister, der auf Psychopharmaka angewiesen und schon gewalttätig geworden war.
Aber keine Spur schien vielversprechend. Die Puzzleteile fügten sich einfach nicht zusammen. Wie so oft, wenn er nicht weiterkam und einen Perspektivwechsel brauchte, rief Jeffrey Lydia an. Sie hatte ihm schon früher mit ihrer Intuition weitergeholfen und ihn auf Details aufmerksam gemacht, die er in seinem Eifer übersehen hatte. Der Faktenfanatiker Jeffrey hatte gelernt, Lydia und ihre Instinkte zu respektieren. Sie war ihm eine unschätzbar wertvolle Hilfe, wenn er mit Fakten allein nicht weiterkam.
Lydia hatte schlechte Laune, als sie in New Orleans ankam. »Einmal Polizist, immer Polizist, nicht wahr, Jeff? Das hier ist doch wieder die typische Hexenjagd mit den üblichen Verdächtigen«, beschwerte sie sich. »Meiner Meinung nach seid ihr völlig auf dem Holzweg.«
Sie bezog sich auf die Auswahl der Verdächtigen. Während der Ermittlungen waren gut gehütete Geheimnisse ans Tageslicht gekommen wie Leichen an die Wasseroberfläche. Die Ehefrau eines Sportlehrers hatte die Scheidung eingereicht und während des Sorgerechtsstreits behauptet, der Mann habe die gemeinsame Tochter belästigt. Ein Busfahrer musste einräumen, früher Crack geraucht zu haben. Einer besonders großen und kräftigen Sportlehrerin wurde nachgewiesen, dass sie früher ein Mann gewesen war. Die Detektive hatten einen ganzen Vorort aufgemischt, ohne ihrem Ziel auch nur einen Schritt näher gekommen zu sein.
Lydia hörte sich bei den Klassenkameraden der Vermissten um. Das so entstandene Bild wich erheblich von der Idylle ab, die Eltern und Lehrer beschrieben hatten. Obwohl die vier Mädchen der eingeschworenen Viererclique um ihre Schönheit von der ganzen Schule beneidet wurden, hasste und fürchtete sie insgeheim so manche Mitschülerin. Sie konnten niederträchtig sein und hatten sich immer die Schwächsten herausgepickt, um sie zu mobben und bloßzustellen.
Ihr letztes Opfer war die sechzehnjährige Wanda Jane Felix gewesen, eine übergewichtige, ungewöhnlich große Brillenträgerin, die nach Schweiß stank und unter schwerer Akne litt. Wanda hatte kaum Freunde und war krankhaft schüchtern. Dennoch war sie ein nettes und hochintelligentes Mädchen. Sie war erst zu Beginn des Schuljahres in die Gegend gezogen und hatte kaum Kontakte geknüpft. Mit anderen Worten: Sie war das perfekte Opfer. Die vier Mädchen hatten sie eine Woche lang hofiert und umschwärmt, ihr Stylingtipps gegeben und sie ins Kino mitgenommen. Am Freitagnachmittag dann luden sie Wanda zu ihrer exklusiven, lang ersehnten Bierparty am Samstag ein. Die arglose Wanda nahm die Einladung an. Sie war überglücklich über die neuen Freundinnen und das hinzugewonnene Ansehen. Sie ahnte nicht, dass die Mädchen sich nur über sie lustig machten.
Am Samstagabend füllten sie Wanda mit Orange Blossoms ab, einem widerlich süßen Mixgetränk aus Orangenlimonade und Wodka. Als Wanda das Bewusstsein verlor, zogen sie sie nackt aus und legten sie im Vorgarten ihres Elternhauses ab. Alle »beliebten« Mitschüler wurden Zeugen der demütigenden Aktion. Wer nicht dabei war, bekam später die Fotos zu sehen. Wanda war seit dem Vorfall - zwei Wochen vor dem Verschwinden des ersten Opfers - nicht wieder zur Schule gegangen.
Lydia tat Wanda leid.
»Stell dir diese Wut vor, diese Scham«, sagte sie bekümmert und zeigte Jeff die entwürdigenden Bilder, die ein hilfsbereiter Schüler ihr überlassen hatte.
»Ich weiß nicht«, antwortete Jeffrey, »für mich klingt das nach einem ganz normalen Schülerstreich.«
Das war natürlich ein Witz. Er wusste, worauf Lydia hinauswollte. Hinter dem Verschwinden der Mädchen steckte Wanda, oder jemand, der ihr nahestand.
»Glaubst du wirklich, ein Teenager wäre zu so was fähig? «, fragte Jeffrey.
»Ja.«
Tatsächlich, es gab ein Motiv. Und da gegen die anderen Verdächtigen keine stichhaltigen Beweise vorlagen, machten sich Jeffrey und Lydia auf, Wanda im Beisein eines Polizeibeamten zu befragen. Den Durchsuchungsbefehl hatten sie gleich mitgebracht.
Lydias Theorie stellte sich bald als richtig heraus.
Wanda Jane hatte die Mädchen mit Hilfe ihrer Mutter, die erwiesenermaßen unter paranoider Schizophrenie litt, in einem Auto entführt, gefoltert und ermordet. Die Leichen lagen in Kühltruhen im Keller der Familie Felix. Die Mädchen waren verstümmelt, ihr seidiges Haar abgeschnitten, die hübschen Augen ausgestochen, die gleichmäßigen Zähne mit einem Hammer eingeschlagen worden. Angeblich hatte Wandas Mutter Kara die Verbrechen allein begangen. Kara sagte später aus, Wanda habe sich damit begnügen wollen, die Mädchen zu entstellen. Aber Kara konnte den Cheerleadern nicht verzeihen, was sie ihrer Tochter angetan hatten, und so hielt sie ihnen eine Kleinkaliberwaffe an den Kopf und gab ihnen den Rest.
Obwohl Jeffrey Lydia schon oft um Rat gefragt und gegen alle Vorschriften verstoßen hatte, indem er Informationen an eine Außenstehende weiterreichte, war dies ihr erster offizieller Fall. Lydia hatte ihn gelehrt, das Unsichtbare zu akzeptieren, die Intuition, die »Schwingungen«, wie sie es nannten. Sie ergänzten sich. Er sorgte für die nötige Bodenhaftung, während sie ihm half, über den Tellerrand zu blicken.
Die Cheerleader-Morde waren ganz nach dem Geschmack von Lydia Strong. Auf ihrer ständigen Suche nach dem Skurrilen und dem Absurden durchstöberte sie den Nachrichtenteil der Zeitungen, und am meisten interessierten sie private Dramen mit bizarrem Hintergrund: eine Kindesentführung, durch die ein Kinderhändlerring aufflog; der ungelöste Mord an einer Frau in Florida mit Verbindungen zur Santeria. Lydia durchforstete Lokalzeitungen und das Internet auf der Suche nach »Schwingungen «. Hauptsache, der Fall war möglichst düster und der Täter krank. In ihren Büchern ging es praktisch nie um die Opfer, auch wenn Lydia glaubte, dass diese manchmal erheblich zur Tataufklärung beitrugen. Ihre Kritiker warfen ihr vor, sie behandle die Opfer nicht wie Menschen, sondern wie Statisten, wie Beweisstücke. Lydia wollte in erster Linie verstehen, wie der Mörder tickte, wie sich das Verbrechen abgespielt hatte und wie es zur Aufklärung gekommen war.
Es war die Suche nach Antworten, das wusste auch Jeff. Lydia wollte verstehen, warum manche Menschen Böses taten und zu Monstern wurden. Und indem sie sie ans Tageslicht zerrte, wurden die Monster kleiner und weniger bedrohlich.
Jeffrey warf dem Telefon einen letzten sehnsüchtigen Blick zu, stand auf, nahm seinen schwarzen Kaschmirmantel vom Haken und verließ das Büro. Er trat durch die Glastüren in die ungewöhnlich kalte Herbstluft hinaus, schlug den Mantelkragen hoch und ging die 57. Straße hinunter bis zur nächsten U-Bahn-Station.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
Ich fischte eine Papierserviette und einen Stift aus dem Handschuhfach und schrieb die ersten Zeilen von Im Herzen die Sünde nieder. Es sollte zehn Jahre dauern, bis ich den Roman vollendete, weil die Zeit zwischen meinem neunzehnten und neunundzwanzigsten Geburtstag von harter Arbeit und turbulenten Veränderungen geprägt war und ich meinen Traum, Schriftstellerin zu werden, vernachlässigte. Aber Lydia war eine treue Seele; sie wartete. Obwohl ich unbedingt einen Roman schreiben wollte, eine erstklassige Ausbildung genossen und in einem Verlag Karriere gemacht hatte, wusste ich nicht viel über das Leben, als ich an meinem ersten Buch arbeitete. Ich glaube, kaum jemand hat eine Vorstellung davon, was es bedeutet, einen Roman zu schreiben, ohne einen eigenen Versuch gewagt zu haben. (Und auch später beim zweiten und dritten Buch fühlt es sich so an, als erlerne man das Schreiben wieder aufs Neue.) Ich wusste nur eins: Ich war bezaubert von dieser Frau, die einen großen Teil meiner Gedanken beherrschte. Ihre dunklen Obsessionen zogen mich in ihren Bann. Ich war fasziniert von ihrer Vergangenheit und den Rätseln ihrer Gegenwart. Warum gestattete sie sich nicht einfach, den Mann zu lieben, der ihr so viel Liebe entgegenbrachte? Unaufhörlich taten sich neue Fragen auf, und im Lauf der zehn Jahre war ich immer dann am glücklichsten, wenn ich mich auf die Suche nach Antworten begab.
Zu meinem großen Glück nahm sich bereits meines allerersten Buchs die wunderbare Agentin Elaine Markson an, die recht schnell einen Verlag für Im Herzen die Sünde und die noch ungeschriebene Fortsetzung fand. Die folgenden Jahre verbrachte ich mit Lydia Strong und den schillernden Figuren, die ihr begegneten. Ich genoss jeden dunklen Augenblick, jede schwierige Wendung des Schicksals, die ihnen widerfuhr.
Ich folgte Lydia von New Mexico nach New York, nach Albanien, Miami und wieder zurück. Wir stapften durch Manhattans stillgelegte U-Bahn-Tunnel und durch die Wildnis Floridas, wir erkundeten eine rätselhafte Kirche in der Bronx und eine fiktionale Stadt namens Haunted. Es war eine aufregende Reise, und ich schrieb, als stünden meine Hände in Flammen.
Ich freue mich, dass meine ersten Werke, die ich noch unter meinem Mädchennamen Lisa Miscione verfasste, eine wunderbare Heimat bei Broadway Paperbacks gefunden haben und einen Platz in den Buchregalen bekommen. Am meisten freut es mich natürlich, dass sie es bis in Ihre Hände geschafft haben. Ich kenne zahlreiche Autoren, die ihre Erstlingswerke am liebsten vor der Welt verstecken würden, weil sie seither Riesenschritte in ihrer Entwicklung als Schriftsteller vollzogen haben. Das ist nur verständlich, denn natürlich würden wir am liebsten die Zeit zurückdrehen und alles noch einmal besser schreiben.
Aber in meinem Herzen haben diese mit so vielen Schwächen behafteten, manchmal komischen und immer komplizierten Figuren und ihre verrückten und wilden Geschichten einen besonderen Platz. Bis heute denke ich an sie und hege selbst für die finsteren unter ihnen zärtliche Gefühle. Die Arbeit an jedem einzelnen dieser Bücher war mir ein Vergnügen, und ich hoffe, Sie genießen die Zeit mit den folgenden Seiten so sehr wie ich. Vielen Dank fürs Lesen.
EINS
Lydia Strong lief. Sie lief, bis sie Krämpfe bekam und ihre Lunge brannte. Sie lief, bis sie nicht mehr konnte, und dann noch ein Stückchen weiter. Sie lief, als müsste sie sich etwas beweisen, als käme sie lieber um, als aufzugeben. Sie lief die Einfahrt an ihrem Haus hinunter, das am Fuß des Sangre-de-Cristo-Gebirges nördlich von Santa Festand, und über den steinigen, unbefestigten Weg, der bis zur Kirche des Ortes Angel Fire führte.
Wenn sie lief, war sie woanders und fand zu sich selbst. Sie ließ ihre Ängste und Zweifel hinter sich, ihre Sorgen, ihre Arbeit. Erst in der Bewegung kam sie zur Ruhe. Dann wurde sie zu einem Wesen, das nur als körperliche Hülle existierte und nichts mehr fühlte außer das Verlangen zu laufen, immer weiter. Sie bestand nur noch aus Beinen und Lunge. Es schmerzte, aber es tat gut. Das Ritual des Laufens war für Lydia zu einer Ersatzreligion geworden. Sie schloss die Existenz eines Gottes oder einer gottesähnlichen Macht nicht aus, aber die Kirche ... nein, an die Kirche glaubte sie nicht. Und dennoch spürte sie, als sie an diesem frühen Augustmorgen wie fast jeden Tag an dem kleinen, weiß verputzten Bau vorbeitrabte, einen Stich im Herzen. Die Kirche zum Heiligen Namen ragte stolz und gebieterisch neben der Schotterstraße auf. Wie ein weißer, unbeweglicher Mond erhob sie sich aus Unkraut und Staub. Seit hundert Jahren, massiv und unbeeindruckt, als hätte sie sich aus der Erde heraufgeschoben wie ein Fels. Selbstbewusst reckte die Kirche ihre Mauern der aufgehenden Sonne entgegen, die sie mit orange-, rosa- und lilafarbenem Licht übergoss.
Als Kind war Lydia jeden Sonntag mit ihrer Mutter in die Messe gegangen. Der feierliche Höhepunkt der Woche, denn ihre Mutter war eine strenggläubige Christin gewesen. Marion Strongs religiöser Eifer hatte die kleine Lydia angesteckt. Sie liebte ihre Mutter über alles und wollte sein wie sie. Sie war glücklich darüber, ihr schönstes Kleid tragen zu dürfen. Stolz lief sie neben ihrer Mutter her. Bestimmt hielt man sie für eine Erwachsene, so laut klackerten ihre Absätze auf dem Gehweg.
In der Kirche gab ihre Mutter ihr vier Vierteldollar- münzen. Zwei für die beiden Kerzen, die sie im Gedenken an ihre verstorbenen Großeltern anzündete, und zwei für die Kollekte. Sie nahmen in einer Bank in der Mitte Platz, und Lydia wartete ungeduldig darauf, endlich singen zu können. Wenn die Orgel erklang und die Lieder angestimmt wurden, fiel die kleine Lydia aus Leibeskräften mit ein. Sie kannte fast alle Texte auswendig. Ihre Mutter sang in einem glockenhellen, wohlklingenden Sopran und schaute zufrieden auf ihre Tochter herab. Lydia fühlte sich geborgen. Alle waren aus demselben Grund hier. Alle sangen, lachten, reichten einander die Hand: »Friede sei mit dir.«
Später dann entwickelte Lydia sich zu einem aufmüpfigen Teenager, der sich gegen die Obrigkeit auflehnte und die Kirche »aus Prinzip« ablehnte. Damals war sie gedankenlos gewesen, aber heute fragte Lydia sich manchmal, ob ihre Mutter sie an den Sonntagen vermisst hatte. Marion hatte sie nie gezwungen mitzukommen, und genauso wenig hatte sie ihrer Tochter ein schlechtes Gewissen gemacht. Sie schüttelte nur bekümmert den Kopf. Lydia erinnerte sich an den feinen Riss zwischen ihnen, der sich in den folgenden Jahren zu einer tiefen Kluft vergrößerte.
Nach dem Tod ihrer Mutter hatte Lydia versucht, sich zurückzubesinnen. Der schwere Verlust hatte ein Loch in ihr Herz gerissen, durch das der Wind pfiff. Aber der Gottesdienst tröstete und erfüllte sie nicht, sondern kam ihr sinnlos vor. Nicht mehr so schön wie früher. Als ihr klar wurde, dass sie noch nie ohne ihre Mutter in der Kirche gewesen war, dass sie beim Eintreten immer Marions Hand gehalten hatte, wurde sie unendlich traurig. Anstatt ihr über den bitteren Verlust hinwegzuhelfen, erinnerte der Kirchenbesuch sie umso mehr an die Lücke, die ihre Mutter hinterlassen hatte. Wenn sie nach ihrem Glauben gefragt wurde, antwortete Lydia: »Ich jogge.«
Immer wenn sie an der kleinen, weißen Kirche an der Schotterstraße vorbeilief, sah sie das Gesicht ihrer Mutter, hörte das Klacken ihrer Absätze. An diesem Morgen im August, als die Sonne noch nicht aufgegangen und die Wüstenluft noch kühl war, bildete Lydia sich sogar ein, die Stimme ihrer Mutter im Wind zu hören. Sie hielt an, drehte sich um, lief auf der Stelle weiter. Ihr angestrengtes Keuchen war so laut, dass sie erst wieder zu Atem kommen musste, um überhaupt etwas anderes zu hören. Aber da war nur der Sand unter ihren Füßen und das Rauschen in den Bäumen. In der Ferne schrie eine Krähe, aber ihr Krächzen verlor sich im Wind und in den Bergen. Es klang bekümmert und ängstlich.
ZWEI
In den Wochen vor dem Todestag ihrer Mutter plagte Lydia eine unerklärliche Ruhelosigkeit. Sie konnte nicht mehr schlafen und nicht mehr arbeiten. Im Laufe der letzten fünfzehn Jahre war das Gefühl nicht abgeflaut, sondern schlimmer geworden. Nachts lief sie durch die Gegend, fuhr ziellos mit dem Auto herum und tat Dinge, die sie lieber verdrängte. Eine ganze Armee von Psychiatern hatte sich an ihr die Zähne ausgebissen. An die Ärzte und ihre verschreibungspflichtigen Wundermittel glaubte Lydia schon lange nicht mehr. Es war, als hätte sie ihr Portemonnaie oder die Haustürschlüssel verlegt. Sie kam erst zur Ruhe, wenn sie das verlorene Objekt gefunden hatte. Die Angst quälte sie, dass sie es nie im Leben wiederfinden würde, obwohl sie nicht genau wusste, was sie eigentlich verloren hatte. Trotzdem gab sie die Suche nicht auf. Sie bemühte sich schon lange nicht mehr, das Phänomen zu erklären, sie hatte sich damit abgefunden.
An diesem Abend zwang ihre Ruhelosigkeit sie, um zwei Minuten vor Mitternacht das Haus zu verlassen und zum zweiten Mal an diesem Tag an der Kirche zum Heiligen Namen vorbeizulaufen. Sie hatte sich im Bett hin und her gewälzt, und dann war es über sie gekommen. Lydia hatte versucht, das Gefühl zu ignorieren, einen klaren Kopf zu behalten, sich zum Einschlafen zu zwingen. Aber ihre Beine sehnten sich nach der Straße, und auch ihre Seele wollte hinaus, verzehrte sich nach der Strapaze und der anschließenden Erschöpfung, wenn sie ihren Körper wieder einmal an seine Grenzen gebracht hatte.
Es war, als würde sie an einer unsichtbaren Schnur aus dem Bett gezogen. Hastig schlüpfte sie in ihre Trainingsklamotten. Je eher sie draußen war, desto schneller wich die Rastlosigkeit. Sobald ihre ausgetretenen Nikes die Straße berührten und sie nur noch ihren stoßweise gehenden Atem hörte, war sie frei.
An der Kirche hielt sie inne. Alles war wie am Morgen, nur dass die Sterne am Himmel standen. Lydia beschwor albtraumhafte Szenen herauf, die sich hinter der schweren Holztür abspielten: Opfergaben für eine exotische Gottheit; abgeschlachtete Tiere mit aufgeschlitztem Hals, dunkelrotes Blut auf schneeweißem Fell; überreife, fremdartige Früchte, die nicht mit Messern zerteilt, sondern von gierigen Fingern zerrissen wurden und deren Samen und klebriger Saft den Altar besudelten. Dazu unzählige Blumen - Rosen so rot, dass sie beinahe schwarz wirkten, Gladiolen in Orange, Weiß und Hellrot mit aufgerissenen Blumenmündern. Dicht gedrängt, ein Überfluss an dekadenter, faulig-feuchter, sterbender Schönheit. Nichts war zu hören als das Summen der Fliegen, vielleicht noch gedämpfter Gesang aus dem Nebenraum. Lydia wollte der Vision nicht auf den Grund gehen, aber es blieb ihr nichts anderes übrig.
Mehrmals täglich driftete sie in ihre Fantasien ab, träumte von bizarren Szenen. So war es, seit sie denken konnte.
Ein Geräusch holte sie in die Gegenwart zurück, und sie fand sich im Mondlicht vor der Kirche wieder.
Da war es wieder. Eine Art Schlurfen, das von der Rückseite der Kirche zu kommen schien. Lydia fühlte sich magisch angezogen, ihre Neugier war geweckt. Lauf weiter. Ignoriere es einfach, was immer es ist - ein Tier, der Pater vielleicht. Es ist unwichtig. Aber Lydia folgte dem Geräusch. Sie wollte wissen, was in der Dunkelheit vor sich ging.
Über der geöffneten Hintertür der Kirche hing eine Laterne, deren schwacher Schein einen Garten erleuchtete. Obwohl sie fast täglich an der Kirche vorbeilief, hatte Lydia ihn noch nie bemerkt. Er war überraschend üppig und voller unbekannter Pflanzen und wucherte über den niedrigen, weißen Zaun, der ihn umgab. Mitten hindurch führte ein geschlängelter Pfad in Form einer Acht. Die exotischen Blumen, aufrecht und stolz wie luxuriös gekleidete Damen der feinen Gesellschaft, die sich ihrer Schönheit bewusst sind, leuchteten in Orange, Lila, Purpurrot und Smaragdgrün. Sie wiegten sich in der leichten Brise, und ihr betörender Duft drang in Lydias Nase.
Durch die geöffnete Tür der Kirche sah Lydia einen Mann. Er war groß und schlank, hatte rabenschwarze Locken und bewegte sich auf ungewöhnliche Art. Vor jedem Schritt streckte er zögerlich die Hand aus. Er schob sich langsam vorwärts und tastete nach einem Hocker, der vor dem Altar stand. Lydia näherte sich der Tür und sah seinen leeren Blick. Er schien seine Augen nicht zu brauchen, denn er orientierte sich allein, indem er hörte und fühlte. Er war blind.
Lydia fiel ein, ihn schon früher gesehen zu haben; dass er blind war, hatte sie seinerzeit jedoch nicht bemerkt. Die Kirche zum Heiligen Namen hatte sie fasziniert, lange bevor sie ihr Haus gekauft hatte. Sie hatte im Eldorado Hotel in Santa Fe gewohnt und war auf der Suche nach einem Haus nach Angel Fire gekommen. Sie hatte sich an einem Sonntagmorgen auf den gewundenen Landstraßen verirrt und die Kirche zufällig entdeckt. Die Gemeindemitglieder versammelten sich gerade zur Messe. Lydia hatte, ohne nachzudenken, angehalten, war aus dem Auto gestiegen und in die Kirche gegangen. Sie hatte sich eingeredet, sie nehme nur deshalb am Gottesdienst teil, weil sie sich ein Bild von ihren zukünftigen Nachbarn machen wolle. Dabei hatte sie kaum auf die Gläubigen geachtet, sondern nur auf den schlichten Innenraum aus Stein und Holz. Ein Mann spielte Gitarre, und die Musik bewegte Lydia zutiefst. Sie stand in der Nähe der Eingangstür, und nachdem sie eine Weile zugehört hatte, schlich sie hinaus. Vor der Kirche überreichte ein Mann mit einem Besen Lydia eine religiöse Broschüre, und sie bedankte sich. Einige Stunden später hatte ihr die Maklerin das Haus gezeigt, für das Lydia sich später entschied. Sie wollte es als Zweitwohnsitz nutzen, als Rückzugsort, denn meistens war sie in New York.
Nach dem Hauskauf hatte sie die kleine Kirche nie wieder betreten. Sie hatte das Haus vor eineinhalb Jahren erstanden und insgesamt drei Monate dort verbracht. So lange wie jetzt war sie noch nie hier gewesen, seit fast fünf Wochen schon. Nun stand sie in der Dunkelheit und fragte sich, ob der Blinde sie bemerkt hatte. Aber offenbar war er zu beschäftigt, seine Gitarre zu polieren, die neben dem Hocker auf einem Tischchen lag. Dann nahm er das Instrument auf die Knie, stimmte es kurz und fing zu spielen an. Obwohl die Musik wunderschön war, fühlte Lydia sich plötzlich wie eine Einbrecherin. Sie drehte sich um und lief davon. Noch lange vernahm sie den Klang der Gitarre, denn in den stillen Wüstennächten ist jedes Geräusch kilometerweit zu hören.
Als sie die lange, gewundene Einfahrt zu ihrem Haus erreichte, fühlte sie sich schon besser. Sie verlangsamte ihre Schritte und ging furchtlos die stille, dunkle Baumreihe entlang, die die Einfahrt säumte. Obwohl sie mehr als einmal im Leben mit brutaler Gewalt konfrontiert worden war, sorgte sie sich kaum um ihre körperliche Unversehrtheit. Es war, als hätte das Böse seine Macht über sie verloren, weil sie ihm schon zu oft begegnet war - zuerst als Kind, später als Journalistin, Sachbuchautorin und Beraterin für das Detektivbüro Mark, Hanley und Striker. Gewaltverbrechen war ihr Spezialgebiet. Die meisten Leute fürchteten sich vor der Dunkelheit, weil sie nicht wussten, was dort lauerte. Lydia hingegen wusste es nur zu gut.
Als sie fast am Haus war, ging der Bewegungsmelder an, und bernsteinfarbenes Licht durchflutete den Garten. Etwas raschelte im Gebüsch. Lydia lief ums Haus herum, tippte den Zahlencode an der Tür ein und stieg aus den schlammverschmierten Joggingschuhen, bevor sie das Foyer mit dem hellen Holzboden betrat. Sie schloss die Tür hinter sich und gab einen weiteren Code ein, um den Alarm wieder zu aktivieren. Die Außenbeleuchtung erlosch. Lydia machte sich nicht die Mühe, das Licht einzuschalten, bevor sie die Wendeltreppe zum Schlafzimmer hinaufstieg, die feuchten Kleider auszog und sich auf dem Bett ausstreckte. Eigentlich hatte sie duschen wollen, aber dann wurde sie von einem tiefen, festen Schlaf übermannt.
Später im Traum kehrte sie noch einmal in den Garten hinter der Kirche zurück. Normalerweise zog sie sich in den Schlaf zurück wie in einen dunklen, stillen Kokon. Das Alltagsleben verfolgte sie nie, traumatische Erlebnisse nur äußerst selten bis in ihre Träume. Nur nachts war sie unbelastet und frei.
Im Traum stand sie wieder vor dem Garten und sah den Mann in der Kirche Gitarre spielen. Sie konnte jedoch nichts hören, so als wäre sie durch eine dicke Glaswand von dem Blinden getrennt. Anstatt davonzulaufen, öffnete sie das Gartentor und trat ein. Sie lief den Pfad entlang. Die Blumen hatten sich verändert. Sie wiegten sich geheimnisvoll, fast lauernd in der milden Nachtluft. Die Blüten tuschelten über sie und verbreiteten gemeine Lügen, die jedoch umso glaubwürdiger erscheinen würden, je heftiger Lydia widersprach. Sollten sie doch tuscheln. Vergiss die blöden Blumen, dachte sie.
Sie lief bis zur geöffneten Tür. Der Blinde drehte den Kopf. Er hat mich gehört. Auf einmal wurde sein Blick klar; er konnte sie sehen.
»Sie ist hier«, sagte er mit einem freundlichen Lächeln.
Lydia strahlte ihn erleichtert an.
»Oh, Sie können wieder sehen! Das freut mich für Sie.«
»Wichtig ist nur«, sagte der Mann, »was Sie sehen.«
Sie folgte seinem Blick und entdeckte ihre Mutter. Sie sah nicht so aus wie früher, sondern so, wie Lydia sie zum letzten Mal gesehen hatte.
Ihre Arme waren über dem Kopf gefesselt, und ihre blutigen Handgelenke und die vielen blauen Flecken zeugten von ihrem verzweifelten Kampf. Ihre Lippen hatten sich zu dem wohlbekannten liebevollen Lächeln verzogen, aber ihre Augen waren verdreht und ihr Teint gespenstisch weiß. Man hatte ihr die Kehle durchgeschnitten, und weil sie noch atmete, trat blubbernd Blut aus der Wunde. Ihre Füße waren gefesselt, und ihr blutdurchtränkter Slip bis zu den Knöcheln heruntergezogen. Ihr weißes Nachthemd war zerfetzt und mit Dreck, Blut und Sperma besudelt. Sie war nur fünfundvierzig Jahre alt geworden.
Lydia wollte den Mund aufmachen, aber die Wut und das Grauen würgten sie, genau wie vor fünfzehn Jahren.
»Mom«, stieß Lydia hervor, »ich will dir helfen.«
»Nein, Liebes«, antwortete sie, »ich will dir helfen.«
Der blinde Mann spielte Gitarre. Lydia fing zu schreien an.
DREI
Das letzte Glühen hinter der New Yorker Skyline war längst verblasst, als er zum ersten Mal an diesem Tag an Lydia dachte. Jeffrey Mark klappte den Aktenordner zu, nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen. Im Büro von Mark, Hanley und Striker war es still. Nichts war zu hören als das Brummen eines Staubsaugers am anderen Ende des Korridors. Es roch nach verbranntem Kaffee; jemand hatte vergessen, die Maschine abzuschalten.
Jeffrey wirbelte auf seinem Drehstuhl herum, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Millionen von kleinen Rechtecken aus Licht ragten in den sternenlosen Nachthimmel auf. Eine Million Lügen, eine Million gebrochene Herzen, eine Million unaufgeklärte Verbrechen. Wieder einmal fragte er sich, wo sie steckte und warum sie nicht angerufen hatte. Nach fünfzehn Jahren sollte er sich eigentlich daran gewöhnt haben, aber stattdessen konnte er es jedes Mal schwerer ertragen. Er starrte sein Spiegelbild in der schwarzen Fensterscheibe an. Er sah müder und älter aus, als er sich eingestehen wollte.
Er erinnerte sich an die erste Begegnung mit Lydia Strong vor fünfzehn Jahren. Er war damals fünfundzwanzig Jahre alt gewesen. Der Mord an ihrer Mutter war sein erster Fall beim FBI. Marion Strong war eine von dreizehn Frauen, die binnen drei Jahren im Großraum New York umgebracht worden waren. Der Serienkiller hatte jedes Opfer in seinem Haus ermordet, so dass die Kinder es am Nachmittag fanden. Alle Opfer waren alleinerziehende Mütter gewesen und hatten mindestens ein Kind im Teenageralter gehabt.
Man hatte Jeffrey auf den Fall angesetzt, weil kein anderer seiner Kollegen mit Roger Dooley zusammenarbeiten wollte. Dooley war ein Polizeiveteran mit mehr als fünfundzwanzig Jahren Berufserfahrung, einer schwierigen Persönlichkeit und einem Hang zum Perfektionismus. Er wusch sich nur selten, stank nach Fast Food und gescheiterten Beziehungen und war, selbst wenn er gute Laune hatte, der unfreundlichste, zynischste Mann, den Jeff kannte. Drei Jahre lang führte sie jeder neue Hinweis in eine Sackgasse, und irgendwann wurde klar, dass Dooley vor seinem Ruhestand keinen weiteren Fall mehr auf den Schreibtisch bekommen würde. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, seine glänzende Karriere mit einer Niederlage zu beschließen. Er war ein Arschloch, und Jeff hasste ihn dafür, aber gleichzeitig war er ein begnadeter Ermittler. Jeff hatte alles, was er wusste, von Dooley gelernt.
Dem Mörder wären sie damals nie auf die Schliche gekommen, hätte sich nicht die fünfzehnjährige Lydia eingemischt. Sie hatte einen Sinn für Details und eine lebhafte Fantasie. Tage vor dem Tod ihrer Mutter war ihr ein Fremder auf dem Parkplatz des Supermarkts aufgefallen. Er hatte leuchtend rotes Haar gehabt, hatte neben seinem Auto gestanden - einem rot-weißen Flitzer, der Lydia an ihre Lieblingsserie Starsky & Hutch erinnerte - und Lydias Mutter angestiert.
»Guck mal, Mom, der Mann beobachtet uns«, hatte sie gesagt.
»Lydia, schau da nicht so hin. Steig ins Auto«, erwiderte ihre Mutter in strengem Tonfall. Manchmal trieb Lydias blühende Fantasie sie zur Weißglut, und auch diesmal war das Kind schon wieder in seinem Tagtraum gefangen. Lydia stellte sich vor, der Mann verfolge sie. Mit blauem Kajalstift kritzelte sie sein Nummernschild auf die Rückseite eines Zettels, den ihre Freundin ihr im Unterricht zugesteckt hatte. Sie spielte nur, auch wenn der Fremde ihr tatsächlich irgendwie bekannt vorkam. Kein Wunder - er hatte Lydia und ihre Mutter monatelang ausspioniert.
Bei der Tatortbegehung hatte sie den Detectives auch erzählt, dass ein Ohrring ihrer Mutter fehlte. Nicht von dem Paar, das Marion bei ihrem Tod getragen hatte, sondern aus der Schmuckkiste. Ein Granatstecker, den Lydia sich am Vortag heimlich ausgeborgt und vorsichtig in den Schmuckkoffer zurückgelegt hatte.
»Sie ist ein Naturtalent«, hatte Dooley zerknirscht gesagt.
Stunden später hatten sie den Fahrzeughalter ermittelt: Jed McIntyre, einen freiberuflichen Ingenieur aus Nyack, New York. Als die Polizei seine Wohnung stürmte, saß er in Unterwäsche und mit einem Bier in der Hand vor dem Fernseher. Lächelnd ließ er sich abführen.
»Ihr Idioten«, sagte er immer wieder, »ihr Idioten.«
Bei der Hausdurchsuchung fand man dreizehn Fotoalben mit Bildern der Opfer, dazu einen großen Schmuckkoffer mit zwanzig kleinen, mit Samt ausgeschlagenen Fächern. In dreizehn lag jeweils ein Ohrring wie eine winzige, funkelnde Trophäe.
Eine Woche später identifizierte Lydia Jed McIntyre bei der Gegenüberstellung, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie wirkte ruhig, war aber in Wahrheit kurz davor, den Verstand zu verlieren. Jeffrey machte sich Sorgen um sie. Er nahm sie mit in sein Büro, um ihr die Begegnung mit dem Rudel von Reportern zu ersparen, die sie auf Schritt und Tritt verfolgten.
»Ich muss allein sein«, sagte sie, »nur ganz kurz.«
Als er hinausgegangen war und am Ende des Korridors stand, ging ihm ihr Schrei, den er bis heute nicht vergessen konnte, durch Mark und Bein. Er rannte in sein Büro zurück, wo Lydia schluchzend am Boden kauerte. Er ging auf die Knie, nahm sie in die Arme und wiegte sie, bis sie sich beruhigt hatte. Sie war starr vor Angst und vor Trauer, und sie weinte nach ihrer Mutter.
Manchmal, wenn er beim Abendessen oder bei der Arbeit in ihre grauen Augen sah, erinnerte er sich an jenen Moment. Dann dachte er an ihr zartes, von der Anstrengung verzerrtes Gesicht. Ihre Augen waren damals halb geschlossen gewesen, sie hatte kaum geblinzelt. Man hätte sie für Reptilienaugen halten können, hätten sie nicht so hellwach geleuchtet. Für eine Heranwachsende hatte Lydia seltsam gefasst und reif gewirkt. Während der Befragung zitterte ihre Stimme nicht, auch wenn sie jeden Blickkontakt vermied. Sie saß neben ihrem Großvater, der einen Arm um sie gelegt hatte und stumm vor sich hinweinte.
Inzwischen war eine erfolgreiche und preisgekrönte Journalistin und Autorin aus ihr geworden. Manchmal arbeitete sie sogar für Jeffreys Firma. Trotzdem spürte er bis heute, welche Dämonen sie verfolgten. Er sah das kleine Mädchen in ihr, das sein Trauma nie wirklich überwunden hatte und sich im Unbewussten der erwachsenen Frau versteckte. Er wusste, eines Tages würde es aufbegehren und wieder zum Vorschein kommen. Er hoffte nur, dass er dann in der Nähe war.
Seit Wochen versuchte er, Lydia über Handy oder in ihrem Apartment an der Upper West Side zu erreichen. Der Telefonanschluss in ihrem Haus in der Nähe von Santa Fe schien nicht mehr zu funktionieren. Jeff wunderte sich nicht darüber, da Lydia ihre Rufnummern häufig wechselte. Wenn er gewollt hätte, hätte er sie aufstöbern können, doch er stellte ihr nicht nach. Er wollte ihr die Möglichkeit lassen, freiwillig zu ihm zu kommen.
Vor fünf Jahren hatte er beim FBI gekündigt, um zusammen mit zwei Exkollegen ein eigenes Ermittlerteam zu gründen. Die Privatdetektei Mark, Hanley und Striker residierte zunächst in einer Einzimmerwohnung im East Village. Angefangen hatten sie mit einem Telefon, einem Computer, einem guten Draht zum FBI und ein paar Informanten draußen auf der Straße, doch im Laufe der Jahre hatten Jeff Mark, Jacob Hanley und Christian Striker die Firma zu dem gemacht, was sie heute war: großzügige Räumlichkeiten im Obergeschoss eines Wolkenkratzers in der 57. Straße, über hundert Angestellte und ein Jahresumsatz, von dem Jeff zu Beginn nicht zu träumen gewagt hätte. Anfangs hatten sie jene traurigen Fälle übernommen, die kein anderer wollte und die die Polizei für aussichtslos hielt: Kindesentführungen, Sozialbetrug. Hanley hatte ein gutes Gespür für vermisste Personen. Striker hatte sich auf Observierungen spezialisiert. Jeffrey, Exsoldat und FBI-Agent durch und durch, befasste sich am liebsten mit Beweisen, mit Indizien, mit der Tatortanalyse. Seiner Ansicht nach waren Fakten das einzig Verlässliche, und das galt ausnahmslos und für alle Fälle. Zeugen logen, und das Bauchgefühl konnte täuschen, Fakten hingegen führten, richtig interpretiert, stets zur Wahrheit. Die kleine Firma hatte sich innerhalb der staatlichen Strafverfolgungsbehörden schnell einen Namen gemacht, und nun meldeten sich FBI und Polizei, wann immer ihnen die Hände gebunden waren, wenn eine Spur zu versanden und die offiziellen Ermittlungen zu scheitern drohten.
Durch Lydia hatte sich die Firma den Ruf erworben, auch scheinbar unlösbare Fälle zu knacken. Ihr NewYork- Times-Bestseller über die Cheerleader-Morde - eine Mordserie, die sie und Jeff gemeinsam aufgeklärt hatten - katapultierte Mark, Hanley und Striker über Nacht ins Rampenlicht.
Jeffrey, Jacob und Christian waren seinerzeit nach New Orleans geflogen, um das Verschwinden von vier Schülerinnen zu untersuchen. Die lokalen Medien sprachen später von den »Cheerleader-Morden«, weil die Mädchen - alle mit blondem Haar und blauen oder grünen Augen - demselben Cheerleader-Team angehört hatten. Es waren die hübschesten, beliebtesten Mädchen der Schule gewesen, Mädchen aus intakten Elternhäusern, mit guten Noten und gutem Benehmen. Als Jeff erste Fotos gesehen hatte, meinte er sofort zu wissen, was den Killer angezogen hatte: Die Mädchen sahen einander ungewöhnlich ähnlich, hatten seidiges, schulterlanges Haar, ein breites Lächeln und makellose Haut. Sie sahen wie Schwestern aus.
Nach vier Wochen mussten die Ermittler vom Tod der vier vermissten Mädchen ausgehen. Jeffrey und seine Kollegen nahmen an, dass der Entführer Verbindungen zur Schule hatte. Vermutlich war er Sportlehrer, Busfahrer oder Hausmeister. Mehrere Verdächtige wurden observiert. Besonders im Fokus stand ein geistig zurückgebliebener Hausmeister, der auf Psychopharmaka angewiesen und schon gewalttätig geworden war.
Aber keine Spur schien vielversprechend. Die Puzzleteile fügten sich einfach nicht zusammen. Wie so oft, wenn er nicht weiterkam und einen Perspektivwechsel brauchte, rief Jeffrey Lydia an. Sie hatte ihm schon früher mit ihrer Intuition weitergeholfen und ihn auf Details aufmerksam gemacht, die er in seinem Eifer übersehen hatte. Der Faktenfanatiker Jeffrey hatte gelernt, Lydia und ihre Instinkte zu respektieren. Sie war ihm eine unschätzbar wertvolle Hilfe, wenn er mit Fakten allein nicht weiterkam.
Lydia hatte schlechte Laune, als sie in New Orleans ankam. »Einmal Polizist, immer Polizist, nicht wahr, Jeff? Das hier ist doch wieder die typische Hexenjagd mit den üblichen Verdächtigen«, beschwerte sie sich. »Meiner Meinung nach seid ihr völlig auf dem Holzweg.«
Sie bezog sich auf die Auswahl der Verdächtigen. Während der Ermittlungen waren gut gehütete Geheimnisse ans Tageslicht gekommen wie Leichen an die Wasseroberfläche. Die Ehefrau eines Sportlehrers hatte die Scheidung eingereicht und während des Sorgerechtsstreits behauptet, der Mann habe die gemeinsame Tochter belästigt. Ein Busfahrer musste einräumen, früher Crack geraucht zu haben. Einer besonders großen und kräftigen Sportlehrerin wurde nachgewiesen, dass sie früher ein Mann gewesen war. Die Detektive hatten einen ganzen Vorort aufgemischt, ohne ihrem Ziel auch nur einen Schritt näher gekommen zu sein.
Lydia hörte sich bei den Klassenkameraden der Vermissten um. Das so entstandene Bild wich erheblich von der Idylle ab, die Eltern und Lehrer beschrieben hatten. Obwohl die vier Mädchen der eingeschworenen Viererclique um ihre Schönheit von der ganzen Schule beneidet wurden, hasste und fürchtete sie insgeheim so manche Mitschülerin. Sie konnten niederträchtig sein und hatten sich immer die Schwächsten herausgepickt, um sie zu mobben und bloßzustellen.
Ihr letztes Opfer war die sechzehnjährige Wanda Jane Felix gewesen, eine übergewichtige, ungewöhnlich große Brillenträgerin, die nach Schweiß stank und unter schwerer Akne litt. Wanda hatte kaum Freunde und war krankhaft schüchtern. Dennoch war sie ein nettes und hochintelligentes Mädchen. Sie war erst zu Beginn des Schuljahres in die Gegend gezogen und hatte kaum Kontakte geknüpft. Mit anderen Worten: Sie war das perfekte Opfer. Die vier Mädchen hatten sie eine Woche lang hofiert und umschwärmt, ihr Stylingtipps gegeben und sie ins Kino mitgenommen. Am Freitagnachmittag dann luden sie Wanda zu ihrer exklusiven, lang ersehnten Bierparty am Samstag ein. Die arglose Wanda nahm die Einladung an. Sie war überglücklich über die neuen Freundinnen und das hinzugewonnene Ansehen. Sie ahnte nicht, dass die Mädchen sich nur über sie lustig machten.
Am Samstagabend füllten sie Wanda mit Orange Blossoms ab, einem widerlich süßen Mixgetränk aus Orangenlimonade und Wodka. Als Wanda das Bewusstsein verlor, zogen sie sie nackt aus und legten sie im Vorgarten ihres Elternhauses ab. Alle »beliebten« Mitschüler wurden Zeugen der demütigenden Aktion. Wer nicht dabei war, bekam später die Fotos zu sehen. Wanda war seit dem Vorfall - zwei Wochen vor dem Verschwinden des ersten Opfers - nicht wieder zur Schule gegangen.
Lydia tat Wanda leid.
»Stell dir diese Wut vor, diese Scham«, sagte sie bekümmert und zeigte Jeff die entwürdigenden Bilder, die ein hilfsbereiter Schüler ihr überlassen hatte.
»Ich weiß nicht«, antwortete Jeffrey, »für mich klingt das nach einem ganz normalen Schülerstreich.«
Das war natürlich ein Witz. Er wusste, worauf Lydia hinauswollte. Hinter dem Verschwinden der Mädchen steckte Wanda, oder jemand, der ihr nahestand.
»Glaubst du wirklich, ein Teenager wäre zu so was fähig? «, fragte Jeffrey.
»Ja.«
Tatsächlich, es gab ein Motiv. Und da gegen die anderen Verdächtigen keine stichhaltigen Beweise vorlagen, machten sich Jeffrey und Lydia auf, Wanda im Beisein eines Polizeibeamten zu befragen. Den Durchsuchungsbefehl hatten sie gleich mitgebracht.
Lydias Theorie stellte sich bald als richtig heraus.
Wanda Jane hatte die Mädchen mit Hilfe ihrer Mutter, die erwiesenermaßen unter paranoider Schizophrenie litt, in einem Auto entführt, gefoltert und ermordet. Die Leichen lagen in Kühltruhen im Keller der Familie Felix. Die Mädchen waren verstümmelt, ihr seidiges Haar abgeschnitten, die hübschen Augen ausgestochen, die gleichmäßigen Zähne mit einem Hammer eingeschlagen worden. Angeblich hatte Wandas Mutter Kara die Verbrechen allein begangen. Kara sagte später aus, Wanda habe sich damit begnügen wollen, die Mädchen zu entstellen. Aber Kara konnte den Cheerleadern nicht verzeihen, was sie ihrer Tochter angetan hatten, und so hielt sie ihnen eine Kleinkaliberwaffe an den Kopf und gab ihnen den Rest.
Obwohl Jeffrey Lydia schon oft um Rat gefragt und gegen alle Vorschriften verstoßen hatte, indem er Informationen an eine Außenstehende weiterreichte, war dies ihr erster offizieller Fall. Lydia hatte ihn gelehrt, das Unsichtbare zu akzeptieren, die Intuition, die »Schwingungen«, wie sie es nannten. Sie ergänzten sich. Er sorgte für die nötige Bodenhaftung, während sie ihm half, über den Tellerrand zu blicken.
Die Cheerleader-Morde waren ganz nach dem Geschmack von Lydia Strong. Auf ihrer ständigen Suche nach dem Skurrilen und dem Absurden durchstöberte sie den Nachrichtenteil der Zeitungen, und am meisten interessierten sie private Dramen mit bizarrem Hintergrund: eine Kindesentführung, durch die ein Kinderhändlerring aufflog; der ungelöste Mord an einer Frau in Florida mit Verbindungen zur Santeria. Lydia durchforstete Lokalzeitungen und das Internet auf der Suche nach »Schwingungen «. Hauptsache, der Fall war möglichst düster und der Täter krank. In ihren Büchern ging es praktisch nie um die Opfer, auch wenn Lydia glaubte, dass diese manchmal erheblich zur Tataufklärung beitrugen. Ihre Kritiker warfen ihr vor, sie behandle die Opfer nicht wie Menschen, sondern wie Statisten, wie Beweisstücke. Lydia wollte in erster Linie verstehen, wie der Mörder tickte, wie sich das Verbrechen abgespielt hatte und wie es zur Aufklärung gekommen war.
Es war die Suche nach Antworten, das wusste auch Jeff. Lydia wollte verstehen, warum manche Menschen Böses taten und zu Monstern wurden. Und indem sie sie ans Tageslicht zerrte, wurden die Monster kleiner und weniger bedrohlich.
Jeffrey warf dem Telefon einen letzten sehnsüchtigen Blick zu, stand auf, nahm seinen schwarzen Kaschmirmantel vom Haken und verließ das Büro. Er trat durch die Glastüren in die ungewöhnlich kalte Herbstluft hinaus, schlug den Mantelkragen hoch und ging die 57. Straße hinunter bis zur nächsten U-Bahn-Station.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
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Autoren-Porträt von Lisa Unger
Lisa Unger, geboren in Connecticut, ist in den USA, England und Holland aufgewachsen. Sie hat in einem Verlag gearbeitet, bevor sie sich entschloss, selbst Schriftstellerin zu werden. Gleich mit ihrem ersten Thriller gelang ihr ein Bestseller. Zusammen mit ihrer Familie lebt sie heute in Florida.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lisa Unger
- 2013, 320 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Bonné, Eva
- Übersetzer: Eva Bonné
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442478529
- ISBN-13: 9783442478521
- Erscheinungsdatum: 15.07.2013
Rezension zu „Im Herzen die Sünde / Lydia Strong Bd.1 “
»Ein hervorragender Auftakt ... Ein intelligenter, perfekt aufgebauter Thriller, von dem Sie jede Seite verschlingen werden.«
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