Marc Chagall - die Farben des verlorenen Paradieses
Romanbiografie
Marc Chagall hat in seine Bilder die Farbe der Sehnsucht hineingemalt. Und auch sein Leben berührt die Menschen. In 98 Jahren hat er de Höhen und Tiefen des 20. Jahrhunderts ebenso durchlebt wie persönliche Katastrophen, bittere Armut - aber auch großen Ruhm und Liebe.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Marc Chagall - die Farben des verlorenen Paradieses “
Marc Chagall hat in seine Bilder die Farbe der Sehnsucht hineingemalt. Und auch sein Leben berührt die Menschen. In 98 Jahren hat er de Höhen und Tiefen des 20. Jahrhunderts ebenso durchlebt wie persönliche Katastrophen, bittere Armut - aber auch großen Ruhm und Liebe.
Klappentext zu „Marc Chagall - die Farben des verlorenen Paradieses “
Marc Chagall hat in seine Bilder die Farbe der Sehnsucht hineingemalt. Und auch sein leben berührt die Menschen. In seinen 98 Jahren hat er nicht nur die Höhen und Tiefen des 20. Jahrhunderts durchlebt, persönliche Katastrophen , bittere Armut sowie großen Ruhm und die Liebe seines Lebens. Ein großes Künstler-Leben, faszinierend erzählt.
Lese-Probe zu „Marc Chagall - die Farben des verlorenen Paradieses “
Marc Chagall – die Farben des verlorenen Paradieses von Barbara Krause1. Die Verheißung des Namens
Hinter der Brücke, die sich über die Dwina spannt, liegt die Silhouette der Stadt wie eine Krone. Das Kloster, das Rathaus, orthodoxe barocke Kirchen, Paläste und Synagogen. Auf dem Hügel erhebt sich die Uspenski-Kathedrale. Witebsk ist seit einem Jahrhundert dem Russischen Reich zugehörig. Früher war es Zankapfel zwischen Litauen und Polen. Eine Eisenbahnstrecke führt von St. Petersburg nach Witebsk. Hier also ist das Ende der Welt. Mit dem Bahnhof wurde ein Hotel gebaut und das Theater. Auch die Brücke ist neu. Aus Metall. Sie ist ein Anziehungspunkt, ein Ort, wo man sich gerne aufhält. Aus dem Gewirr der engen Gassen entkommen, wird die plötzliche Weite des Horizonts ein Geschenk. Der Fluss ist ein dunkel gepflügtes Feld in ständiger Bewegung. In ihm liegt das Geheimnis der Zeit. Eine Treppe steiler Steinstufen führt zum Ufer hinab. Hier unten stehen Häuschen, niedrig und geduckt. Wenn man so will, kommt ihnen der Fluss bis zur Schwelle der Tür entgegen. Hier zeigt die Stadt ihr anderes Gesicht, das der Armut.
Der Tag der Geburt.
Es ist der 7. Juli 1887.
Am Abend des heißen Sommertages zieht ein Gewitter auf. Blitze werden geschleudert. Der Himmel steht in Flammen.
Das Holzhaus, in dem das Kind zur Welt kommt, mutet wie eine Kartoffel an. Immer riecht es darin nach Heringslake. Aus roh behauenen Stämmen ist es zusammengefügt, und in üblicher Manier liegt die Wohnstube über dem Stall. Ritzen werden mit Stroh verstopft. Es gibt einen Spalt, durch den ein Himmelssplitter fällt, und eine unsichtbare Öffnung verrät, ob Wind übers Land zieht. Dieses Haus liegt an einem Sandweg, der keinen Anspruch erhebt. Hirtentäschel und Löwenzahn geben ihm die Ehre. Regnet es, verwandelt sich der Weg
... mehr
in Morast, durch den sich mühsam die Leiterwagen der Bauern quälen. Sie hinterlassen tiefe Furchen, in denen tagelang das Wasser steht, zur Freude der Vögel und Hühner.
Das Kind kommt ohne Anstrengung auf die Welt. Das Neugeborene schläft noch in der Fruchtblase, als diese aus dem Mutterleib gestoßen wird. Es schwimmt im Wasser, das es schützend umgibt. Sagt man nicht, ein solches Kind sei in der Glückshaut geboren? Mutet die weißliche Haut nicht wie Leinwand an, die ihm mitgegeben ist, sie zu bemalen?
Die Blase wird aufgestochen und der kleine Mensch herausgehoben. Er will nicht zur Kenntnis nehmen, dass er auf der Welt ist, Eigenverantwortung übernehmen muss und atmen. Er will nicht. Ratlosigkeit kommt auf. Die junge Mutter wird stumm im Griff der Angst. Die üblichen Klapse helfen nicht. Die Nadel muss ein weiteres Mal herhalten. Man sticht dem Kind in die Fersen. Sind es ungute Träume? Schließlich taucht die Großmutter das leblose Kind in einen Wasserkübel. Das Wasser ist frisch gepumpt und kalt. Das Menschlein beginnt zu wimmern.
Nun zieht Freude ein in das Häuschen. Freude über einen Sohn, den Erstgeborenen des Zachar Segal.
Vor dem Bett der Mutter steht der Trog. Neu ist er. Auf dem Markt erstanden. Helles Holz. Aus einem Baumstamm gekerbt. Ein Futtertrog für Schweine. Doch gleich gut geeignet als Wiege für den Sohn. Erste Wahrnehmung – so will es später der Mann. Seine Biografie beginnt mit den Worten: „Was mir zuerst in die Augen sprang, war ein Trog. Einfach, wuchtig, oval, zur Hälfte ausgehöhlt.“
Dann erreicht der „Feuer“-Schrei das Häuschen. Man trägt die Wöchnerin in ihrem Bett hinaus ins Freie, den Trog zu ihren Füßen. Brennt es im Viertel der armen Juden, springt das Feuer leicht über.
Der Brand dieses Abends erreicht nicht den Ort der Geburt.
Wie soll das Kind heißen?
Jeder Name besitzt eine Energie. Wie ein Mantel wird der Name um das Neugeborene gelegt, damit es hineinwachsen möge und seinen Auftrag erfülle bei der Sinnsuche seines Lebens.
Das Neugeborene aus dem Witebsker Vorort Peskowatik erhält den Namen Moses.
Moische Zacharowitsch Segal.
Wollte es so der religiöse Vater?
In der Regel wird geschehen, was die Frau bestimmt.
Mit dem für ihn gewählten Namen wird dem Neugeborenen eine Verheißung mit auf den Weg gegeben, eine Hoffnung, die sich erfüllen möge.
Moses – der Gesetzgeber. Moses – der aus dem Wasser Gezogene. Eines Tages wird sich der Mann der Verantwortung seines Namens stellen und die Gesetzestafeln ein weiteres Mal herausmeißeln.
Die Mutter hat keine Milch für das Kind. Sie drückt und presst ihre kleine Brust. Winzige, blasse Tröpfchen zeigen sich. Davon wird das Kind nicht satt. Der Großvater aus Lyosno bringt eine Ziege. Die Ziege ist die Kuh des kleinen Mannes. Mit Ziegenmilch wird er groß. Zeit seines Lebens wird es die geheimnisvolle Beziehung geben zwischen dem Mann und dem Tier.
2. Das Königskind im Spiegel
Es gibt ein Geheimnis zwischen Feiga-Ita und ihrem Erstgeborenen. Ausgesprochen wird es nicht. Moische weiß, dass er der Mutter liebstes Kind ist. Das Wissen reicht. Denn ein Mehr an Zeit oder sichtbarer Zuwendung kann die Mutter nicht an ihn verschwenden.
Die Welt des kleinen Moische ist heil. Die Mutter ist Königin und er ist ihr Sohn. Das Wort „Königin“ hat sich der Junge für sie ausgedacht. Die Mutter legt den Schal zusammen, jenes wunderbare Tuch, das ihr der Vater zur Hochzeit geschenkt hat. Es ist sehr fein gewoben und Vergleichbares hat Moische nicht gesehen. Zudem ist es von kostbarer Stickerei durchbrochen. Die Mutter sieht den bettelnden Blick des Jungen. So legt sie es sich noch einmal über den Kopf. Nun erscheint sie dem Kind aus einer anderen Welt. Über das Arbeitskleid, erdbraun und aus grobem Stoff, fällt der Zauber aus zartem Gelb. Unter diesem Schleier erkennt er die Mutter in ihrer wahren Bestimmung – zu lieben.
Als sie den verklärten Blick des Sohnes wahrnimmt, wiederholt sie mit leichter Bitterkeit ihren Satz: Er hat mich gar nicht angeschaut! Zachar Segal tat bei der ersten Begegnung, die auf Betreiben des Hochzeiters zustande kam, kund, Äußeres sei für ihn Schein und somit wertlos. Nur Gebet und Hingabe an die fromme Freude waren eines rechtgläubigen Mannes würdig.
Jetzt vergisst die junge Frau tatsächlich die Zeit. Sie hebt das Tuch vom Kopf und winkt den Jungen heran. Nun hüllt sie ihn darin ein. Jetzt muss er stillstehen und warten, bis sie mit dem Spiegel kommt. Der Spiegel ist noch nicht ganz blind, und er kann das Königskind darin erblicken. Aber viel schöner ist es, sich im verliebten Blick der Mutter zu spiegeln. Er hört gern ihre Versicherung, dass er ihr ähnlich sähe. Nur die Augenfarbe habe er vom Vater, sagt sie. Aber dessen Blau sei nicht so strahlend. Die dichten Locken habe sie ihm vererbt. Und die leicht gebogene Nase, auch die etwas hochstehenden Backenknochen. Und das Lachen hat er von ihr.
Aber ich werde größer als du?, vergewissert sich der kleine Moische. Ich werde dafür beten, verspricht die Mutter.
Moische ist zufrieden. Er hat großes Vertrauen in die Gebete der Mutter. Er hat herausgefunden, dass ihre Gebete erhört werden. Sie betet jeden Abend für ihn, dass er gesund bleibt und kräftig wird. Denn in der Familie des Vaters gibt es Schwächen. Moische geht es unbeschreiblich gut.
Die Mutter stellt sich auf Zehenspitzen.
Ich bin seit der Hochzeit gewachsen, sagt sie. Es klingt wie Rechtfertigung. Das Kleid von damals ist zu kurz ... und zu eng.
Sie ist wieder in anderen Umständen. Vielleicht wird es noch einmal ein Junge. Der soll dann David heißen wie der verstorbene Großvater. Für die Jungen werden verheißungsvolle Namen ausgewählt. Vielleicht wird der Bruder dann auch Rabbiner.
Anjuta kommt herein, die Schwester. Sie singt: Anja, Anja Kuchenzahn, reitet auf dem Gockelhahn, will zu ihrem Bräutigam, weil sie nicht mehr warten kann!
Sie schleppt wie immer die Katze mit sich herum. Als sie den Bruder in das feine Tuch gehüllt sieht, möchte sie auch den Schal umgelegt bekommen. Die Katze lässt sie wie einen Stein fallen. Doch die Mutter besinnt sich auf ihre Arbeit. Sorgsam faltet sie das Tuch zusammen und verspricht der Tochter, es ihr zu schenken, wenn sie größer ist. Die Bunte streicht um die Beine des Mädchens. So wird sie wieder auf den Arm genommen. Das Lied beginnt von neuem.
Der Junge schaut zu, wie der Schal im Schrank verschwindet. Dass der Vater ihr ein so kostbares Geschenk zur Hochzeit machen konnte, lässt ihn zu einem wohlhabenden Mann heranwachsen. Von überwältigendem Reichtum. Mit Geld muss man sich nicht brüsten, sondern sich trotzdem in Arbeit schinden. Wenn ein besonderes Ereignis ansteht, wird der Junge vom Vater ebenfalls ein teures Geschenk erhalten. Der kleine Moische wünscht sich eine rote Jacke mit goldenen Knöpfen.
Draußen erhebt sich Geschrei von Zina. Sie lernt gerade laufen. Das braune Huhn bringt es ihr bei. Moische hat es gestern beobachtet. Das Huhn ging im langsam scharrenden Gang an Zina vorüber, als ob es sie auffordern wollte, nach ihm zu greifen. Die jüngste Schwester stand am Holzbock, an dem sie sich gerade hochgezogen hatte. Sie verstand wohl die Aufforderung und wollte das Huhn in die Arme schließen wie Anjuta die Katze. Das Huhn spazierte gemessenen Schrittes um den Sägebock. Und Zina, die bisher nicht einen einzigen Schritt allein tun konnte, tappte der Henne hinterher. Natürlich fiel sie nach drei oder vier Schritten in den Hühnerdreck. Das Huhn wartete geduldig, bis sie sich aufgerappelt hat. Das Laufenlernen üben die beiden nun seit dem Morgen. Zina hält die Arme seitlich ausgestreckt und folgt wie an unsichtbaren Zügeln dem braunen Huhn, das langsam und ohne Hast vor ihr hergeht. In Moische entsteht ein seltsames Gefühl in der Brust oder im Bauch. Im Hals wird es komisch eng. Das hat er manchmal. Es ist etwas von Dankbarkeit oder Verwunderung.
Jetzt heult Zina. Sie ist über den Wassertopf gefallen und hat sich wehgetan. Moische soll zu ihr gehen. Er will nicht. Anjuta ist ja auf dem Hof. Er will bei der Mutter bleiben.
Moische liebt ihre Nähe. Sie riecht nach Äpfeln und Kerzen. Er mag ihre schnellen flüchtigen Berührungen, die keine Zärtlichkeiten sind. Vielleicht doch? Bei ihr fühlt er sich sicher. Die Schürze, die über ihren vorgewölbten Leib fällt, ist das beste Versteck. Er spürt, dass seine Anhänglichkeit ihr nicht lästig ist.
Mutters Schwestern kommen oft. Sie wollen Rat oder Trost. Die Tanten sind jünger als Feiga-Ita. Zu wem sollen sie gehen, wenn sie in Not oder Bedrängnis sind, seit die eigene Mutter gestorben ist? Viel zu früh ist sie gegangen.
Sie hat sich totgearbeitet.
Immer hört der Junge einen Vorwurf. Noch kleiner als die Mutter, war die unbekannte Großmutter nach ihrer Hochzeit nicht mehr gewachsen und in der Blüte ihrer Jahre gestorben. Weil der Großvater seine Lebenszeit auf dem Ofen verschlief.
Wenn die Mutter mit ihren Schwestern redet, erhebt der Junge sie wieder in den Rang der Königin. Ihr Rat wird befolgt. Ihre Warnung beherzigt. Ihr Zuspruch gesucht. Ihre Pläne werden bewundert. Ihre Vorschläge akzeptiert.
Keine der Tanten weiß, dass er auf den Füßen der Mutter sitzt und zuhört. Er hat sich klein gemacht. Viele Dinge versteht er nicht. Nur eines: Seine Mutter ist der Drehpunkt der Welt. Ohne sie geht nichts.
Bald will Feiga-Ita in ein richtiges Haus ziehen. Aus Stein. Warum sollen Häuser aus Stein besser sein? Damit der Vater sich nicht so tief bücken muss? Das Häuschen, in dem sie jetzt wohnen, hat die Farbe des Holzes. Auf den geschälten Holzstämmen lassen sich seltsame Zeichnungen entdecken. Von einem Käfer sollen sie stammen. Moische fühlt sich einem Geheimnis auf der Spur. Er liebt das kleine Holzhaus. Er hat das Gefühl, die Mutter füllt es ganz aus. Wenn er es von weitem erblickt, ist ihm, als ob das Häuschen seine Arme öffnet. Aber es sind die Arme der Mutter, die nach ihm Ausschau hält. Sie wird ganz groß und wächst über das Haus hinaus und der Hahn tanzt ihr auf dem Kopf. Mutter liebt den Hahn. Wenn sie am Sabbat mit der Hand die Augen verdeckt und an die kleinen Höhepunkte der vergangenen Woche er innert, vergisst sie nie, sich beim Hahn zu bedanken. Für seine Tüchtigkeit und Treue. Für seine Wachsamkeit. Vor allem aber, dass er im Grau der Nacht die Sonne verkündet und ihren lebenserhaltenden Atem preist. In Moische liegt eine merkwürdige Erinnerung – als er kleiner war, durfte er auf dem Hahn reiten. Er hielt dessen Hals umklammert und fühlte den Herzschlag des Hahns. War es sein eigenes Herz, das er spürte? Jedes Mal glaubte er, wenn er auf ihm ritt, mit dem Hahn zu einem Wesen zu verschmelzen. Das war seltsames Wissen, das er hütete.
Jetzt hat die Mutter zu tun und Moische bleibt allein im Zimmer. Nicht ganz allein. Da ist immer das geheimnisvolle Wesen, das Moische nicht begreift. Es lebt, es atmet, es bewegt sich. In seiner Unerklärlichkeit macht es dem Jungen manchmal Angst. In diesem endlos schwingenden Tick-Tack liegt eine beängstigende Langmut. Wenn er der Wanduhr Grimassen schneidet, bleibt es ungesühnt. Sie zerhackt die Zeit in winzige Stückchen. Was ist Zeit? Wo bleibt sie?
Moische folgt doch lieber der Mutter in das Lädchen, das ans blaue Haus genagelt ist. Eher ein Verschlag. Eine Nachbarin kommt über die Straße. Moische verschwindet unter der Schürze. Die Frau erzählt der Mutter, dass Olga, die Russin, mit Sicherheit im siebenten Himmel schwebt, seit sie den Bauern beerbt hat, dessen Magd sie war. Der kleine Moische sieht jene Olga über die grüne Wiese aufsteigen – mit dem Melkeimer in der Hand. Immer höher gleitet sie hinauf und legt sich in die Wolken und schwebt bis zu den Türmen der Stadt.
Die Nachbarin will Kerzen kaufen. Und drei große Heringe.
Nun fasst die Mutter in die Schürzentasche und klopft ihrem stillen Gast mit dem Finger auf den Kopf. Der rollt sich aus der Schürze unter den Ladentisch. Die Mutter geht an das Regal und holt die Kerzen aus der blauen Kiste, ohne die Anwesenheit des Sohnes zu verraten. Der Duft von Weihrauch erfüllt ihren kleinen Laden. Doch gleich wird es nach Hering riechen.
Später, als sie beide auf der Bank sitzen, und Moische der Mutter die Petersilienstängel reicht, die sie zu Sträußchen bindet, schaut sie ihm plötzlich ins Gesicht. Die Hände lässt sie in den Schoß sinken. Ihre Augen werden verheißungsvoll groß.
Eines Tages wird der Vater im Büro arbeiten, sagt sie. Er wird Schreiber werden. Das hat der Hochzeiter versprochen.
Ihr Schwiegervater, der Rabbiner, bestimmte seinen ältesten Sohn zum Kommis und fragte im Depot nach. Den jüngeren Sohn Sussi, der von schwacher Gesundheit ist, gab er einem Friseur in die Lehre. Ihr Schwager hat vor kurzem den Friseurladen in Lyosno übernommen.
Der Vater arbeitet am Hafen. Im großen Lager, wo die Fässer mit den Heringen ankommen und vom Schiff gerollt werden. Von dort müssen sie zum Bahnhof gebracht werden, auf die Güterwaggons. Oder sie werden umgefüllt in kleinere Fässer, die zum Verkauf für den Umkreis bestimmt sind.
Wenn der Vater in der Schreibstube sein wird, muss er nicht selbst die schweren Fässer heben und in der Lake herumfischen. Und im Winter wird ihm die Kälte nicht die Haut aufreißen. Ein Büroangestellter wird nicht nach Heringslake riechen. Dann wird Vater auch nicht so erschöpft sein und im Gebet einschlafen.
Er wird mit uns reden, sagt die Mutter.
Der Junge reicht ihr die nächsten Petersilienstängel, die er alle auf eine Länge gebracht hat.
Es ist Galeerenarbeit. Die Stimme der Mutter klingt bitter vor Verachtung, ist aber nicht ohne Mitgefühl.
Du wirst auf alle Fälle Buchhalter. Oder Fotograf. Ich werde dafür beten.
Der Junge möchte etwas anderes werden, für das er den Namen noch nicht kennt, weil es bis jetzt etwas Unvorstellbares ist. Eine Ahnung hat er schon. Aber sie ist zu unbestimmt. Es hängt mit dem Druck zusammen, den er manchmal im Innern fühlt. Manchmal erlebt er Momente, bei denen sein Herz dumpf klopft. Das Schlimme ist, dass er keine Worte dafür findet.
Wenn ihm sehr langweilig ist, steigt er auf den Boden. Es ist dunkel dort und Spinnweben ziehen sich um die Dachbalken. Dinge, die hier oben abgestellt sind, geben sich nicht zu erkennen. Eher ein Ort des Fürchtens, wenn die Dachluke nicht wäre. Von ihr aus hat man einen Blick auf die Stadt. Ihre Silhouette gegen den blauen Himmel ... die vergoldete Kuppel ... die geöffneten Kirchenportale. Darin liegt eine Verheißung, die größer ist als die Vorstellung, Buchhalter zu werden.
Mein Ziegenköpfiger, sagt die Mutter zärtlich und gibt ihm einen Nasenstüber. Einverstanden – du wirst etwas ganz Großes.
Ist Moische ein ängstliches Kind? Warum hat er schwere Träume? Was beunruhigt ihn? Manchmal hört die Mutter ihn nachts schreien. Dann reicht ein beruhigendes Wort. Manchmal steht er an der Tür zum Schlafzimmer der Eltern. Wenn der Vater zu laut schnarcht, getraut er sich nicht näher. In dem Schlafenden erkennt er den Vater nicht, dessen Kiefer heruntergefallen ist und dessen ungeschnittener Bart steil in die Luft ragt. Manchmal steht der Junge vor dem Bett der Mutter und scharrt wie ein Kätzchen auf ihrem Betttuch. Die Mutter hebt die Decke und er darf zu ihr schlüpfen. Sie ist wunderbar weich und warm. Dann geht es ihm besser.
In der letzten Nacht ... deutlich hat Moische den Mann erkannt, der am Vormittag mit seinem Kalb um die Schultern Richtung Mogilew gegangen war. Der Bauer war die Dorfstraße dahergekommen, ohne nach rechts oder links zu schauen. Vielleicht war er sogar betrunken, denn seine Schrittfolge war seltsam. Die Bäckersfrau hatte ihm etwas zugerufen, aber der in der schwarzen Joppe schien taub. Das Kalb berührte mit dem Kopf den des Mannes. Der Blick des Tieres war voller Vertrauen. Fühlte es sich sicher, so getragen auf seinen Schultern? In der Nacht nun stand dieser Mann in der Schlafkammer des Jungen. Nahe der Tür. Stumm und blicklos wie am Tag, in betäubter Verzweiflung. Was wollte er von dem Jungen? Er machte ihm Angst. Manchmal half, die Decke über den Kopf zu ziehen. Oder der Bettler steht im Haus, wenn Moische nachts auf den Hof muss, um sein Geschäft zu verrichten. Das sind die schlimmsten Minuten. Am Tag befand sich der Alte plötzlich in der Küche. Man hört nie, wenn er kommt, denn seine Füße sind mit Filzlappen umwickelt. Er bleibt still und stumm stehen, dass man ihn für einen Kleiderständer hält. Dann erschrickt man, wenn er einem unerwartet in Augen blickt. Augen, in denen man wie in einem Meer von Traurigkeit ertrinkt. Am Tag ist die Mutter in der Nähe. Nachts kommt der Alte zu Moische. Was will er? Was will er von dem Jungen? Ihn mitnehmen auf die unendliche Reise, die kein Ziel kennt? Sich in seinem Herzen niederlassen, weil er kein Zuhause hat?
Moische presst sich an der dunklen Gestalt vorbei und flüchtet in die Sicherheit des mütterlichen Bettes.
© Verlag Herder Freiburg im Breisgau 2002
www.herder.de
Das Kind kommt ohne Anstrengung auf die Welt. Das Neugeborene schläft noch in der Fruchtblase, als diese aus dem Mutterleib gestoßen wird. Es schwimmt im Wasser, das es schützend umgibt. Sagt man nicht, ein solches Kind sei in der Glückshaut geboren? Mutet die weißliche Haut nicht wie Leinwand an, die ihm mitgegeben ist, sie zu bemalen?
Die Blase wird aufgestochen und der kleine Mensch herausgehoben. Er will nicht zur Kenntnis nehmen, dass er auf der Welt ist, Eigenverantwortung übernehmen muss und atmen. Er will nicht. Ratlosigkeit kommt auf. Die junge Mutter wird stumm im Griff der Angst. Die üblichen Klapse helfen nicht. Die Nadel muss ein weiteres Mal herhalten. Man sticht dem Kind in die Fersen. Sind es ungute Träume? Schließlich taucht die Großmutter das leblose Kind in einen Wasserkübel. Das Wasser ist frisch gepumpt und kalt. Das Menschlein beginnt zu wimmern.
Nun zieht Freude ein in das Häuschen. Freude über einen Sohn, den Erstgeborenen des Zachar Segal.
Vor dem Bett der Mutter steht der Trog. Neu ist er. Auf dem Markt erstanden. Helles Holz. Aus einem Baumstamm gekerbt. Ein Futtertrog für Schweine. Doch gleich gut geeignet als Wiege für den Sohn. Erste Wahrnehmung – so will es später der Mann. Seine Biografie beginnt mit den Worten: „Was mir zuerst in die Augen sprang, war ein Trog. Einfach, wuchtig, oval, zur Hälfte ausgehöhlt.“
Dann erreicht der „Feuer“-Schrei das Häuschen. Man trägt die Wöchnerin in ihrem Bett hinaus ins Freie, den Trog zu ihren Füßen. Brennt es im Viertel der armen Juden, springt das Feuer leicht über.
Der Brand dieses Abends erreicht nicht den Ort der Geburt.
Wie soll das Kind heißen?
Jeder Name besitzt eine Energie. Wie ein Mantel wird der Name um das Neugeborene gelegt, damit es hineinwachsen möge und seinen Auftrag erfülle bei der Sinnsuche seines Lebens.
Das Neugeborene aus dem Witebsker Vorort Peskowatik erhält den Namen Moses.
Moische Zacharowitsch Segal.
Wollte es so der religiöse Vater?
In der Regel wird geschehen, was die Frau bestimmt.
Mit dem für ihn gewählten Namen wird dem Neugeborenen eine Verheißung mit auf den Weg gegeben, eine Hoffnung, die sich erfüllen möge.
Moses – der Gesetzgeber. Moses – der aus dem Wasser Gezogene. Eines Tages wird sich der Mann der Verantwortung seines Namens stellen und die Gesetzestafeln ein weiteres Mal herausmeißeln.
Die Mutter hat keine Milch für das Kind. Sie drückt und presst ihre kleine Brust. Winzige, blasse Tröpfchen zeigen sich. Davon wird das Kind nicht satt. Der Großvater aus Lyosno bringt eine Ziege. Die Ziege ist die Kuh des kleinen Mannes. Mit Ziegenmilch wird er groß. Zeit seines Lebens wird es die geheimnisvolle Beziehung geben zwischen dem Mann und dem Tier.
2. Das Königskind im Spiegel
Es gibt ein Geheimnis zwischen Feiga-Ita und ihrem Erstgeborenen. Ausgesprochen wird es nicht. Moische weiß, dass er der Mutter liebstes Kind ist. Das Wissen reicht. Denn ein Mehr an Zeit oder sichtbarer Zuwendung kann die Mutter nicht an ihn verschwenden.
Die Welt des kleinen Moische ist heil. Die Mutter ist Königin und er ist ihr Sohn. Das Wort „Königin“ hat sich der Junge für sie ausgedacht. Die Mutter legt den Schal zusammen, jenes wunderbare Tuch, das ihr der Vater zur Hochzeit geschenkt hat. Es ist sehr fein gewoben und Vergleichbares hat Moische nicht gesehen. Zudem ist es von kostbarer Stickerei durchbrochen. Die Mutter sieht den bettelnden Blick des Jungen. So legt sie es sich noch einmal über den Kopf. Nun erscheint sie dem Kind aus einer anderen Welt. Über das Arbeitskleid, erdbraun und aus grobem Stoff, fällt der Zauber aus zartem Gelb. Unter diesem Schleier erkennt er die Mutter in ihrer wahren Bestimmung – zu lieben.
Als sie den verklärten Blick des Sohnes wahrnimmt, wiederholt sie mit leichter Bitterkeit ihren Satz: Er hat mich gar nicht angeschaut! Zachar Segal tat bei der ersten Begegnung, die auf Betreiben des Hochzeiters zustande kam, kund, Äußeres sei für ihn Schein und somit wertlos. Nur Gebet und Hingabe an die fromme Freude waren eines rechtgläubigen Mannes würdig.
Jetzt vergisst die junge Frau tatsächlich die Zeit. Sie hebt das Tuch vom Kopf und winkt den Jungen heran. Nun hüllt sie ihn darin ein. Jetzt muss er stillstehen und warten, bis sie mit dem Spiegel kommt. Der Spiegel ist noch nicht ganz blind, und er kann das Königskind darin erblicken. Aber viel schöner ist es, sich im verliebten Blick der Mutter zu spiegeln. Er hört gern ihre Versicherung, dass er ihr ähnlich sähe. Nur die Augenfarbe habe er vom Vater, sagt sie. Aber dessen Blau sei nicht so strahlend. Die dichten Locken habe sie ihm vererbt. Und die leicht gebogene Nase, auch die etwas hochstehenden Backenknochen. Und das Lachen hat er von ihr.
Aber ich werde größer als du?, vergewissert sich der kleine Moische. Ich werde dafür beten, verspricht die Mutter.
Moische ist zufrieden. Er hat großes Vertrauen in die Gebete der Mutter. Er hat herausgefunden, dass ihre Gebete erhört werden. Sie betet jeden Abend für ihn, dass er gesund bleibt und kräftig wird. Denn in der Familie des Vaters gibt es Schwächen. Moische geht es unbeschreiblich gut.
Die Mutter stellt sich auf Zehenspitzen.
Ich bin seit der Hochzeit gewachsen, sagt sie. Es klingt wie Rechtfertigung. Das Kleid von damals ist zu kurz ... und zu eng.
Sie ist wieder in anderen Umständen. Vielleicht wird es noch einmal ein Junge. Der soll dann David heißen wie der verstorbene Großvater. Für die Jungen werden verheißungsvolle Namen ausgewählt. Vielleicht wird der Bruder dann auch Rabbiner.
Anjuta kommt herein, die Schwester. Sie singt: Anja, Anja Kuchenzahn, reitet auf dem Gockelhahn, will zu ihrem Bräutigam, weil sie nicht mehr warten kann!
Sie schleppt wie immer die Katze mit sich herum. Als sie den Bruder in das feine Tuch gehüllt sieht, möchte sie auch den Schal umgelegt bekommen. Die Katze lässt sie wie einen Stein fallen. Doch die Mutter besinnt sich auf ihre Arbeit. Sorgsam faltet sie das Tuch zusammen und verspricht der Tochter, es ihr zu schenken, wenn sie größer ist. Die Bunte streicht um die Beine des Mädchens. So wird sie wieder auf den Arm genommen. Das Lied beginnt von neuem.
Der Junge schaut zu, wie der Schal im Schrank verschwindet. Dass der Vater ihr ein so kostbares Geschenk zur Hochzeit machen konnte, lässt ihn zu einem wohlhabenden Mann heranwachsen. Von überwältigendem Reichtum. Mit Geld muss man sich nicht brüsten, sondern sich trotzdem in Arbeit schinden. Wenn ein besonderes Ereignis ansteht, wird der Junge vom Vater ebenfalls ein teures Geschenk erhalten. Der kleine Moische wünscht sich eine rote Jacke mit goldenen Knöpfen.
Draußen erhebt sich Geschrei von Zina. Sie lernt gerade laufen. Das braune Huhn bringt es ihr bei. Moische hat es gestern beobachtet. Das Huhn ging im langsam scharrenden Gang an Zina vorüber, als ob es sie auffordern wollte, nach ihm zu greifen. Die jüngste Schwester stand am Holzbock, an dem sie sich gerade hochgezogen hatte. Sie verstand wohl die Aufforderung und wollte das Huhn in die Arme schließen wie Anjuta die Katze. Das Huhn spazierte gemessenen Schrittes um den Sägebock. Und Zina, die bisher nicht einen einzigen Schritt allein tun konnte, tappte der Henne hinterher. Natürlich fiel sie nach drei oder vier Schritten in den Hühnerdreck. Das Huhn wartete geduldig, bis sie sich aufgerappelt hat. Das Laufenlernen üben die beiden nun seit dem Morgen. Zina hält die Arme seitlich ausgestreckt und folgt wie an unsichtbaren Zügeln dem braunen Huhn, das langsam und ohne Hast vor ihr hergeht. In Moische entsteht ein seltsames Gefühl in der Brust oder im Bauch. Im Hals wird es komisch eng. Das hat er manchmal. Es ist etwas von Dankbarkeit oder Verwunderung.
Jetzt heult Zina. Sie ist über den Wassertopf gefallen und hat sich wehgetan. Moische soll zu ihr gehen. Er will nicht. Anjuta ist ja auf dem Hof. Er will bei der Mutter bleiben.
Moische liebt ihre Nähe. Sie riecht nach Äpfeln und Kerzen. Er mag ihre schnellen flüchtigen Berührungen, die keine Zärtlichkeiten sind. Vielleicht doch? Bei ihr fühlt er sich sicher. Die Schürze, die über ihren vorgewölbten Leib fällt, ist das beste Versteck. Er spürt, dass seine Anhänglichkeit ihr nicht lästig ist.
Mutters Schwestern kommen oft. Sie wollen Rat oder Trost. Die Tanten sind jünger als Feiga-Ita. Zu wem sollen sie gehen, wenn sie in Not oder Bedrängnis sind, seit die eigene Mutter gestorben ist? Viel zu früh ist sie gegangen.
Sie hat sich totgearbeitet.
Immer hört der Junge einen Vorwurf. Noch kleiner als die Mutter, war die unbekannte Großmutter nach ihrer Hochzeit nicht mehr gewachsen und in der Blüte ihrer Jahre gestorben. Weil der Großvater seine Lebenszeit auf dem Ofen verschlief.
Wenn die Mutter mit ihren Schwestern redet, erhebt der Junge sie wieder in den Rang der Königin. Ihr Rat wird befolgt. Ihre Warnung beherzigt. Ihr Zuspruch gesucht. Ihre Pläne werden bewundert. Ihre Vorschläge akzeptiert.
Keine der Tanten weiß, dass er auf den Füßen der Mutter sitzt und zuhört. Er hat sich klein gemacht. Viele Dinge versteht er nicht. Nur eines: Seine Mutter ist der Drehpunkt der Welt. Ohne sie geht nichts.
Bald will Feiga-Ita in ein richtiges Haus ziehen. Aus Stein. Warum sollen Häuser aus Stein besser sein? Damit der Vater sich nicht so tief bücken muss? Das Häuschen, in dem sie jetzt wohnen, hat die Farbe des Holzes. Auf den geschälten Holzstämmen lassen sich seltsame Zeichnungen entdecken. Von einem Käfer sollen sie stammen. Moische fühlt sich einem Geheimnis auf der Spur. Er liebt das kleine Holzhaus. Er hat das Gefühl, die Mutter füllt es ganz aus. Wenn er es von weitem erblickt, ist ihm, als ob das Häuschen seine Arme öffnet. Aber es sind die Arme der Mutter, die nach ihm Ausschau hält. Sie wird ganz groß und wächst über das Haus hinaus und der Hahn tanzt ihr auf dem Kopf. Mutter liebt den Hahn. Wenn sie am Sabbat mit der Hand die Augen verdeckt und an die kleinen Höhepunkte der vergangenen Woche er innert, vergisst sie nie, sich beim Hahn zu bedanken. Für seine Tüchtigkeit und Treue. Für seine Wachsamkeit. Vor allem aber, dass er im Grau der Nacht die Sonne verkündet und ihren lebenserhaltenden Atem preist. In Moische liegt eine merkwürdige Erinnerung – als er kleiner war, durfte er auf dem Hahn reiten. Er hielt dessen Hals umklammert und fühlte den Herzschlag des Hahns. War es sein eigenes Herz, das er spürte? Jedes Mal glaubte er, wenn er auf ihm ritt, mit dem Hahn zu einem Wesen zu verschmelzen. Das war seltsames Wissen, das er hütete.
Jetzt hat die Mutter zu tun und Moische bleibt allein im Zimmer. Nicht ganz allein. Da ist immer das geheimnisvolle Wesen, das Moische nicht begreift. Es lebt, es atmet, es bewegt sich. In seiner Unerklärlichkeit macht es dem Jungen manchmal Angst. In diesem endlos schwingenden Tick-Tack liegt eine beängstigende Langmut. Wenn er der Wanduhr Grimassen schneidet, bleibt es ungesühnt. Sie zerhackt die Zeit in winzige Stückchen. Was ist Zeit? Wo bleibt sie?
Moische folgt doch lieber der Mutter in das Lädchen, das ans blaue Haus genagelt ist. Eher ein Verschlag. Eine Nachbarin kommt über die Straße. Moische verschwindet unter der Schürze. Die Frau erzählt der Mutter, dass Olga, die Russin, mit Sicherheit im siebenten Himmel schwebt, seit sie den Bauern beerbt hat, dessen Magd sie war. Der kleine Moische sieht jene Olga über die grüne Wiese aufsteigen – mit dem Melkeimer in der Hand. Immer höher gleitet sie hinauf und legt sich in die Wolken und schwebt bis zu den Türmen der Stadt.
Die Nachbarin will Kerzen kaufen. Und drei große Heringe.
Nun fasst die Mutter in die Schürzentasche und klopft ihrem stillen Gast mit dem Finger auf den Kopf. Der rollt sich aus der Schürze unter den Ladentisch. Die Mutter geht an das Regal und holt die Kerzen aus der blauen Kiste, ohne die Anwesenheit des Sohnes zu verraten. Der Duft von Weihrauch erfüllt ihren kleinen Laden. Doch gleich wird es nach Hering riechen.
Später, als sie beide auf der Bank sitzen, und Moische der Mutter die Petersilienstängel reicht, die sie zu Sträußchen bindet, schaut sie ihm plötzlich ins Gesicht. Die Hände lässt sie in den Schoß sinken. Ihre Augen werden verheißungsvoll groß.
Eines Tages wird der Vater im Büro arbeiten, sagt sie. Er wird Schreiber werden. Das hat der Hochzeiter versprochen.
Ihr Schwiegervater, der Rabbiner, bestimmte seinen ältesten Sohn zum Kommis und fragte im Depot nach. Den jüngeren Sohn Sussi, der von schwacher Gesundheit ist, gab er einem Friseur in die Lehre. Ihr Schwager hat vor kurzem den Friseurladen in Lyosno übernommen.
Der Vater arbeitet am Hafen. Im großen Lager, wo die Fässer mit den Heringen ankommen und vom Schiff gerollt werden. Von dort müssen sie zum Bahnhof gebracht werden, auf die Güterwaggons. Oder sie werden umgefüllt in kleinere Fässer, die zum Verkauf für den Umkreis bestimmt sind.
Wenn der Vater in der Schreibstube sein wird, muss er nicht selbst die schweren Fässer heben und in der Lake herumfischen. Und im Winter wird ihm die Kälte nicht die Haut aufreißen. Ein Büroangestellter wird nicht nach Heringslake riechen. Dann wird Vater auch nicht so erschöpft sein und im Gebet einschlafen.
Er wird mit uns reden, sagt die Mutter.
Der Junge reicht ihr die nächsten Petersilienstängel, die er alle auf eine Länge gebracht hat.
Es ist Galeerenarbeit. Die Stimme der Mutter klingt bitter vor Verachtung, ist aber nicht ohne Mitgefühl.
Du wirst auf alle Fälle Buchhalter. Oder Fotograf. Ich werde dafür beten.
Der Junge möchte etwas anderes werden, für das er den Namen noch nicht kennt, weil es bis jetzt etwas Unvorstellbares ist. Eine Ahnung hat er schon. Aber sie ist zu unbestimmt. Es hängt mit dem Druck zusammen, den er manchmal im Innern fühlt. Manchmal erlebt er Momente, bei denen sein Herz dumpf klopft. Das Schlimme ist, dass er keine Worte dafür findet.
Wenn ihm sehr langweilig ist, steigt er auf den Boden. Es ist dunkel dort und Spinnweben ziehen sich um die Dachbalken. Dinge, die hier oben abgestellt sind, geben sich nicht zu erkennen. Eher ein Ort des Fürchtens, wenn die Dachluke nicht wäre. Von ihr aus hat man einen Blick auf die Stadt. Ihre Silhouette gegen den blauen Himmel ... die vergoldete Kuppel ... die geöffneten Kirchenportale. Darin liegt eine Verheißung, die größer ist als die Vorstellung, Buchhalter zu werden.
Mein Ziegenköpfiger, sagt die Mutter zärtlich und gibt ihm einen Nasenstüber. Einverstanden – du wirst etwas ganz Großes.
Ist Moische ein ängstliches Kind? Warum hat er schwere Träume? Was beunruhigt ihn? Manchmal hört die Mutter ihn nachts schreien. Dann reicht ein beruhigendes Wort. Manchmal steht er an der Tür zum Schlafzimmer der Eltern. Wenn der Vater zu laut schnarcht, getraut er sich nicht näher. In dem Schlafenden erkennt er den Vater nicht, dessen Kiefer heruntergefallen ist und dessen ungeschnittener Bart steil in die Luft ragt. Manchmal steht der Junge vor dem Bett der Mutter und scharrt wie ein Kätzchen auf ihrem Betttuch. Die Mutter hebt die Decke und er darf zu ihr schlüpfen. Sie ist wunderbar weich und warm. Dann geht es ihm besser.
In der letzten Nacht ... deutlich hat Moische den Mann erkannt, der am Vormittag mit seinem Kalb um die Schultern Richtung Mogilew gegangen war. Der Bauer war die Dorfstraße dahergekommen, ohne nach rechts oder links zu schauen. Vielleicht war er sogar betrunken, denn seine Schrittfolge war seltsam. Die Bäckersfrau hatte ihm etwas zugerufen, aber der in der schwarzen Joppe schien taub. Das Kalb berührte mit dem Kopf den des Mannes. Der Blick des Tieres war voller Vertrauen. Fühlte es sich sicher, so getragen auf seinen Schultern? In der Nacht nun stand dieser Mann in der Schlafkammer des Jungen. Nahe der Tür. Stumm und blicklos wie am Tag, in betäubter Verzweiflung. Was wollte er von dem Jungen? Er machte ihm Angst. Manchmal half, die Decke über den Kopf zu ziehen. Oder der Bettler steht im Haus, wenn Moische nachts auf den Hof muss, um sein Geschäft zu verrichten. Das sind die schlimmsten Minuten. Am Tag befand sich der Alte plötzlich in der Küche. Man hört nie, wenn er kommt, denn seine Füße sind mit Filzlappen umwickelt. Er bleibt still und stumm stehen, dass man ihn für einen Kleiderständer hält. Dann erschrickt man, wenn er einem unerwartet in Augen blickt. Augen, in denen man wie in einem Meer von Traurigkeit ertrinkt. Am Tag ist die Mutter in der Nähe. Nachts kommt der Alte zu Moische. Was will er? Was will er von dem Jungen? Ihn mitnehmen auf die unendliche Reise, die kein Ziel kennt? Sich in seinem Herzen niederlassen, weil er kein Zuhause hat?
Moische presst sich an der dunklen Gestalt vorbei und flüchtet in die Sicherheit des mütterlichen Bettes.
© Verlag Herder Freiburg im Breisgau 2002
www.herder.de
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Autoren-Porträt von Barbara Krause
Barbara Krause, geboren 1939, war von 1987 bis 2007 als Verlagslektorin tätig. Heute lebt sie als Übersetzerin und freiberufliche Lektorin in Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Barbara Krause
- 2013, 3. Aufl., 304 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Herder, Freiburg
- ISBN-10: 3451061643
- ISBN-13: 9783451061646
- Erscheinungsdatum: 08.06.2010
Kommentar zu "Marc Chagall - die Farben des verlorenen Paradieses"
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