Margot Honecker
Obwohl Margot Honecker eine der mächtigsten Frauen der DDR war, bleiben ihre Person und ihr Leben bis heute größtenteils undurchschaubar. Kaum jemand weiß, wer die bedeutendste Frau im SED-Staat, die 26 Jahre dem DDR-Bildungsministerium vorstand, wirklich...
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Produktinformationen zu „Margot Honecker “
Obwohl Margot Honecker eine der mächtigsten Frauen der DDR war, bleiben ihre Person und ihr Leben bis heute größtenteils undurchschaubar. Kaum jemand weiß, wer die bedeutendste Frau im SED-Staat, die 26 Jahre dem DDR-Bildungsministerium vorstand, wirklich war. Der Kultur- und Literaturwissenschaftler Ed Stuhler bringt Licht ins Dunkel und ermöglicht dem Leser, sich sein eigenes Bild von der Ehefrau Erich Honeckers zu machen.
Lese-Probe zu „Margot Honecker “
VorwortAuf dem Hinterhof des Best Western Hotels, unweit des Hallenser Hauptbahnhofes, findet man ein riesiges, 17 mal 8 Meter großes Wandgemälde nach einer Vorlage des Barockmalers Giovanni Battista Tiepolo. Es entstand nach dem Ende der DDR und hat nur einen Sinn, es soll den Hotelgästen den Blick auf eine triste Hinterhofmauer ersparen. Da es sich bei dem Original jedoch um ein Deckengemälde handelt, hängen die Figuren des oberen Bildrandes recht unvorteilhaft mit den Köpfen nach unten. Dargestellt sind neben allerlei allegorischen Figuren auch einige Personen der Zeitgeschichte, so Georg Friedrich Händel, von vorn und von hinten, "Genschman" Hans Dietrich Genscher und irgendein Bonner Beamter, der nach der Wende in Halle als Oberbürgermeister installiert worden war - die berühmten Söhne der Stadt eben.
Vergeblich allerdings wird man in den unterschiedlichen Personengruppen nach Berühmtheiten aus den 40 Jahren sozialistischer Stadtgeschichte suchen. Man findet keinen Willi Sitte, Maler von Weltruhm und Präsident des DDR-Künstlerverbandes, nicht den Schriftsteller Erik Neutsch, der, treu und kritisch, so bekannte und umstrittene Romane wie "Spur der Steine" schrieb, keinen Horst Sindermann, den späteren Volkskammer- und Ministerpräsidenten der DDR, und natürlich auch keine Margot Honecker, geborene Feist. Besonders Letztere hat auf diese oder jene Weise die Geschicke des Staates, der sich Deutsche Demokratische Republik nannte, nicht wenig beeinflusst - mag man dazu stehen, wie man will. Durch "ihre" Schule sind mehrere Generationen von DDR-Kindern gegangen. Ich auch. Wir haben ideologische Überfrachtung und Wehrkundeunterricht erduldet. Vor allem aber haben wir allerhand gelernt, was wir im Leben gebrauchen konnten und können. Wir haben unsere Lehrer geärgert und verehrt, hatten gemeinsame Erlebnisse, haben Freundschaften geschlossen und die erste Liebe erlebt. Eine Schulzeit wie anderswo auch. Eine sehr alte Genossin, 16 Jahre älter als Margot Honecker,
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die deren Karriere über 40 Jahre teils begleitet, teils beobachtet hat, sagte, sie könne nicht verstehen, wieso Margot Honecker eine Biografie "gewidmet" werde. Das hätte die nicht verdient. Ich habe ihr geantwortet, es gehe gar nicht um Verdienst, sondern um Verdienen. Verlage stellen Bücher her, die sie glauben verkaufen zu können. Außerdem würde ich das anders sehen - das Zeichnen des Porträts einer schillernden Persönlichkeit in ihrer Zeit, einer kurzen, aber faszinierenden Periode deutscher Geschichte, die sie wesentlich mitgestaltet hat, würde mich schon reizen. Da kannte ich allerdings die Schwierigkeiten noch nicht, die auf mich zukommen würden. Die Hauptschwierigkeit: Margot Honecker war nicht bereit, sich zu ihrer Biografie befragen zu lassen. Sie schrieb mir, "dass ich für Ihr Projekt nicht zur Verfügung stehe". Die Gründe liegen in einem tiefen und nicht unbegründeten Misstrauen - sie habe "keine guten Erfahrungen mit Reportern und sonstigen Schreibern" gemacht. In anderem Zusammenhang hat sie geäußert, dass sie keinen Sinn darin sehe, Fragen von Autoren zu beantworten, "deren Absicht letztlich nur darin besteht, den Feldzug gegen den Sozialismus fortzusetzen". Was nicht meine Absicht war. Auch andere wollten sich aus verschiedenen Gründen - oft ohne Begründung - nicht zu Margot Honecker äußern. Mehr als einmal hatte ich den Eindruck, dass der lange Schatten der kleinen Frau im fernen Chile bis über den großen Teich reicht. Selbst Bruder Manfred Feist und seine Frau Edith wollten keine Auskünfte geben. Nach Rückfrage in Chile teilte mir Frau Feist mit, Margot wolle das nicht mehr, sie habe endgültig die Schnauze voll und sei genug belagert worden. Letzteres ist sicher wahr. Margot Honecker schrieb mir am 30. April 2002: "Sehr herzlich bitte ich Sie, bei allem Verständnis um Ihre Bemühungen, gründlich zu recherchieren, meine Familie nicht zu belästigen. Mein Bruder, mit dem ich eng verbunden bin, ist seit Jahren schwer krank an den Rollstuhl gefesselt, er wird von seiner Frau aufopfernd gepflegt. Auch die Frau meines verstorbenen Vaters, mit der ich in engem Kontakt stehe, hat mich gebeten, von Besuchen und Telefonaten Abstand zu nehmen."
Wie schwer es war, zuverlässige Aussagen zu erhalten, soll folgende Geschichte zeigen: Im April 2002 hatte ich, vor laufendem Aufnahmegerät, ein langes Gespräch mit Frau B., die Anfang der 1950er-Jahre am Institut für Lehrerbildung (IfL) in Potsdam studiert hatte. Sie erzählte mir, dass in ihrer Klasse auch Margot Feist gewesen sei, die jeden Tag aus Berlin gekommen sei und mit ihr gemeinsam im Frühjahr 1953 die Prüfung abgelegt habe. Es war ein langes Gespräch, ein schönes Gespräch. Frau B. zitierte ausführlich aus Gesprächen mit "der Margot", schilderte plastisch, wie zu häufigen Arbeitseinsätzen in der Landwirtschaft "der Erich" in kurzen Hosen und auf dem Fahrrad erschienen sei, um "der Margot" zu helfen. Ich erfuhr, dass "die Margot" ihr gesagt habe, wie sehr sie sie um ihre schöne Kindheit beneide, die ihre sei gar nicht schön gewesen. Sie beschrieb, wie gerecht Margot immer ihre zusätzliche Zuckerration unter den Mitschülern verteilt hätte, wie sie im Jahre '52, beide schwanger, nebeneinander gesessen hätten, beide mit Schwierigkeiten in Mathe und Physik kämpfend. Und immer wieder betonte sie, dass sie es gar nicht verstehen könne, wie "die Margot" sich so verändert habe, denn sie sei doch damals so bescheiden, kameradschaftlich und sympathisch gewesen.
Eine wunderbare Geschichte voller interessanter Details, die nur einen Fehler hat: Sie ist von A bis Z erlogen. Gegenrecherchen ergaben eindeutig, dass Margot Honecker das IfL in Potsdam nie besucht hat. Irgendjemand hat gesagt, dass der Zeitzeuge der Feind des Historikers sei - er hatte offensichtlich Recht. Es gab jedoch keine andere Möglichkeit, als auf Erinnerungen von Wegbegleitern und Archive zurückzugreifen. Mögen an der einen oder anderen Stelle Ressentiments oder das Bemühen, die verehrte Person in einem recht günstigen Licht erscheinen zu lassen, die Erinnerung getrübt haben, so denke ich doch, dass insgesamt ein Bild entstanden ist, das der porträtierten Person gerecht wird. Soweit es möglich war, habe ich mich bemüht, die Aussagen in Ämtern und Archiven nachzuprüfen und von anderen Zeitzeugen bestätigen zu lassen. Wo es sich um Vermutungen handelt, habe ich dies kenntlich gemacht.
Ed Stuhler
Prolog
Ein Tag im November
Im Berliner Schloss Niederschönhausen, dem Sitz des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik, wird ein Foto gemacht. Der Fotograf hat zusätzliche große Neonlampen aufgestellt, denn das trübe Licht vermag kaum die Tüllgardinen der großen Schlossfenster zu durchdringen. Wir schreiben den 14. November des Jahres 1963. An diesem Nachmittag entsteht ein Gruppenbild mit 3 Damen und 33 Herren - die neu gewählte und am Vormittag in der Volkskammer bestätigte Regierung der DDR, die zur Vereidigung angetreten ist. Die drei Damen sind Margarete Wittkowski, Präsidentin der Staatsbank, Hilde Benjamin, die "Rote Hilde", Justizministerin, und, erstmalig in diesem Kreis, Margot Honecker, die neue Ministerin für Volksbildung. Es ist einer dieser Tage, die sie gar nicht liebt, ein grauer vernieselter Novembertag. Vor 23 Jahren starb ihre Mutter an einem solchen Tag. Seitdem hasst sie den November. Margot Honecker ist Mitglied der dritten Regierung Grotewohl, die im Ergebnis der Volkskammerwahlen im Oktober 1963 gebildet wird. Auf dem Foto sieht Otto Grotewohl jünger und vitaler aus, als er tatsächlich ist. Nominell ist er der Regierungschef, die Amtsgeschäfte allerdings führt schon Willi Stoph. Grotewohl ist 69 und leidet unter schweren Herz- und Kreislaufproblemen. Knapp ein Jahr später wird er zu Grabe getragen. Die praktische Regierungsarbeit führen die Stellvertreter des Ministerpräsidenten. Das sind unter anderem der Außenminister Lothar Bolz von der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NDPD), Gesundheitsminister Max Sefrin und der SED-Funktionär Erich Apel, Vorsitzender der Staatlichen Plankommission, der sich zwei Jahre später im Zusammenhang mit dem 11. Plenum der SED erschießen wird.
Finanzminister ist Willy Rumpf, ein Mann, bei dem nichts wegkommt. Ihm und Anton Ackermann, der zu diesem Zeitpunkt in der Staatlichen Plankommission für den "nichtmateriellen Bereich" zuständig ist - also Schule, Hochschule, Kultur und Sport -, ist es zu verdanken, dass ein hoher Anteil des Nationaleinkommens für Kultur und Bildung ausgegeben wird. Der wichtigste und einflussreichste Minister ist auf diesem Foto jedoch kaum zu erkennen. Er versteckt sich im Rücken von Hilde Benjamin. Es ist Staatssicherheitsminister Erich Mielke, seit 1957 im Amt. "Wenn die Lichter angehen, tritt der Kundschafter zurück in den Schatten", hat er von Richard Sorge, Meisterspion der Sowjetunion während der Nazizeit und Vorbild der DDR-Tschekisten, gelernt.
Otto Grotewohl stellt die Mitglieder seines Kabinetts Walter Ulbricht, dem Vorsitzenden des Staatsrates vor, der den Eid abnimmt. Wie alle Minister schwört auch Margot Honecker, ihre Kräfte für das Wohl des Volkes einzusetzen und gegen jedermann Gerechtigkeit zu wahren. Es gibt noch eine Tasse Kaffee, dann ist der Festakt beendet. Margot Honecker ist Minister. Mit 36 Jahren ist sie auf dem Höhepunkt ihrer Karriere und wird diese Funktion bis zum Untergang der DDR im Herbst 1989 ausüben - 26 Jahre, so lange wie kein Bildungsminister vor und nach ihr. In dieser Zeit wird es kaum einen DDR-Bürger geben, der nicht direkt oder indirekt mit den Folgen ihrer Tätigkeit konfrontiert wird.
1. Akt: 1927-1945
Ostern 1927
Der Ostersonntag ist ein wunderschöner Tag. Bei blauem Himmel und strahlendem Sonnenschein strömen viele Bürger der Stadt Halle in die Ausflugslokale. Die Taschendiebe machen gute Geschäfte, weiß die "Saale-Zeitung" zu berichten und jubelt in deutlicher Anspielung auf die Gemütslage des deutschen Volkes: "Flammende Feuer lodern auf Bergesgipfeln durch germanische Aue. Ostara, der Göttin des siegreich vordringenden Lichtes zu Ehr und Opfer. Weiße Kühe ziehen ihren blumengeschmückten Wagen über die frühlingsfrohe Flur. Die Hoffnung flattert mit goldbewimpelten Fahnen durch die Herzen der Menschen. Der Glaube an die eigene Kraft, an unsere Zukunft, erwacht zu neuer Tatfreude. Wir erstehen aus uns selbst, um wieder selbst zu sein ..."
Zwei Tage später, am Dienstag, dem 19. April, erscheint der Schuhmacher Adolf Erich Gotthardt Feist, wohnhaft in Halle, Rathswerder 12, vor dem "unterzeichnenden Standesbeamten" und zeigt an, "dass von der Helene Feist, geborene Horst, seiner Ehefrau, wohnhaft bei ihm zu Halle in seiner Wohnung am siebzehnten April des Jahres tausend neunhundert siebenundzwanzig, vormittags, um zehn ein viertel Uhr ein Mädchen geboren worden sei, und dass das Kind den Vornamen Margot erhalten habe". Ein Sonntagskind. Der Name Margot kommt aus dem Persischen und heißt "die Perle".
Wir schreiben das Jahr 1927. Der 1. FC Nürnberg ist deutscher Fußballmeister. Flugpionier Charles Lindbergh überquert den Atlantik und landet nach über 33 Stunden in Paris. Das Versandhaus Quelle wird gegründet. Im Berliner UFA-Palast hat Fritz Langs Film "Metropolis" Premiere. In Hamburg wird Ernst Tollers "Hoppla, wir leben!" uraufgeführt; Hermann Hesses "Steppenwolf" und Stefan Zweigs "Sternstunden der Menschheit" erscheinen. Und in der Sowjetunion beschließen die Delegierten des IV. Sowjetkongresses den ersten Fünfjahresplan. Auf dem XV. Parteitag der KPdSU wird Leo Trotzki aus der Partei ausgeschlossen und anschließend nach Kasachstan verbannt. Die Unruheherde des Jahres 1927 sind der Balkan, China, Indien. Zwischen England und Frankreich sind die Beziehungen gespannt. In Polen spitzen sich die Auseinandersetzungen um den Status der deutschen Stadt Danzig zu. In allen Zeitungen wird die "Räumungsfrage" heftig diskutiert - die Räumung des besetzten Rheinlandes durch französische Truppen. Neun Jahre nach dem Ende des 1. Weltkrieges sind revanchistische und nationalistische Klänge unüberhörbar. Die Hallenser "Saale-Zeitung" hetzt am 17. April 1927, "dass die beiden eigentlichen Militärmächte, England und Frankreich, nicht an Abrüstung denken. Denn Abrüstung würde für beide den Verlust ihrer gewaltigen Kolonialreiche und damit der gegenwärtigen Existenzgrundlage ihrer Völker und ihres Reichtums bedeuten, und würde das unbedingte Übergewicht in Europa den zwei Völkern geben, deren Volkskraft und jugendliche Lebensenergie am stärksten sind: Deutschland und Italien." Völkische Töne, sechs Jahre vor der Machtergreifung Hitlers. "Wir erstehen aus uns selbst, um wieder selbst zu sein ..."
In diese Welt wird die kleine "Perle" geboren, jedoch nicht, wie die Geburtsurkunde angibt, in der Wohnung ihres Vaters. Es ist die ihrer Großeltern, der Eltern ihrer Mutter. Papa Gotthardt Feist, aus Hirschberg in Schlesien kommend, ist eher zufällig in Halle hängen geblieben. Es ist die Liebe. Der junge Schuhmacher auf Wanderschaft, kaum 20-jährig, lernt die ein Jahr jüngere Helene Horst kennen. Es geht alles sehr schnell. Jung gefreit hat nie gereut, sagt man damals. Später erst wird die Familie ihre erste eigene Wohnung in der Luckengasse beziehen. Als Margot knapp 5 Jahre alt ist, inzwischen ist ihr 3 Jahre jüngerer Bruder Manfred geboren, findet die Familie eine Wohnung in der Torstraße 36, im Glaucha-Viertel, eine der Hochburgen der Kommunistischen Partei. Hier wohnt das Hallesche Proletariat, der "Glauch'sche Adel", einfache arme Leute, aber von hohem Klassenbewusstsein. In der Torstraße bezieht die junge Familie eine kleine dunkle Parterrewohnung im Vorderhaus, die Fenster zum Hof. Das Haus steht heute noch, der Hinterhof ist abgerissen. Es sind ärmliche Verhältnisse: ein Durchgangszimmer, eine kleine Küche, dahinter die Schlafkammer mit drei Betten. Toilette auf dem Hof. Hier befinden sich auch Behälter für Asche und Abfälle, die in unregelmäßigen Abständen geleert werden - ein ideales Tummelfeld für Ratten und Mäuse. Es sind die normalen Zustände in den großstädtischen Armenhäusern der 1920er-Jahre. Man legt trotzdem großen Wert darauf, "pieksauber" zu sein. Einmal in der Woche wird gebadet, alle Mann in das gleiche Wasser. Die Hälfte der Hausbewohner sind Kommunisten, so wie die im Hinterhaus wohnende Schneiderin Minna Eggers, die sich "Mi" nennen lässt. Sie wird in Margots Leben noch eine Rolle spielen. Man hilft sich gegenseitig, so gut man kann. Die Solidarität untereinander ist groß, besonders als 1933 die Nazizeit beginnt. Etwa zur gleichen Zeit zieht eine Familie mit einer gleichaltrigen Tochter in das Haus Torstraße 36, in den 3. Stock. Das Mädchen heißt Elisabeth Schmidt. Es wird sich eine Freundschaft zwischen Margot und Elisabeth entwickeln, die viele Jahre halten soll.
Hier in Halle findet Gotthardt Feist zur Arbeiterbewegung. Es ist eine Zeit großer Arbeitslosigkeit. Auch Gotthardt ist meist arbeitslos. Er stürzt sich in die politische Arbeit. Margots Mutter Helene ist Arbeiterin in einer Matratzenfabrik, eine kleine, zierliche Frau, temperamentvoll und energisch. Sie wird als sehr hilfsbereit, klug und ehrlich beschrieben. Selbst aus einer kinderreichen Familie kommend - Helenes Vater war im Ersten Weltkrieg gefallen und hatte eine Frau mit sieben Kindern zurückgelassen -, kennt sie Not und Entbehrung. Sie hat praktischen Lebenssinn und ist daran gewöhnt, mit Wenigem auszukommen. Dennoch wächst ihre kleine Tochter umsorgt und behütet auf. Sie ist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten.
Im Januar 1933 kommt Hitler an die Macht. Margot ist 5 Jahre alt. Sie wird Ostern des gleichen Jahres in die nur wenige Schritte entfernte Weingärtenschule am Böllberger Weg eingeschult, ihre Freundin Elisabeth auf Grund ihrer Konfession zur gleichen Zeit in die Katholische Volksschule am Markt.
Bald muss Margot die ersten Haussuchungen durch die am 26. April 1933 von Hermann Göring geschaffene Geheime Staatspolizei erleben. In einem Interview aus dem Jahre 1990 mit Reinhold Andert und Wolfgang Herzberg (Auszüge davon sind veröffentlicht in ihrem Buch "Der Sturz") wird sie über diese Zeit berichten: "Ich kann mich noch sehr genau erinnern, dass mein Vater, als er noch nicht verhaftet war, ständig unterwegs, irgendwo untergetaucht war, kann mich erinnern an die Haussuchungen durch die Gestapo. Das waren natürlich immer Angstpartien für uns. Ich hab meine Mutter immer wahnsinnig bewundert, die souverän blieb, die die Nerven behielt. Die diesen Gestapo-Leuten den 'Völkischen Beobachter' auf den wackligen Küchenstuhl legte und sagte: 'Nicht mit den dreckigen Stiefeln hier drauf!' Das ist mir genau haften geblieben. Und ihre Geistesgegenwart werde ich nie vergessen, als sie schon mit dem Haftbefehl kamen.
Wie schwer es war, zuverlässige Aussagen zu erhalten, soll folgende Geschichte zeigen: Im April 2002 hatte ich, vor laufendem Aufnahmegerät, ein langes Gespräch mit Frau B., die Anfang der 1950er-Jahre am Institut für Lehrerbildung (IfL) in Potsdam studiert hatte. Sie erzählte mir, dass in ihrer Klasse auch Margot Feist gewesen sei, die jeden Tag aus Berlin gekommen sei und mit ihr gemeinsam im Frühjahr 1953 die Prüfung abgelegt habe. Es war ein langes Gespräch, ein schönes Gespräch. Frau B. zitierte ausführlich aus Gesprächen mit "der Margot", schilderte plastisch, wie zu häufigen Arbeitseinsätzen in der Landwirtschaft "der Erich" in kurzen Hosen und auf dem Fahrrad erschienen sei, um "der Margot" zu helfen. Ich erfuhr, dass "die Margot" ihr gesagt habe, wie sehr sie sie um ihre schöne Kindheit beneide, die ihre sei gar nicht schön gewesen. Sie beschrieb, wie gerecht Margot immer ihre zusätzliche Zuckerration unter den Mitschülern verteilt hätte, wie sie im Jahre '52, beide schwanger, nebeneinander gesessen hätten, beide mit Schwierigkeiten in Mathe und Physik kämpfend. Und immer wieder betonte sie, dass sie es gar nicht verstehen könne, wie "die Margot" sich so verändert habe, denn sie sei doch damals so bescheiden, kameradschaftlich und sympathisch gewesen.
Eine wunderbare Geschichte voller interessanter Details, die nur einen Fehler hat: Sie ist von A bis Z erlogen. Gegenrecherchen ergaben eindeutig, dass Margot Honecker das IfL in Potsdam nie besucht hat. Irgendjemand hat gesagt, dass der Zeitzeuge der Feind des Historikers sei - er hatte offensichtlich Recht. Es gab jedoch keine andere Möglichkeit, als auf Erinnerungen von Wegbegleitern und Archive zurückzugreifen. Mögen an der einen oder anderen Stelle Ressentiments oder das Bemühen, die verehrte Person in einem recht günstigen Licht erscheinen zu lassen, die Erinnerung getrübt haben, so denke ich doch, dass insgesamt ein Bild entstanden ist, das der porträtierten Person gerecht wird. Soweit es möglich war, habe ich mich bemüht, die Aussagen in Ämtern und Archiven nachzuprüfen und von anderen Zeitzeugen bestätigen zu lassen. Wo es sich um Vermutungen handelt, habe ich dies kenntlich gemacht.
Ed Stuhler
Prolog
Ein Tag im November
Im Berliner Schloss Niederschönhausen, dem Sitz des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik, wird ein Foto gemacht. Der Fotograf hat zusätzliche große Neonlampen aufgestellt, denn das trübe Licht vermag kaum die Tüllgardinen der großen Schlossfenster zu durchdringen. Wir schreiben den 14. November des Jahres 1963. An diesem Nachmittag entsteht ein Gruppenbild mit 3 Damen und 33 Herren - die neu gewählte und am Vormittag in der Volkskammer bestätigte Regierung der DDR, die zur Vereidigung angetreten ist. Die drei Damen sind Margarete Wittkowski, Präsidentin der Staatsbank, Hilde Benjamin, die "Rote Hilde", Justizministerin, und, erstmalig in diesem Kreis, Margot Honecker, die neue Ministerin für Volksbildung. Es ist einer dieser Tage, die sie gar nicht liebt, ein grauer vernieselter Novembertag. Vor 23 Jahren starb ihre Mutter an einem solchen Tag. Seitdem hasst sie den November. Margot Honecker ist Mitglied der dritten Regierung Grotewohl, die im Ergebnis der Volkskammerwahlen im Oktober 1963 gebildet wird. Auf dem Foto sieht Otto Grotewohl jünger und vitaler aus, als er tatsächlich ist. Nominell ist er der Regierungschef, die Amtsgeschäfte allerdings führt schon Willi Stoph. Grotewohl ist 69 und leidet unter schweren Herz- und Kreislaufproblemen. Knapp ein Jahr später wird er zu Grabe getragen. Die praktische Regierungsarbeit führen die Stellvertreter des Ministerpräsidenten. Das sind unter anderem der Außenminister Lothar Bolz von der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NDPD), Gesundheitsminister Max Sefrin und der SED-Funktionär Erich Apel, Vorsitzender der Staatlichen Plankommission, der sich zwei Jahre später im Zusammenhang mit dem 11. Plenum der SED erschießen wird.
Finanzminister ist Willy Rumpf, ein Mann, bei dem nichts wegkommt. Ihm und Anton Ackermann, der zu diesem Zeitpunkt in der Staatlichen Plankommission für den "nichtmateriellen Bereich" zuständig ist - also Schule, Hochschule, Kultur und Sport -, ist es zu verdanken, dass ein hoher Anteil des Nationaleinkommens für Kultur und Bildung ausgegeben wird. Der wichtigste und einflussreichste Minister ist auf diesem Foto jedoch kaum zu erkennen. Er versteckt sich im Rücken von Hilde Benjamin. Es ist Staatssicherheitsminister Erich Mielke, seit 1957 im Amt. "Wenn die Lichter angehen, tritt der Kundschafter zurück in den Schatten", hat er von Richard Sorge, Meisterspion der Sowjetunion während der Nazizeit und Vorbild der DDR-Tschekisten, gelernt.
Otto Grotewohl stellt die Mitglieder seines Kabinetts Walter Ulbricht, dem Vorsitzenden des Staatsrates vor, der den Eid abnimmt. Wie alle Minister schwört auch Margot Honecker, ihre Kräfte für das Wohl des Volkes einzusetzen und gegen jedermann Gerechtigkeit zu wahren. Es gibt noch eine Tasse Kaffee, dann ist der Festakt beendet. Margot Honecker ist Minister. Mit 36 Jahren ist sie auf dem Höhepunkt ihrer Karriere und wird diese Funktion bis zum Untergang der DDR im Herbst 1989 ausüben - 26 Jahre, so lange wie kein Bildungsminister vor und nach ihr. In dieser Zeit wird es kaum einen DDR-Bürger geben, der nicht direkt oder indirekt mit den Folgen ihrer Tätigkeit konfrontiert wird.
1. Akt: 1927-1945
Ostern 1927
Der Ostersonntag ist ein wunderschöner Tag. Bei blauem Himmel und strahlendem Sonnenschein strömen viele Bürger der Stadt Halle in die Ausflugslokale. Die Taschendiebe machen gute Geschäfte, weiß die "Saale-Zeitung" zu berichten und jubelt in deutlicher Anspielung auf die Gemütslage des deutschen Volkes: "Flammende Feuer lodern auf Bergesgipfeln durch germanische Aue. Ostara, der Göttin des siegreich vordringenden Lichtes zu Ehr und Opfer. Weiße Kühe ziehen ihren blumengeschmückten Wagen über die frühlingsfrohe Flur. Die Hoffnung flattert mit goldbewimpelten Fahnen durch die Herzen der Menschen. Der Glaube an die eigene Kraft, an unsere Zukunft, erwacht zu neuer Tatfreude. Wir erstehen aus uns selbst, um wieder selbst zu sein ..."
Zwei Tage später, am Dienstag, dem 19. April, erscheint der Schuhmacher Adolf Erich Gotthardt Feist, wohnhaft in Halle, Rathswerder 12, vor dem "unterzeichnenden Standesbeamten" und zeigt an, "dass von der Helene Feist, geborene Horst, seiner Ehefrau, wohnhaft bei ihm zu Halle in seiner Wohnung am siebzehnten April des Jahres tausend neunhundert siebenundzwanzig, vormittags, um zehn ein viertel Uhr ein Mädchen geboren worden sei, und dass das Kind den Vornamen Margot erhalten habe". Ein Sonntagskind. Der Name Margot kommt aus dem Persischen und heißt "die Perle".
Wir schreiben das Jahr 1927. Der 1. FC Nürnberg ist deutscher Fußballmeister. Flugpionier Charles Lindbergh überquert den Atlantik und landet nach über 33 Stunden in Paris. Das Versandhaus Quelle wird gegründet. Im Berliner UFA-Palast hat Fritz Langs Film "Metropolis" Premiere. In Hamburg wird Ernst Tollers "Hoppla, wir leben!" uraufgeführt; Hermann Hesses "Steppenwolf" und Stefan Zweigs "Sternstunden der Menschheit" erscheinen. Und in der Sowjetunion beschließen die Delegierten des IV. Sowjetkongresses den ersten Fünfjahresplan. Auf dem XV. Parteitag der KPdSU wird Leo Trotzki aus der Partei ausgeschlossen und anschließend nach Kasachstan verbannt. Die Unruheherde des Jahres 1927 sind der Balkan, China, Indien. Zwischen England und Frankreich sind die Beziehungen gespannt. In Polen spitzen sich die Auseinandersetzungen um den Status der deutschen Stadt Danzig zu. In allen Zeitungen wird die "Räumungsfrage" heftig diskutiert - die Räumung des besetzten Rheinlandes durch französische Truppen. Neun Jahre nach dem Ende des 1. Weltkrieges sind revanchistische und nationalistische Klänge unüberhörbar. Die Hallenser "Saale-Zeitung" hetzt am 17. April 1927, "dass die beiden eigentlichen Militärmächte, England und Frankreich, nicht an Abrüstung denken. Denn Abrüstung würde für beide den Verlust ihrer gewaltigen Kolonialreiche und damit der gegenwärtigen Existenzgrundlage ihrer Völker und ihres Reichtums bedeuten, und würde das unbedingte Übergewicht in Europa den zwei Völkern geben, deren Volkskraft und jugendliche Lebensenergie am stärksten sind: Deutschland und Italien." Völkische Töne, sechs Jahre vor der Machtergreifung Hitlers. "Wir erstehen aus uns selbst, um wieder selbst zu sein ..."
In diese Welt wird die kleine "Perle" geboren, jedoch nicht, wie die Geburtsurkunde angibt, in der Wohnung ihres Vaters. Es ist die ihrer Großeltern, der Eltern ihrer Mutter. Papa Gotthardt Feist, aus Hirschberg in Schlesien kommend, ist eher zufällig in Halle hängen geblieben. Es ist die Liebe. Der junge Schuhmacher auf Wanderschaft, kaum 20-jährig, lernt die ein Jahr jüngere Helene Horst kennen. Es geht alles sehr schnell. Jung gefreit hat nie gereut, sagt man damals. Später erst wird die Familie ihre erste eigene Wohnung in der Luckengasse beziehen. Als Margot knapp 5 Jahre alt ist, inzwischen ist ihr 3 Jahre jüngerer Bruder Manfred geboren, findet die Familie eine Wohnung in der Torstraße 36, im Glaucha-Viertel, eine der Hochburgen der Kommunistischen Partei. Hier wohnt das Hallesche Proletariat, der "Glauch'sche Adel", einfache arme Leute, aber von hohem Klassenbewusstsein. In der Torstraße bezieht die junge Familie eine kleine dunkle Parterrewohnung im Vorderhaus, die Fenster zum Hof. Das Haus steht heute noch, der Hinterhof ist abgerissen. Es sind ärmliche Verhältnisse: ein Durchgangszimmer, eine kleine Küche, dahinter die Schlafkammer mit drei Betten. Toilette auf dem Hof. Hier befinden sich auch Behälter für Asche und Abfälle, die in unregelmäßigen Abständen geleert werden - ein ideales Tummelfeld für Ratten und Mäuse. Es sind die normalen Zustände in den großstädtischen Armenhäusern der 1920er-Jahre. Man legt trotzdem großen Wert darauf, "pieksauber" zu sein. Einmal in der Woche wird gebadet, alle Mann in das gleiche Wasser. Die Hälfte der Hausbewohner sind Kommunisten, so wie die im Hinterhaus wohnende Schneiderin Minna Eggers, die sich "Mi" nennen lässt. Sie wird in Margots Leben noch eine Rolle spielen. Man hilft sich gegenseitig, so gut man kann. Die Solidarität untereinander ist groß, besonders als 1933 die Nazizeit beginnt. Etwa zur gleichen Zeit zieht eine Familie mit einer gleichaltrigen Tochter in das Haus Torstraße 36, in den 3. Stock. Das Mädchen heißt Elisabeth Schmidt. Es wird sich eine Freundschaft zwischen Margot und Elisabeth entwickeln, die viele Jahre halten soll.
Hier in Halle findet Gotthardt Feist zur Arbeiterbewegung. Es ist eine Zeit großer Arbeitslosigkeit. Auch Gotthardt ist meist arbeitslos. Er stürzt sich in die politische Arbeit. Margots Mutter Helene ist Arbeiterin in einer Matratzenfabrik, eine kleine, zierliche Frau, temperamentvoll und energisch. Sie wird als sehr hilfsbereit, klug und ehrlich beschrieben. Selbst aus einer kinderreichen Familie kommend - Helenes Vater war im Ersten Weltkrieg gefallen und hatte eine Frau mit sieben Kindern zurückgelassen -, kennt sie Not und Entbehrung. Sie hat praktischen Lebenssinn und ist daran gewöhnt, mit Wenigem auszukommen. Dennoch wächst ihre kleine Tochter umsorgt und behütet auf. Sie ist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten.
Im Januar 1933 kommt Hitler an die Macht. Margot ist 5 Jahre alt. Sie wird Ostern des gleichen Jahres in die nur wenige Schritte entfernte Weingärtenschule am Böllberger Weg eingeschult, ihre Freundin Elisabeth auf Grund ihrer Konfession zur gleichen Zeit in die Katholische Volksschule am Markt.
Bald muss Margot die ersten Haussuchungen durch die am 26. April 1933 von Hermann Göring geschaffene Geheime Staatspolizei erleben. In einem Interview aus dem Jahre 1990 mit Reinhold Andert und Wolfgang Herzberg (Auszüge davon sind veröffentlicht in ihrem Buch "Der Sturz") wird sie über diese Zeit berichten: "Ich kann mich noch sehr genau erinnern, dass mein Vater, als er noch nicht verhaftet war, ständig unterwegs, irgendwo untergetaucht war, kann mich erinnern an die Haussuchungen durch die Gestapo. Das waren natürlich immer Angstpartien für uns. Ich hab meine Mutter immer wahnsinnig bewundert, die souverän blieb, die die Nerven behielt. Die diesen Gestapo-Leuten den 'Völkischen Beobachter' auf den wackligen Küchenstuhl legte und sagte: 'Nicht mit den dreckigen Stiefeln hier drauf!' Das ist mir genau haften geblieben. Und ihre Geistesgegenwart werde ich nie vergessen, als sie schon mit dem Haftbefehl kamen.
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Autoren-Porträt von Ed Stuhler
Ed Stuhler: Jahrgang 1945; 1965-68 Studium zum Chemieingenieur in Magdeburg; 1973-78 Studium der Kultur- und Literaturwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin; ab 1976 Redakteur im Haus für Kulturarbeit in Berlin; seit 1979 freiberuflicher Autor. Liedtexte, Hörfunkfeatures und Buchveröffentlichungen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ed Stuhler
- 2005, 270 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453640012
- ISBN-13: 9783453640016
Rezension zu „Margot Honecker “
"Brillant beschreibt Stuhler die maßgebliche Rolle der intrigierenden Margot Honecker in diesem Politkrimi."Berliner Zeitung
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