Maria Magdalena
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Maria Magdalena vonMargaret George
LESEPROBE
1
Mantrug sie an einen Ort, an dem sie noch nie gewesen war. Er war sehr viel klarerals in einem Traum, er hatte Tiefe und Farbe und feine Details, die ihn realererscheinen ließen als die Zeit mit ihrer Mutter im Hof, realer auch als dieverträumten Stunden, die sie manchmal damit zubrachte, auf den großen See vonMagdala hinauszuschauen, der so großartig war, dass man ihn auch Meer nannte:das Galiläische Meer.
Siewurde in die Höhe gehoben, auf eine hohe Säule oder eine Plattform gestellt -sie konnte nicht erkennen, was es war. Überall um sie herum waren Menschen, diesich unten versammelten und zu ihr heraufschauten. Sie wandte den Kopf zurSeite und erblichte andere Säulen mit anderen Leuten, eine ganze Reihe, diesich so weit erstreckte, wie das Auge reichte. Der Himmel war gelblich, eineFarbe, die sie nur einmal gesehen hatte, in einem Sandsturm. Die Sonne warverhüllt, aber es gab noch Licht, ein diffuses, goldenes Licht.
Dannkam jemand zu ihr - konnten sie fliegen, waren es Engel, wie kamen sie hierher?-, nahm ihre Hand und sagte: »Willst du kommen? Willst du mit uns kommen?«
Siefühlte die Hand, die ihre festhielt, sie war glatt wie ein Stück Marmor, nichtkalt, nicht heiß, nicht schweißfeucht, sondern vollkommen. Sie wollte siedrücken, aber sie wagte es nicht.
»ja«,sagte sie schließlich.
Unddie Gestalt - sic wusste immer noch nicht, wer es war, und wagte nicht, ihr insGesicht zu schauen, höchstens auf die Füße in den goldenen Sandalen - hob sieauf und trug sie davon; die Reise war so Schwindel erregend, dass sie dasGleichgewicht verlor und zu fallen begann, senkrecht und immer schneller, undunter ihr war es sehr dunkel.
Miteinem Ruck setzte sie sich auf. Die Öllampe war ausgebrannt. Draußen hörte siedie sanften Geräusche des großen Sees, nicht weit vor ihrem Fenster, wo dieWellen ans Ufer plätscherten.
Siehob die Hand vor die Augen, befühlte sie. Sie war feucht. Hatte das Wesen siedeshalb losgelassen, sie fallen lassen? Sie rieb die Hand heftig. Nein, lassmich meine Hand säubern!, rief sie lautlos. Lass michnicht allein! Ich kann sie abwischen! »Komm zurück«, flüsterte sie.
Abersie hörte nur die Stille des Zimmers und das Plätschern des Wassers.
Siestürzte in das Zimmer ihrer Eltern. Die beiden schliefen fest; sie brauchten keineLampe, sie schliefen im Dunkeln.
»Mutter!«, schrie sie und packte sie bei der Schulter. »Mutter! «Ohne auf Erlaubnis zu warten, kletterte sie in das Bett und
schmiegte sich unter der warmen Decke an ihre Mutter.
»Was... was ist?« Ihre Mutter brachte die Worte nur mühsamhervor. »Maria?«
»Ich hatte einen so merkwürdigen Traum«,wimmerte sie. »Ich wurde emporgetragen ... inirgendeinen Himmel, ich weiß nicht, wohin, ich weiß nur, es war nicht aufdieser Welt, es gab Engel dort, glaube ich, oder ... ich weiß nicht, was ... «Sie hielt inne und rang nach Atem. »Ich glaube, ich wurde ... ich wurdegerufen. Wurde zu ihnen gerufen, sollte zu ihnen gehören ... « Aber es warbeängstigend gewesen, und sie war nicht sicher gewesen, dass sie zu ihnenhatte gehören wollen.
IhrVater richtete sich auf. »Was war das?«, fragte er.»Ein Traum? Ein Traum, in dem du gerufen wirst? «
»Nathan...« Marias Mutter streckte die Hand aus und berührte seine Schulter, um ihnzurückzuhalten.
»Ichweiß nicht, ob ich gerufen wurde«, sagte Maria mit dünner Stimme. »Aber es warein Traum mit Menschen auf erhöhten Orten und ... «
»Auferhöhten Orten! «, rief ihr Vater. »Dort standen die alten heidnischen Götzen.Auf erhöhten Orten!«
»Abernicht auf Säulen«, sagte Maria. »Dies war anders. Die Menschen, die geehrtwurden, standen darauf, und es waren Menschen, keine Statuen.«
»Unddu glaubst, du wurdest gerufen?«, fragte ihr Vater.»Warum denn?«
»Siehaben mich gefragt, ob ich mich zu ihnen gesellen will. Sie fragten: >Willstdu mit uns kommen?<« Noch beim Erzählen hörte siedie wohlklingenden Stimmen.
»Dumusst wissen, Tochter, dass alles Prophezeien aufgehört hat in unserem Land«,sagte ihr Vater schließlich. »Seit Maleachi hat keinProphet mehr ein Wort geäußert, und das ist vierhundert Jahre her. Gottspricht nicht mehr auf diese Weise zu uns. Er spricht nur durch sein heiligesGesetz. Und das genügt uns. «
DochMaria wusste, was sie gesehen hatte, in all seiner transzendenten Glorie undWärme. »Aber Vater«, sagte sie, »die Botschaft und die Einladung - sie waren soklar. « Sie achtete darauf, weiter leise und respektvoll zu sprechen. Aber siezitterte immer noch.
»LiebeTochter, du bist in die Irre gegangen. Es war ein Traum, hervorgerufen durchunsere Vorbereitungen für Jerusalem. Gott würde dich nicht rufen. Geh jetztwieder in dein eigenes Bett.«
Sieklammerte sich an ihre Mutter, aber die stieß sie beiseite. »Tu, was dein Vatersagt! «, befahl sie.
Mariakehrte in ihr Zimmer zurück, immer noch umfangen von der Erhabenheit ihres Traums.Es war Wirklichkeit gewesen. Sie wusste, dass es Wirklichkeit gewesen war.
Undwenn es Wirklichkeit gewesen war, dann hatte ihr Vater Unrecht.
Inden Stunden, kurz bevor der Himmel hell werden würde, hatte sich der Haushaltauf die Wallfahrt nach Jerusalem zum Wochenfest vorbereitet. Maria waraufgeregt gewesen, weil alle Erwachsenen die Reise so ungeduldig erwarteten undsich doch alle Juden nach Jerusalem sehnen sollten. Aber am meisten hatte siesich auf die Reise an sich gefreut, denn die Siebenjährige war noch nie ausMagdala hinausgekommen; unterwegs würden sie sicher Abenteuer erleben. IhrVater hatte ihr eine entsprechende Andeutung gemacht: »Wir werden auf demkurzen Wege nach Jerusalem reisen, durch Samaria; sobrauchen wir nur drei und nicht vier Tage. Aber es ist gefährlich. Es hatÜberfälle auf Jerusalem-Pilger gegeben.« Erschüttelte den Kopf. »Die Samariter haben sogar noch Götzenbilder, habe ichgehört. Oh, nicht mehr in aller Öffentlichkeit, nicht am Straßenrand, aber ...«
»Wasfür Götzenbilder? Ich habe noch nie ein Götzenbild gesehen«, fragte sieeifrig.
»Betedarum, dass es auch nie geschieht.«
»Aberwie soll ich ein Götzenbild erkennen, wenn ich es sehe?«»Du wirst es erkennen«, sagte ihr Vater. »Und du musst dich davon fern halten.«
»Aber... «
»Genugjetzt! «
Mariaerinnerte sich an all die Neugier, die sie zuvor für Jerusalem gefühlt hatte,doch nun verblasste sie angesichts des Traums, der ihr in der Dunkelheit nochimmer lebendig vor Augen stand.
MariasMutter Zebida, die mit den letzten Vorbereitungenbeschäftigt war, hörte plötzlich auf, Korn in die Reisesäcke abzumessen, undbeugte sich zu ihrer Tochter hinunter. Den Traum sprach sie nicht an.Stattdessen sagte sie: »Was diese Reise betrifft, so darfst du dich nicht mitirgendjemandem aus den anderen Familien gemein machen, die mit uns kommen, mitAusnahme der wenigen, von denen ich dir sage, dass sie hinnehmbar sind. Soviele Leute halten sich nicht an das Gesetz und gehen nur nach Jerusalem -sogar in den Tempel! -, weil es eine Art Urlaub für sie ist. Bleib bei denanderen, den frommen Familien. Hast du verstanden?«Sie schaute Maria eindringlich an, und in diesem Augenblick sah ihr hübschesGesicht nicht hübsch, sondern bedrohlich aus.
»ja,Mutter«, sagte Maria.
»Wirhalten uns mit Eifer an das Gesetz, und so muss es auch sein«, fuhr ihre Mutterfort. »Lass die anderen ... Missetäter nur für sich selber sorgen. Es ist nichtunsere Pflicht, sie vor ihrer Nachlässigkeit zu bewahren. Der Umgang mit ihnenwird uns verunreinigen. «
»Wiewenn man Milch und Fleisch zusammenbringt?«, fragteMaria. Sie wusste, dass das verboten war, so sehr, dass alles, was mit demeinen oder anderen zu tun hatte, getrennt aufbewahrt werden musste.
»Genauso«, sagte ihre Mutter. »Und noch schlimmer, denn ihr Einfluss vergeht nichtnach einem oder zwei Tagen, wie es bei Milch und Fleisch der Fall ist. Erbleibt bei dir und verdirbt dich mehr und mehr. «
Deutschvon Rainer Schmidt
© Verlagsgruppe Lübbe GmbH
- Autor: Margaret George
- 2009, 2. Aufl., 797 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Rainer Schmidt
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404157257
- ISBN-13: 9783404157259
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