Martyrium
In New York wird eine Studentin ermordet in ihrem Apartment gefunden. Das Grausige: Sie wurde kopfüber gekreuzigt. Pathologe Jenner weiß beim ersten Blick, dass es sich hier um einen kranken Serienkiller handelt. Und tatsächlich werden...
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Produktinformationen zu „Martyrium “
In New York wird eine Studentin ermordet in ihrem Apartment gefunden. Das Grausige: Sie wurde kopfüber gekreuzigt. Pathologe Jenner weiß beim ersten Blick, dass es sich hier um einen kranken Serienkiller handelt. Und tatsächlich werden kurz darauf weitere bizarr zugerichtete Frauenleichen gefunden. Der Mörder scheint von einem religiösen Wahn besessen zu sein, denn er ahmt mit seinen Morden den Märtyrertod von Heiligen nach. Immer am Namenstag des Heiligen folgt das nächste Opfer. Jenner muss sich beeilen. Denn seine Freundin Ana hat bald Namenstag.
"Ein atemberaubend spannendes Meisterwerk."
USA Today
Lese-Probe zu „Martyrium “
Martyrium von Jonathan HayesSONNTAG, 1. DEZEMBER
Steve Whittaker, M. D., Deputy Chief Medical Examiner, 'stellvertretender Chefpathologe für die Stadt New York, vervollständigte den Bericht der Spurensicherung und setzte seine schwungvolle Unterschrift darunter. Als er den Schreibtischstuhl nach hinten stieß, sah er, dass das Mosaik aus Urkunden in eindrucksvollen schwarzen Rahmen, das die Wand seines Büros schmückte, etwas aus dem Gleichmaß geraten war. Er stand stirnrunzelnd auf.
Harry musste an das Diplom der medizinischen Fakultät gestoßen sein, das größte von ihnen, als er die Papierkörbe ausgeleert hatte. Die Augen halb zusammengekniffen, streckte Whittaker den Arm aus und rückte den Rahmen gerade, bis die Worte HARVARD UNIVERSITY exakt auf der gleichen Höhe wie der Name JOHNS HOPKINS auf seinem Pathologiediplom waren. In der unteren Reihe hingen seine New Yorker Zulassung, die Urkunde von seinem forensischen Lehrauftrag und seine Vorstandsqualifikationen in etwas weniger aufwendigen Rahmen, aber ein einziger Blick auf die Wand reichte aus, um jedem Menschen zu zeigen, dass sie es mit einem forensischen Pathologen von Weltformat zu tun hatten.
Er hatte sich seine Position nicht nur durch seine fachlichen Qualifikationen erworben: Whittaker war ein politisches Tier und verdammt stolz darauf. Er hatte es bis an die Spitze der beiden großen Verbände forensischer Pathologen des Landes geschafft, war Schatzmeister der National Association of Medical Examiners gewesen und hatte die pathobiologische Abteilung der American Academy of Forensic Sciences ge leitet. Man ging allgemein davon aus, dass er in ein paar Jahren Präsident der AAFS sein würde.
Bei Kongressen kehrte er nach jeder Cocktailparty und jeder Plenarsitzung in sein Hotelzimmer zurück und notierte sich alle nützlichen Informationen, die er erhalten hatte. Nicht
... mehr
die Informationen über die typischen Rückstandsmuster neu entwickelter Pulversorten oder Techniken zur Sicherung von Schleifspuren an gut erhaltenen Leichen, sondern vielmehr die kleinen Details, die seinen weiteren Aufstieg fördern konnten: wessen Alkoholproblem sich verschlimmert hatte, bei wessen Frau sie gerade Leukämie diagnostiziert hatten. Er betrachtete seine Begabung dafür, die Schwächen anderer zu erkennen und auszunutzen, als ein notwendiges Übel, einen Darwinschen Zug, der ihm das Überleben ermöglichte, während weniger starke Männer untergingen. Er wusste, dass dies andere Leute störte; es ging ihm immer noch nach, dass Julie ihm, als sie ihn verlassen hatte, eine Ausgabe von Machiavellis Der Fürst geschickt hatte. Es war eine kleinliche Geste gewesen und verriet, dass sie einfach nicht verstanden hatte, wie es im Leben zuging — eine Tatsache, die noch unterstrichen wurde davon, dass sie ihn wegen Jenner verlassen hatte.
Der Gedanke an Jenner reizte ihn, und er runzelte noch immer die Stirn, als das Telefon klingelte. Bezirksstaatsanwalt Klein. Es war ihre zweite Unterhaltung in weniger als drei Stunden, und Whittaker versuchte einen Ton anzuschlagen, der irgendwo zwischen Professionalität und Kollegialität lag. Er begann seine Beobachtungen vom Schauplatz darzulegen, aber Klein schnitt ihm das Wort ab; er wollte nur die Kurzversion — typisch Klein eben.
Whittaker fasste widerwillig die Ergebnisse zusammen, wobei er Klein versicherte, er würde sich persönlich um die Obduktion kümmern.
»Im Gegenteil, darum werden Sie sich nicht persönlich kümmern, zumindest nicht allein. Sie werden einen Kollegen dabeihaben. Der Vater von dem Mädchen hat irgendeinen Pathologen vor Ort angeheuert, der Typ heißt Jennings. Ich kann Ihnen sagen, Whittier, ich hab die Nase voll von diesen Arschlöchern mit Juraabschluss, die ankommen und irgendwelche Extrawürste verlangen. Der Typ tut mir leid, tut er wirklich, aber es hätte ihn nicht umgebracht, sich zu einer normalen Tageszeit zu melden.«
Whittaker drückte sich das Telefon ans Ohr und rang nach Worten. »Jennings? Meinen Sie Jenner, Mr. Klein? Dr. Edward Jenner?«
»Jennings, Jenner, irgend so was eben. Taugt er was ?«
»Er hat früher mal hier gearbeitet. Ich hab ihn vor zwei Jahren gefeuert.«
»Herrgott. Unfähigkeit?«
Whittaker schwieg eine Sekunde lang. »Es war nicht so sehr Unfähigkeit als ... sagen wir, er war emotional nicht für seine Arbeit geeignet. Die Identifikationen nach dem elften September waren ein bisschen zu viel für ihn.«
Klein schnaubte. »Dann sind Sie ohne ihn wahrscheinlich besser dran. Wie auch immer, er ist der von der Familie beauftragte Pathologe, wahrscheinlich ist er im Moment gerade am Schauplatz, und bei der Autopsie arbeitet er mit Ihnen zusammen. Geben Sie ihm jede Unterstützung, die er braucht, und halten Sie mich aus der Sache raus. Verstanden, Whittier?« Whittaker hielt es für geraten, ihn nicht zu verbessern. »Verstanden, Sir.«
Sie hatten sie im East Village gefunden, an die Wand ihrer Studentenwohnung in einem Haus am Tompkins Square Park genagelt.
Jenner wartete auf einer Bank im Park, einer sechs Häuserblocks langen Fläche mit Rasen, Bäumen, Pfaden und Basketballplätzen. Trotz der Kälte kickten ein paar Brasilianer auf der gepflasterten Fläche vor ihm einen Fußball herum. Der Park wirkte viel gepflegter, als er es früher gewesen war. Obwohl sein Loft zu Fuß kaum eine Viertelstunde entfernt lag, war er überrascht, wie elegant die Gegend geworden war, seit er selbst von der beruflichen Bildfläche verschwunden war. Damals, als er in der forensischen Pathologie angefangen hatte, hätte ein weiterer Mord im Neunten Revier kaum für Überraschung gesorgt, aber alles veränderte sich so schnell.
Die Punks und Neuhippies waren aus ihren besetzten Wohnungen gedrängt und durch fröhliche junge Familien, Studenten, Fotomodelle und schicke japanische Teenager ersetzt worden, die — wie alle anderen in East Village — nach New York gekommen waren, um sich selbst neu zu erschaffen. Die Punks und Neuhippies hingen mittlerweile mürrisch an den Rändern des Parks herum, meist mit einem halstuchgeschmückten Halbpitbull-Welpen zu Füßen, der Mitgefühl erwecken sollte. Gelegentlich provozierte ein schmuddliger Anarchist, der sich noch nicht daran hatte gewöhnen können, dass sein Gebiet von McLaren-Kinderwagen und Yogamatten überrollt worden war, eine »Konfrontation« mit einem Streifenpolizisten, und unter den Straßenkids entstand eine Miniaturdemonstration, die gleich wieder dem Sonnenschein, dem hochprozentigem St.-Ides-Malzbier und dem allgemeinen Desinteresse zum Opfer fiel.
Auf der anderen Straßenseite stand ein junger, in kugelsicherer Weste und Winterjacke untersetzt wirkender Polizeibeamter an dem gelben Absperrband vor dem Haus und unterhielt sich mit einer Frau, die eine Tüte von der Wäscherei in der Hand hielt. Lieutenant Rad Garcia von der Abteilung Manhattan South Homicide, der Mordkommission, streckte den Kopf zur Haustür heraus, sagte etwas zu dem Polizisten und winkte Jenner zu sich herüber.
Jenner stand steifgliedrig auf und streckte sich. Der Ball sprang auf ihn zu; er fing ihn sauber ab und trat ihn zu einem der Brasilianer hinüber — rudimentäre Fußballkenntnisse, eine der Qualifikationen, die er sich in seinem Jahr an der University of London erworben hatte. Er überquerte die Straße; der Beamte nickte ihm zu und hob das Absperrband, um ihn durchzulassen.
377 East 7th Street war eines der hübscheren Gebäude, ein für zwei Familien errichtetes Backsteinhaus mit blauen Blumenkästen und einer niedrigen Mauer, die den winzigen zubetonierten Vorgarten von der Straße trennte.
Andrea Delore lebte — hatte gelebt — in der Wohnung im Obergeschoss. Als er die Stufen zur Haustür hinaufging, fiel Jenners Blick auf einen dunkelbraunen verschmierten Fleck unmittelbar unter dem Knauf der Haustür; es war doch bemerkenswert, dass Blut immer auffiel. Über dem Klingelknopf befand sich ein kleiner rechteckiger Rahmen, in dem in sauberen Druckbuchstaben die Namen DELORE/JONG standen. Große Flecken aus schwarzem Fingerabdruckpulver wucherten rings um den Klingelknopf und am Türrahmen; als er die Tür aufstieß, stellte Jenner fest, dass die Flecken sich an der Innenseite des Rahmens fortsetzten.
Die Luft im Hausgang war erstickend und heiß, fast klebrig vom Geruch nach Tod. Er blieb in der offenen Tür stehen und sah zurück, die Vortreppe hinunter. Hinter ihm winkte der Polizist die ersten Gaffer zur Seite. Jenner beobachtete, wie er zu der Frau mit der Wäschetüte zurückkehrte, und merkte dann, dass er auf Zeit spielte, das Betreten des Tatorts hinauszögerte.
Das Treppenhaus war lang und schmal, der vergilbte Fußboden mit einem Wabenmuster aus kleinen cremefarbenen und schwarzen Fliesen bedeckt, die Wände waren schwarz getäfelt. Es war mit betont künstlerischen, schwarz gerahmten Fotos geschmückt — Schwarz-Weiß-Aufnahmen, ein paar Nahaufnahmen von Tattoos im Tribalstil, ein paar weibliche Akte und ein paar weibliche Akte mit Tattoos im Tribalstil. Auf dem ersten Treppenabsatz entdeckte er ein russisch aussehendes Triptychon in einem vergoldeten Rahmen, das aussah, als wäre es aus einer Kirche gestohlen worden.
Lieutenant Garcia beugte sich über das Geländer des Treppenabsatzes im ersten Stock und wartete auf ihn. Schwarzes, nach hinten gekämmtes Haar, ein sauber gestutzter Schnurrbart, der Duft von Aramis, der in Wellen von ihm ausging; Garcia sah gepflegter aus und wirkte dynamischer als in Jenners Erinnerung, die Mordkommission schien ihm zuzusagen. Garcia war immer ein beliebter Polizist gewesen, ein Mann, der mit den Uniformierten trinken, mit den Verwaltungsangestellten flirten und mit den Bossen scherzen konnte. Er war schnell aufgestiegen — vom Detective zum Sergeant und jetzt zum Lieutenant; die Welle der Austritte nach dem elften September hatte ihn rasch nach oben getragen.
Er richtete sich auf, und sie schüttelten einander herzlich die Hände. »Hey, Jenner. Schön, dich zu sehen.« Er zeigte hinter sich. »Joey Roggetti vom Neunten Revier hat das Sagen da drin — bisschen ungestüm, aber im Großen und Ganzen okay. Die Dokumentation des Tatorts ist fast fertig. Whittaker hat die Leiche noch an der Wand gelassen.«
Er machte eine Pause; dann legte er Jenner die Hand auf die Schulter und sah ihm ins Gesicht. »Hör zu, das ist nicht gerade hübsch da drin. Du brauchst nicht reinzugehen — ich kann dir die Fotos vom Tatort auch vorbeibringen. Bist du sicher, dass du das machen willst?«
Jenner errötete. »Ihre Familie bezahlt mich nicht dafür, dass ich rumsitze und mir Fotos ansehe. Außerdem, es ist ja nicht so, als ob ich das noch nie gemacht hätte. Es ist schon okay, Rad.«
Er sah den Flur entlang, an Garcia vorbei. Zwei Tatortspezialisten suchten mit Pulver nach Fingerabdrücken. Der ältere der beiden, Mike Seeley, entdeckte Jenners Spiegelbild in dem ovalen Standspiegel, an dem er gerade arbeitete, drehte sich um und zeigte mit einer Kopfbewegung zur Seite.
»Hey, Doc. Sie ist da drin.«
Die Wegbeschreibung wäre nicht nötig gewesen; blendend weißes Licht flutete aus einer Türöffnung wenige Schritte weiter auf der rechten Seite in den Gang heraus, und Jenner hörte das wiederholte Klicken eines Auslösers.
Das Zimmer war groß, riesig für diese Wohngegend, und hatte eine hohe Decke. Die breite Bogenöffnung des Eingangs erinnerte Jenner an eine Bühne; der theatralische Aspekt wurde noch verstärkt von den beiden hellen Lampen, die die Spurensicherungsspezialisten aufgebaut hatten.
Zuerst konnte er die Leiche hinter all den Polizeibeamten nicht sehen. Ein fleischiger Mann Mitte dreißig in einem olivgrünen Anzug, dem die Krawatte lose um den dicken Hals hing, sprach mit zwei Tatortspezialisten und einem unifor mierten Polizisten — Joey Roggetti, vermutete Jenner. Sie standen in einem Halbkreis vor der Leiche, hell angestrahlt von den Scheinwerfern; die Szene erinnerte Jenner an eine von diesen lebensgroßen Weihnachtskrippen. Die Reihe öffnete sich, als er auf sie zuging, und Jenner sah die Leiche des Mädchens.
Er spürte, wie Garcia ihn beobachtete, als er näher kam; die Anspannung breitete sich mit jedem Schritt weiter in seiner Brust aus, der Geruch ihres Blutes verdichtete sich in seiner Nase. Es war lange her.
Aber als er nähertrat, spürte er keinen Unterschied, keine dramatische Veränderung. Kein Blut, das ihm in den Ohren rauschte; das Herz trommelte nicht in seiner Brust, wie es das vor einem Panikanfall getan hatte.
Bedeutete das, dass endlich wieder alles in Ordnung war mit ihm? Er war fast ein Jahr lang außer Betrieb gewesen, Monate, die er auf dem Sofa verbracht hatte, während er darauf wartete, dass er sich wieder normal fühlen würde, Wochen, in denen er im Fernsehen Jerry Springer verfolgt hatte, während sein Kater an dem Eisbehälter auf seiner Brust herumkratzte. Und jetzt war er wieder da, und er hatte sich absolut nicht verändert. Der Geruch nach Blut, der Qualm von dem verbrannten Staub, der von den Lampen aufstieg, Herrgott, sogar die Art, wie er gerade angekommen und in das gottverdammte Haus eingelassen worden war, es war alles wie früher.
Und als er die Leiche sah, betraf der kleine Schauer des Abscheus, der durch ihn hindurchging, nicht das Mädchen; er betraf ihn selbst. Er spürte, wie er sich abkapselte wie ein Parasit, dessen Ausscheidungen eine Schutzhülle um ihn herum bilden, wenn er sich ins Fleisch gräbt. Das Mädchen löste keinerlei Gefühle in ihm aus; sie war einfach eine Leiche, kein Mädchen mehr. Ein Fall.
Der Mann hatte sie kopfüber an die Wand genagelt und dann die Lampen im Zimmer so arrangiert, dass sie sie beleuchteten. Ein weißes Sofa war an eine Stelle gegenüber gezogen worden, ein bequemer Sitzplatz, von dem aus er sein Werk bewundern konnte; der Stoff wies dort, wo er gesessen hatte, Blutspuren auf.
Und dann war da noch etwas Seltsames: Vor ihrem festgenagelten, ausgestreckten linken Arm pumpte ein stumm geschalteter Fernseher einen Schwall schnell geschnittener Bilder ins Zimmer; in der Ecke trieb das MTV-Logo. Hatte er sie dort aufgehängt und sich dann einfach hingesetzt, um fernzusehen?
Jenner sah sie an, wie sie dort hing wie eine Wachsfigur aus dem Horrorkabinett, nackt, Arme und Beine gespreizt, kopfüber, der Körper ein bleiches, blutverschmiertes X. Fabrikneu glänzende Bolzen nagelten ihre Füße an die Wand. Rote Striemen liefen kreuz und quer über den Körper, wo die Haut in Bogenlinien aufgerissen war.
Er musste sie dort herunterholen — schnell herunterholen. Sie hatte schon lang genug dort gehangen — angestarrt, ausgestellt, verletzlich. Tot.
Er wandte sich an Detective Roggetti, murmelte seinen Namen und fragte nach Handschuhen.
»Sorry, Doc. Ich könnte die Uniformierten draußen fragen, die haben vielleicht welche.«
Detective Seeley rief: »Wir haben welche, Doc. Größe L, stimmt's?«
Jenner nickte und fing das Päckchen auf, das Seeley in seine
Richtung warf. Er sah sich nach einem Platz um, wo er sei nen Mantel ablegen konnte; Roggetti sagte: »Geben Sie ihn einfach her, ich halte ihn.«
Jenner, mittlerweile in Hemdsärmeln, riss die Packung auf und zog die Handschuhe über: dicke Gummihandschuhe Größe neuneinhalb, strukturierte Finger, leuchtendes Küchen-und Geschirrspülgelb. Ganz gleich, wie oft er dieses Ritual schon absolviert hatte, die Handschuhe kamen ihm immer seltsam fehl am Platz vor, ein irritierendes Aufblitzen gutgelaunter Normalität mitten im Schlachthaus.
Er sah wieder zu ihr hin, ohne zu merken, dass die Ermittler ihn beobachteten. Sie hatte stark aus Mund und Nase geblutet, aber es gab keine offensichtliche schwere Verletzung. Der Körper drohte von der Wand herunterzurutschen; Kopf und Hals waren am Boden abgeknickt. An der weißen Wand befanden sich in der Nähe ihrer Beine und des Oberkörpers gebogene Spritzer trocknenden Blutes, Tropfen, die von dem Gegenstand gespritzt waren, den er verwendet hatte, um sie zu peitschen — was das auch immer gewesen war.
Zwei Bolzen hielten ihren linken Fuß an der Wand fest, ein weiterer durchbohrte den rechten Fuß, dicht an einem kleinen tätowierten Ankh-Zeichen.
Jenner drehte sich um. »Hey, Mikey — gibt es hier Müllsäcke?«
Seeley wühlte unter dem Spülbecken herum, holte eine große schwarze Schachtel heraus und reichte sie ihm. Jenner musterte kurz den Boden und versuchte ein Muster in den Blutflecken zu erkennen. Er sah nichts als Pfützen, Ergebnis der Blutung aus Nase und Mund, schlimmer als üblich, weil er sie kopfüber festgenagelt hatte.
»Seid ihr Leute hier fertig?«
Seeley nickte. »Fotos, Proben, kurz nach Spuren abgecheckt —
die Methode weiße Handschuhe, Doc. Whittaker hat rumgezickt, weil wir noch nicht fertig waren, als er aufgetaucht ist. Er hat nicht warten wollen, bis wir sie runtergenommen haben. Sie gehört Ihnen.«
Jenner nickte, faltete einen Plastiksack auseinander und legte ihn vor dem Mädchen auf den Boden, um sich vor Blut zu schützen, das unsichtbar in den Teppich gesickert sein mochte. Er kniete auf dem Müllsack und machte sich ans Werk. Er arbeitete mühelos und fast gedankenlos — erfahrene Hände, die sich geschmeidig bewegten, methodisch über den Körper glitten, nach gebrochenen Rippen tasteten, vorsichtig die Brüste bewegten, um versteckte Wunden ausschließen zu können.
Er fand eine Reihe von drei identischen, länglichen Flecken an einem Arm, Klebstoffreste etwa so groß wie Pokerchips, und wartete, bis Seeley sie fotografiert hatte. Er war ruhig. Er war okay. Er konnte dies tun.
Er drehte behutsam ihren Kopf zur Seite, um den Hals freizulegen. Er schob ihre Lippe nach unten; die Innenfläche war offen und verfärbt, die Zähne waren intakt. Er sah sich ihre Augen an; die leuchtend blaugrüne Iris hob sich kräftig gegen das blutunterlaufene Weiß der Augäpfel ab. Ihr Gesicht war purpurn von gestautem Blut, mit zahllosen winzigen roten Punkten auf der Haut; durch Strangulieren konnte man die Blutgefäße auf diese Art zum Platzen bringen, aber es konnte auch die Position des Körpers nach Eintritt des Todes gewesen sein. Es gab keinerlei Spuren am Hals, und sie hing kopfüber; positionsbedingte Asphyxie, Atemstillstand, lag durchaus im Rahmen des Möglichen.
Er hob ihr Haar an, das ihm nass über den Handrücken hing,
auf beiden Seiten wie ein Vorhang, und sah, dass das linke Ohrläppchen blutig und eingerissen war, wahrscheinlich von einem herausgerissenen Ohrring. Auch das rechte war eingerissen — vermutlich absichtlich.
Er hatte zwei Bolzen durch jedes Handgelenk geschlagen und die kleineren Knochen dabei zerdrückt. Ihre gelbe Magilla-Gorilla-Armbanduhr lief noch.
»Hat jemand eine Taschenlampe?«
Er nahm Garcias Maglite, beugte sich vor und richtete den Lichtstrahl auf ihren Mund und die Wangen. Auf den Wangen sah er schwache Spuren aus weißlichgrauen Partikeln, wahrscheinlich von einem Knebel aus Klebeband. Was hatte er mit ihren Händen gemacht? War sie bei Bewusstsein gewesen, als er sie festgenagelt hatte?
Er stand auf. »Ich muss sie da runternehmen. Kann jemand helfen?«
Rad Garcia trat vor. »Machen wir's.«
Sie gingen beide vor ihr auf die Knie und stützten ungeschickt Kopf und Schultern ab, während Seeley an den schon gelockerten Bolzen in den Fußknöcheln zog. Sie gingen langsam vor, zogen sie von der Wand weg, so dass sie nicht fiel; in der Hitze der Lampen spürte Jenner, wie ihm das Hemd am Körper klebte. Als die Knöchelbolzen sich lösten, kippte der Körper nach vorn, und Jenner drückte ihre nackte Hüfte gegen die Wand, während Seeley sich bemühte, die Waden zu umfassen.
»Vorsichtig ...«
Seeley nahm die Beine, und sie ließen sie vorsichtig auf den Teppich gleiten und legten sie ab. Garcia und Seeley standen auf, beide etwas außer Atem; Jenner ging neben der Leiche in die Hocke und drehte sie auf die Seite; er konnte am Rücken keine Verletzungen sehen.
Übersetzung: Christine Gaspard
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Der Gedanke an Jenner reizte ihn, und er runzelte noch immer die Stirn, als das Telefon klingelte. Bezirksstaatsanwalt Klein. Es war ihre zweite Unterhaltung in weniger als drei Stunden, und Whittaker versuchte einen Ton anzuschlagen, der irgendwo zwischen Professionalität und Kollegialität lag. Er begann seine Beobachtungen vom Schauplatz darzulegen, aber Klein schnitt ihm das Wort ab; er wollte nur die Kurzversion — typisch Klein eben.
Whittaker fasste widerwillig die Ergebnisse zusammen, wobei er Klein versicherte, er würde sich persönlich um die Obduktion kümmern.
»Im Gegenteil, darum werden Sie sich nicht persönlich kümmern, zumindest nicht allein. Sie werden einen Kollegen dabeihaben. Der Vater von dem Mädchen hat irgendeinen Pathologen vor Ort angeheuert, der Typ heißt Jennings. Ich kann Ihnen sagen, Whittier, ich hab die Nase voll von diesen Arschlöchern mit Juraabschluss, die ankommen und irgendwelche Extrawürste verlangen. Der Typ tut mir leid, tut er wirklich, aber es hätte ihn nicht umgebracht, sich zu einer normalen Tageszeit zu melden.«
Whittaker drückte sich das Telefon ans Ohr und rang nach Worten. »Jennings? Meinen Sie Jenner, Mr. Klein? Dr. Edward Jenner?«
»Jennings, Jenner, irgend so was eben. Taugt er was ?«
»Er hat früher mal hier gearbeitet. Ich hab ihn vor zwei Jahren gefeuert.«
»Herrgott. Unfähigkeit?«
Whittaker schwieg eine Sekunde lang. »Es war nicht so sehr Unfähigkeit als ... sagen wir, er war emotional nicht für seine Arbeit geeignet. Die Identifikationen nach dem elften September waren ein bisschen zu viel für ihn.«
Klein schnaubte. »Dann sind Sie ohne ihn wahrscheinlich besser dran. Wie auch immer, er ist der von der Familie beauftragte Pathologe, wahrscheinlich ist er im Moment gerade am Schauplatz, und bei der Autopsie arbeitet er mit Ihnen zusammen. Geben Sie ihm jede Unterstützung, die er braucht, und halten Sie mich aus der Sache raus. Verstanden, Whittier?« Whittaker hielt es für geraten, ihn nicht zu verbessern. »Verstanden, Sir.«
Sie hatten sie im East Village gefunden, an die Wand ihrer Studentenwohnung in einem Haus am Tompkins Square Park genagelt.
Jenner wartete auf einer Bank im Park, einer sechs Häuserblocks langen Fläche mit Rasen, Bäumen, Pfaden und Basketballplätzen. Trotz der Kälte kickten ein paar Brasilianer auf der gepflasterten Fläche vor ihm einen Fußball herum. Der Park wirkte viel gepflegter, als er es früher gewesen war. Obwohl sein Loft zu Fuß kaum eine Viertelstunde entfernt lag, war er überrascht, wie elegant die Gegend geworden war, seit er selbst von der beruflichen Bildfläche verschwunden war. Damals, als er in der forensischen Pathologie angefangen hatte, hätte ein weiterer Mord im Neunten Revier kaum für Überraschung gesorgt, aber alles veränderte sich so schnell.
Die Punks und Neuhippies waren aus ihren besetzten Wohnungen gedrängt und durch fröhliche junge Familien, Studenten, Fotomodelle und schicke japanische Teenager ersetzt worden, die — wie alle anderen in East Village — nach New York gekommen waren, um sich selbst neu zu erschaffen. Die Punks und Neuhippies hingen mittlerweile mürrisch an den Rändern des Parks herum, meist mit einem halstuchgeschmückten Halbpitbull-Welpen zu Füßen, der Mitgefühl erwecken sollte. Gelegentlich provozierte ein schmuddliger Anarchist, der sich noch nicht daran hatte gewöhnen können, dass sein Gebiet von McLaren-Kinderwagen und Yogamatten überrollt worden war, eine »Konfrontation« mit einem Streifenpolizisten, und unter den Straßenkids entstand eine Miniaturdemonstration, die gleich wieder dem Sonnenschein, dem hochprozentigem St.-Ides-Malzbier und dem allgemeinen Desinteresse zum Opfer fiel.
Auf der anderen Straßenseite stand ein junger, in kugelsicherer Weste und Winterjacke untersetzt wirkender Polizeibeamter an dem gelben Absperrband vor dem Haus und unterhielt sich mit einer Frau, die eine Tüte von der Wäscherei in der Hand hielt. Lieutenant Rad Garcia von der Abteilung Manhattan South Homicide, der Mordkommission, streckte den Kopf zur Haustür heraus, sagte etwas zu dem Polizisten und winkte Jenner zu sich herüber.
Jenner stand steifgliedrig auf und streckte sich. Der Ball sprang auf ihn zu; er fing ihn sauber ab und trat ihn zu einem der Brasilianer hinüber — rudimentäre Fußballkenntnisse, eine der Qualifikationen, die er sich in seinem Jahr an der University of London erworben hatte. Er überquerte die Straße; der Beamte nickte ihm zu und hob das Absperrband, um ihn durchzulassen.
377 East 7th Street war eines der hübscheren Gebäude, ein für zwei Familien errichtetes Backsteinhaus mit blauen Blumenkästen und einer niedrigen Mauer, die den winzigen zubetonierten Vorgarten von der Straße trennte.
Andrea Delore lebte — hatte gelebt — in der Wohnung im Obergeschoss. Als er die Stufen zur Haustür hinaufging, fiel Jenners Blick auf einen dunkelbraunen verschmierten Fleck unmittelbar unter dem Knauf der Haustür; es war doch bemerkenswert, dass Blut immer auffiel. Über dem Klingelknopf befand sich ein kleiner rechteckiger Rahmen, in dem in sauberen Druckbuchstaben die Namen DELORE/JONG standen. Große Flecken aus schwarzem Fingerabdruckpulver wucherten rings um den Klingelknopf und am Türrahmen; als er die Tür aufstieß, stellte Jenner fest, dass die Flecken sich an der Innenseite des Rahmens fortsetzten.
Die Luft im Hausgang war erstickend und heiß, fast klebrig vom Geruch nach Tod. Er blieb in der offenen Tür stehen und sah zurück, die Vortreppe hinunter. Hinter ihm winkte der Polizist die ersten Gaffer zur Seite. Jenner beobachtete, wie er zu der Frau mit der Wäschetüte zurückkehrte, und merkte dann, dass er auf Zeit spielte, das Betreten des Tatorts hinauszögerte.
Das Treppenhaus war lang und schmal, der vergilbte Fußboden mit einem Wabenmuster aus kleinen cremefarbenen und schwarzen Fliesen bedeckt, die Wände waren schwarz getäfelt. Es war mit betont künstlerischen, schwarz gerahmten Fotos geschmückt — Schwarz-Weiß-Aufnahmen, ein paar Nahaufnahmen von Tattoos im Tribalstil, ein paar weibliche Akte und ein paar weibliche Akte mit Tattoos im Tribalstil. Auf dem ersten Treppenabsatz entdeckte er ein russisch aussehendes Triptychon in einem vergoldeten Rahmen, das aussah, als wäre es aus einer Kirche gestohlen worden.
Lieutenant Garcia beugte sich über das Geländer des Treppenabsatzes im ersten Stock und wartete auf ihn. Schwarzes, nach hinten gekämmtes Haar, ein sauber gestutzter Schnurrbart, der Duft von Aramis, der in Wellen von ihm ausging; Garcia sah gepflegter aus und wirkte dynamischer als in Jenners Erinnerung, die Mordkommission schien ihm zuzusagen. Garcia war immer ein beliebter Polizist gewesen, ein Mann, der mit den Uniformierten trinken, mit den Verwaltungsangestellten flirten und mit den Bossen scherzen konnte. Er war schnell aufgestiegen — vom Detective zum Sergeant und jetzt zum Lieutenant; die Welle der Austritte nach dem elften September hatte ihn rasch nach oben getragen.
Er richtete sich auf, und sie schüttelten einander herzlich die Hände. »Hey, Jenner. Schön, dich zu sehen.« Er zeigte hinter sich. »Joey Roggetti vom Neunten Revier hat das Sagen da drin — bisschen ungestüm, aber im Großen und Ganzen okay. Die Dokumentation des Tatorts ist fast fertig. Whittaker hat die Leiche noch an der Wand gelassen.«
Er machte eine Pause; dann legte er Jenner die Hand auf die Schulter und sah ihm ins Gesicht. »Hör zu, das ist nicht gerade hübsch da drin. Du brauchst nicht reinzugehen — ich kann dir die Fotos vom Tatort auch vorbeibringen. Bist du sicher, dass du das machen willst?«
Jenner errötete. »Ihre Familie bezahlt mich nicht dafür, dass ich rumsitze und mir Fotos ansehe. Außerdem, es ist ja nicht so, als ob ich das noch nie gemacht hätte. Es ist schon okay, Rad.«
Er sah den Flur entlang, an Garcia vorbei. Zwei Tatortspezialisten suchten mit Pulver nach Fingerabdrücken. Der ältere der beiden, Mike Seeley, entdeckte Jenners Spiegelbild in dem ovalen Standspiegel, an dem er gerade arbeitete, drehte sich um und zeigte mit einer Kopfbewegung zur Seite.
»Hey, Doc. Sie ist da drin.«
Die Wegbeschreibung wäre nicht nötig gewesen; blendend weißes Licht flutete aus einer Türöffnung wenige Schritte weiter auf der rechten Seite in den Gang heraus, und Jenner hörte das wiederholte Klicken eines Auslösers.
Das Zimmer war groß, riesig für diese Wohngegend, und hatte eine hohe Decke. Die breite Bogenöffnung des Eingangs erinnerte Jenner an eine Bühne; der theatralische Aspekt wurde noch verstärkt von den beiden hellen Lampen, die die Spurensicherungsspezialisten aufgebaut hatten.
Zuerst konnte er die Leiche hinter all den Polizeibeamten nicht sehen. Ein fleischiger Mann Mitte dreißig in einem olivgrünen Anzug, dem die Krawatte lose um den dicken Hals hing, sprach mit zwei Tatortspezialisten und einem unifor mierten Polizisten — Joey Roggetti, vermutete Jenner. Sie standen in einem Halbkreis vor der Leiche, hell angestrahlt von den Scheinwerfern; die Szene erinnerte Jenner an eine von diesen lebensgroßen Weihnachtskrippen. Die Reihe öffnete sich, als er auf sie zuging, und Jenner sah die Leiche des Mädchens.
Er spürte, wie Garcia ihn beobachtete, als er näher kam; die Anspannung breitete sich mit jedem Schritt weiter in seiner Brust aus, der Geruch ihres Blutes verdichtete sich in seiner Nase. Es war lange her.
Aber als er nähertrat, spürte er keinen Unterschied, keine dramatische Veränderung. Kein Blut, das ihm in den Ohren rauschte; das Herz trommelte nicht in seiner Brust, wie es das vor einem Panikanfall getan hatte.
Bedeutete das, dass endlich wieder alles in Ordnung war mit ihm? Er war fast ein Jahr lang außer Betrieb gewesen, Monate, die er auf dem Sofa verbracht hatte, während er darauf wartete, dass er sich wieder normal fühlen würde, Wochen, in denen er im Fernsehen Jerry Springer verfolgt hatte, während sein Kater an dem Eisbehälter auf seiner Brust herumkratzte. Und jetzt war er wieder da, und er hatte sich absolut nicht verändert. Der Geruch nach Blut, der Qualm von dem verbrannten Staub, der von den Lampen aufstieg, Herrgott, sogar die Art, wie er gerade angekommen und in das gottverdammte Haus eingelassen worden war, es war alles wie früher.
Und als er die Leiche sah, betraf der kleine Schauer des Abscheus, der durch ihn hindurchging, nicht das Mädchen; er betraf ihn selbst. Er spürte, wie er sich abkapselte wie ein Parasit, dessen Ausscheidungen eine Schutzhülle um ihn herum bilden, wenn er sich ins Fleisch gräbt. Das Mädchen löste keinerlei Gefühle in ihm aus; sie war einfach eine Leiche, kein Mädchen mehr. Ein Fall.
Der Mann hatte sie kopfüber an die Wand genagelt und dann die Lampen im Zimmer so arrangiert, dass sie sie beleuchteten. Ein weißes Sofa war an eine Stelle gegenüber gezogen worden, ein bequemer Sitzplatz, von dem aus er sein Werk bewundern konnte; der Stoff wies dort, wo er gesessen hatte, Blutspuren auf.
Und dann war da noch etwas Seltsames: Vor ihrem festgenagelten, ausgestreckten linken Arm pumpte ein stumm geschalteter Fernseher einen Schwall schnell geschnittener Bilder ins Zimmer; in der Ecke trieb das MTV-Logo. Hatte er sie dort aufgehängt und sich dann einfach hingesetzt, um fernzusehen?
Jenner sah sie an, wie sie dort hing wie eine Wachsfigur aus dem Horrorkabinett, nackt, Arme und Beine gespreizt, kopfüber, der Körper ein bleiches, blutverschmiertes X. Fabrikneu glänzende Bolzen nagelten ihre Füße an die Wand. Rote Striemen liefen kreuz und quer über den Körper, wo die Haut in Bogenlinien aufgerissen war.
Er musste sie dort herunterholen — schnell herunterholen. Sie hatte schon lang genug dort gehangen — angestarrt, ausgestellt, verletzlich. Tot.
Er wandte sich an Detective Roggetti, murmelte seinen Namen und fragte nach Handschuhen.
»Sorry, Doc. Ich könnte die Uniformierten draußen fragen, die haben vielleicht welche.«
Detective Seeley rief: »Wir haben welche, Doc. Größe L, stimmt's?«
Jenner nickte und fing das Päckchen auf, das Seeley in seine
Richtung warf. Er sah sich nach einem Platz um, wo er sei nen Mantel ablegen konnte; Roggetti sagte: »Geben Sie ihn einfach her, ich halte ihn.«
Jenner, mittlerweile in Hemdsärmeln, riss die Packung auf und zog die Handschuhe über: dicke Gummihandschuhe Größe neuneinhalb, strukturierte Finger, leuchtendes Küchen-und Geschirrspülgelb. Ganz gleich, wie oft er dieses Ritual schon absolviert hatte, die Handschuhe kamen ihm immer seltsam fehl am Platz vor, ein irritierendes Aufblitzen gutgelaunter Normalität mitten im Schlachthaus.
Er sah wieder zu ihr hin, ohne zu merken, dass die Ermittler ihn beobachteten. Sie hatte stark aus Mund und Nase geblutet, aber es gab keine offensichtliche schwere Verletzung. Der Körper drohte von der Wand herunterzurutschen; Kopf und Hals waren am Boden abgeknickt. An der weißen Wand befanden sich in der Nähe ihrer Beine und des Oberkörpers gebogene Spritzer trocknenden Blutes, Tropfen, die von dem Gegenstand gespritzt waren, den er verwendet hatte, um sie zu peitschen — was das auch immer gewesen war.
Zwei Bolzen hielten ihren linken Fuß an der Wand fest, ein weiterer durchbohrte den rechten Fuß, dicht an einem kleinen tätowierten Ankh-Zeichen.
Jenner drehte sich um. »Hey, Mikey — gibt es hier Müllsäcke?«
Seeley wühlte unter dem Spülbecken herum, holte eine große schwarze Schachtel heraus und reichte sie ihm. Jenner musterte kurz den Boden und versuchte ein Muster in den Blutflecken zu erkennen. Er sah nichts als Pfützen, Ergebnis der Blutung aus Nase und Mund, schlimmer als üblich, weil er sie kopfüber festgenagelt hatte.
»Seid ihr Leute hier fertig?«
Seeley nickte. »Fotos, Proben, kurz nach Spuren abgecheckt —
die Methode weiße Handschuhe, Doc. Whittaker hat rumgezickt, weil wir noch nicht fertig waren, als er aufgetaucht ist. Er hat nicht warten wollen, bis wir sie runtergenommen haben. Sie gehört Ihnen.«
Jenner nickte, faltete einen Plastiksack auseinander und legte ihn vor dem Mädchen auf den Boden, um sich vor Blut zu schützen, das unsichtbar in den Teppich gesickert sein mochte. Er kniete auf dem Müllsack und machte sich ans Werk. Er arbeitete mühelos und fast gedankenlos — erfahrene Hände, die sich geschmeidig bewegten, methodisch über den Körper glitten, nach gebrochenen Rippen tasteten, vorsichtig die Brüste bewegten, um versteckte Wunden ausschließen zu können.
Er fand eine Reihe von drei identischen, länglichen Flecken an einem Arm, Klebstoffreste etwa so groß wie Pokerchips, und wartete, bis Seeley sie fotografiert hatte. Er war ruhig. Er war okay. Er konnte dies tun.
Er drehte behutsam ihren Kopf zur Seite, um den Hals freizulegen. Er schob ihre Lippe nach unten; die Innenfläche war offen und verfärbt, die Zähne waren intakt. Er sah sich ihre Augen an; die leuchtend blaugrüne Iris hob sich kräftig gegen das blutunterlaufene Weiß der Augäpfel ab. Ihr Gesicht war purpurn von gestautem Blut, mit zahllosen winzigen roten Punkten auf der Haut; durch Strangulieren konnte man die Blutgefäße auf diese Art zum Platzen bringen, aber es konnte auch die Position des Körpers nach Eintritt des Todes gewesen sein. Es gab keinerlei Spuren am Hals, und sie hing kopfüber; positionsbedingte Asphyxie, Atemstillstand, lag durchaus im Rahmen des Möglichen.
Er hob ihr Haar an, das ihm nass über den Handrücken hing,
auf beiden Seiten wie ein Vorhang, und sah, dass das linke Ohrläppchen blutig und eingerissen war, wahrscheinlich von einem herausgerissenen Ohrring. Auch das rechte war eingerissen — vermutlich absichtlich.
Er hatte zwei Bolzen durch jedes Handgelenk geschlagen und die kleineren Knochen dabei zerdrückt. Ihre gelbe Magilla-Gorilla-Armbanduhr lief noch.
»Hat jemand eine Taschenlampe?«
Er nahm Garcias Maglite, beugte sich vor und richtete den Lichtstrahl auf ihren Mund und die Wangen. Auf den Wangen sah er schwache Spuren aus weißlichgrauen Partikeln, wahrscheinlich von einem Knebel aus Klebeband. Was hatte er mit ihren Händen gemacht? War sie bei Bewusstsein gewesen, als er sie festgenagelt hatte?
Er stand auf. »Ich muss sie da runternehmen. Kann jemand helfen?«
Rad Garcia trat vor. »Machen wir's.«
Sie gingen beide vor ihr auf die Knie und stützten ungeschickt Kopf und Schultern ab, während Seeley an den schon gelockerten Bolzen in den Fußknöcheln zog. Sie gingen langsam vor, zogen sie von der Wand weg, so dass sie nicht fiel; in der Hitze der Lampen spürte Jenner, wie ihm das Hemd am Körper klebte. Als die Knöchelbolzen sich lösten, kippte der Körper nach vorn, und Jenner drückte ihre nackte Hüfte gegen die Wand, während Seeley sich bemühte, die Waden zu umfassen.
»Vorsichtig ...«
Seeley nahm die Beine, und sie ließen sie vorsichtig auf den Teppich gleiten und legten sie ab. Garcia und Seeley standen auf, beide etwas außer Atem; Jenner ging neben der Leiche in die Hocke und drehte sie auf die Seite; er konnte am Rücken keine Verletzungen sehen.
Übersetzung: Christine Gaspard
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Bibliographische Angaben
- Autor: Jonathan Hayes
- 2010, 1, 510 Seiten, Maße: 13,5 x 19,2 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 382899587X
- ISBN-13: 9783828995871
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