Marx, my love
Ein neuer Fall für Anna Marx. Rothaarig, lasterhaft und vom Leben geschüttelt wie ein guter Wodka-Martini. Die ehemalige Klatschreporterin Anna Marx ist der Regierung und der Kriminalität nach Berlin gefolgt. Um den drohenden 50. Geburtstag...
Ein neuer Fall für Anna Marx. Rothaarig, lasterhaft und vom Leben geschüttelt wie ein guter Wodka-Martini. Die ehemalige Klatschreporterin Anna Marx ist der Regierung und der Kriminalität nach Berlin gefolgt. Um den drohenden 50. Geburtstag in sündhaft teuren italienischen Schuhen verbringen zu können, geht sie widerwillig einem lukrativen Auftrag nach.
"Christine Grän kennt die Gesetze erzählerischer Verführung und schreibt. lakonisch, schnoddrig und ironisch unterkühlt. Anders als die meisten ihrer Kolleginnen ist sie ein wirklich böses Mädchen, das verdammt gute Unterhaltungsromane schreibt!"
FAZ
Rothaarig, lasterhaft und vom Leben geschüttelt wie ein guter Wodka-Martini. Unwiderstehlich wie eh und je taucht Anna Marx nach 15 Jahren aus der Versenkung auf. Die ehemalige Klatschreporterin ist der Regierung und der Kriminalität nach Berlin gefolgt und schlägt sich dort als Privatdetektivin durch. Spezialität: untreue Ehemänner, entlaufene Haustiere. Um den drohenden 50. Geburtstag in sündhaft teuren italienischen Schuhen verbringen zu können, geht sie widerwillig einem lukrativen Auftrag nach. Die ebenso mächtige wie eigenwillige Filmproduzentin Rosamunde Stark fühlt sich von einem verkrachten Drehbuchschreiber bedroht und wird prompt in einem Nobelrestaurant ermordet. Verdächtige gibt es genug: Rosamundes koksender Ehemann, ihre ehrgeizige Assistentin, ein aufstrebender Schauspieler und natürlich der Drehbuchschreiber kommen als Täter in Frage. Anna Marx wähnt sich in einer dieser verhassten Fernsehserien und tappt in einen Sumpf aus Sex, Geld, Eitelkeit, Ehrgeiz und Erpressung. Welche Rolle spielt der ermittelnde Kommissar? Mit allen Mitteln versucht er, Anna seine Regeln aufzuzwingen. Doch die Dame sticht den Buben.
Christine Grän hat eine wunderbar widerborstige Figur weitergeführt, die an Chandlers Marlowe erinnert und den Mächtigen, Schönen und Reichen den Spiegel vorhält.
Marx, my love von Christine Grän
LESEPROBE
Harter Regen fällt auf das Blechdach, unter dem dieRothaarige Zuflucht gesucht hat. Keinen Schirm zu besitzen ist eine lächerlicheForm des Anarchismus, außer wenn es schüttet, als wäre die Sintflut keinbiblisches Märchen. And its a hard rains a-gonna fall, summt die nasse, fetteKatze, um sich zu trösten. Dylan ist kein junger Wilder mehr und sie beinahefünfzig, was ihr vor vielen Jahren als Alter erschien, in dem man fast tot ist.Der Perspektivenwechsel vollzieht sich in Jahrzehnten. Als sie dreißig wurde,dachte sie, dass sie noch zehn gute Jahre vor sich habe. Mit vierzig nocheinmal, jedoch mit weniger Zuversicht.
Anna Marx wird in siebzehn Tagen fünfzig, und sie steht an der Mauer einesalten Hauses, dessen Einschusslöcher schlimme Geschichten erzählen könnten. DieFrage, wie weit ihre Kamera wasserdicht ist, lenkt sie von Jahreszahlen ab. Siepredigen einem vieles im Kapitalismus, doch wenn es ernst wird, haftet keinerfür den Schaden. Anna gehört zu denen, die niemals das Kleingedruckte lesen.Alles sollte groß geschrieben werden und klar und einleuchtend sein. Nichts istwahr, das sich verstecken muss.
Wie die beiden hinter dem Fenster des Stundenhotels, der Ehemann und seineGeliebte, denen sie seit Tagen hinterherspioniert im Auftrag ihrer Klientin,die natürlich die Ehefrau ist. Was für ein beschissener Job, besonders anRegentagen. Der alte Trenchcoat, in dem sie sich wie Philip Marlowe fühlenmöchte, klebt an ihrem Körper, die Imprägnierung ist längst dahin, und bis zuihrem Tod wird sie sich nicht von diesem Kleidungsstück trennen, das sie liebtwie den alten Bademantel, den ihr ein Mann namens Philipp vor langer Zeitgeschenkt hat.
Die beiden Mäntel haben noch siebzehn Tage. Aber vielleicht stirbt sie schonvorher an einer Lungenentzündung oder an der Monotonie des Wartens. Während diebeiden in einem warmen Zimmer und einem weichen Bett alles Vergnügen haben, dasSex bereiten kann, steht Anna im Regen unter einem Blechdach und wartet auf denfremden Orgasmus. Damit das Paar endlich das Hotel verlässt, sie ihre Fotosmachen und verschwinden kann.
Wenn es vorbei ist, geht der Mann zurück ins Büro, und die Frau steigt in einTaxi, das er ihr bezahlt. Die Geliebte trägt immer dieses verräterische Lächelnpostkoitaler Zufriedenheit im Gesicht. Vom Hotel fährt sie in das Kaufhaus amKudamm, in dem sie als Angestellte arbeitet, in der Abteilung exklusiverDamenunterwäsche.
Möglich, dass sie sich dort begegneten, wo sonst sollten sich die Wege einesFinanzberaters und einer Dessousverkäuferin kreuzen? Das Fitness-Center wäreauch eine Möglichkeit, dieser körperliche Ort, in dem Leiber einander begegnenund begehren, manchmal. Die zwei besuchen denselben Club, und der Besitzer, denAnna, als Journalistin getarnt, interviewte, meinte, dass nirgendwo »datingeasier ist« als an Plätzen wie diesen. Er sprach sehr viel Englisch und sahdabei abschätzend auf Annas fitnessresistentes Fleisch, das sie in weitenHosen, Pullovern und Mänteln tarnt. Sie verabscheute diesen Ort schon deshalb,weil man nirgendwo rauchen durfte, und sein Angebot eines kalorienarmenEnergie-Drinks lehnte Anna ebenso ab wie das »kostenlose Schnupperweekend« inseinem Etablissement der Körperkultur.
»Sonntags beschäftige ich mich mit Schlafen, Lesen, Essen und Trinken«, sagteAnna und ertrug seinen verächtlichen Blick mit dem Stolz der verfolgtenMinderheit. Fügte sie hinzu, dass sie Sport in jeder Form ablehnt? Egal, es warohnehin eine Begegnung zweier Fremdlinge, und in der Sache brachte es sie nurinsofern weiter, als sie sich notierte, dass die Zielsubjekte zur selben Zeittrainieren.
Auf welcher Skala fettverbrennender Leibesübungen rangiert Sex? Sie versucht,sich die beiden vorzustellen in ihrer einsamen Position schräg unter demFenster, auf der anderen Straßenseite. Unter dem Blechdach, das mit dem Endeder Sturzfluten verstummt ist, sodass sie nur noch den Verkehrslärm hört unddas Kreischen eines Kindes, das vielleicht gerade verprügelt wird. Um so etwaskümmert sich niemand. Schnüffler vom Kaliber Annas leben vom außerehelichenBeischlaf und von eifersüchtigen Partnern.
Vielleicht ist jede Geschichte einmalig, wundervoll und schrecklich, doch fürdie Detektivin bedeutet sie immer nur das: beschatten, belauschen,fotografieren, Berichte und Rechnungen schreiben. Und während die ersten Fällesie noch berührten, Liebe, Verrat und Rache ein romantisches Abenteuer waren,an dem sie Anteil nahm, erscheint ihr heute alles nur noch - nass. Schweiß,Sperma, Tränen - und eine Frau, die im Regen steht. Warum sie sich vor allemschlechtes Wetter zum Kopulieren aussuchen, weiß der Himmel. Anna kann sich annur wenige Momente ihres Schattendaseins erinnern, in denen sie in der Sonnestand und sich an deren Strahlen wärmte.
Dies ist ein Stundenhotel, und sie wartet bereits siebzig Minuten, begafft voneinem Obdachlosen, der aus seinem berauschten Schlaf erwacht ist. Irgendwannwird er sich aufraffen, die Straße überqueren und Kleingeld fordern. In Berlinwird selten gebeten. Demut schickt sich nicht in der Straßenszene einerMetropole, die es sich auf einem west-östlichen Diwan aus Stahl bequem gemachthat.
Anna ahnt, warum der Penner vor diesem Hotel sitzt. Jeder Zweite, der hinein-oder herausgeht, ist von schlechtem Gewissen geplagt. Das ist eine gute Basisfür Schnorrer. Dieser hier sollte jetzt nicht an einer Bulette kauen, dennAnnas Magen fühlt sich leer und hungrig an. Er ist ein Organ mit sehr direktemDraht zum Gehirn. Man sieht es. Wohlwollende nennen Anna üppig, die anderenfett. Sind nur Worte, und in fünfzig Jahren minus siebzehn Tagen lernt man, mitdem Urteil anderer zu leben. Schuldig des Verbrechens der Gier, und die Strafeist das Gefängnis eines Körpers, den man sich so nicht aussuchen würde.Schwanenhals, Wespentaille und Gazellenbeine wären nett, sind aber leider nichtin die Wiege gelegt. Sie war ein fettes Kind und blieb es auch, und jetztmöchte sie mit dem Fuß aufstampfen, nach ihrer Mutter schreien und mit Nahrungversorgt werden.
Wogegen einiges spricht: Annas Eltern sind tot, und für das täglich Brot musssie schon alleine sorgen. Kein Mann hat jemals angeboten, sie bis ansLebensende durchzufüttern. Es fielen immer ein paar Abendessen vor den Nächtenab, das wars auch schon.
Auch der hübschen Dessousverkäuferin wird es nicht anders ergehen mit diesemMann, doch dieser Trost ist hinfällig. Denn das Mädchen ist jung, und einesTages wird einer kommen und fragen, und sie wird es tun und diebegehrenswerteren Männer, die verheiratet waren, vergessen, zumindest für eineWeile
Nicht mitfühlen, Anna, es bringt nichts, Partei zu ergreifen. Detektive sinddistanzierte Beobachter, lausige Fotografen und Überbringer von schlechtenNachrichten. Und doch wird das Elend der Betrogenen sie immer wieder mitreißen.Und so, wie sie hier steht, kann sie nicht anders. Manchmal geht Anna mit einerMandantin essen, weil sie daran glaubt, dass Nudeln und Wein die Seele speisen.Mit Männern überschreitet sie die berufliche Grenze eher selten: Männer leidenauf eine Weise, die sie weniger bewegt. Wütender, selbstgerechter sind sie alsFrauen, die letztendlich die Schuld für ihre Misere bei sich selbst suchen.
Wovon hat sie geträumt, als sie von Bonn nach Berlin zog? Nicht davon, sich vorStundenhotels die Beine in den Bauch zu stehen. Geheimnisvolle, mörderischeFälle wollte sie lösen, Verbrecher jagen und mit russischen Dichtern ins Bettgehen. Der einzige Russe, den sie bisher kennt, trägt ein dreifaches Doppelkinnund schreibt obszöne Briefe an Emigrantenzeitungen, denen er Vaterlandsverratvorwirft. Er bewohnt das Appartement über Annas Büro im alten Scheunenviertel,in einem Jugendstilhaus, das würdevoll vor die Hunde geht, zumindest von außenbetrachtet. Innen riecht es nach Moder, Haschisch und Weißkohl, eineDuftmischung, an die Anna sich im Verlauf eines Jahres gewöhnt hat. Die Mietefür Büro und Wohnung ist spottbillig, die Besitzverhältnisse sind ungeklärt,und so wird es unbestimmte Zeit dauern, bis Sanierer das alte Haus in einteures Prestigeobjekt verwandeln.
So hoch war die Abfindung der »Bonner Zeitung« für ihre langjährige Redakteurinnicht, als dass Anna sich davon eine Luxusherberge hätte leisten können. Und sowar sie einmal im Leben vernünftig und legte einen Teil des Geldes auf dieBank, ließ sich überreden, Aktien zu kaufen und
Nein, besser nicht daran denken. Der kurze Ausflug in das kapitalistische Lagerendete mit der schmerzlichen Erfahrung, dass Geld eine verderbliche Ware ist.Gut, dass die Miete ihren finanziellen Verhältnissen entspricht, und zumindestdenken die Leute, die dem Schild »Anna Marx - Privatdetektivin« folgen, dasssie preiswert sei. Vielleicht nicht wahnsinnig erfolgreich, aber immerhinbezahlbar für die Opfer von Lug, Betrug und der schmerzlichen Gier nachWahrheit.
»Warum wollen Sie es wissen?«, fragt sie ihre Klienten und kennt die Antwort:Weil die Wahrheit bitter ist, aber nie so ätzend wie die Lüge. Warum fragt sieüberhaupt? Froh soll sie sein, dass sie davon leben kann, nicht so sorglos wiein den Bonner Jahren, aber immerhin. Solange es fürs Essen reicht, für Alkoholund Zigaretten, ist die Marx nicht verloren. Unweit ihres Hauses hat sich ineinem leer stehenden Haus der »Club erfolgloser polnischer Frauen«niedergelassen. Sie war so fasziniert von dem Namensschild, dass sie stehenblieb und durch das Fenster spähte. Drinnen strickten oder häkelten sie undtranken Tee aus geblümten Kannen. Sie redeten und lachten, und Anna dachte,dass sie ihnen allen Erfolg dieser Welt wünscht.
Wenn es nicht regnet, pfeift der Wind durch Berliner Straßen, und Anna hältihren Hut fest, dabei fällt ihr die Kamera aus der nassen Hand. In diesemAugenblick verlassen ihre Zielobjekte das Hotel. Ausgerechnet jetzt bewegt sichder Penner auf sie zu, um sie anzuschnorren. Sie bückt sich nach demFotoapparat, und als sie hochkommt, steht der Mann neben ihr. Er ist zu alt, umseinem Leben noch eine andere Wendung zu geben, und zu jung, um resigniert zuhaben. Er riecht nach einer Mischung aus Knoblauchfeld und Weinkeller. »Hastewat für mich«, sagt er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet.
Anna sagt »Zieh Leine« und fotografiert über die Pennerschulter das Paar, dassich in Richtung Taxistand bewegt. Die Frau legt den Arm um den Geliebten, dasist fotogen, sie kann die beiden ja nicht gut im Bett ablichten. Die Frau siehtglücklich aus, und der Mann ungeduldig. Mit ihren hochhackigen Schuhen kann sieseinen eiligen Schritten kaum folgen.
»Spionin«, zischt der Penner, der in einem früheren Leben zu viele Thrillergelesen hat. Als Anna ihn ignoriert, fängt er an zu schreien, alle Wut, die inihm ist, fokussiert er auf die Rothaarige, und weil er so laut ist und dieStraße plötzlich so leise und leer, bleiben die beiden stehen. Sie starren aufAnna und den Penner, und der Mann sagt etwas zu seiner Begleiterin und gehtdann auf Anna zu.
Er will mir helfen, denkt Anna, und dass dies nicht in ihrem Handbuch fürDetektive steht. Sie lässt die Kamera in ihrer Handtasche verschwinden undsucht ihre Brieftasche, um den Schreihals zum Schweigen zu bringen. »Ist jagut, ich such nur mein Geld«, sagt Anna, doch jetzt ist es zu spät für einenAblass, es existiert nur noch die Wut, die ein Ventil gefunden hat, und essteht vor ihm und hat rote Haare unter einem Al-Capone-Hut und große, grüne,alte Augen. Niemand hat ihm je zugehört, auch diese Frau nicht, deshalb muss erschreien, sie in Furcht versetzen, denn auch dies ist eine Form von Würde: Dassjemand Angst vor einem hat.
Alkoholgeschwängerter Atem begleitet seine Sätze über den Zustand der Welt imAllgemeinen und Besonderen. Anna nestelt nach einem Fünf-Euro-Schein, allesGeld fühlt sich gleich an in ihren Fingern, und sie will ja keinen Fünfzigerzücken und plötzlich, sie hat nicht aufgepasst, steht die Zielperson vor ihr.
Horst Liebig, Finanzberater, seit fünfzehn Jahren verheiratet, sagt zu ihr, undes klingt, als ob er, während er spricht, zu Erkenntnissen kommt, die sehrunangenehm werden könnten: »Ich kenn Sie doch. Ich hab Sie schon ein paarmalgesehen.«
»Berlin ist ein Dorf«, erwidert Anna und zieht die Hand aus der Tasche.
»Misch dich bloß nicht ein«, sagt der Penner. Er ist noch nicht zu Ende, dochder Zehner in Annas Hand überzeugt ihn, dass Kommunikation sinnlos ist, niemandhört mehr zu. Außerdem hat er großen Durst und kleine Lust, sich mit einemstämmigen Mann anzulegen. Er reißt Anna den Geldschein aus der Hand,unterdrückt Danksagungen und entschwindet auf die andere Straßenseite. Annasieht ihm nach und wünscht sich, er wäre geblieben, um von ihrer Personabzulenken.
»So klein isses auch wieder nicht. Und was sollte die Kamera, wenn ick fragendarf?«
»Touristin.« Anna hat jetzt ein starkes Bedürfnis nach einer Zigarette undSchnaps. Etwas, das wärmt und beruhigt. Wie konnte sie es nur so weit kommenlassen? »Tschuldigung, aber ich muss weiter. Gibt ja so viel zu sehen in derStadt.«
Er hält sie am Arm fest, als Anna sich abwenden will. »Nicht in der Gegend. Sieverfolgen mich, geben Sies doch zu. Spionin, das hat der Penner geschrien. Siesind eine gottverdammte, ick werd verrückt jetzt dämmerts mir meine Altehat Sie mir auf den Hals gehetzt «
Shitshitshit, denkt Anna, und es trifft die Situation genau. UngeordneterRückzug ist das Gebot der Stunde, und sie umklammert ihre Kamera, als wäre sieihr geliebtes Kind, und reißt sich los, um über die Straße zu sprinten.
Es gibt Situationen, in denen man nichts richtig machen kann. Sie hätte besserdie Handtasche festgehalten, denn bei dem Versuch, sich aus seinem Griff zulösen, fällt diese zu Boden. Eine große Tasche mit viel Inhalt, der sich jetztauf das Trottoir verteilt
Die Tampons sind ihr peinlich, aber viel schlimmer ist die geöffneteBrieftasche, die am Boden liegt. Er hat Anna losgelassen und hebt ihrPortemonnaie auf. Hinter der Kreditkarte und dem Personalausweis steckt dieverräterische Plastikkarte, die sie als Detektivin ausweist. Er entnimmt sieund hält sie in seiner Hand, als habe er eine schleimige Kröte angefasst.
»Hab ichs doch gewusst. Du dreckige kleine Schnüfflerin «
Sie ist nicht klein, schon lange nicht mehr. Sie ist eine große, starke Frau,die vor vielem Angst hat und jeden Tag und jede Nacht versucht, damit fertig zuwerden. »Geben Sie mir meinen Ausweis zurück. Ich mache nur meinen Job, wie Sieauch.«
Anna versucht ein Lächeln. Ihr Mund ist zu groß, sie weiß es. Und seine Augensind wie harte Kieselsteine. Anna greift nach der Karte, und er zieht seineHand zurück. Mit der anderen greift er nach der Kamera, und Anna sollte jetzt»Hilfe« schreien, aber irgendwie bringt sie es nicht fertig. Gelähmte Zunge undzerschnittene Stimmbänder; es ist einer dieser Tage, an denen sie alles falschmacht. Sie umklammert die Kamera und hebt ihr Knie an, um den Angreifer dort zutreffen, wo es wehtut; der Trick wird einem von Müttern überliefert, bevor mandas Zielobjekt mit bloßem Auge gesehen hat, und er ahnt, was sie vorhat, weichteinen halben Schritt zurück und platziert einen Boxhieb auf die linke Seiteihres Gesichts.
Man schlägt doch Frauen nicht, denkt Anna, während sie zu Boden geht. Der Hutfliegt weg, und sie fällt wie ein nasser Sack auf das Pflaster. Als ob sie einKissen wäre, fängt ihre Riesentasche den Hinterkopf auf, und zumindest dort, woAnnas beste Hoffnungen liegen, ist die Landung relativ sanft. Das Letzte, wassie sieht, ist ein Tampon, dann schließt sie die Augen und ergibt sich dem Schmerz,der sie in Ohnmacht sinken lässt.
»Prost«, sagt der Penner, der sich mit einer Vinoflasche aus dem Kiosk überAnna beugt. »Is sie hinüber?« Schade, dass sich bereits Passanten um dieSchlafende versammelt haben, andernfalls würde er ihre Handtasche plündern.Braucht sie ja vielleicht nicht mehr. Einige rufen nach dem Arzt, und jemandzückt sein Handy, um die Notrufnummer zu wählen.
Der Obdachlose setzt seinen Schuh auf den silbernen Kugelschreiber, der aus derTasche gerollt ist. Wenn niemand zusieht, wird er sich bücken und ihnunauffällig aufheben. Ein Glück, dass er so große Füße hat.
© C. Bertelsmann Verlag
Autoren-Porträtvon Christine Grän
Christine Grän wurde in Graz geboren und lebt heute inMünchen. Sie arbeitete lange als Journalistin, lebte fünf Jahre in Afrika undwurde mit den Krimis über die Klatschreporterin Anna Marx (als ARD-Serieverfilmt) berühmt.
Interview mit Christine Grän
Marx, my love"ist - nach langer Pause - die Fortsetzung Ihrer Krimi-Reihe um die BonnerKlatschreporterin Anna Marx. Bekannt wurde diese vor allem durch die ARD-SerieAuf eigene Gefahr". In Ihrem neuen Buch hat Anna ihren Job bei der Zeitung anden Nagel gehängt und ermittelt als Privatdetektivin - und zwar in Berlin!Warum diese Veränderungen? Ist Bonn zu klein geworden?
Nein, aber es hat sich ja bereits im letzten Buch, das ichgeschrieben habe, angedeutet, dass Anna von ihrem Verlag gefeuert wird. Erstdachte ich eigentlich, dass ich nie wieder einen Anna-Marx-Roman schreibenwürde, weil sie begann, mich zu langweilen. Dazu kam, dass mir die Serie imFernsehen überhaupt nicht gefiel. Als mir dann der Gedanke an Annas Wiederauferstehung"kam, fand ich gleichzeitig, dass ich eine Klatschreporterin nicht immer Fällelösen lassen könnte - das ist auf Dauer irgendwie etwas unwahrscheinlich. Daherhabe ich sie zu einer lausigen Privatdetektivin gemacht. Und natürlich istBerlin auch etwas spannender als Bonn oder München, wo ich lebe. Also: AnnaMarx, Berlin, Privatdetektivin.
Um sich zum 50. Geburtstag teure italienische Schuhe kaufenzu können, nimmt Anna Marx widerwillig den Auftrag der reichen FilmproduzentinRosamunde Stark an. Sie taucht tief ein in die Welt der Berliner Glamour-Szene.Erpressung, Mord, ein koksender Ehemann, eine ehrgeizige Assistentin undaufstrebende Schauspieler, die über Leichen gehen - wie sind Sie auf diesenturbulenten Plot gekommen?
Ich habe diese merkwürdige Art, Bücher zu schreiben, die ichvorher wirklich nur in ganz rudimentären Strukturen kenne. Ich schreibe michdann im Verlauf in die Geschichte hinein. Wenn ich also anfange zu schreiben,habe ich eigentlich noch sehr wenig Ahnung, was daraus werden könnte.Erstaunlicherweise fällt mir dann immer etwas ein, dadurch entstehen häufigsehr viele kleine Plots hintereinander. Das ist vielleicht nicht dievollkommenste Art zu schreiben, aber eine sehr spannende, weil ich solange mitdiesem Buche lebe, bis es fertig ist. Manchmal überrasche ich mich dabei selbst- in positiver wie in negativer Hinsicht.
Wenn Anna Marx sich für ein Paar italienische Schuhe ineinen Sumpf aus Intrigen begibt, wie weit würde sie gehen, wenn man ihr einenFerrari anbieten würde?
Sie ist doch ein Oldtimer-Fan! Was Anna nächstes Jahr tut -ich schreibe gerade an einer neuen Geschichte - oder worauf sie sich zukünftigeinlassen wird, das weiß ich noch nicht. Auf jeden Fall wird es demnächst einenAnna-Marx-Roman geben, der in der EU-Szene spielt. Sie fährt in dieser Episodeihren alten Jaguar zu Schrott. Also mit einem Ferrari könnte man sie sowiesonicht locken. Und überhaupt: Sie ist ja im Grunde eine Moralistin - zwar eineunmoralische und lasterhafte Moralistin, aber sie ist eine. Ich glaube nicht,dass sie für Geld oder Gut irgendetwas Schräges machen würde.
Schon als Klatschreporterin ging Anna Marx immer wiederihrem Drang nach, Verbrecher zu jagen und die Wahrheit ans Licht zu bringen.Hat sie nun, als Privatdetektivin in Berlin, die auf untreue Ehemänner undentlaufene Haustiere spezialisiert ist, ihren Traumjob gefunden?
Natürlich nicht. Dashat sie aber wahrscheinlich auch nicht erwartet, als sie in diesen Berufwechselte. Allerdings kenne ich einige Privatdetektive, und untreue Männer sindin der Tat deren Hauptverdienstquelle. Ohne untreue Ehemänner wären vermutlichzwei Drittel aller Detektive arbeitslos. Da das für ein ganzes Buch allerdingsweniger aufregend ist, habe ich diese Geschichte mit der Produzentin erfunden.
Nachdem Auf eigene Gefahr" - mit Thekla Carola Wied alsAnna Marx - lange Zeit sehr erfolgreich im Fernsehen lief, drängt sich dieFrage auf, ob auch für Marx, my love"schon Pläne für eine Verfilmung geschmiedet wurden. Welche Schauspielerin könntenSie sich in der Rolle der raffinierten Privatdetektivin vorstellen?
Ich hatte Frau Ziegler [die Produzentin] wegen dieserFernsehgeschichte verklagt, doch sie gewann den Prozess in zweiter Instanz. VorGericht wurde festgestellt, dass ihre Anna Marx nicht meine AnnaMarx ist. Damit ist dieser Stoff theoretisch wieder frei. Aus Erfahrung kluggeworden, würde ich bei einer Verfilmung ein stärkeres Mitspracherechterkämpfen, insbesondere in der Besetzung der Hauptfigur. Ich habe noch keinekonkrete Schauspielerin im Auge, aber ich könnte mir eine Frau wie Hannelore Hoger, die im ZDF die Hauptkommissarin Bella Block spielt,gut vorstellen. Eine Frau mit Ausstrahlung jedenfalls, die nichtstromlinienförmig ist und die auf ihre besondere Art einfach schön ist.
Anna Marx ist chaotisch und undiszipliniert, hat eineSchwäche für Männer und ein Herz für die kleinen Leute". Inwiefern erkennen Siesich selbst in Ihrer Buchheldin wieder?
Man steckt in jeder Figur. Ich finde mich zum Teil genausoin der Hochstaplerin wieder wie in anderen Charakteren. Anna Marx ist jedochdas erste Buch, das ich in meinem Leben geschrieben habe. Deshalb glaube ich,dass in ihr natürlich besonders viel von mir zu finden ist, sonst hätte ich sieäußerlich auch nicht so verfremdet. Sie ist groß, rothaarig und sehr üppig. Dasfinde ich sehr schön - ich mag diesen Typ Frau sehr gerne. Ich war selbsteinmal ziemlich dick und kenne all diese Leiden auf dem Weg zwischenKühlschrank und Spiegel. Ich bin zudem auch lasterhaft - ich rauche, ichtrinke, ich war drei Mal verheiratet. Na gut, verheiratet war Anna nicht, abernur, weil sie keiner gefragt hat. Es gibt durchaus eine Seelenverwandtschaft,deshalb macht mir das Schreiben auch solchen Spaß. Das ist der Grund, warum esüberhaupt ein neues Buch mit ihr gibt - ich hatte eine Schreibblockade und binmit einem Buch über Wien einfach nicht weitergekommen. Weil ich aber wusste,dass der Verlag auf ein Buch wartete und ich es nicht schaffen würde, habe ichmich hingesetzt und in vier Monaten Marx, my love" geschrieben. Ich habe das mit großer Freude undLeichtigkeit getan!
Grän schreibt mitrasierklingenscharfem Witz, listiger Grazie, Lust an der spitzen Formulierungund Musikalität des Stils", schreibt der Spiegelüber Sie. Ist Schreiben vor allem eine Begabung, oder sind Kreativität unddas Gefühl für Sprache erlernbar?
Das ist eine schwierige Frage. Ich war vorher Journalistin -Schreiben war sozusagen mein Handwerk. Ich merke auf jeden Fall, dass sichjetzt nach vierzehn Büchern mein Stil verändert hat, obwohl ich immer noch ausdem Bauch schreibe. Ein Grundtalent zum Schreiben muss man mitbringen, man kannes nicht wirklich lernen. Ständiges Lesen kann den Schreibstil aber schulen.Beispielsweise finde ich die Skurrilität in John Irvings Geschichten wunderbar,diese feine Gratwanderung zwischen Tragödie und Komödie finde ich faszinierendan ihm. Wenn man von Stil spricht, dann würde ich spontan Imre Kertésznennen, der einfach unglaublich gut schreibt. Grandios ist es natürlich, wennes einem gelingt, diese beiden Aspekte - eine schöne Geschichte und einen gutenStil - zu kombinieren.
Noch ein kleiner Ausblick in die Zukunft: Würden Sie unsschon etwas über den neuen Fall Ihres Private Eye" in Berlin verraten, odergibt es andere Projekte?
In dem neuen Buch geht es um einen Lobbyisten in Brüssel undum Korruptionsgeschichten in der EU. Die Geschichte ist etwas geplanter" undauch intensiver recherchiert als Marx, my love". Sie trägt vorläufig noch den Arbeitstitel Rauchenist tödlich". Zum Beispiel geht es da um Zigarettenschmuggel. Da ich selbstRaucherin bin, und in der EU die Diskussion um die Gefahren des Rauchensmomentan sehr emotional ist, habe ich mich diesem Thema gewidmet.
Die Fragen stellte Roland Große Holtforth, literaturtest.de.
- Autor: Christine Grän
- 2004, 254 Seiten, Maße: 13,9 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: C. Bertelsmann
- ISBN-10: 3570006247
- ISBN-13: 9783570006245
(Frankfurter Allgemeine Zeitung)
"Grän schreibt mit rasierklingenscharfem Witz, listiger Grazie, Lust an der spitzen Formulierung und Musikalität des Stils."
(Der Spiegel)
"Christine Grän ist eine Meisterin haarscharfer, eleganter Sätze mit einer wohldosierten Brise Humor."
(Focus)
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